Es gibt, insbesondere in der Jugend, jene Texte von Philosophen, die hängen an der eigenen Vita. Es sind Intensitätstexte. Intensivphilosophen, die nicht bloß schreiben, sondern deren Arbeit und Denken zugleich am Leben dieses Lese-Menschen hängt. Man nimmt als junger Leser nicht einfach „Texte“ zur Kenntnis, die für die Geschichte der Philosophie oder für eine bestimmte Problemlage relevant sind, sondern diese Texte samt Vita dieses Philosophen haben oft und genauso etwas mit dem eigenen Leben zu tun: Mit der Art, wie man selbst denkt und worüber man denkt, sei es politisch, sei es als ästhetische oder erkenntniskritische Haltung, sei es in der Präferenz des ethischen Verhaltens. Schreiben, Lesen, Leben und Denken gehören zusammen, und dies nicht nur in den jungen, den wilden Jahren, als wir noch so unnachahmlich glühten und Texte zugleich Leidenschaften waren, die andere für uns und vor uns aufs Papier brachten.
Solche Philosophien, solche Philosophen stehen für etwas ein. Dazu gehören sicherlich die Texte von Sartre, ebenso Adorno, Foucault, Benjamin, Bloch – für manche sogar Wittgenstein –, auf alle Fälle Kierkegaard, womöglich auch Marx oder Plato.
Diese Liste sei subjektiv, wird mancher meinen. Ja, das stimmt, aber setzen Sie dort einmal Husserl ein, dann bemerken Sie, worauf ich hinaus will. Nur wenige, nur der ausgefuchste Profi wird mit 16 sagen: ich lese Husserl, weil sein Leben mit der Epoché korrespondiert. Sartre las man genau deshalb: weil einen – ganz phänomenologisch – eine Kastanienwurzel in einem Park ansprang und in ein Nichts schob. Und dieses Nichts zugleich so etwas wie eine Haltung als Handlung nach sich zog, daß nämlich die Essenzfragen etwas mit Existenz zu schaffen haben. Some of these days. Jugendtage, lange zurück. Wir lasen das, weil des Lesers Leben und damit die eigene politische Haltung mit einer Philosophie korrespondierte, die einen in die Entscheidung stellte, und sei es, diese Art von Entscheidung als philosophisches Kriterium in Frage zu stellen. Womit der junge Leser dann schnell bei Adorno wäre. Ich rede hier von mir.
Nein, solcher engagiert-involvierte Blick auf Philosophie in jungen Jahren ist nichts, das ich als letztlich erstrebenswert und als das einzige Mögliche sehe, Philosophie zu betreiben – ganz im Gegenteil. Und das ist zudem ein Anfang, den man zumindest kritisch reflektieren muß, um darin das Problematische zu sehen und ohne diesen Anfang zugleich im nachhinein als unsinnig zu denunzieren. Solches Verhältnis zu Texten und Denken, das von einer gewissen Unmittelbarkeit geprägt ist, gehört dazu, ist aber auch wieder zu hinterfragen. Die Wege zur Philosophie sind vielfältig. Ebenso die Aufstiege. Und sie sind schwierig. Zumal wir für diesen Weg manche Lese-Passagen nehmen müssen, die einem unmittelbar nicht in den Kram passen, Schwieriges, das nicht bloß wie Hegel-Lektüre schwierig ist, sondern sperrig und staub-trocken, das Schwarzbrot der Philosophie sozusagen: Aristoteles und Kant (insbesondere der der „Kritik der reinen Vernunft“), aber auch Husserl. Dennoch – es muß sein. Martin Heidegger schreibt in seinem lange Zeit geheimen Hauptwerk „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“:
„Die großen Philosophien sind ragende Berge, unbestiegen und unbesteigbar. Aber sie gewähren dem Land sein Höchstes und weisen in sein Urgestein. Sie stehen als Richtpunkt und bilden je den Blickkreis; sie ertragen Sicht und Verhüllung.“ (Heidegger, Beiträge, S. 187)
Auch Heidegger ist ein solcher Denker, dessen Texte das Leben berühren können, nicht nur zu Lebzeiten für die Studentenschar bei seinen Auftritten in den Seminaren und Vorlesungen in Freiburg und Marburg, sondern auch nachträglich – in seinen Texten. Ich lernte sein Denken im Oberstufenkurs Philosophie kennen, ein kurzer Text zur Metaphysik- und Wissenschaftskritik, ich erinnere mich nicht einmal mehr genau, welcher es war. Mich faszinierte diese seltsame Sprache, in der die Welt in eine Darstellung kam, und später beim selbständigen Weiterlesen in „Sein und Zeit“ waren es Begriffe wie Dasein, Vorhandenheit, Zuhandenheit: daß da plötzlich nicht mehr vom (neuzeitlichen) Subjekt gesprochen und durch dessen Optik auf die Welt geschaut wird, die einem da als Ding gegenübersteht, sondern ein anderer Blick, einer aus exzentrischer Denkachse bot sich an. Und dennoch wurde in diesem Philosophieren eine Perspektive eingenommen, die exzeptionell mit dem Einzelnen zu schaffen hatte, man lese nur die Stellen zu Sorge und Angst und zum Tod oder zur Uneigentlichkeit. Auch das war in meinen Augen Gesellschaftskritik. Mit anderen Mitteln freilich, als es bei Marx und Adorno geschah und in meinen Augen unbedingt eine sinnvolle Ergänzung zur materialistischen und an Hegel orientierten Theorie. Also nicht Entweder/Oder-Denken, sondern mitten durch die vermeintlichen Gegensätze hindurch führt der Weg, so dachte ich mir.
