Zum Tod von Jean-Luc Nancy

Am 23. August starb der französische Philosoph Jean-Luc Nancy. Ihn als Schüler Derridas zu bezeichnen mag zwar richtig sein, greift aber angesichts der originären Arbeit von Nancy, sei es zur Kunst, zur Religion oder zum Körper, deutlich zu kurz. Die sogenannte Dekonstruktion geht sicherlich nicht ihrem Ende entgegen – wenngleich einer ihrer letzten Vertreter nun tot ist und wenngleich seit einiger Zeit studentische Idioten solche Dekonstruktion der Lächerlichkeit preisgeben, aber das geschieht leider und meist, wie auch bei der Kritischen Theorie und beim sogenannten „Marxismus“, wenn Texte nicht gründlich gelesen, sondern auf unmittelbare politische Anwendbarkeit heruntergerotzt und auf eine Mechanik reduziert werden.

4106fmGu5cL._SX367_BO1,204,203,200_Von der eher anekdotischen Evidenz einmal abgesehen, daß mancher ein Buch wie „Es gibt – Geschlechtsverkehr“ vom Titel her bereits spannend finden könnte – quasi: zu lesen und nichts zu tun, Voyeur alter Schule – finden wir bei Nancy das Denken über den Körper ausgeprägt, was bis in die Fragen der Kunst reicht: „Die Haut der Bilder“, so lautet einer seiner Buchtitel (zusammen mit Federico Ferrari). Während jenes „Es gibt – Geschlechtsverkehr“ zunächst einmal eine Auseinandersetzung mit Lacan, Derrida und implizit auch mit jenem Heideggerschen „Es gibt“ ist, Körper über Umwege. Und dabei dachte ich, als mir damals der Titel in die Hände fiel und ohne das Buch gelesen zu haben, sofort an einen der großen Schlußsätze der Weltliteratur, an Kafkas „Das Urteil“, wo es mit einem Male, als es, vom Vater verkündetes Urteil, in den Tod und hinab in die große Vereinigung ging, zugleich laut wurde: „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“ Während Herr Bendemann dies nicht mehr zu hören vermochte, weil er einige Sekunden zuvor, das Geländer festhaltend, wie ein Hungriger die Nahrung, sich über diesen letzten Halt hin zu Welt schwang, ausgezeichneter Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Baisemoi, Baisers volés. Davon also abgesehen, gibt es solche Essays wie „Noli me tangere“, darin Nancy jene in den Evangelien geschilderte Szene der Auferstehung des Jesus und der Begegnung mit Maria Magdalena im Friedhofsgarten, die in Tizians, Correggios und vor allem Rembrandts Gemälde Sujet der Malerei war, deutet und nicht nur in eine schöne Sprache von Fragmenten der Liebe bringt, sondern auch jenes Moment von Zeigen und Nicht-Zeigen, von Sichtbarem und Nichtsichtbarem ortet:

„In dieser Hinsicht bildet Noli me tangere die subtilste Szene und die (man muss es sagen) verhaltenste: Deshalb verstanden es die Maler auch, hier nicht ekstatische Schau eines Wunders auszumachen, sondern eine delikate Intrige zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, die einander anrufen und zurückstoßen, einander berühren und jeweils auf Distanz halten.“

Daß die Dekonstruktion bzw. das Denken Nancys zu einem wesentlichen Teil von der Phänomenologie herkommt, mag man in solchen Passagen ahnen, wo es einerseits um Blicke geht, aber zugleich auf das Feld des Berührens und der zarten Gesten verweisen wird. Es sind Hände, es ist Haut, es sind Worte und ins Bild gebracht wird zugleich das leere Grab. Der tote Leib, der mehr als tot ist und es eben doch nicht ist. Blicke zugleich, die sich täuschen, denn Maria Magdalena vermeint und glaubt, den Gärtner zu sehen. Erscheinen, Nähe und Distanz. Die Wirkung jenes Mannes aus der Ferne. Nancys „Noli me tangere“ ist zugleich eine Reaktion auf das Buch seines Lehrers Derrida „Berühren – Jean-Luc Nancy“, wie Benoît Peeters in seiner Derrida-Biographie ausführlich darlegt.

