Turn on, tune in, drop out, stay home: die metaphysischen Lesetips im Grandhotel Abseits

In meiner Nebenstraße hier irgendwo im Südwesten von Berlin, in einem der ruhigen und friedlichen Viertel, auf die Monika Herrmann Gott sei Dank keinen Zugriff hat, ist es die Tage deutlich ruhiger, kaum Verkehr, wenige Menschen. Das ist gut so, genau wie ich es schätze, die Menschen tun das, was sie am schwersten können: Zu Hause bleiben. Was macht man da? Netflix, Serien, Kinder – schauen wir auf die Geburtenraten in neun Monaten. Kann aber auch sein, daß die Leute sich einfach mit Messern die Kehle durchschneiden. Besser ist es da, das Für-sich-sein zu pflegen und um zum An-und-für-sich-Sein zu gelangen, kann man  ein Buch in die Hand nehmen oder die Texte dieses Blogs hier lesen. Ich gebe also für diese sonnigen Tage ein paar Lesetips zum Besten: Bücher zur Sache, Bücher, die man immer mal wieder zur Hand nehmen sollte. (Nein, Camus „Die Pest“ und Boccaccios wunderbares „Decamerone“ oder bei Reclam erschienen und leider vergriffen „Novellino /Das Buch der hundert alten Novellen“ in italienischer und deutscher Sprache empfehle ich nicht, wenngleich allesamt lesenswert. Die ersten beiden Bücher wurden in diesen Tagen immer einmal wieder genannt. Das letztere sei dazu gegeben.)

Mein metaphysischer Lesetip des Hausherrn vom Grandhotel Abseits für diese Tage ist Martin Heideggers Buch „Die Grundbegriffe der Metaphysik“, und daraus insbesondere die Kapitel zur Langeweile, und zwar aus dem ersten Teil, das zweite, dritte und vierte und fünfte Kapitel, sowie das erste Kapitel des dritten Teils, die da tragen folgende Titel: „Die erste Form der Langeweile: das Gelangweiltwerden von etwas“,

„Die zweite Form der Langeweile: das Sichlangweilen bei etwas und der ihr zugehörige Zeitvertreib“,

„Die dritte Form der Langeweile: die tiefe Langeweile als das ‚es ist einem langweilig‘“, „Die Frage nach einer bestimmten tiefen Langeweile als der Grundstimmung unseres heutigen Daseins“

und schließlich der Höhepunkt des dritten Teils: „Das wirkliche Fragen der aus der Grundstimmung der tiefen Langeweile zu entwickelnden metaphysischen Fragen. Die Frage: Was ist Welt?“

Zeit und Dasein dazu dürfte bei vielen vorhanden sein, vielleicht ja auch die Gestimmtheit. Diese Gedanken zur Langeweile sind insofern interessant, weil Heidegger hier von einer (alltäglichen, lebensweltlich gut präsenten) Erfahrung ausgeht, die jeder Mensch in seiner Weise kennt und bereits einmal gemacht hat: Wenn einem die Zeit lang wird. Und diese Langeweile empfinden viele als eine Sache, die zu betäuben ist – Netflix, Serien, Kinder machen – statt sich ihr einmal ästhetisch auszusetzen und zu schauen: Was passiert? Was geschieht?

Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann,
Heidegger Gesamtausgabe Band 29/30
Klostermann Verlag, 3. Auflage 2004; XX, 544 Seiten.
Ln 59,00 €, ISBN 978-3-465-03311-0

Peter Trawny „Heidegger-Fragmente. Eine philosophische Biographie“ – Heideggers Gift, Heideggers Gabe (2)

Als ich Peter Trawnys „Heidegger-Fragmente“ zu lesen begann, dachte ich, daß man knapp 300 Seiten in drei Tagen bewältigen könne. Dem war nicht so. Man muß diese wunderbare Heidegger-Hinführung langsam lesen. Man sollte manche Passage mehrfach lesen, zurückspringen und den Sätzen sowie der Sache nachdenken. Insofern ist dieses Buch eine adäquate Weise, sich Heidegger zu nähern, nämlich das, was Heidegger unter Denken versteht, nachzuvollziehen, Performanz mithin: nicht einfach einen Stoff abhaken, nicht bloß sich an einem Text der Philosophie pflichtschuldig abarbeiten, ihn sich aneignen wie Famulus Wagner und als Buch dann lehrhaft vermitteln, sondern den Text eines Philosophen zum Sprechen bringen. Im Fremden das Eigene finden, mit Heidegger-Hölderlin gesprochen, und vor allem neugierig auf jenen Denker zu machen – sofern man ihn noch nicht kennt. Dies ist Peter Trawny, der an der Bergischen Universität Wuppertal lehrt, gut gelungen.

Eine interessante Form des Symphilosophierens geschieht da bei Trawny. Und dieses Verfahren, über einen Philosophen nachzudenken, wirft zugleich einen neuen Blick auf die in der Philosophie etablierte Rubrik der Einführung und zeigt, wie man solch eine Einführung als Hinführung auch ganz anders und das heißt auf eine unkonventionelle Weise gestalten kann. Trawny begibt sich abseits der abgetretenen Pfade der philosophischen Einführungen in das Denken eines Philosophen. „Eine philosophische Biographie“ heißt hier eben, das Leben eines Denkers auch als Philosophie zu nehmen. Mit Heidegger, zuweilen auch gegen ihn und darüber hinaus zu denken. Das Buch wagt etwas, es weicht von den üblichen Schemata ab, indem es nicht einfach die Aspekte von Heideggers Philosophie nach Themen geordnet darlegt und dazu ein paar biographische Eckdaten abschreitet.

In diesem Sinne sind es, wie es der Titel sagt, Fragmente, die Trawny liefert, Bruchstücke, und dieses Auf- und Ausfalten nach Motiven und Szenen unterscheidet diese philosophische Biographie von einer herkömmlichen. Trawny erzählt nicht von Alpha bis Omega durch. Wir finden verschiedene Themen, die teils leitmotivisch angespielt werden und in variierter Anordnung auftauchen. Mit Adorno gesprochen ein kaleidoskopisches Verfahren, wo einzelne Muster wiederholt aufscheinen, aber kombiniert mit anderen Mustern doch wieder eine neue Gestalt bilden. Da es sich bei Leitmotiven zugleich um kompositorisch eingesetzte Mittel handelt, trifft hier der Begriff Assoziationen nur unzureichend. Die Abfolge der Aphorismen und Fragmente unterliegt einer Ordnung.

Welche Motive spielt Trawny an? Es sind die Landschaften als Regionen des Denkens, die Frage nach dem Verhältnis von Geschlecht und Wahrheit – wie es Nietzsche fragte, daß vielleicht „die Wahrheit ein Weib“ sei, „das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen“ und wie dieses Motiv ebenso bei Heidegger auftaucht, was zugleich die Frage nach seinen Liebschaften einschließt und auch die nach der entfernten Widmung an Dory Vietta in den „Beiträgen zur Philosophie“. All das geschieht nicht als Blick durchs Schlüsselloch, sondern Trawny zeigt, wie bei Heidegger Leben und Denken in einer Korrespondenz stehen. Und daß – auch mit Derrida gedacht – solche vermeintlichen Nebensächlichkeiten wie eine entfernte Widmung in einem Hauptwerk, das vielleicht beim Schreiben durchaus auch von bestimmten Menschen und Umständen inspiriert ist, philosophisch genommen vielleicht doch keine Nebensache ist, sondern eine Scharnierfunktion besitzt. Sein west im Detail. Namensentzug ist Seinsentzug, würde ich fast überspitzt ergänzen wollen. (Für mich war dieser Umstand des entwendeten Namens einer der spannendste Teil des Buches und da hätte ich gerne mehr gelesen. Auch in Safranskis Heidegger-Biographie fand ich dazu nichts.)

Zu solchen Blickachsen gesellt sich ebenso Courbets „Der Ursprung der Welt“, die „Krise der Philosophie“ als Grenze des Denkens, Heideggers Kritik der Öffentlichkeit, Motive wie Ereignis, Sprache, Denken und Ding kreuzen und spiegeln sich. Die alten Antipoden des 20. Jahrhunderts, Heidegger und Adorno, treten unter der Rubrik „Gutedel und Äppelwoi“ auf. Jenes Rätsel über ein nie zustande gekommenes Gespräch und eine Auseinandersetzung, die sich viele bei einer Flasche Wein gewünscht hätten, die aber zu jener Zeit unmöglich war. Ebenso die Frage nach dem Proletariat, der Praxis und nach Marx.

Was Trawny in variierenden Anordnungen an Heidegger zeigt, weist auf einen zentralen Aspekt von Philosophie: daß diese nämlich mehr ist als bloßes Registrieren dessen, was der Fall ist. Erkennen selbst ist bereits eine abgeleitete Form:

„Das ‚Sein‘ entzieht sich dem Erkennen, kann von ihm nicht erfasst werden. Positive Wissenschaften und Philosophien, die sich als Wissenschaft verstehen, unterliegen einer déformation professionelle, die sie unfähig macht, das Unbekannte zu betrachten. Sie brauchen Resultate, d.h. Erkenntnisse. Heideggers Aussagen, dass die Wissenschaft nicht denke, bedeutet zugleich, dass das Denken nicht erkenne.“

Trawny spielt solche und andere Motive zwar an, reizt sie aber nicht derart zu Tode, daß dem Leser eine Philosophie mit Erklärungen und Fremdreferenz zugekleistert wird und es nur noch das zu entdecken gibt, was der Interpret vorstellt. Sondern vielmehr bleibt durch solches Fragment-Verfahren beim Lesen genügend Raum, über solche Motive und Aspekte der Heidegger-Philosophie selbständig ein Stück des Weges nachzudenken und an manchen Stellen auch Trawny zu widersprechen oder in einen (fiktiven) Dialog zu treten. Das Buch gar beiseite zu legen, jenes Nichtidentische und jenes Seyn in ein Spiel zu bringen oder zu fragen, was die Frage nach dem Wesen der Technik mit der technischen Entfaltung der Produktivkräfte zu schaffen hat. Abschweifendes Lesen.

Seine Leidenschaft für Heidegger verbirgt Trawny dabei nicht: es ist der Text von Heidegger „eine faszinierende, zunehmend schwierigere Lektüre.“ Und daraus resultierte ein ganz eigenes Buch zu Heidegger, wie Trawny im Vorwort schreibt. Wer es freilich im Gang der Hinführung zu einem Denker konventioneller wünscht, der nehme Trawnys 2016 im Klostermann Verlag erschienenen Heidegger-Einführung.

Nach der Lektüre dieser Heidegger-Fragmente schaue ich verwundert aus meinem Altbaufenster in meiner beschaulichen berliner Altbauwohnung heraus, im städtisch-bürgerlichen Altbauviertel, und bemerke, wie sehr in einer Großstadt doch die Weite und der Horizont und die Landschaft fehlen. Obwohl Trawny kaum nur die Heideggersche Lebenslandschaft, also den Schwarzwald, zeichnet und auch die legendäre Hütte in Todtnauberg nicht überstrapaziert wird, versetzt sich der Leser doch immer wieder in diese Heideggersche Denklandschaft des Schwarzwaldes hinein – so wie auch die Gedichte Hölderlins nicht ohne Griechenland, sprich den oberen Lauf der Donau und die Region zwischen Bodensee und Neckar zu lesen sind. Vielleicht hängt Philosophieren in der Tat auch an den Orten. Oder wie Walter Benjamin es für Kant und im Hinblick auf Baudelaire schrieb:

„Kants Umschreibung des Erhabenen durch ‚das moralische Gesetz in mir und den gestirnten Himmel über mir‘ hätte so von einem Großstädter nicht konzipiert werden können.“

Willem van Reijen formulierte diesen Gegensatz bezüglich Heidegger und Walter Benjamin in einem Buchtitel: „Der Schwarzwald und Paris“. Was als Titel auch für ein revolutionäres Denken stehen kann, jenseits von rechts und links und die alten Ort- und Ordnungsschemata überwindend. Diese Ortsgebundenheit von Denken, hier ganz wörtlich als „wohnen“ verstanden, ist eine Beobachtung, die Trawny auch bei Heidegger macht, und zwar nicht einfach nur für seine vielfach zitierte und oft auch belachte Schwarzwaldhütte in Todnauberg.

„Die Philosophie ist für ihn eine endliche Denkform, die an einen Ort und an eine Zeit gebunden bleibt. Sollte ein Philosoph behaupten, die Bindung an Ort und Zeit überwinden zu können, wäre ebendiese Behauptung immer noch an Ort und Zeit gebunden. Für Heidegger spräche noch nicht einmal ein Gott für alle …“

„Philosophen leben an Orten, in Landschaften, in denen sie Anstöße für ihr Denken empfangen. Die Beschäftigung mit einem Denker ist immer auch eine mit einem Ort, seinem Am-Ort-Sein. Nietzsches Sils-Maria, Benjamins Berlin, Hannah Arendts New York, Sartres Paris, Adornos Amorbach und Frankfurt, Sloterdijks Karlsruhe – das Denken hat an diesen Orten stattgefunden.“

Landschaft, Ortschaft und Denken gehören zusammen, wir erinnern uns, und das liegt von Heidegger nicht allzuweit entfernt, an Celans Dankesrede anläßlich des Bremer Literaturpreises 1958, die er mit der Überlegung zum Denken und zum Danken eröffnet – Begriffe, die auch bei Heidegger 1952 in seiner Vorlesung „Was heißt Denken“ eine Rolle spielen – sowie dem damit korrespondierenden „Andenken“. Dort spricht Celan von jener Landschaft, aus der er stammt, der Bukowina: dort, wo „ein nicht unbeträchtlicher Teil jener chassidischen Geschichten zu Hause war, die Martin Bubner uns allen auf deutsch weitererzählt hat (…) es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher zu Hause waren.“ Man achte auf die Reihenfolge und auf das Tempus des Verbes „sein“. Zu dem Zeitpunkt, als Celan jene Bremer Rede hielt, waren diese Menschen in dieser Landschaft nicht mehr zu Hause. Sie sind tot.