Es fragte in „Sein und Zeit“ einer nach etwas, was uns immer schon umschließt, was aber nicht einfach im Sinne unseres herkömmlichen Vorstellens zu vergegenwärtigen ist. Eine Entzugsinstanz. Sein selbst. Seyn. Da wo die Phänomenologie nach Husserl unter anderem „Zu den Sachen selbst“ wollte, beschritt jemand einen anderen Weg, um dahin zu gelangen. Aber was um alles in der Welt ist dieses Sein? So steht der junge Mann da und blickt auf diese Welt. Mit einem Buch in der Hand. Und da war zugleich der Aspekt der Zeit, der Zeitlichkeit, was sich gut mit der Lektüre von Proust paaren ließ, den ich damals ebenfalls las. Und seltsam, so dachte ich mir: weshalb kommt Proust bei Heidegger nicht mit einem Wort vor?
Gleiches Fragen galt für Heideggers scharfe Kritik der Metaphysik. Sie wurde freilich nicht, wie bei den logischen Positivisten damals, einfach als unsinnig beiseite geschoben, was selbst wiederum von jenen Positivisten ein unsinniges Unterfangen war, das auf metaphysischen Prämissen beruhte, sondern Heidegger sah diese Metaphysik als unbedingt notwendig an. Die Metaphysiker sind die ragende Berge. Doch war diese Metaphysik im Gang des Denkens und der Philosophie ebenso zu verwinden, aber eben nicht abstrakt zu negieren. Der Begriff Destruktion – woraus später dann bei Derrida ein Verfahren (keine Methode!) der Dekonstruktion von vermeintlich natürlichen Gewißheiten und Begriffen erwuchs, eine andere Form also, um „zu den Sachen“ zu gelangen – meinte also nicht einfach ein simples Kaputtschlagen wie beim Positivismus oder ein nachmetaphysisches Denken, das die Metaphysik dank glücklichen Fortschreitens in der Philosophie für überwunden hält – gleichsam eine Aufhebung ohne Aufhebung. Dies wären allesamt Veranstaltungen einer subjektiven Tathandlung, im Grunde ein verlängerter Fichteianismus grob gesagt bzw. eine einfache Verkehrung der Vorzeichen: das also, was Heidegger (von mir zugespitzt-simplifiziert) Nietzsche in seiner Kritik vorwarf: nämlich ein umgekehrter Platonismus.
Nein, dieser Überstieg der Metaphysik verlief anders. Als Verwindung, indem Heidegger die Texte der großen Denker ernst nahm. Und, wie ich schnell bemerkte, bestand das Faszinierende an Heidegger gar nicht so sehr und nur aus „Sein und Zeit“ und den Texten aus den „Wegmarken“ sowie den „Holzwegen“, darin insbesondere der Kunstwerk- und der Hegel-Aufsatz – Bücher, die ich mir schnell käuflich zulegte. Sondern ebenso faszinierend waren Heideggers Vorlesungen zu Platon, zu Aristoteles, zu Hegel, zum Deutschen Idealismus, zu Schelling, zur Scholastik. Und vor allem die zu Hölderlin. Daß da ein Philosoph in der Dichtung selbst nicht bloß ein Moment der Philosophie ausmachte oder dort per ordre Philosophie hineinpreßte, sondern weil Philosophie und Dichtung in der Art ihres Sagens in einem Verhältnis und Verweis stehen. Ohne sogleich die Gattungsgrenzen einzuebnen und alles über einen Leisten zu schlagen. Daß aber sehr wohl in der Philosophie und in der Dichtung etwas zum Ausdruck kommt, das verwandt ist. Ein ähnlicher Gedanke, der sich auch bei Adorno findet – nebenbei.
Aber da war bei Heidegger noch etwas anderes. Diese dunkle Stelle, eine eher abgründige Seite, wenn man pars pro toto seine Freiburger Rektoratsrede von 1933 nimmt oder sein Gutachten zu Hönigswald. Ja, in der Tat: ebenfalls reizte mich bei Heidegger das Politische. So anders bei Heidegger vorzufinden, so anders als ich damals mit 18 Jahren und mit 26 Jahren dachte, und dennoch in „Sein und Zeit“ dieser dichte Ton, in den späteren Schriften dann dieser dichtende, verdichtende Philosophie, die mehr als nur das sein wollte. Es war der Stil und waren die Verstrickungen in der NS-Zeit, die mich reizten. Oft berühren uns die Abgründe im Denken und am Menschen und daß da trotz alledem ein derart wirkungsmächtiger Text steht und ins Zentrum rückt – zusammen mit Hegel, Adorno, Benjamin, Kafka, Proust, Benn, Jünger, Celan, Hölderlin und später vor allem Novalis. Der Durchgang durch die Metaphysik als deren Kritik und zugleich diese Metaphysik als notwendig zu setzen. Etwas zu denken, das so bisher niemals gedacht wurde. Wir leben aus den Widersprüchen und es faszinieren gerade solche Bruchstellen. Zumal sie bei den in Schemata denkenden Linken häufig auf Unverständnis stoßen. Texte aber sind keine Dogmenkammern, das ist eine schlicht antiphilosophische Haltung, sondern sie sind nach ihrem Inhalt und nach ihren Aussagen zu nehmen.