Während meines Studiums ist mir Nancy leider nicht in der Philosophie untergekommen, sondern in den 1990er Jahre in den Germanistikseminaren von Ulrich Wergin, und zwar über Nancys Buch „Undarstellbare Gemeinschaft“ und über jenen legendären Sammelband „Nietzsche aus Frankreich“, darin auch von Nancy ein Essay sich befand. Vor allem aber verwies Wergin immer wieder auf jenes zentrale Werk, das Nancy zusammen mit Philippe Lacoue-Labarthe herausgegeben und geschrieben hatte: „Das Literarisch-Absolute. Texte und Theorie der Jenaer Frühromantik“ – dankenswerterweise von turia + kant 2016 in Verlag genommen und übersetzt. Wer sich mit der Jenaer Frühromantik beschäftigt, wird im Kontext von Philosophie um dieses Buch nicht herumkommen. Es ist eine hervorragende Einführung ins philosophische Denken der Romantik wie auch in deren Literatur; parallel zu den Essays von Lacoue-Labarthe und Nancy werden die einzelnen Texte dargeboten: etwa das Älteste Systemprogramm, die Athenaeum-Fragmente sowie Texte von Schelling, Novalis und vor allem von Friedrich Schlegel – etwa das „Gespräch über Poesie“. Solches Darbieten von Primärliteratur ist fürs Studium zentral, denn wer die Originaltexte nicht kennt, hat am Ende auch von einer Einführung wenig. Lacoue-Labarthe und Nancy entfalten in diesem Buch kenntnisreich jenes Szenario um 1800 herum, welches jener bereits neuen Zeit von Frühaufklärung, Lessing, Wieland, Kant, Herder, Jacobi, Fichte und Goethe, Spinozastreit, Aufklärung, Sturm und Drang einen weiteren Dreh versetzte: das Neue, das Interessante als Formen einer Literatur, die mal Philosophie, mal Dichtung sein wollten. Wegmarken zum Absoluten, und wer dabei auf geistreiche Art angeregt werden möchte, der lese, so möchte ich hinzufügen, unbedingt Friedrich Schlegels „Lucinde“ und dazu noch das „Gespräch über Poesie“.

Insbesondere hielten Lacoue-Labarthe und Nancy in ihrem Buch fest, daß das zentrale Projekte des Jenaer Romantikkreises und der Gebrüder Schlegel jene Zeitschrift „Athenaeum“ bildete, sowie überhaupt das Projekt, Zeitschriften zu machen, darin Diskussionen stattfinden und der Geist der Zeiten einen Ausdruck finden kann – was bis heute verbreitet ist und was einen wesentlichen, aber leider nie realisierten Ausdruck in jenem Zeitschriftenprojekt von Walter Benjamin und Bert Brecht fand: „Krise und Kritik“. Gleichsam vom Titel her bereits die kluge Signatur eines Zeitalters, das wir Moderne nennen. Der Historiker Reinhart Koselleck drehte diesen Titel für sein legendäres Buch dann gleichsam um.

Zudem ist, so Lacoue-Labarthe und Nancy, diese Zeitschrift ein Projekt der „Verbrüderung der Kenntnisse und Fertigkeiten“ so hieß es im Athenaeum, wofür der Begriff des Symphilosophierens stand, welches freilich einer gewissen Wahl unterlag: „Man soll nicht mit allen symphilosophieren wollen, sondern nur mit denen die à la hauteur sind.“ (Fr. Schlegel, Athenaeumsfragment Nr. 264) Es handelt sich bei solchem Denken um eine in Gemeinschaft stattfindende Arbeit, ein ästhetischer wie auch philosophischer Gemeinsinnn, der sich über Nähe konstituierte und zuweilen auch Ähnlichkeit bei aller Unähnlichkeit hervorbrachte. Nähe im Denken, um einer Sache willen. Eine Form von Gemeinschaft mithin, die Nancy etwa mit Derrida und mit Lacoue-Labarthe pflegte. „Das Literarisch-Absolute“ ist schöner und gelungener Ausdruck solcher gemeinsamen Arbeit. Eben auch ein Aspekt, den das Absolute ausmacht und umfaßt, nämlich jenen Weg überhaupt zu gehen und wenn es gut läuft in Gemeinschaft. Gegebenenfalls auch eine Gemeinschaft mit anderem Denken, und so verwundert es in solchem Kontext nicht, daß es von Jean-Luc Nancy zwei Aufsätze zu Hegel gibt, nämlich „La remarque speculative“ (1973) und „Hegel. Lʼinquiétude du négatif“ –  beide 2011 beim diaphanes Verlag erschienen.