Wie also Heidegger lesen? Seine Verstrickungen ins NS-System verschweigen? All das macht Trawny nicht. Er beschönigt nicht, und er verteufelt nicht, um dadurch sogleich die gesamte Philosophie Heideggers bequem entsorgen zu können. Kein dualer Schematismus, aber auch kein Sowohl-als-auch, man kann es nicht austarieren. Trawny schreitet nicht durch diese Widersprüche und Brüche hindurch, sondern er nimmt sie beim Wort, nennt zugleich die düsteren Seiten Heideggers. Wie schon in „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“:

„Die Frage, ob die antisemitischen Passagen der ‚Schwarzen Hefte‘ einen Abschied von Heideggers Denken notwendig nahelegen, scheint keineswegs abwegig zu sein. Wer mit Heidegger philosophieren will, muss sich über die antisemitischen Implikationen bestimmter Gedankenzüge im Klaren sein.“

Es wird auch in den Heidegger-Fragmenten das Problematische nicht eskamotiert. Es ereignete sich eine „Verwundung des Denkens“ so Trawny in seinem Buch zu den „Schwarzen Heften“. Und dieses Motiv greift er auch in seinen „Heidegger-Fragmenten“ immer wieder in Anspielungen auf: Das beginnt bereits damit, daß die Fragmente mit der Überschrift „Apokalyptisch“ beginnen. Kriegsende 45, in Trümmertagen. Und das Motiv dieser Krise – biographisch wie politisch – wird variiert, etwa unter der Überschrift „Antisemitismus-Diskussion“, wo Trawny die Position Donatella di Cesares zum „metaphysischen Antisemitismus“ kritisiert und ebenso unter der zunächst zynisch anmutenden Überschrift „Auschwitz und Haribo“, wo es um Heideggers Bremer Vorträge von 1949 geht, darin wir einen zunächst zynischen und ungeheuerlichen Vergleich finden: Ackerbau sei die „jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern […]“.

Auch solche Widersprüche, solche (vermeintlichen) Ungeheuerlichkeiten müssen mitgedacht werden. Trawny nimmt Heideggers Philosophie als das, was sie ist: Mehr als nur einen Text aus dem Philosophiekorpus, den man seziert oder als Lehrgebäude betritt. Auch Widersprüche können zum Denken reizen. Ebenso denkt Trawny also das Zusammenspiel von Denken, Arbeit und Leben bei Heidegger mit:

„Diese Einheit von Arbeit und Leben, diese Lebens-Arbeit als Arbeits-Leben, verwandelt Leben und Arbeit in etwas Drittes, durchaus Künstliches. Kunst vielmehr als Wissenschaft ist Heideggers Biotop. Der Denker erscheint als ein Mensch, der sich die Philosophie auf die Haut tätowiert. Er ist eigentlich kein Mensch mehr, weil er das Menschliche als Problem fasst. Das gilt für Heidegger wie sonst nichts. Er bewegt sich in der Welt wie fleischgewordenes Denken selbst. Wir haben seine Texte als Spur; der Abwesene gehört zu ihr.“

Insofern betreiben sowohl Heidegger wie auch Trawyn das, was man vielleicht – in Absetzung zum Begriff Wissenschaft – als Theorie bezeichnen kann: sich in ein Ungedecktes zu begeben, in Konstellationen zu erzählen, die in ihrer Abfolge eine bestimmte Perspektive auf eine Philosophie liefert. Oder schlicht mit Roland Barthes auf einen Begriff gebracht ist es bei Trawny die „Lust am Text“, die man aus seinen Auseinandersetzungen mit Heidegger herausliest. Dieses freie Moment macht die Fragmente so lesenswert. Daß die Texte eines Philosophen sinnlich besetzt und mit Leidenschaft gelesen werden können, ohne dabei ins Privatisimum zu gleiten. Dies zeigen Trawnys „Heidegger-Fragmente“. Das „Adyton“ Heideggers – so ein anderer Buchtitel von Trawny – kann zwar von uns betreten werden, aber es hat dieser Zutritt einen Preis. Und wer diese Hinführung zu Heidegger liest, weiß hinterher, daß es eben nicht darum gehen kann, einen Text handhabbar zu machen oder ihn in Bernstein zu konservieren und damit zu töten, wie „die Lordsiegebewahrer des Heideggerʼschen Denk-Werks, die die reine Lehre zu Tode konservieren.“

Was wir bei Trawny nicht finden, ist die Verklärung Heideggers. Philosophie ist kein Maßband, das die Größe eines Denkers quantifiziert, um dann eine Büste in der Asservatenkammer der großen Philosophen auszulagern, und ebensowenig erzählt Trawny bloß anekdotische Schnurren. Kein Glorienschein wird von ihm gezündet, sehr wohl aber springt etwas von diesem Faszinosumsfunken Heideggers auf den Leser über. Lesen ist ein erotischer Akt. Gerade weil man mit einem Anderen konfrontiert ist, der einen in die Frage stellt. Diesen unmittelbaren-biographischen, wie auch den philosophischen Bezug zu Heidegger macht Trawny deutlich, und es endet das Buch mit einem schönen, privaten Dank – bei Alkohol in einer Berliner Bar. Großstädtisch-unheideggerianisch, man denke nur an jenen Aufsatz „Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz?“ als Kontrastfolie. Darin sich auch ein Berlinbezug findet.

Es liegt nach dieser Lektüre am Leser, aus Heideggers Textgebirge eigene Funken und Analysen zu schlagen.

Peter Trawny: Heidegger-Fragmente. Eine philosophische Biografie, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018, ISBN 9783103972993, gebunden, 320 Seiten, 25,00 EUR

Heideggers Gift, Heideggers Gabe (1)

Es gibt, insbesondere in der Jugend, jene Texte von Philosophen, die hängen an der eigenen Vita. Es sind Intensitätstexte. Intensivphilosophen, die nicht bloß schreiben, sondern deren Arbeit und Denken zugleich am Leben dieses Lese-Menschen hängt. Man nimmt als junger Leser nicht einfach „Texte“ zur Kenntnis, die für die Geschichte der Philosophie oder für eine bestimmte Problemlage relevant sind, sondern diese Texte samt Vita dieses Philosophen haben oft und genauso etwas mit dem eigenen Leben zu tun: Mit der Art, wie man selbst denkt und worüber man denkt, sei es politisch, sei es als ästhetische oder erkenntniskritische Haltung, sei es in der Präferenz des ethischen Verhaltens. Schreiben, Lesen, Leben und Denken gehören zusammen, und dies nicht nur in den jungen, den wilden Jahren, als wir noch so unnachahmlich glühten und Texte zugleich Leidenschaften waren, die andere für uns und vor uns aufs Papier brachten.

Solche Philosophien, solche Philosophen stehen für etwas ein. Dazu gehören sicherlich die Texte von Sartre, ebenso Adorno, Foucault, Benjamin, Bloch – für manche sogar Wittgenstein –, auf alle Fälle Kierkegaard, womöglich auch Marx oder Plato.

Diese Liste sei subjektiv, wird mancher meinen. Ja, das stimmt, aber setzen Sie dort einmal Husserl ein, dann bemerken Sie, worauf ich hinaus will. Nur wenige, nur der ausgefuchste Profi wird mit 16 sagen: ich lese Husserl, weil sein Leben mit der Epoché korrespondiert. Sartre las man genau deshalb: weil einen – ganz phänomenologisch – eine Kastanienwurzel in einem Park ansprang und in ein Nichts schob. Und dieses Nichts zugleich so etwas wie eine Haltung als Handlung nach sich zog, daß nämlich die Essenzfragen etwas mit Existenz zu schaffen haben. Some of these days. Jugendtage, lange zurück. Wir lasen das, weil des Lesers Leben und damit die eigene politische Haltung mit einer Philosophie korrespondierte, die einen in die Entscheidung stellte, und sei es, diese Art von Entscheidung als philosophisches Kriterium in Frage zu stellen. Womit der junge Leser dann schnell bei Adorno wäre. Ich rede hier von mir.

Nein, solcher engagiert-involvierte Blick auf Philosophie in jungen Jahren ist nichts, das ich als letztlich erstrebenswert und als das einzige Mögliche sehe, Philosophie zu betreiben – ganz im Gegenteil. Und das ist zudem ein Anfang, den man zumindest kritisch reflektieren muß, um darin das Problematische zu sehen und ohne diesen Anfang zugleich im nachhinein als unsinnig zu denunzieren. Solches Verhältnis zu Texten und Denken, das von einer gewissen Unmittelbarkeit geprägt ist, gehört dazu, ist aber auch wieder zu hinterfragen. Die Wege zur Philosophie sind vielfältig. Ebenso die Aufstiege. Und sie sind schwierig. Zumal wir für diesen Weg manche Lese-Passagen nehmen müssen, die einem unmittelbar nicht in den Kram passen, Schwieriges, das nicht bloß wie Hegel-Lektüre schwierig ist, sondern sperrig und staub-trocken, das Schwarzbrot der Philosophie sozusagen: Aristoteles und Kant (insbesondere der der „Kritik der reinen Vernunft“), aber auch Husserl. Dennoch – es muß sein. Martin Heidegger schreibt in seinem lange Zeit geheimen Hauptwerk „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“:

„Die großen Philosophien sind ragende Berge, unbestiegen und unbesteigbar. Aber sie gewähren dem Land sein Höchstes und weisen in sein Urgestein. Sie stehen als Richtpunkt und bilden je den Blickkreis; sie ertragen Sicht und Verhüllung.“ (Heidegger, Beiträge, S. 187)

Auch Heidegger ist ein solcher Denker, dessen Texte das Leben berühren können, nicht nur zu Lebzeiten für die Studentenschar bei seinen Auftritten in den Seminaren und Vorlesungen in Freiburg und Marburg, sondern auch nachträglich – in seinen Texten. Ich lernte sein Denken im Oberstufenkurs Philosophie kennen, ein kurzer Text zur Metaphysik- und Wissenschaftskritik, ich erinnere mich nicht einmal mehr genau, welcher es war. Mich faszinierte diese seltsame Sprache, in der die Welt in eine Darstellung kam, und später beim selbständigen Weiterlesen in „Sein und Zeit“ waren es Begriffe wie Dasein, Vorhandenheit, Zuhandenheit: daß da plötzlich nicht mehr vom (neuzeitlichen) Subjekt gesprochen und durch dessen Optik auf die Welt geschaut wird, die einem da als Ding gegenübersteht, sondern ein anderer Blick, einer aus exzentrischer Denkachse bot sich an. Und dennoch wurde in diesem Philosophieren eine Perspektive eingenommen, die exzeptionell mit dem Einzelnen zu schaffen hatte, man lese nur die Stellen zu Sorge und Angst und zum Tod oder zur Uneigentlichkeit. Auch das war in meinen Augen Gesellschaftskritik. Mit anderen Mitteln freilich, als es bei Marx und Adorno geschah und in meinen Augen unbedingt eine sinnvolle Ergänzung zur materialistischen und an Hegel orientierten Theorie. Also nicht Entweder/Oder-Denken, sondern mitten durch die vermeintlichen Gegensätze hindurch führt der Weg, so dachte ich mir.

Es fragte in „Sein und Zeit“ einer nach etwas, was uns immer schon umschließt, was aber nicht einfach im Sinne unseres herkömmlichen Vorstellens zu vergegenwärtigen ist. Eine Entzugsinstanz. Sein selbst. Seyn. Da wo die Phänomenologie nach Husserl unter anderem „Zu den Sachen selbst“ wollte, beschritt jemand einen anderen Weg, um dahin zu gelangen. Aber was um alles in der Welt ist dieses Sein? So steht der junge Mann da und blickt auf diese Welt. Mit einem Buch in der Hand. Und da war zugleich der Aspekt der Zeit, der Zeitlichkeit, was sich gut mit der Lektüre von Proust paaren ließ, den ich damals ebenfalls las. Und seltsam, so dachte ich mir: weshalb kommt Proust bei Heidegger nicht mit einem Wort vor?

Gleiches Fragen galt für Heideggers scharfe Kritik der Metaphysik. Sie wurde freilich nicht, wie bei den logischen Positivisten damals, einfach als unsinnig beiseite geschoben, was selbst wiederum von jenen Positivisten ein unsinniges Unterfangen war, das auf metaphysischen Prämissen beruhte, sondern Heidegger sah diese Metaphysik als unbedingt notwendig an. Die Metaphysiker sind die ragende Berge. Doch war diese Metaphysik im Gang des Denkens und der Philosophie ebenso zu verwinden, aber eben nicht abstrakt zu negieren. Der Begriff Destruktion – woraus später dann bei Derrida ein Verfahren (keine Methode!) der Dekonstruktion von vermeintlich natürlichen Gewißheiten und Begriffen erwuchs, eine andere Form also, um „zu den Sachen“ zu gelangen – meinte also nicht einfach ein simples Kaputtschlagen wie beim Positivismus oder ein nachmetaphysisches Denken, das die Metaphysik dank glücklichen Fortschreitens in der Philosophie für überwunden hält – gleichsam eine Aufhebung ohne Aufhebung. Dies wären allesamt Veranstaltungen einer subjektiven Tathandlung, im Grunde ein verlängerter Fichteianismus grob gesagt bzw. eine einfache Verkehrung der Vorzeichen: das also, was Heidegger (von mir zugespitzt-simplifiziert) Nietzsche in seiner Kritik vorwarf: nämlich ein umgekehrter Platonismus.