Philosophie freilich ist ebenso an Performanz gekoppelt – besonders in jenen jungen Jahren gilt das für viele. Es hat solche Lektüre etwas Versenkendes, Ich-Vergessenes, der Leser versteigt sich in das Denken des Anderen. Diese Faszination, die von den Heidegger-Texten ausgeht, ist schwierig zu beschreiben. Es war die Sprache vor allem und diese Art wie etwas gedacht und was da gedacht wurde. Seit über 30 Jahren bin ich an Heidegger dran und immer wieder ist da diese Bewegung von Repulsion (als Scheu, als Abstoßung gedacht) und Attraktion. Im Augenblick überwiegt die Attraktion wieder.
Heideggers „Beiträge“ (GA 65), „Das Ereignis“ (GA 71), die sogenannten „Schwarzen Hefte“ (GA 94-98), also die eher esoterischen, nicht lehrhaften, nicht akademischen Schriften Heideggers, lesen sich wie Meditationen. Es ist ein Gleiten, eine Sprache, die nicht mehr einfach philosophische Thesen aufstellt, sondern die im Vollzug, also performativ, ihren Gegenstand ausfaltet – das hat Heidegger nebenbei mit seinem „Rivalen“ Adorno gemeinsam. Nicht um Sachverhalte zu lernen, lese ich diese Heideggerschen Denkbücher, sondern um an der Erfahrung des Denkens teilzuhaben und dem zuzusehen, was da denkend geschieht: Was es ist, nicht nur dies-zu-sein, sondern was ist Seyn? Ist das, was Heidegger macht, noch Philosophie, so wie wir sie im herkömmlichen, im lehrbetriebhaften Sinne verstehen, der an den Universitäten betrieben wird? Dazu muß man sich, wie auch bei Dichtung – ohne freilich daß Heideggers Philosophie doch Dichtung ist, damit da keine Mechanismen der Entschärfung aufkommen, wie man es im akademischen Betrieb gerne pflegt – auf die Sprache Heideggers einlassen. Nicht den eigenen Horizont in den Text hineinprojizieren, sondern denken, was da steht. Verstehen. Dialektisch meinetwegen. Wozu sicherlich zunächst auch eine persönliche Voraussetzung gehört: sich nämlich von einem Text überwältigen lassen – was zugleich nicht heißt, alles das, was da steht, unkritisch zu übernehmen, gutzuheißen oder nachzubeten. Heidegger-Lesarten entwickeln.
Wie aber über solches Lesen, wie über solches Denken schreiben? Wie diese (auch privaten) Denk- und Leseprozesse faßbar machen? Lehrbücher und Kommentare, zu „Sein und Zeit“ und ebenso zu jenen esoterischen Schriften, sind mannigfach verfaßt. Man kann da das 1001te Lehrbuch vorlegen, was ich nicht als Negativ-Kritik verstanden wissen will, denn wenn ein Kommentar neue und wichtige Aspekte eröffnet, so kann er gut und wichtig sein. Doch wenn ein Philosoph andere und originelle Formen findet, diesen Denker darzustellen, so ist dies um so besser. Was es mit einem solchen anderen Zugang auf sich hat, wie man einen solchen Weg zu Heidegger findet, dazu komme ich im zweiten Teil – nämlich in der Rezension zu Peter Trawnys „Heidegger-Fragmente“. Diese längere und umweghafte Hinführung freilich war notwendig, um anschaulich zu machen, was es mit diesem Faszinosum Heidegger auf sich hat. Wie ein Text Sog und Gewalt auf einen Leser auszuüben vermag. Was auch den Titel dieses ersten Essay-Teils motiviert.
Todtnauberg
Arnika, Augentrost, der
Trunk aus dem Brunnen mit dem
Sternwürfel drauf,
in der
Hütte,
die in das Buch
– wessen Namen nahms auf
vor dem meinen? –,
die in dies Buch
geschriebene Zeile von
einer Hoffnung, heute,
auf eines Denkenden
kommendes
Wort
im Herzen,
Waldwasen, uneingeebnet,
Orchis und Orchis, einzeln,
Krudes, später, im Fahren,
deutlich,
der uns fährt, der Mensch,
der’s mit anhört,
die halb-
beschrittenen Knüppel-
pfade im Hochmoor,
Feuchtes,
viel.
(Paul Celan)