Im Athenaeum manifestierte sich zudem jene für die Romantik wesentliche Schreibweise, die auch für bestimmte Formen des poststrukturalistischen Denkens zentral werden sollte (man nehme nur Derridas „Postkarte. 1. Lieferung): die Verwendung unterschiedlicher Gattungen, der Rückgriff auf das Fragment und es werden das literarische Eigentum und die Autorität des Autors in Frage gestellt. Wild wurde ausprobiert, was auch mit der Epochen- und Zeitenwende um 1800 zu tun hatte. Textformen als Versuche. Allerdings ist all dies nicht von Dauer und kann sich nur über eine kurze Phase durchhalten. So zumindest schildern es Lacoue-Labarthe und Nancy. Solches Befragen und das Infragestellen von Grenzen macht sicherlich eine gewisse Nähe auch zu den Autoren des sogenannten Poststrukturalismus und der Dekonstruktion aus.

„Es sei hier also noch einmal gesagt, dass es hier nicht um das Bild von der Romantik geht, das man sich gemeinhin von ihr macht. Madame de Staël hat dies auf ihre Weise durchaus bereits vorausgeahnt. Trotz ihres etwas allzu kurz gegriffenen (…) Widerstands gegen Theorie hatte sie zumindest verstanden, dass das Neue in Deutschland um 1800 nicht die ‚Literatur‘, sondern die Kritik oder wie sie es auch nannte, die ‚literarische Theorie‘ ist.“ (Lacoue-Labarthe/Nancy, Das Literarisch-Absolute, S. 27 f.)

Was mich – aber das ist ein rein subjektives Moment – an Nancys Texten zur Religion und zur Auslegung von Bildern der Religion,  wie eben in „Noli me tangere“, faszinierte, ist jener für einen nichtreligiösen Menschen, der doch, wie ich es bin, religiös gestimmt ist, ästhetische Zugang zur Religion über Bilder. Einerseits. Und zugleich ein über Begriffe wie das Absolute, das Spekulative und über die Unruhe des Negativen laufender Zugang des Denkens: ein Weg, der freilich nicht als System läuft, sondern in Ausfaltungen und im Detail abschreitet. In der Hingabe an eine Sache. Das Absolute ist nicht einfach ein Behälter, wo alles irgendwie darin ist und das man mit Stecken und Stangen, wie Hegel bereits spottete, dingfest machen könnte. Mit Jean-Luc Nancy ist ein Philosoph verstorben, der Ästhetisches, Politisches und die Philosophie selbst im Denken zu versammeln vermochte.

Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht,
Aufzubrechen. So komm! daß wir das Offene schauen,
Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.
Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe
Bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Maß,
Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden,
Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann
(Fr. Hölderlin, Brod und Wein)