Nein, dieser Überstieg der Metaphysik verlief anders. Als Verwindung, indem Heidegger die Texte der großen Denker ernst nahm. Und, wie ich schnell bemerkte, bestand das Faszinierende an Heidegger gar nicht so sehr und nur aus „Sein und Zeit“ und den Texten aus den „Wegmarken“ sowie den „Holzwegen“, darin insbesondere der Kunstwerk- und der Hegel-Aufsatz – Bücher, die ich mir schnell käuflich zulegte. Sondern ebenso faszinierend waren Heideggers Vorlesungen zu Platon, zu Aristoteles, zu Hegel, zum Deutschen Idealismus, zu Schelling, zur Scholastik. Und vor allem die zu Hölderlin. Daß da ein Philosoph in der Dichtung selbst nicht bloß ein Moment der Philosophie ausmachte oder dort per ordre Philosophie hineinpreßte, sondern weil Philosophie und Dichtung in der Art ihres Sagens in einem Verhältnis und Verweis stehen. Ohne sogleich die Gattungsgrenzen einzuebnen und alles über einen Leisten zu schlagen. Daß aber sehr wohl in der Philosophie und in der Dichtung etwas zum Ausdruck kommt, das verwandt ist. Ein ähnlicher Gedanke, der sich auch bei Adorno findet – nebenbei.

Aber da war bei Heidegger noch etwas anderes. Diese dunkle Stelle, eine eher abgründige Seite, wenn man pars pro toto seine Freiburger Rektoratsrede von 1933 nimmt oder sein Gutachten zu Hönigswald. Ja, in der Tat: ebenfalls reizte mich bei Heidegger das Politische. So anders bei Heidegger vorzufinden, so anders als ich damals mit 18 Jahren und mit 26 Jahren dachte, und dennoch in „Sein und Zeit“ dieser dichte Ton, in den späteren Schriften dann dieser dichtende, verdichtende Philosophie, die mehr als nur das sein wollte. Es war der Stil und waren die Verstrickungen in der NS-Zeit, die mich reizten. Oft berühren uns die Abgründe im Denken und am Menschen und daß da trotz alledem ein derart wirkungsmächtiger Text steht und ins Zentrum rückt – zusammen mit Hegel, Adorno, Benjamin, Kafka, Proust, Benn, Jünger, Celan, Hölderlin und später vor allem Novalis. Der Durchgang durch die Metaphysik als deren Kritik und zugleich diese Metaphysik als notwendig zu setzen. Etwas zu denken, das so bisher niemals gedacht wurde. Wir leben aus den Widersprüchen und es faszinieren gerade solche Bruchstellen. Zumal sie bei den in Schemata denkenden Linken häufig auf Unverständnis stoßen. Texte aber sind keine Dogmenkammern, das ist eine schlicht antiphilosophische Haltung, sondern sie sind nach ihrem Inhalt und nach ihren Aussagen zu nehmen.

Philosophie freilich ist ebenso an Performanz gekoppelt – besonders in jenen jungen Jahren gilt das für viele. Es hat solche Lektüre etwas Versenkendes, Ich-Vergessenes, der Leser versteigt sich in das Denken des Anderen. Diese Faszination, die von den Heidegger-Texten ausgeht, ist schwierig zu beschreiben. Es war die Sprache vor allem und diese Art wie etwas gedacht und was da gedacht wurde. Seit über 30 Jahren bin ich an Heidegger dran und immer wieder ist da diese Bewegung von Repulsion (als Scheu, als Abstoßung gedacht) und Attraktion. Im Augenblick überwiegt die Attraktion wieder.

Heideggers „Beiträge“ (GA 65), „Das Ereignis“ (GA 71), die sogenannten „Schwarzen Hefte“ (GA 94-98), also die eher esoterischen, nicht lehrhaften, nicht akademischen Schriften Heideggers, lesen sich wie Meditationen. Es ist ein Gleiten, eine Sprache, die nicht mehr einfach philosophische Thesen aufstellt, sondern die im Vollzug, also performativ, ihren Gegenstand ausfaltet – das hat Heidegger nebenbei mit seinem „Rivalen“ Adorno gemeinsam. Nicht um Sachverhalte zu lernen, lese ich diese Heideggerschen Denkbücher, sondern um an der Erfahrung des Denkens teilzuhaben und dem zuzusehen, was da denkend geschieht: Was es ist, nicht nur dies-zu-sein, sondern was ist Seyn? Ist das, was Heidegger macht, noch Philosophie, so wie wir sie im herkömmlichen, im lehrbetriebhaften Sinne verstehen, der an den Universitäten betrieben wird? Dazu muß man sich, wie auch bei Dichtung – ohne freilich daß Heideggers Philosophie doch Dichtung ist, damit da keine Mechanismen der Entschärfung aufkommen, wie man es im akademischen Betrieb gerne pflegt – auf die Sprache Heideggers einlassen. Nicht den eigenen Horizont in den Text hineinprojizieren, sondern denken, was da steht. Verstehen. Dialektisch meinetwegen. Wozu sicherlich zunächst auch eine persönliche Voraussetzung gehört: sich nämlich von einem Text überwältigen lassen – was zugleich nicht heißt, alles das, was da steht, unkritisch zu übernehmen, gutzuheißen oder nachzubeten. Heidegger-Lesarten entwickeln.

Wie aber über solches Lesen, wie über solches Denken schreiben? Wie diese (auch privaten) Denk- und Leseprozesse faßbar machen? Lehrbücher und Kommentare, zu „Sein und Zeit“ und ebenso zu jenen esoterischen Schriften, sind mannigfach verfaßt. Man kann da das 1001te Lehrbuch vorlegen, was ich nicht als Negativ-Kritik verstanden wissen will, denn wenn ein Kommentar neue und wichtige Aspekte eröffnet, so kann er gut und wichtig sein. Doch wenn ein Philosoph andere und originelle Formen findet, diesen Denker darzustellen, so ist dies um so besser. Was es mit einem solchen anderen Zugang auf sich hat, wie man einen solchen Weg zu Heidegger findet, dazu komme ich im zweiten Teil – nämlich in der Rezension zu Peter Trawnys „Heidegger-Fragmente“. Diese längere und umweghafte Hinführung freilich war notwendig, um anschaulich zu machen, was es mit diesem Faszinosum Heidegger auf sich hat. Wie ein Text Sog und Gewalt auf einen Leser auszuüben vermag. Was auch den Titel dieses ersten Essay-Teils motiviert.

Todtnauberg

Arnika, Augentrost, der
Trunk aus dem Brunnen mit dem
Sternwürfel drauf,

in der
Hütte,

die in das Buch
– wessen Namen nahms auf
vor dem meinen? –,
die in dies Buch
geschriebene Zeile von
einer Hoffnung, heute,
auf eines Denkenden
kommendes
Wort
im Herzen,

Waldwasen, uneingeebnet,
Orchis und Orchis, einzeln,

Krudes, später, im Fahren,
deutlich,

der uns fährt, der Mensch,
der’s mit anhört,

die halb-
beschrittenen Knüppel-
pfade im Hochmoor,

Feuchtes,
viel.

(Paul Celan)

(Bildquelle: https://www.flickr.com/photos/renaud-camus/13621399955)

Von den Kulturräumen. Der freie Gebrauch des Eigenen

„Was ist deutsch?“ lautete jüngst der Titel eines Buches von Peter Trawny. Darin ging es um das Verhältnis Adornos zur Frage der nationalen Identität. Adorno betitelte seinen Aufsatz aus dem Jahre 1965 derart: „Auf die Frage: Was ist deutsch“. Also inmitten der Auschwitzprozesse, zwei Jahre nach deren Beginn. Eine Frage zudem, auf die sich umstandslos kaum antworten läßt, weil in der Art, wie sie überhaupt formuliert wird, bereits ein Problematisches liegt. Diese Schwierigkeiten thematisiert Adorno: nicht einfach auf eine Frage zu antworten, sondern überhaupt erst die Frage und deren Sinn zu reflektieren. Und genau dieses Verfahren meint immanente und dialektische Kritik. Die aus der Pistole geschossene Antwort ist meist falsch: Deutsch oder Englisch oder Französisch als eine Ansammlung von Eigenschaften oder historischen Fakten.

„Die Bildung nationaler Kollektive jedoch, üblich in dem abscheulichen Kriegsjargon, der von dem Russen, dem Amerikaner, sicherlich auch dem Deutschen redet, gehorcht einem verdinglichenden, zur Erfahrung nicht recht fähigen Bewußtsein. Sie hält sich innerhalb jener Stereotypen, die von Denken gerade aufzulösen wären. Ungewiß, ob es etwas wie den Deutschen, oder das Deutsche, oder irgendein Ähnliches in anderen Nationen, überhaupt gibt. Das Wahre und Bessere in jedem Volk ist wohl vielmehr, was dem Kollektivsubjekt nicht sich einfügt, womöglich ihm widersteht. Dagegen befördert die Stereotypenbildung den kollektiven Narzißmus.“ (Adorno, Auf die Frage: Was ist deutsch)

Darin liegt einiges an Wahrheit. Kollektivsingulare sind zwar bequem, aber auch problematisch. Manchmal aber sind sie ebenso nötig. Auschwitz gab es, weil auch Esten, Litauer, Franzosen, Niederländer und insbesondere Polen mittaten. Dennoch ist Auschwitz-Birkenau ein deutsches Vernichtungslager, kein polnisches. Trotz des erheblichen Antisemitismus der Polen. Dennoch mordeten in Auschwitz und anderswo wesentlich Deutsche. Sie organisierten diesen Massenmord, er ging von Deutschland aus. Insofern sind solche Kollektivsingulare zugleich nötig, um Zuschreibungen vorzunehmen und Dinge zu benennen. Man sieht: Es ist nicht ganz einfach. (Auf den Aspekt Adorno und die Frage, was deutsch sei, gehe ich demnächst noch genauer ein.)

Was also ist Kultur? Eine Frage von ähnlicher Sprengkraft, zumal wenn darin der eigene Referenzrahmen (mit)gemeint ist, von dem her gedacht wird, gleichsam als blinder Fleck, und nicht bloß ein abstrakter Kulturbegriff angenommen wird – heute gerne in der nichtssagenden Floskel von der Kulturwissenschaft geronnen, die es sogar bis hin zu einem eigenen Studiengang geschafft hat. Mit der eigenen Kultur ist es nicht viel anders als mit dem Körper – um es in ein Bild der Analogie zu fassen: Wer keinen Bezug zum eigenen Körper hat, wird keinen zum fremden herstellen können. Das ist – ich wiederhole es: im Sinne einer Analogiebildung – mit der eigenen Herkunft nicht anders. Im Begriff der Kultur stecken einerseits notwendige Momente, ein Ensemble von Regeln, Ritualen, Denkmustern, die sich herausgebildet haben, ebenso gehört eine gemeinsame Sprachform dazu. Doch dem Reich der Notwendigkeiten gesellt sich zugleich ein Reich der Freiheit bei. Jenseits dieser rahmenden und regelnden Zwänge und also darüber hinaus.

Mit dem Begriff Kultur ist gleichzeitig ein Versprechen von Freiheit assoziiert. Zwänge, Regeln und Konventionen erzeugen Enge, im Feld der Kunst aber hat jede Kultur die Möglichkeiten, solche Regelwerke frei zu erweitern, indem in einem fiktionalen Rahmen andere Möglichkeiten erzählerisch oder bildlich vergegenwärtigt werden und vermittels solcher Permanenz in eine Gesellschaft einsickern. Tragend wäre hier etwa der Liebesbegriff seit der Goethezeit, der wesentlich vom „Werther“ und den „Wahlverwandtschaften“ konstituiert wurde.

Die Betonung beim Begriff Kultur liegt auf dem Wort „frei“. Zu rekurrieren wäre in diesem Kontext auf die antiken Griechen, die mittels ihrer Philosophie und Kunst (wie auch der Wissenschaft) zum ersten Mal in der Geschichte ein solches Ensemble freier Menschen heraus- und auszubilden versuchten. In diesem Sinne finden wir in der griechischen Antike bis heute den Maschinenraum Europas. Das aber, im Hinblick auf das Griechentum, bedeutet zugleich: in einem emphatischen Sinne von Kultur ist diese Kultur noch gar nicht, sondern wäre erst herzustellen – Adornos Vorbehalte gegen den Kulturbegriff, insbesondere in seinem Essay Kulturkritik und Gesellschaft, sind bekannt. (Wobei dieses Moment aktiven Herstellens qua Geschichte wiederum eine teleologische Perspektive impliziert, den geschichtsphilosophischen Blick vom Heute aus: daß das, was ist, nicht vollkommen ist und seinen Zweck bisher nur marginal erreichte. Ob diese Zielperspektivierung ebenso aus einem anderen Blickwinkel heraus und weniger teleologisch gedacht, im Sinne eines blinden Spiels von Kräften in dieser Weise zu betrachten ist, scheint mir fraglich. Dialektik des Kulturbegriffes. Nietzsche und die Griechen.) Der „freie Gebrauch des Eigenen“, so formulierte es Martin Heidegger in seiner Interpretation von Hölderlins Gedicht „Andenken“.  Diesen freien Gebrauch zu lernen, dieses „Eigene eigentlich anzueignen, war für die Griechen das Schwerste.“ So schreibt Heidegger in seiner Andenken-Vorlesung (GSA 52). Und weiter heißt es da:

„Dieses Eigene und die Art seiner Aneignung kann nicht das Eigene sein, das ‚der deutsche Dichter‘ im heimatlichen Lande finden muß. Dieses Finden verlangt ein eigenes Suchen und dieses ein eigenes Lernen. Im Finden, Aneignen und Gebrauchenkönnen des Eigenen besteht die Freiheit eines Menschentums zu sich selbst. Darin ruht die Geschichtlichkeit der Geschichte eines Volkes.“ (Heidegger, Hölderlins Hymne ‚Andenken‘)

Komplex sicherlich und schwierig zu durchdringen. Aber wer seine eigene Kultur nicht begreift und zu ihr kein Verhältnis entwickelt: da bin ich skeptisch, daß er andere Kulturen bzw. andere Kulturräume angemessen schätzen kann. Es ist lediglich eine Flucht (über deren Gründe man sich Gedanken machen sollte) sowie ein Anhimmeln und Beschwärmen des Fremden als Fremdes. Paradox ist dabei, daß diese fremdgeschätzten Kulturen meist ein sehr ausgeprägtes Selbstwertgefühl besitzen. Nie kämen jene Kulturen auf die Idee, die Präferenz fürs Eigene zu leugnen. (Zu solchem nämlich ist erst der kritische Geist der Moderne fähig.) Das Andere ist deshalb ein Anderes, weil es ein Eigenes gibt. Simple Hegelsche Anerkennungsdialektik. Der Knecht ist Knecht, weil der Herr existiert. Ohne den Begriff vom Herrn ist auch der Begriff des Knechtes sinnlos.

Der von mir geschätzte Blogger und Kommentator che schrieb hier in einem Kommentar:

„Das Problem ist, dass mir bestimmte fremde Regionen nicht fremd sind. Aufgrund der Dinge die ich dort erlebt habe empfinde ich bei bestimmten Alpenregionen aber auch beim Duft ägyptischen Tees oder bei bestimmten Winkeln von Kairo ein Vertrautheitsgefühl das Heimatgefühlen zumindest ähnlich ist. Es gibt hingegen durchaus Gegenden Deutschlands, da, wo die männliche Jugend kahlköpfig einhergeht, die für mich Feindesland sind. Und grundsätzlich sehe ich mich als Weltbürger. Nicht nur Internationalist sondern auch Kosmopolit, um da zwei alte Gegensätze miteinander zu versöhnen.“

Die Art des Denkens, die hier beschrieben wird, ist in der Tat die des Historikers. Aber auch die eines Weltbürgers. Ob man einer ist, hängt sicherlich zu einem guten Teil von der eigenen Mentalität ab. Goethe war ein Weltbürger (einerseits, andererseits eben doch ein weimaranischer Frankfurter), sein Westöstlicher Divan ist das Dokument dazu, wie Kulturen sich durch den Austausch befruchten könnten. Dieses Weltbürgertum kann man so oder in anderer Art leben. Ästhetisch oder reisend. Doch ist es zugleich, wie auch der global vergleichende Blick des Historikers, eine Spezialperspektive, die die wenigsten einnehmen. Und daran scheitern dann auch – das freilich ist nebenbei gesprochen – die von der Sozialphilosophie bemühten Konstrukte einer postnationalen Konstellation, die uns Europa als Quasi-Nation ans Herz legen, wie dies etwa Jürgen Habermas Bestreben ist und wie es Karl Heinz Bohrer nicht müde wird zu kritisieren. Überdehnte Kulturräume funktionieren nur bedingt – auch wenn uns Europäer manches in der Geschichte eint. Um solche Überdehnungen zu stabilisieren bedarf es eines überzeugenden Narrativs oder einer starken medialen Inszenierung. Stichwortesind hier: Populär-Pop und Hollywood.

Interessant bei dieser Fokussierung aufs Europäische, daß die Lage Europas sich ändern kann. Wer in die Welt der Antike blickt, sieht ein Europa, das sich um den Mittelmeerraum gruppiert. Erst jüngst schlug der Carl Schmitt-Leser und Philosoph Giogio Agamben diese Umpolung von Kulturräumen vor, um sich von jenem nordischen Merkel-Europa positiv abzusetzen und an Tradition anzuknüpfen. Und auch ein Buch von Wolf Lepenies dreht die Perspektive nach Frankreich und läuft in diese Richtung eines lateinischen Reiches, der levantische Kulturraum: Die Macht am Mittelmeer. Französische Träume von einem anderen Europa.

Die eigene Kultur und Herkunft zu durchdenken und sich als Teil dieses Prozesses zu begreifen, bedeutet nicht, die Teilnehmer der eigenen Kultur allesamt zu schätzen, wie che dies kritisch anmerkte. Unangenehme Menschen gibt es in Kairo nicht minder als in Berlin. Mir sind deutsche Glatzkopf- und Stiernackennazis nicht minder fragwürdig – und doch sind sie der schlechte Bestandteil einer Kultur, wie auch die aggressiven Macho-Allüren in südlichen Kulturräumen. Solches ist mir genauso suspekt wie mir Islam-Fundamentalisten und Burka-Frauen in Paris suspekt sind.

Kultur ist ein Komplex aus langsam Gewachsenem, man legt ihn nicht einfach ab wie eine Sommerjacke an schlechten Tagen, zumal dann nicht, wenn man sich mit kulturellen Phänomenen wie Literatur, bildender Kunst, Philosophie und eben auch Geschichte beschäftigt. Dieses Bewußtsein für Kultur mag bei einem kosmopolitisch Reisenden sicherlich anders ausgeprägt sein als bei jemandem, der seine Region weniger gerne verläßt und zuweilen gerne durch Weimar, Jena, Bayreuth oder Bamberg spaziert Und ein Gräzist wird sicherlich ein anderes Verhältnis zum antiken Griechentum besitzen als einer, der sich intensiv mit der Epoche um 1800 in Deutschland befaßt. (Mit Glück geht beides.)

Keineswegs handelt es beim Denken der eigenen Kultur zwangsläufig und primär um identitäre Konstrukte, wie man es als Kritik und Hebel gerne ansetzt. Ganz gut kann man das an Brechts Text der Kinderhymne sehen. [Wobei man immer fragen kann: Wozu Nationen? Eine relativ moderne „Erfindung“. Ich selbst plädiere eher für Kulturräume. Deshalb auch meine Präferenz für ein Deutschland, wie es im 17. und 18. Jhd existierte. Denn Kultur in einem emphatischen Sinne ist eine plural verfaßte Sache, die sich aus Diversem zusammensetzt. Dazu gehört eben genauso die WM 1954, wie auch die 68er, wie auch Bratwurst mit Sauerkraut – wir denken da an ein schönes Rammstein-Lied wie „Pussy“ –, die Loreley, der wunderbare deutsche Rhein. Schön übrigens, daß im Badischen in den 70ern erstmals bei Anti-AKW-Protesten Franzosen und Deutsche gemeinsam kämpften. Walter Mossmann singt davon in seiner „Anderen Wacht am Rhein“.]

Zu dieser Kultur gehören der Kyffhäuser, die Externsteine genauso wie die Proteste in Wackersdorf, genauso wie der Deutsche Herbst und Gelsenkirchener Barock (wunderbare, schöne Möbel übrigens), von Auschwitz nicht zu schweigen und ebenso von der deutschen Romantik. Vor allem aber gehört dazu die gemeinsam erlebte gegenwärtige Geschichte wie auch die Vergangenheit. Interessant zu diesem Komplex Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen (auf den Komplex Mythos, Narrativ und Erzählung wäre genauer noch einzugehen, auch als Literaturwissenschaftler) und ebenso in Ausführlichkeit Dieter Borchmeyer, Was ist deutsch? Der Germanist Borchmeyer will den Wandel von kultureller Identität begreifen. Eine, wie ich finde spannende Frage. Denn die nationale oder regionale Kultur ist einerseits nichts Starres und bedeutet andererseits doch Tradition. Interessant in diesem Sinne sind die Briten, die sich niemals als Briten verstehen, sondern als Waliser, Schotten, Engländer und Nordiren, und zugleich doch ein ausgeprägtes Nationalbewußtsein besitzen. (Karl Heinz Bohrer berichtet in seiner Biographie „Granatsplitter“ und insbesondere in „Jetzt“ über dieses seltsame Konstrukt, das vor allem von Engländern gepflegt wird. Schotten sind da schon sehr viel widerständischer. Sie sehen sich als eigenständige Kultur, teils sogar unter der Zwangsherrschaft der Engländer geraten.)

Darin liegt die Spannung und zugleich die Dialektik des Kulturbegriffes und für die Kulturräume. Und dies macht es wiederum so schwierig, in diesem Feld zu denken. In dieser Dialektik von Kultur sind wiederum ein Münchener und ein Bayer unterschiedlich in der Prägung. Bei allem anderen, was sie zugleich eint. Angefangen bei den geschichtlichen Daten der letzten 100 Jahre. Die Einheit und Differenz des Verschiedenen und eine prinzipiell funktionale Offenheit. Kulturen sind veränderbar und beruhen zugleich auf Traditionen und Überlieferungen.

In diesem Sinne von pluraler Einheit oder aber von einheitlicher Pluralität scheint mir übrigens die neue Biographie zu Maria Theresia von Barbara Stollberg-Rillinger interessant und ebenso von Pieter M. Judson: Habsburg, Geschichte eines Imperiums. Ein Kulturraum, der es über hunderte von Jahren vermochte, unterschiedlichste Gebiete und auch unterschiedlichste Kulturen in einem nationalen Raum zu vereinen. Mal zusammenzuhalten, mal zusammenzuschweißen mit der Gewalt von Waffen. Nicht jeder übrigens in Galizien war glücklich darüber, daß das Reich der Habsburger zerbrach. Wie die Geschichte zeigt, sind solche Identitäten fragil.

Für eine Philosophie des (gelingenden) Scheiterns

„Solange die Philosophie jedoch sich nur damit beschäftigt, ständig die Möglichkeit zu verbauen, sich erst auf die Sache des Denkens, nämlich die Wahrheit des Seins, einzulassen, steht sie gesichert außerhalb der Gefahr, jemals an der Härte ihrer Sache zu zerbrechen. Darum ist das ‚Philosophieren‘ über das Scheitern durch eine Kluft getrennt von einem scheiternden Denken. Wenn dieses einem Menschen glücken dürfte, geschähe kein Unglück. Ihm würde das einzige Geschenk, das dem Denken aus dem Sein zukommen könnte.“ (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus)

heideggerIn manchen Aspekten scheint die Philosophie Heidegger der Adornos recht nahe, denn auch nach Adorno setzt sich geglückte Philosophie dem Scheitern aus. Doch sollte eine gewisse strukturelle Analogie zwischen einigen Motiven nicht die Differenzen verdecken, die beide unüberbrückbar voneinander trennt. Wenn Adorno von der Solidarität mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes spricht und darin zugleich für eine andere Form der Philosophie votiert, so mag man zunächst, was die Figur des Sturzes und des Scheiterns betrifft, eine gewisse Nähe zu Heidegger konstatieren. Doch ist gerade dieser Schluß der Negativen Dialektik explizit gegen Heideggers Destruktion der Metaphysik gerichtet.

Ähnlich allenfalls die Figur des Stürzens und jenes Motiv, daß Denken sich preisgeben muß. Auf die Gefahr des Scheiterns hin. Indem nämlich Philosophie versteht (oder begreift), daß sie ihren Gegenstand niemals vollständig in sich auflösen und festsetzen kann, sondern die Freiheit zum Objekt und ein Nichtgelingen sind geradezu konstitutiv und geben Bedingungen wahrhafter Philosophie ab, die aufs Ganze geht. In seinem Aufsatz „Der Essay als Form“ umkreist Adorno diese Annäherung an eine Sache, und fragt danach, in welcher Weise die Philosophie eine Sache in Sprache sagt. Der Philosophie ist ihre Darstellung nicht äußerlich – ähnlich wie beim Kunstwerk. Weshalb bei Adorno Philosophie und Kunst zwar in einem engen Verhältnis zueinander stehen, aber nicht ineinander aufgehen oder Philosophie ästhetisch würde. Vor solchen Gelüsten postmodernen Verschmelzens warnte Adorno schon 1932 zu Beginn seines Kierkegaard-Buches. Die Metapher des Scheiterns jedoch, eines solchen, das nicht pejorativ gemeint ist, kommt auch bei Adorno zum Tragen. Doch vom Inhalt her anders als bei Heidegger.

 

adorno

Eine Formulierung „Härte der Sache“, die wie Kruppstahl martialisch aus dem Text sticht, käme Adorno nie über die Lippen, weil sich bereits an solchen Begriffen die Ideologie des Denkens niederschlägt. Ein Falsches, das sich in der Wahl der Worte verrät. Zudem steht, indem Heidegger die Härte bereits vorab konstatiert, die Bestimmung der Sache, die eigentlich doch im Offenen liegen sollte, bereits fest. Gleiches gilt von der „Wahrheit des Seins“, die Heidegger präponiert. Was solche Metaphern vom Harten betrifft, beklagte sich Adorno in diesem Sinne bereits über Hegel, als dieser in der „Wissenschaft der Logik“ sich übe die gewöhnliche Zärtlichkeit für die Dinge mokierte.

Auch Philosophen wie Marcus Steinweg greifen dieses Motiv des Scheiterns auf, wenn sie – an Nietzsche angelehnt – von einem überstürzten Denken bzw. von einer „Philosophie der Überstürzung“ sprechen. (An der Berliner Volksbühne gab es dazu eine anregende Vortragsreihe.) Bei Steinweg ist dieses Philosophieren jedoch um einen akzeleratorischen Aspekt erweitert. In der Bewegung erst geschieht unser Denken, was einerseits, wenn wir etwas überstürzen, Schnelligkeit und auch Voreiligkeit bedeutet, zugleich aber steckt in dem Begriff genauso der Sturz, der große oder der kleine Fall. Von Nietzsche kennen wir aus dem „Zarathustra“ jenen Satz, daß man alles, was fällt, stoßen solle. In diesem Sinne wird die Kluft nicht mehr überwunden, sondern es erfolgt der Sturz in den Abgrund. Auch dies ist eine Form des Scheiterns. In der Einleitung heißt es, in den Worten des Zarathustra:

„Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.

Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben.

Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist.

Ich liebe die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden.“

Doch nichts bleibt, wie es ist, gerade in dieser Rasanzzeit des Fin de Siècle. 1917, drei Jahrzehnte später schrieb Franz Kafka eine kleine Erzählung, darin der Mensch selbst zur Brücke wird. Ganz und gar unmetaphorisch. Was bei Nietzsche noch als eine Art rhetorische Strategie sich gibt – der Postromantiker Nietzsche erzeugt immer noch jene romantischen Bilderfunken, darin ganz Kind seiner Metaphysik der Zeit –, gerät bei Kafka zur beklemmenden und doch auch wieder komischen Tragödie.

„Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich. Diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm habe ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach. Kein Tourist verirrte sich zu dieser unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet. – So lag ich und wartete; ich musste warten. Ohne einzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören, Brücke zu sein.

Einmal gegen Abend war es – war es der erste, war es der tausendste, ich weiß nicht, – meine Gedanken gingen immer in einem Wirrwarr und immer in der Runde. Gegen Abend im Sommer, dunkler rauschte der Bach, da hörte ich einen Mannesschritt! Zu mir, zu mir. – Strecke dich, Brücke, setze dich in Stand, geländerloser Balken, halte den dir Anvertrauten. Die Unsicherheit seines Schrittes gleiche unmerklich aus, schwankt er aber, dann gib dich zu erkennen und wie ein Berggott schleudere ihn ans Land.

Er kam, mit der Eisenspitze seines Stockes beklopfte er mich, dann hob er mit ihr meine Rockschöße und ordnete sie auf mir. In mein buschiges Haar fuhr er mit der Spitze und ließ sie, wahrscheinlich wild umherblickend, lange drin liegen. Dann aber – gerade träumte ich ihm nach über Berg und Tal – sprang er mit beiden Füßen mir mitten auf den Leib. Ich erschauerte in wildem Schmerz, gänzlich unwissend. Wer war es? Ein Kind? Ein Traum? Ein Wegelagerer? Ein Selbstmörder? Ein Versucher? Ein Vernichter? Und ich drehte mich um, ihn zu sehen. – Brücke dreht sich um! Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich stürzte, und schon war ich zerrissen und aufgespießt von den zugespitzten Kieseln, die mich immer so friedlich aus dem rasenden Wasser angestarrt hatten.“

Solche Wendungen bezeichnet man im Griechischen etymologisch mit dem Begriff Katastrophe. Ein Subjekt, das den Augenblick seines eigenen Sturzes aufzuzeichnen vermag und noch den des eigenen Todes seismographisch registriert und sich im Sterben überlebt. Proust wünschte sich dies sehnlichst. Noch auf seinem eigenen Sterbebett ließ er sich Schreibzeug kommen, um den Tod Bergottes genauer und exakter formulieren zu können. Wir müssen uns das moderne Subjekt als einen Jäger Gracchus vorstellen. (Möglich aber ist dies alles nur in der Literatur, in den Fiktionen, in jenen wunderbaren oder dramatischen Welten, die wir im Kopf uns und für andere erzeugen. Auch darin immer nahe am Scheitern gebaut: Denn Bleiben ist nirgends dichtete Rilke in seinen Duineser Elegien.)

White Noise – Martin Heidegger zum 40. Todestag

heidegger41Mit zweierlei Maß messen? Da haben wir einmal Heideggers Philosophie und zum anderen seine Äußerungen zum Politischen. Das eine ließe sich vom anderen abtrennen. Aber kann man diese Dichotomie tatsächlich aufziehen? Jean-François Lyotard schrieb in „Heidegger und ‚die Juden‘“, er mache diese Form des Dualismus nicht mit: entweder Heidegger sei ein großer Denker, dann könne er kein Nazi sein. Oder er sei ein Nazi, dann könne er kein großer Denker sein. Denn das eine schließt das andere nicht kategorisch aus – der Mensch ist aus krummem Holz. Freilich tröstet dieser Satz wenig, geschweige daß er millionenfachen Mord entschuldigte. Heidegger war politisch, das zeigt seine Rektoratsrede, sein Gutachten über Hönigswald, seine Schlageter-Rede am 26. Mai 1933 vor der Universität Freiburg, und dieses Politische war: „Weder Unfall noch Irrtum“, wie der Titel eines Aufsatzes von Jean Luc Nancy 1988 in dem Sammelband „Die Heidegger-Kontroverse“ lautete. Nancy schrieb den Essay nach dem Enthüllungsbuch von Victor Fariás. Inzwischen sind die sogenannten „Schwarzen Hefte“ – herausgegeben von Peter Trawny – erschienen. Darin finden sich Passagen eindeutig antisemitischen Inhalts:

„Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfaßbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern.“ (Heidegger, Überlegungen XII–XV, in GSA 96, S. 262)

„Die zeitweilige Machtsteigerung des Judentums aber hat darin ihren Grund, daß die Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen Entfaltung, die Ansatzstelle bot für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechenfähigkeit, die sich auf solchem Wege eine Unterkunft im ‚Geist‘ verschaffte, ohne die verborgenen Entscheidungsbezirke von sich aus je fassen zu können.“ (Ebd. S. 46)

„Die Juden ‚leben‘ bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur Wehr setzten. Die Einrichtung der rassischen Aufzucht entstammt nicht dem Leben selbst, sondern der Übermächtigung des Lebens durch die Machenschaft. Was diese mit solcher Planung betreibt, ist eine vollständige Entrassung der Völker durch die Einspannung derselben in die gleich gebaute und gleichschnittige Einrichtung alles Seienden. Mit der Entrassung geht eine Selbstentfremdung der Völker ineins – der Verlust der Geschichte – d. h. der Entscheidungsbezirke zum Seyn. Und damit verschütten sich die einzigen Möglichkeiten, daß Völker ureigener Geschichtskraft in ihrer Gegenwendigkeit sich zur Einheit bringen: z. B. der wissende Begriff und die Leidenschaft der Besinnung mit der Innigkeit und Weite des Unheimlichen – Deutschtum und Russentum – was mit ‚Bolschewismus‘ nichts zu tun hat, der nichts ‚Asiatisches‘ ist, sondern nur die Ausformung westlich-neuzeitlichen Denkens auf der Stufe des ausgehenden 19. Jahrhunderts – die erste entschiedene Vorwegnahme der uneingeschränkten Macht der Machenschaft.“ (Ebd., S. 56)

In perfider Logik wird bei Heidegger an dieser Stelle der Rassismus ausgerechnet als Merkmal des „Judentums“ gezeichnet.

„Kruder Nazi-Kram“, so mag man das leichtfertig abtun. Seinsgeschichtliche Esoterik, die Ontologisches ontisch reifiziert. Wenn die Wirklichkeit ins Denken einbricht und dieses kontaminiert, sieht es manchmal weder für die Wirklichkeit noch für das Denken  gut aus, wenn es den Anstrengungen  des Begriffs nicht als gewachsen sich erweist. Aber das Diktum „Heidegger ist halt Faschist!“ reicht mir nicht aus – auch im Sinne jener Überlegungen Lyotards nicht – und bleibt eine Behauptung, die sich erst am Text Heideggers zu erweisen hat. Zumal wir in seinen zahlreichen Texten eben nicht eine sich durchhaltende antisemitische, rassistische Suada finden. Ob Heideggers „Philosophie bis in ihre innersten Zellen faschistisch ist“, wie Adorno schreibt, mußte man im Detail untersuchen: wieweit Begrifflichkeiten Heideggers in diesem Sinne kontaminiert sind und zumindest in den Konnotationen eine Art seynsgeschichtliches Volkstum mitschwingt. In dieser knappen Sicht auf Heidegger ist dazu jedoch kaum der Platz.

[Hinweisen möchte ich auf das Buch von Philippe Lacoue-Labarthe „Die Fiktion des Politischen“, das sich kritisch mit Heidegger auseinandersetzt, ohne ihn zu verteufeln. Lacoue-Labarthe kommt aus dem Umfeld Derridascher Dekonstruktion, beschäftigte sich mit der literarischen Romantik, mit Hölderlin und Nietzsche, ohne daß er sich, wie auch Derrida es nie tat, rein affirmativ zu Heidegger verhielt. Endlich übersetzt übrigens, nach mehr als 38 Jahren liegt nun bei Turia + Kant eines seiner wichtigsten Werke vor, das er zusammen mit Jean-Luc Nancy  schrieb: „Das Literarisch-Absolute: Texte und Theorie der Jenaer Frühromantik“.]

Daß Heidegger der heimatlichen Scholle und einem Begriff eigenen Bodens näher stand als dem Kosmopolitismus und reisender Weite spricht weder gegen noch für Heidegger. Ohne sie gleichzusetzen, denn ihre Philosophien sind nicht in Parallele oder Ähnlichkeit zu bringen, finden wir jedoch auch bei Adorno starke Bezüge zur Frankfurter Heimat und zum Odenwald als Ausdruck philosophischer Erfahrung. Nur daß Adorno dabei nicht deutschtümelnd verfährt, sondern im Sinne der brechtschen Kinderhymne Heimat als ein Eigenes nimmt, das genauso dem Anderen zukommt und seinen Erfahrungsraum ausmachen kann.

Während Heidegger in „Der Feldweg“ oder „Warum bleiben wir in der Provinz?“ sich geriert, als befänden wir uns vom Stand der Produktivkräfte in der Sattelzeit um 1800 herum und entsprechend sich die Sprache Heideggers Sprache gestaltet, als lebten wir immer noch unter Hirten, Schafen und Bauern mit wettergegerbtem Gesicht, die in der Schankstube im Herrgottswinkel hocken, ist der Text Adornos lange schon in der Moderne angekommen. Technischer Fortschritt wird nicht abstrakt verdammt, sondern Adorno betrachtet ihn unter dialektischer Perspektive. Nicht Heimatverschrobenheit ist es, die ihre Zeit in einer anderen Epoche hat und damit anachronistisch wirkt, Authentisches lediglich simuliert, sondern Ortschaften und literarische Landschaften als Modelle von Erfahrung, die sich in seiner Philosophie und in den Erinnerungen auftun. Seine feine Miniatur „Amorbach“ in dem Band „Ohne Leitbild“ (ein Titel nebenbei, der Heidegger nie in den Sinn käme) gibt davon Zeugnis und ebenso die Passagen in den „Meditationen zur Metaphysik“, die sich der Kindheit widmen. Ohne je in den Kitsch und in den Pathos sprachlicher Atavismen zu gleiten. Bei Heidegger bleibt die Sprache der problematische Rahmen. Der ontologische Bezirk reinen Seins vergegenständlicht sich in solchen Schreibszenen ontisch. Kant wäre es in diesem Kontext sicherlich nicht in den Sinn gekommen, das Ding an sich reifizierend durch die Welt und über die Felder tanzen zu lassen. So aber kann es gehen, wenn empirischer und intelligibler Charakter in der Trennung unscharf werden.

Der von Peter Trawny gebrauchte Begriff eines „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ in seinem Buch „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ scheint mir in diesem Kontext jedoch problematisch. Es ist ja nicht so, daß Antisemitismus lediglich eine philosophische Metapher wäre – ohne Realgrund, ohne Rückstand und ohne Folgen. Dieser seinsgeschichtliche Antisemitismus ist – wie auch der Antijudaismus – mit dem „eliminatorischen Antisemitismus“ (D. Goldhagen) eng verknüpft. Dieser erwächst zwar nicht mit Notwendigkeit aus jenen Varianten des Antisemitismus, doch führen im Gang der Geschichte und in den Aufsteigerungsrhetoriken Wege ins Progrom und in die Shoah. Jener Antisemitismus bleibt hinreichende Bedingung, damit aus den Worten am Ende auch die Konsequenzen gezogen werden können.

Aber es gibt bei Heidegger ebenso Passagen, die zeigen, daß er kein Rassist im üblichen Sinne war; sein Antisemitismus speist sich aus anderen Quellen:

„Alles Rassedenken ist neuzeitlich, bewegt sich in der Bahn der Auffassung des Menschen als Subjektum. Im Rassedenken wird der Subjektivismus der Neuzeit durch Einbeziehung der Leiblichkeit in das Subjektum und die Vollständige Fassung des Subjektums als Menschentum der Menschenmasse vollendet.“ (Heidegger, Überlegungen XII–XV, S. 48)

Bei Heidegger ist dieser Antisemitismus in einer grundsätzlichen Kritik der neuzeitlichen abendländischen Moderne verwurzelt, für die Begriffe wie Machenschaft und Technik stehen. Freilich gibt es – wie oben – Passagen, die nahelegen, daß dieser Modernismus wesentlich jüdischen Ursprungs ist.

Was bleibt von Heidegger? Die Shoah zumindest findet sich in keinem der Schwarzen Hefte und ebensowenig in Heideggers späteren Schriften je erwähnt. Nicht anders bei seinen drei Begegnungen mit Paul Celan zwischen 1967 und 1970. Als Celan Heidegger in seiner Hütte im Schwarzwald besuchte, schwieg dieser und Celan dichtete in  „Todtnauberg“:

die in dies Buch
geschriebene Zeile von
einer Hoffnung, heute,
auf eines Denkenden
kommendes
Wort
im Herzen,

Zum Ende des Besuchs notierte Celan für Heidegger: „Ins Hüttenbuch, mit dem Blick auf den Brunnenstern, mit der Hoffnung auf ein kommendes Wort im Herzen. Am 25. Juli 1967/Paul Celan.“ Das Wort kam nicht, kam Heidegger nie über die Lippen.

Was bleibt von Heideggers Philosophie? Vielleicht ein Ringen in Sprache um etwas kaum Darzustellendes. Sprachliche Anachronismen, die sich an etwas heranwagen, was nicht in einfacher kommunikativer Rede und diskursiv gewonnen werden kann – schon gar nicht in apophantischen Aussagen. Vielleicht die Faszination für jene dunklen Philosophen, die sich dem Stahlgehäuse kommunikativer Rationalität entziehen. Jener Rest, der näher an Kunst und Dichtung ist als die Texte eines Habermas oder eines Rawls. (Wobei ich selber auch hier nicht die Entweder-Oder-Logik mitmache.) In solchem Verfahren mag ein theologischer Rest überwintern, wie wir es im Sprechen der Mystik finden oder wenn wir uns einem Numinosen nähern. (Wobei Heidegger solchen Deutungen sofort widersprechen würde, da sie in seiner Diktion der schlichte Ausdruck abendländischer Onto-Theologie sind.) Den anderen Anfang zu wagen, wie Heidegger dies in Drehungen, in Spiralen und Verwindungen von Metaphysik plante. Seine Sprache kreist darum, sie versucht zu zeigen und zu deuten. Nicht anders als Kunst. Heidegger selbst spricht in leicht altfränkischer Manieriertheit von „Winken“. Seine Gesamtausgabe ist mit jenem Motto übertitelt: „Wege – nicht Werke“. Diese Philosophie will ein Etwas in Begriffen anordnen und in Sprache einholen, was sich in keinen Begriff je einfach wird übersetzen können.

[Daß sich das Sein und manchmal auch ein Text entzieht, zeigt sich in diesem Falle übers Wesen und die Tücke der Technik: Das was ich gestern abend formulierte, schrieb und speicherte, war am nächsten Morgen nicht mehr vorhanden. So daß ich diesen Essay aus meinem Gedächtnis wiederhole. Oder rekonstruiere. Einige Überlegungen im Sinne einer Kritik Adornos, etwa an einem Begriff wie dem der Destruktion von Metaphysik sind dabei auf der Strecke geblieben. Aber das hebt sich auf und kann warten. Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen, wußte Hegel. Ein andermal. Heidegger wird uns im Laufe dieses Blogexperiments ein Stück weit auf Weg und Umweg begleiten.]

White noise.

Nationalsozialismus und Philosophie – Heideggers Faschismus (2)

Vom Krankenlager aus über Heidegger schreiben? Nun – es wird sich schon nicht um das Sein zum Tode handeln; wenngleich wir alle – trivialerweise – dahinein gehalten sind, mit jener Barke übersetzen, über den Fluß, Lethe entlang, Styx oder Phlegethon, flammenzüngelnd, allesverbrennend, und dem Fährmann Charon eine Münze in die Hand gedrückt, und wenn unsere Bezüge unaufhörlich in dieses Schwarze rinnen, so daß unsere Welthaltigkeit ins Unaussprechliche zerfällt. Allenfalls im Vorlauf auf den Tod vermögen wir zu poetisieren. Das, finde ich, habe ich schön formuliert. Aber meist wird über den Tod im Tone der Afterphilosophie reflektiert und geschrieben. Manche lieben es zu herrndorfisieren. Tja, reiner Widerspruch der Rose//am Ende heißt es tote Hose. Rilke für Schaulustige, auch mal eine neue Rubrik, neben Rilke für Gestreßte oder Rilke im Winter oder Rilke auf dem Krankenbett oder Rilke für den Hausgebrauch. Egal wie. Mit dem Begriff des Todes sind wir bereits dicht am Thema.

pmdesa3nazis2coverDas Magazin „Philosophie“ brachte im Januar eine Sonderausgabe auf den Markt, und zwar widmet sich dieses Heft dem Zusammenhang von Philosophie und Nationalsozialismus. Für den halbgebildeten Laien mag der eine oder andere Beitrag brauchbar sein und Instruktives zutage fördern. Leider jedoch kratzen solche Magazine lediglich an der Oberfläche von Themen, und deren Inhalte bleiben am Ende der Sache weitgehend äußerlich. Kursorisch wird mal dies, dann wieder das gesichtet, ohne daß es in die Tiefe geht, was freilich ein solches Magazin nun auch gar nicht leisten kann und möchte: insofern will ich hier keine Inhalte überfrachten sowie Verknüpfungen und Bezüge einfordern, die ein populärwissenschaftliches Magazin nun einmal nicht herstellen kann. Verhehlen will ich dennoch nicht mein Unbehagen, das sich bei solchen Magazinen strikt einstellt. Immerhin findet sich in dem Heft eine Auswahl an Primärtexten: Ein Auszug aus Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen, von Adorno eine Passage aus seiner Vorlesung „Metaphysik. Begriff und Probleme“, wo er eine kritische Einschränkung seines Satzes vornimmt, daß es barbarisch sei, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. Von Agamben lesen wir einen Text über das Lager als Nomos der Erde, und unvermeidlich ist Celans „Todesfuge“ dabei, der dieses Gedicht am liebsten gar nicht erst geschrieben hätte, wenn er geahnt hätte, auf welche Weise es instrumentalisiert und zur Erbauungslektüre verbreitet wurde, so daß die Schrift des Gedichts sich verflüchtigte. Eine passendere Auswahl für dieses Heft wäre vermutlich Celans „Engführung“ gewesen, das ebenfalls, aber auf eine hermetischere Weise die Shoah ins bildlose Bild bringt. Die Sprache der „Engführung“ erzeugt sehr viel rätselhafter einen Ton, vielschichtig und interpretatorisch doch offener als die „Todesfuge“. Andererseits sagt die Drastik der „Todesfuge“ alles das, was an Grauen herrscht: schwarze Milch und jener Tod, der ein Meister aus Deutschland ist, „dein blondes Haar Margarete//dein aschenes Haar Sulamith“.

Zumindest lassen sich aus den zahlreichenPrimärtexten, von Karl Kraus über Jean Améry, John Dewy, Hannah Arendt und Vladimir Jankélévitch unterschiedliche Positionen und Aspekte herauslesen und in weiterführender Lektüre der Primärtexte dann eben auch vertiefen.

Zu lesen gibt es zudem ein Interview mit dem Philosophen Volker Gerhardt über Nietzsche und die Nationalsozialisten, darin es um die Vielschichtigkeit Nietzsches und die Möglichkeiten geht, dessen Philosophie faschistisch zu vereinnahmen, was freilich dem, wie Gerhardt es nennt, Pluralismus von Nietzsches Philosophie widerspricht. Weiterhin wird die Politologin Barbara Zehnpfennig über Hitlers „Weltanschauung “ und über „Mein Kampf“ interviewt. Im ganzen sicherlich ein Strauß, aus dem sich das eine oder andere herausziehen läßt.

Zudem finden wir in dieser Ausgabe einen Exkurs zum „Fall Heidegger“. Darin kommt ebenfalls Sidonie Kellerer zu Wort, die einen kleinen Text beisteuert. Bedauerlich ist es, daß in diesem Aufsatz nicht weiter den Möglichkeiten (oder eben: Unmöglichkeiten) einer kritischen Ausgabe der Werke Heidegger nachgegangen wird, die in der „Zeit“ vom November 2014 angesprochen wurde. (Ich schrieb an dieser Stelle darüber.) Hier hätte sich der Leser mehr gewünscht. Lediglich die verborgenen und zugleich verbogenen Wahrheiten im Text Heideggers werden angedeutet sowie die Legendenbildung, die er über seinen 1938 als Vortrag gehaltenen Text „Das Zeitalter des Weltbildes“ inszenierte, worin Heidegger die nationalsozialistische Weltanschauung vorgeblich ablehnte. Allerdings sind in diesem Text Passagen nachträglich umgeschrieben worden: das, was Heidegger 1938 vortrug, und das, was dann 1950 in dem Band „Holzwege“ veröffentlicht wurde, weicht in einigen Stellen voneinander ab, wurde nachträglich und beschönigend retuschiert. Ungenau und unsauber ist es freilich, wenn Sidonie Kellerer den Derrida-Schüler Philippe Lacoue-Labarthe zitiert, der Heidegger attestierte, dieser habe begriffen, daß die Shoah den Höhepunkt der aufklärerischen Moderne darstelle, ohne jene Heidegger gegenüber kritischen Passagen aus Lacoue-Labarthes Buch „Die Fiktion des Politischen“ (und insbesondere auch in späteren Aufsätzen von ihm) zu nennen. „Nicht mehr und nicht weniger als das Wesen des Abendlandes ist es, was sich in der Apokalypse von Auschwitz enthüllt hat – und sich seitdem unaufhörlich weiter enthüllt. Und bei dem Denken dieses Ereignisses hat Heidegger versagt.“ (Lacoue-Labarthe, Die Fiktion des Politischen)

Interessant zu lesen ist die Zusammenfassung jenes philosophischen Disputes zwischen Heidegger und Cassirer in Davos. Unterschiedlicher als der manierliche Cassirer und der emporstrebende Heidegger können zwei Denker kaum sein. Rivalitätsszenarien des Philosophiebetriebs zwischen zwei ganz und gar unterschiedlichen Strömungen des Denkens oder Auseinandersetzungen in der Sache? Als Serviceleistung dieses Blogs: Abgedruckt finden sich diese Gespräche zwischen Heidegger und Cassirer im Anhang des Bandes „Kant und das Problem der Metaphysik“

Treffend in bezug auf die Philosophie Heideggers ist sicherlich das in diesem Heft abgedruckte Zitat vom Heidegger-Schüler Karl Löwith aus seinem Text „Der europäische Nihilismus. Betrachtungen zur Vorgeschichte des europäischen Krieges (1940)“. Darin schreibt Löwith über Heideggers 1933 an der Freiburger Universität gehaltene Rektoraktsrede „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ und bringt den nicht nur latenten Faschismus Martin Heideggers auf den Punkt:

„Der ‚Arbeits-‘ und ‚Wehrdienst‘ wird eins mit dem ‚Wissensdienst‘, so daß man am Ende des Vortrags nicht weiß, ob man Diels‘ Vorsokratiker in die Hand nehmen soll oder mit der SA marschieren. (…) Gegenüber Heideggers substanzieller Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen Stimmung und Denkweise war es unangebracht, seine politische Entscheidung isoliert zu bemäkeln oder auch zu beschönigen, statt sie aus dem Prinzip seiner Philosophie zu erklären. Nicht Heidegger hat ‚sich selber mißverstanden‘, als er für Hitler eintrat (…), sondern diejenigen haben ihn nicht verstanden, die nicht begriffen, warum er dies tun konnte.“

Da mag etwas dran sein und es wird sich diese Philosophie zwar einerseits fragen lassen müssen, wieweit ihr als Subtext solcher Faschismus mal manifest, also deutlich sichtbar, dann wieder latent eingeschrieben ist. Während im selben Zuge der Text Heideggers rekonstruktiv und in Dekonstruktion zugleich in die Lektüre gebracht werden muß. Kritik kann nur dialektisch sein oder aber sie ist gar nichts.

 Philosophie Magazin, Sonderausgabe: Die Philosophen und der Nationalsozialismus, 9,90 EUR

Nationalsozialismus und Philosophie – Heideggers Faschismus (1)

Ich führe diese Sichtung Heideggers bzw. den Komplex „Heidegger und das Politische“ nicht als Selbstzweck durch und betreibe diese Lektüre nicht deshalb, weil ich das Feuilleton und bereits in anderen Medien Geschriebenes schlicht wiederkäuen möchte, um diesen Blog zu füllen. Sondern ich stelle mir immer wieder die Frage, wieweit in einem philosophischen Text die politischen Verstrickungen eines Autors bereits eingeschrieben sind – explizit oder implizit. Auch im Sinne einer Logik des Unbewußten. Zumal das Vokabular der Texte Heideggers manchem Aspekt der NS-Ideologie gefährlich nahe kommt. Adorno zeigte in seinem „Jargon der Eigentlichkeit“ auf polemische Weise recht gut auf, wieweit bestimmte Denkfiguren und Begriffe kontaminiert sind – nicht nur bei Heidegger selbst, sondern ebenso in dessen Umfeld und einige Stufen tiefer gelagert auf der Ebene der ganz gewöhnlichen Entschlossenheit der Volksgemeinschaft, die sich einige Jahre später dann mühelos in die kleinbürgerlich-akademische Gesellschaft der 50er-Jahre-BRD verwandelte und in hohen Ton, aber in anderer Verkleidung dennoch das Konservative weiter proklamierte. Jargon eben, der als Schmiermittel funktioniert, um die Interessen der Rackets in der „verwalteten Welt“ geschminkt oder ungeschminkt durchsetzen zu können.

Wie aber können Antisemitismus  – sei er nun seinsgeschichtlich gewirkt oder eher, wie bei Heideggers Frau Elfriede, Bewußtseinskonstante – und kleinbürgerliches Denken dennoch einen der bedeutenden philosophischen Texte des 20. Jahrhunderts hervorbringen? Oder ist, wie Habermas schrieb, der Philosophie Heideggers der Faschismus qua einer bestimmten Begrifflichkeit und Denkweise bereits eingeschrieben, so daß die Biographie per se schon den Gehalt seiner Philosophie tangierte? Es ist diese Diskrepanz zwischen Text und Vita, die mich immer wieder zu dieser Frage hinzieht. Auch bei der Lektüre der „Schwarzen Hefte“. Gleiches gilt für die Haupttexte Heideggers und für seine Vorlesung. Vieles läßt sich in Heideggers Text kritisieren. Vieles jedoch bleibt im Text Heideggers faszinierend (ich schrieb darüber) und legt im Sinne eines fast schon dichterischen Sprechens, das Wahrheit nicht mehr nur als Aussagewahrheit kontextualisiert, die sich kommunikativ-mitteilend oder diskursiv vermitteln läßt, eine Dimension der Philosophie frei, die auf eine Dekonstruktion abendländischer Rationalität abzielt. Womöglich stehen sich in einigen Aspekten Ideologiekritik, Dekonstruktion und Heideggersche Destruktion näher als man für gewöhnlich denken mag, ohne daß freilich sich nun alles in eins und als dasselbe überführen ließe, denn dazu sind die philosophischen Voraussetzungen bereits zu unterschiedlich gebaut.

Ja, ja, durchaus – es ist vieles, fast alles bereits gesagt zum Komplex „Heidegger und der Nationalsozialismus“. Aber nicht ganz. Bisher galt bei jenen, die zwar Heideggers Haltung, sein Denken, sein Kleinbürgertum, seine heimattümelnde Politik, seinen Jargon des Eigentlichen und Ursprünglichen nicht teilten, aber dennoch nicht von vornherein von den Texten lassen wollten, die Differenz zwischen Leben und Werk. Das eine war jene opportunistische Lebensform eines zutiefst Konservativen, der vielfach Worte für jene Soldaten von Hitlers faschistischer Wehrmacht fand, die in der Sowjetunion in Gefangenschaft waren, aber kein einziges kam ihm über die Lippen, nicht der winzigste Ton zur Shoah. Dem doch wohl zentralen Ereignis des 20. Jahrhunderts, dem eine seinsgeschichtliche Dimension eingeschrieben ist, so daß es sich kaum wortlos ignorieren läßt. Das andere sind seine Texte, die in der Zeit des deutschen Faschismus und davor geschrieben wurden.

In den „Schwarzen Heften“ nun fanden sich Passagen eindeutig antisemitischen Inhalts, die zumindest andeuten, daß dem Seyns-Denken Heideggers bestimmte Figuren des Antisemitismus nicht fremd gewesen sind. Und so stellt sich die Frage, inwieweit sich Anzeichen eines solchen Antisemitismus ebenso in bestimmten Passagen seiner Texte finden, die in der Gesamtausgabe veröffentlicht wurden. Bisher gab es keine expliziten Hinweise darauf, daß nachträglich Texte umgeschrieben wurden. Andererseits gibt es keinen Einblick in die Editionspraxis der im Klostermann Verlag erschienenen Heidegger-Gesamtausgabe. Wieweit in der Abschrift der Handschriften Heideggers durch seinen Bruder Fritz bestimmte inkriminierende Stellen in weiser Voraussicht und opportunistisch mit Billigung Heideggers, der den Text gegenlas, vom Bruder getilgt wurden, bleibt im Dunkel, solange Forscher keinen Einblick in die Ursprungsmanuskripte nehmen können und dürfen, sofern diese noch zugänglich sind. (Kritiker dieser Kritik werden vermutlich anführen: „Diese Retusche geschah doch um der Sache des Denkens willen.“ Doch ganz so einfach gestaltet es sich hier nicht.)

Inzwischen jedoch scheint die Frage, wieweit bestimmte Texte in der Gesamtausgabe nachträglich bearbeitet wurden, aufgrund eines Textfundes im Literaturarchiv Marbach ein wenig anders sich darzustellen. Die „Zeit“ der Ausgabe vom 13. November 2014 berichtet darüber in einem Artikel von Eggert Blum. So entdeckte die an der Universität Siegen lehrende Wissenschaftlerin Sidonie Kellerer im Literaturarchiv Marbach Belege für eine solche Textkorrektur, sprich nachträgliches Beschönigen:

„Der 36-jährigen Philosophin Sidonie Kellerer ist es gelungen, eine solche Retusche an einem für die Nachkriegsrezeption Heideggers entscheidenden Punkt nachzuweisen. 1950 erschien im viel diskutierten Sammelband Holzwege Heideggers Vortrag über die Zeit des Weltbildes, den er 1938 in Freiburg gehalten hatte. Heidegger, bis 1945 Mitglied der NSDAP und darum bemüht, sich neu zu inszenieren, versucht darin, sein Publikum davon zu überzeugen, dass er schon zwölf Jahre zuvor die nationalsozialistische Weltanschauung öffentlich kritisiert und vor den Gefahren der modernen Technik gewarnt habe.

Sidonie Kellerer bekam Zweifel an dieser Version und untersuchte 2010 im Literaturarchiv Marbach, wo Heideggers Nachlass liegt, seine Manuskripte. Fassung eins, Fassung zwei, weitere Abschriften. Sie findet schließlich heraus, welche Version 1938 tatsächlich vorgetragen wurde. Das Ergebnis ihrer philologisch-philosophischen Kärrnerarbeit: Der 1950 in den Holzwegen veröffentlichte Text weiche in wichtigen Passagen vom ursprünglich gehaltenen Vortrag ab. Heidegger, so Kellerer, fügte hinzu, strich weg, formulierte subtil um – und verschwieg all dies dem Leser. So sprach er 1950 vom ‚planetarischen Imperialismus des technisch organisierten Menschen‘ und ‚von einer technischen Herrschaft über die Erde‘ – doch im Redemanuskript von 1938 steht laut Kellerer nichts davon.

Damit nicht genug. Verlangt Heidegger 1938 von den Deutschen, auf der Höhe der Neuzeit zu sein, die ‚entarteten‘ Formen der Subjektivität zu bekämpfen und sich dabei der ‚totalen Mobilmachung‘ und der ‚Züchtung‘ zu bedienen, so behauptet er zwölf Jahre später, er habe den Nationalsozialismus als Höhepunkt einer von der Technik beherrschten Moderne kritisiert. Auch in der späteren Gesamtausgabe findet sich kein Hinweis auf die Manipulationen.

Bei ihrer Arbeit im Literaturarchiv Marbach stieß Sidonie Kellerer noch auf eine weitere Geschichtsfälschung. Für seinen Vortrag Die Zeit des Weltbildes, so behauptete Heidegger nach dem Krieg (und so steht es auch in der Gesamtausgabe), sei er 1938 von der NS-Zeitung Der Alemanne heftig angegriffen worden, und die Universität habe ihn gegen diese Attacke nicht verteidigt.

Tatsächlich stimmt das Gegenteil. Die Universität hatte das Kampfblatt sehr wohl scharf gerügt und sich vor ihr NS-Dozentenbunds-Mitglied Heidegger gestellt. Kellerer kann dies anhand der Korrespondenz zwischen dem Pressesprecher der Universität und Heidegger nachweisen; aber der Briefwechsel, der das belegt, wurde ihr im Literaturarchiv Marbach nur versehentlich ausgehändigt, sie hätte ihn gar nicht einsehen dürfen, weil er bisher nicht in der Gesamtausgabe veröffentlicht wurde – und dort steht er auch weiterhin nicht auf dem Editionsplan.“

Diese Art einer nachträglichen Umschrift aus rein opportunistischen Gründen wirft zumindest einiges an Fragen auf, und der Artikel von Blum geht noch weiter, indem er zeigt, wie die Publikation von eindeutig antisemitischen Äußerungen Heideggers verhindert wurde. So stieß Marion Holz, Professorin in Siegen, im Archiv zu Marbach auf eine Mappe mit Seminarprotokollen, die ihr lediglich durch einen Zufall und „versehentlich“ ausgehändigt wurde. Es schreibt Blum:

„Die Mappe enthielt studentische, von Heidegger korrigierte und somit autorisierte Nachschriften. In diesem im Wintersemester 1933/34 gehaltenen Seminar propagiert Heidegger Nationalsozialismus, Führerstaat und Antisemitismus. Die Juden nennt er ‚semitische Nomaden‘, denen ‚die Natur unseres deutschen Raumes vielleicht nie offenbar wird‘.

Bis heute fehlt dieses Seminar in der Gesamtausgabe, und dabei soll es laut Verlag auch bleiben, weitere Seminare Heideggers sollen dort nicht mehr publiziert werden. Damit blieben auch die Unterlagen zu mindestens fünf weiteren Seminaren des NS-Dozenten Heidegger der Forschung versperrt. Sidonie Kellerer nennt das eine Zensur, die die Erforschung eines wichtigen Kapitels deutscher Geschichte blockiere.“

Die Bereinigung des Denkens um des puren und reinen Heideggerschen Seyn-Denkens willen tut der Philosophie Heideggers keinen Gefallen. Im Gegenteil. Es erzeugt sich auf diese Weise des Weißwaschens von Texten lediglich der weitere Vorbehalt. Erst wenn auch diese drastischen, antisemitischen, völkischen Passagen in einer historisch-kritischen Gesamtausgabe der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, wird man dem Umfang der Philosophie Heideggers, ihrem Antimodernismus, ihrem Ressentiment ebenso wie ihrer Tiefe bzw. ihrem Wahrheitsgehalt gerecht werden können: dem Teil, worin sie irrte und dort, wo sich fruchtbar anknüpfen läßt, indem Bedingungen einer Struktur freigelegt werden, die die abendländische Philosophie in ihren Ausprägungen maßgeblich bestimmte. Solche (kritische) Sichtung kann jedoch lediglich dadurch vonstatten gehen, indem sämtliche Texte Heideggers in einer kritischen, kommentierten Ausgabe öffentlich publiziert werden. Ebenso die inkriminierenden Passagen und solche, die nicht ins Bild zu passen scheinen.

So einfach, billig und reduktionistisch jedoch wie Roger Behrens in einem schmalspurigen Beitrag (im ansonsten durchaus anregenden) Webzine „Beatpunk“ vorgeht, Heidegger mit populistischer Geste insgesamt als Nazi ad acta zu legen, sollte man es sich als Philosophierender nicht machen. Es ist dies lediglich der Facebook-Attitüde des „Daumen hoch“, „Daumen runter“ geschuldet: Ausdruck verdinglichten Denkens eben und insofern das Gegenteil von Philosophie. Wer Philosophie lediglich an ihrem politischen Statement mißt und wieweit sie sich unmittelbar gesellschaftskritisch zu engagieren vermag, im Modus eins-zu-eins, verfehlt nicht nur die Philosophie, sondern ebenso die Politik samt einer grundlegenden Kritik der Gesellschaft. Gut kann man solche blickverengte Fehllektüre etwa an der Philosophie Nietzsche lesen: Nietzsche schlicht dem Faschismus zuzuschlagen oder ihn als Protofaschisten zu labeln greift nicht nur zu kurz, sondern ist schlicht dumm. Was nicht heißt, das Nietzsches Philosophie frei von solchen Passagen wäre. Dies zeigt etwa das Buch von B. Taureck, Nietzsche und der Faschismus (Junius Verlag) gut auf. Als Georg Lukács diesen sowie Schopenhauer, Schelling, Kierkegaard in seinem Buch „Die Zerstörung der Vernunft“ allesamt des Irrationalismus zieh, schrieb Adorno, daß an dieser Stelle wohl eher die Vernunft Lukács zerstört gewesen sein mußte.

Im zweiten Teil mehr zu Heidegger.

Martin Heidegger zum 125. Geburtstag

„Die Frage, ob die antisemitischen Passagen der ‚Schwarzen Hefte‘ einen Abschied von Heideggers Denken notwendig nahelegen, scheint keineswegs abwegig zu sein. Wer mit Heidegger philosophieren will, muss sich über die antisemitischen Implikationen bestimmter Gedankenzüge im Klaren sein.“
(Peter Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“)

 Mit Heidegger gegen Heidegger. Gegen Heidegger mit Heidegger? Schwierige Frage. Wieweit diese inkriminierenden Textstellen in den Schwarzen Heften, insbesondere in der Gesamtausgabe im Band 95 und 96, nun eine Philosophie im ganzen diskreditieren, läßt sich sicherlich nicht im Verfahren des „Daumen hoch“ oder „Daumen herunter“ in ein oder zwei Aphorismen entscheiden. Mitzulesen sind diese Stellen jedoch im Gesamt der Heideggerschen Philosophie unbedingt. Und es entschuldigt sicherlich ebenso wenig, daß Philosophen wie Sartre, Foucault, Derrida oder Nancy – allesamt einem eher links zu nennenden Spektrum zugehörig – in ihrer Art des Denkens und Schreibens stark von Heidegger geprägt waren und dabei eine Lektüre Heideggers lieferten, die abseits des Seins-Sounds siedelte und Methoden seines Denkens fruchtbar aufnahm und weitertrieb.

Was fasziniert an Heidegger? Insbesondere für eine Kritische Theorie der Gesellschaft, die das, was ist, so wie es ist, nicht will? Und diese Kritik, dieses Nicht-Wollen resultiert nicht aus bloßen Geschmacksgründen oder ergibt sich aus subjektiver Willkür heraus, sondern im erkenntnistheoretischen Sinne, wenn es um Begriff und Sache samt deren Verhältnis und den Entsprechungen geht. Heidegger trifft einen ganz bestimmten Ton, und er geht scheinbar unkonventionell vor. Im Text-Gestus aufgrund des Jargons sicherlich lange nicht so schillernd und im Stil nicht annähernd so gekonnt wie Nietzsche formulierend. (In den „Schwarzen Heften“, also in der Notizform, die in gewissem Sinne auch die „Beiträge zur Philosophie“ bestimmt, nähert sich Heidegger zwar diesem Aphoristischen sowie dem Stil Nietzsches und den Denkmöglichkeiten des ganz Anderen an: wenn es nicht mehr Werke sind, sondern Wege begangen werden, die in einer Sprache stehen, die die Furchen zieht. Allein: Bei Nietzsche sind es keine Furchen, sondern es ist der Tänzer, der auf jenem glatten Eis sich in anmutigen oder geistreichen Posen zu bewegen weiß. Die Grenze zwischen Literatur und Philosophie, zwischen Erkenntnis und Fiktion, zwischen Wahrheit und Metapherntrieb wurde bei Heidegger sicherlich nicht derart radikal eingezogen wie bei Nietzsche.

Dichten und Denken werden gerne als Paar genommen. Diese Kombination aber erweist sich nicht immer als gut, wenigen gelingt mit sprachlicher Präzision und Brillanz beides. Und in mancher sprachlichen Fügung bei Heidegger läuft das in den Kitsch hinein. Aber es gibt dieses Dennoch. Das, was als eine Schicht unter oder im Text Heideggers liegt, wenn man ihn von diesem Jargon und dem Raunen befreit.

Heidegger selber ist in seiner Antimoderne ausgesprochen modern zu nennen. Technisch geradezu in seiner Rhetorik, die als Handhabung spult, modern in seiner Modernitätskritik. Fast grün zu nennen, wenn es auf die Scholle geht.

 „Was Philosophie möchte; ihr Eigentümliches, um dessentwillen ihr die Darstellung wesentlich ist, bedingt, daß all ihre Worte mehr sagen, als jedes sagt. Das schlachtet die Technik des Jargons aus. Die Transzendenz der Wahrheit über die Bedeutung der einzelnen Worte und Urteile wird von ihm den Worten als ihr unwandelbarer Besitz zugeschlagen, während jenes Mehr allein in der Konstellation, vermittelt, sich bildet. Philosophische Sprache geht, ihrem Ideal nach, hinaus über das, was sie sagt, im Zug des Gedankens. Sie transzendiert dialektisch, indem in ihr der Widerspruch von Wahrheit und Gedanken sich seiner selbst bewußt und damit seiner mächtig wird. Zerstörend beschlagnahmt der Jargon solche Transzendenz, überantwortet sie seinem Klappern. (…) Heuchelei wird zum Apriori: alltägliche Sprache jetzt und hier gesprochen, als wäre sie die heilige. Dieser könnte eine profane sich nähern nur durch Distanz vom Ton des Heiligen, nicht durch Nachahmung. Blasphemisch frevelt daran der Jargon. Bekleidet er die Worte fürs Empirische mit Aura, so trägt er dafür philosophische Allgemeinbegriffe und Ideen wie die des Seins so dick auf, daß ihr begriffliches Wesen, die Vermittlung durchs denkende Subjekt, unter der Deckfarbe verschwindet: dann locken sie als Allerkonkretestes. Transzendenz und Konkretion schillern; Zweideutigkeit ist das Medium einer sprachlichen Haltung, deren Lieblingsphilosophie jene verdammt.“ (Th. W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit)

 Diesen hohen Ton, der die Begriffe des Alltags affiziert – solche wie Sorge, Angst oder Tod – kann man in „Sein und Zeit“ gut beobachten. Zwar ist in einem bestimmten Sinne jegliche Philosophie ein Jargon – Walter Benjamin sprach davon, daß Philosophie eine Zuhältersprache sei –, doch umschifft Adorno jene Klippe, indem er die Vermittlung zwischen Begriff und Sache, die Heideggers Philosophie abgeht, richtig beim Namen nennt und er zeigt im Modus des Textes, wie sie sich sprachlich realisiert: als Konstellation und Vexierbild. (Bei Walter Benjamin sind es die dialektischen Bilder.) Doch es reicht nicht aus, bloß den Begriff „Konstellation“ zu schreiben, sondern er will kompositorisch ebenso realisiert werden. Die „Negative Dialektik“ verfährt selber – fast mimetisch zu nennen – konstellativ und löst in ihrer Komposition genau diese Sprachfrage der Philosophie ein, ohne ins Raunen des Nichtidentischen zu verfallen. Die sprachliche Darstellung und die Anordnung ihrer Elemente sind dieser Dialektik in der Konstruktion des Textes wesentlich. Heidegger geht solch konstellatives Denken vollständig ab. Vom Aspekt der Geschichte ganz zu schweigen, die sich bei Heidegger ins Nebulöse auflöst: verdünntes Abstraktum. Wenn das Sein das Bewußtsein bestimmt, so bleibt bei Heidegger ein Seinszug, der ins Unermeßliche des A-Historischen ausschlägt. Sein und Nichts als abstrakte Identität. Heideggers Seinsbegriff liegt auf der Stufe vom Beginn der Hegelschen Logik. Sein – reines Sein in seiner Unbestimmtheit. Heidegger würde diese Unbestimmtheit vielleicht sogar gefallen. Und dieser Umstand eines vorgängig Anderen und Unbestimmten, das in den Texten der Dichtung und der exponierten Philosophie als ästhetischer Theorie sich in Darstellung bringt, kann durchaus den Reiz dieser Philosophie ausmachen. Indem man sie derart – geradezu hegelianisch – weitertreibt.

Schwarzheftig Heidegger, Jazz und Kommunismus: „Glotzt nicht so romantisch!“

Das zumindest stand auf den Plakaten, die im September 1922 in den Münchener Kammerspielen zur Uraufführung von Brechts „Trommeln in der Nacht“ im Zuschauerraum des Theaters hingen. Sowieso, es naht der Herbst. Die ersten Blätter und so weiter. Im Prater blühn nicht mehr die Bäume. Na ja, noch tun sie’s. Rosen rot, Sommer tot. Die Tage werden länger, wer jetzt kein Buch hat, liest lange keines mehr. Und deutsch ruft der Wald: ’S ist Herbst, ’s ist Herbst, auf Wegen und Stegen, den Stege des Anfangs. Bereits vor einigen Tagen sah ich das erste angegilbte Blatt in einem unserer Bäume auf der Waldwiese. Und die ersten Blätter des Weins gehen ins Rot über, oder ist es der Efeu? Vielleicht scheint es im Schimmern der Sonne bloß so. Die Sonne steht flacher, Licht gegen Ende des August. Keine staubigen, stickigen Seitenstraßen. Ich liebe die Zeit, wenn der Sommer vorbei zieht und nachts die Kühle aus den Gräsern und Gräben steigt. Und die weißen Nebel wunderbar… Eine schöne Textzeile aus einem berührenden Lied. [Aber alles, alles ist so hundertmal totzitiert, jedes Schöne wird vernutzt, weil es von Arschlöchern und Dumpfbatzen wiederkaue[r]nd (nicht käuend! Aber das vielleicht auch) im Munde gedreht wird.] Ich mag den Herbst, den Winter, und ich mag es nicht, wenn Menschen in Blogs ständig bekunden, was sie mögen oder nicht mögen. Es langweilt so unermeßlich. Kriminell gutes Schreiben ist selten. Aber es blüht immerhin noch das gute alte Kunstgewerbe und das reichlich. Der traute Ton. Am liebsten wieder das zu beleben: 100 Zeilen Haß – jene zuweilen lustige Kolumne von Maxim Biller im „Tempo“. Nichts darf gerinnen und nichts sich verfestigen. „Bücher der Unruhe“. Alles in den Malstrom ziehen, in den Spott. Ich sitze gemächlich im Café, könnte eine Geschichte anfangen. Könnte, könnte, könnte. Humorloser Lebensranz. Einige dieser Tage.

In der Kuhwärme der Blogwelt (samt Stallgeruch) grenzt die Sucht nach dem schönen Wort dicht an die Produktion des Kitschs:

Mir ist so warm und wunderlich
Doch all die Reime? Mag ich nicht!

Die dornichten Pfade der Kritik: Lieber Immanuel, laß mich niemals den Text vergessen. Diese Theorie der Erkenntnis. Die Arbeit der Urteilskraft und die Einbildungskraft als produktives Vermögen. Aber wer denkt, betet nicht.

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Der Riesling schmeckt muffig. „Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick“ läßt Goethe seinen Faust sprechen. Ich lese Heideggers „Schwarze Hefte“ und frage mich immer mehr, was das alles soll und wohin das geht. Teilweise in den schlimmen Kitsch gerinnende Afterpoesie: „Uns fügend in die Fuge des Seyns//stehen wir zur Verfügung den Göttern. Die Besinnung auf die Wahrheit//des Seyns ist das erste Beziehen/des Postens der Wächterschaft//für die Stille des Vorbeigangs//des letzten Gottes.“ Das ist lange schon kein Dichten und Denken mehr oder der Versuch in Sprache das einzubringen, was sich schwierig aussprechen läßt. („Sagt es niemand, nur den Weisen …“ kennen wir von Goethen) Gut: es sind das Notizen aus Heften, mag man verteidigend sagen. Der Versuch der Philosophie, von einer anderen Sprache her einem Gebiet sich zu nähern – ohne Karte und Kompaß: Fahrt aufs Meer und vom brandenden Ozean geschrieben. Wir kennen diese Seefahrer-Metapher insbesondere aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Können Notizen und Skizzen eine ganze Philosophie desavouieren, sofern man nicht bereits vorher mit einer großen Portion Skepsis sich Heidegger näherte? Dazu lese ich im Beipack Peter Trawnys „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“. Eine ausgewogene Kritik, was Heideggers „antisemitische Ideen“ betrifft, die „die ‚Geschichte des Seins‘ belagern“.

Das Ontologische befleckt sich am Ende sehr ontisch, und das vorgeblich reine Seyn: Kontaminiert von der kruden Empirie. Mit dieser Kritik kennzeichnete Adorno im „Jargon der Eigentlichkeit“ und in den entsprechenden Passagen in der „Negativen Dialektik“ Heideggers Denken bündig und bringt triftig den Geist der Zeit auf den Begriff, der zu dieser Zeit in bestimmten Kreisen des Anti-Modernen „Die Juden sind an allem Schuld!“ hieß: rechnende Machenschaften. Nichts Besonderes im Grunde – nur der Antisemitismus des durchschnittlichen deutschen Konservativen, der denkend dümpelt. Fast Wagnersch alliteriert. [Ich mag’s ja doch, wenn‘s funkelt. Und sei’s nur aus dem Arschloch der Geschichte.]

Heidegger ist in diesen Notizen kaum der Denker des Seins. Eher sein ontischer Schamane. Man kann, sofern man ihn liest, Heidegger einzig gegen Heidegger lesen, wer seine Werke studiert, muß einen Strang des Textes herausdestillieren, der nicht mehr der Ton Heideggers ist, sondern in einer dekonstruktiven Lektüre das Andere der abendländischen Ratio ans Licht bringen: einen Subtext, ein Ungedachtes, Unbewußtes: Heidegger, mit Freud und Lacan gelesen. Aufs Sofa gestreckt assoziierend, was freilich dann wieder in Bahnen des Begriffs kommen muß, denn schließlich sollte mit der Kur irgendwann Schluß sein, um, wenn nicht als geheilt, dann wenigstens als entlassen betrachtet zu werden. Eine Sprache, die ausgreift. Aber nicht im Nebelton gedichteter Philosophie, die keine mehr ist, sondern das Verstummen jeglicher Kritik bedeutet. Dann mag sich daraus so etwas wie ein Funke schlagen lassen. Heideggers Texte sind nicht antimodern, sondern in ihrem Ton vielfach schlicht regressiv.

Ich würde durchaus zur Lektüre der Heideggerschen Texte raten. Und ich frage mich, weshalb mich dieser Ton, dieses Denken in bestimmten Konstellationen fesselt und in den Bann schlägt. Vielleicht ist es der Funke des Geheimnisses, der schimmert. Daß im Extrem ein Moment von Wahrheit steckt. Vom Text, vom Fall Heideggers läßt sich lernen, wie man sich auf akademisch ungewöhnliche Weise in der Philosophiegeschichte bewegen kann; ebenso wie auch die Leipziger Vorlesungen zur Philosophie von Bloch oder die Frankfurter von Adorno – wenngleich von Gehalt und Struktur her ganz anders – bleibt Heidegger ein anregender Lehrer, der vorführt, auf welche Weise man sich der Philosophie nähern kann. Zugleich jedoch zeigt der Text Heideggers, wie man unter Absehen von jeglicher Geschichte auf keinen Fall philosophieren sollte. Mag die abendländische 2000-jährige Moderne durch die Seinsvergessenheit gekennzeichnet sein, so ist es die Heideggersche Philosophie durch die Geschichtsvergessenheit.

Gerade dort, wo im Denken ganz und gar gegensätzliche Strömungen sich einstellen und zusammenfließen, wie die dialektisch-kritische Philosophie von Hegel, Marx, Adorno sowie Benjamin und andererseits die dis-kontinuierliche von Nietzsche, Heidegger, Lacan, Foucault und Derrida, die beide in gewisser Weise ihren Reiz ausüben – die eine sicherlich stärker als die andere – frage ich mich, weshalb das so ist und woher das rührt. Die Gegensätze zusammen und in eins zu bringen, ohne sie unterschiedslos zu vermischen, sondern sie in ihrer Differenz zu bewahren, so riet Jacques Derrida einem seiner Schüler, um sich über diese eigenwillige Wahl ganz und gar gegensätzlicher Themen, die zueinander passen wie Fuchs zu Igel, ohne jegliche Wertung Rechenschaft abzugeben und zu befragen, weshalb und was das ist. Am Ende laufen diese Bewegungen immer auf die Frage hinaus, was die Philosophie sei: eine akademische Veranstaltung, welche die Positionen des Faches sichtbar macht, die Fähigkeit zur Kritik oder das Denken eines anderen Zustandes? In jedem Falle aber ist die Philosophie die Arbeit und nicht das Gären des Begriffes. Solche Absage ans Geschwätz heißt nicht, daß Philosophie sich der Schlichtheit verschreibt und einfache Wahrheiten postuliert, die dem gesunden Menschenverstand genehm sind oder daß sie (die Philosophie ist in der Tat ein Weib!) ein Programm hat, das gerne wahre Sätze und fromme Worte findet.

I‘m Coming Virginia.

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