Differenz des Idioms – Zum 90. Geburtstag von Jacques Derrida

DerridaDie Philosophie Jacques Derridas auf ein, zwei, drei Begriffe oder Motive zu bringen, scheint kaum sinnvoll – einmal davon abgesehen, daß es eine verdinglichte und unangemessene Weise ist, sich derart auf Philosophie zu kaprizieren und sie im Begriffsraster einer Aufzählung einzufangen. Insofern kann ein  Blogbeitrag nichts Grundsätzliches leisten, allenfalls ein wenig Lust auf die Texte Derridas machen. Denn Schreiben und Lesen haben, das zeigen auch manche der Texte Derridas, mit jener „Lust am Text“ (Roland Barthes) zu tun. Zudem kann ein solcher Text einige Motive der Philosophie Derridas umkreisen, anschneiden, anspielen und würdigen: Das Literarische seines Schreibens, ohne freilich, daß Philosophie nun Literatur wird; dort wo, eine Konstellation von Texten in eine Grenzform driftet – wie bspw. in Glas oder in Derridas Postkartentext und sich eine andere Form des Schreibens in Szene setzt.

Und vielleicht kann ein solcher Blogtext dazu ermuntern, bestimmte Bücher einmal wieder oder überhaupt erst zu lesen. Ich würde als Einstieg vielleicht sogar Derridas „Schibboleth- Für Paul Celan“ empfehlen, obwohl seine Grundlagentexte wohl eher in der „Grammatologie“ zu finden sind und in seinen Untersuchungen zu Husserl, wie etwa „Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls“ sowie „Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Ein Kommentar zur Beilage 3 der ‚Krisis'“ und als Standardtext sicherlich aus „Randgänge der Philosophie“ – der Titel bereits setzt die Szene – den Différance-Essay sowie aus „Die „Schrift und die Differenz“ den Aufsatz „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen“. Womit anfangen? Mit dem Anfang? Oder einfach anfangen? Es sind Versuche, Denkversuche. Derrida gehört in diesem Sinne zu den schwierigen Autoren, weil für die Lektüre seiner Texte bereits die Geschichte der abendländischen Philosophie vorausgesetzt ist. Dennoch halte ich solche Texte wie das Celan-Buch und dazu noch den ebenfalls im Passagen Verlag erschienen Interview-Band „Positionen“ für einen guten Einstieg. Danach noch den Nietzsche-Aufsatz „Sporen. Die Stile Nietzsche“ aus dem sowieso lesenswerten Sammelband „Nietzsche aus Frankreich“. Anhand dieses Textes bekommt man vielleicht ganz gut in den Blick, was eigentlich Derrida mit dem Begriff der Textlektüre und damit verbunden mit den Begriffen Dekonstruktion und Hermeneutik meint.

Gegen Doxographie

Derrida macht im Grunde das, was das klassische Geschäft der meisten Philosophinnen und Philosophen ist: er bezieht sich auf die Texte anderer Philosophen oder im Falle Derridas auch auf die Texte von Literaten. Er liest z.B. Platon, Hegel, Nietzsche, Freud und Husserl vor allem, aber auch Artaud, Bataille, Ponge, Kafka oder Celan. In diesem Sinne und gerade in bezug auf Derridas Husserl-Lektüren wäre es vielleicht sogar sinnvoller, Derrida in der Phänomenologie zu verorten – ebenso wie auch Jean-François Lyotard von der Phänomenologie her kommt.

Viel Verwirrung und Schaden haben dabei solche Einordnungen von Derridas Philosophie angerichtet, die ihn in Begriffen wie „Postmoderne“ oder „Poststrukturalismus“ doxographisch einpressen wollen, und auch der Name Dekonstruktion läuft dann ins Leere, wenn damit eine Spielmarke gemeint ist, unter der man die sehr heterogenen Texte Derridas zusammenfaßt. Wer diesen Begriff in bezug auf Derrida verwendet, täte gut daran, zu zeigen in welchem konkreten Text-Kontext und in welcher Weise der Operation dieser Begriff gebraucht wird. Seine Schrift „Glas“ macht etwas ganz anderes als seine Celan-Lektüre im „Schibboleth“, die wiederum ganz anders mit einem Text umgeht, als bspw. „Die Postkarte. 1. Lieferung“ und dann dazu in Korrespondenz und in Absetzungsbewegung die „Postkarte, 2. Lieferung“, worin es (unter anderem) um Lacans Fakteuer der Wahrheit und um eine Präsenzkritik geht, die zwar einerseits mit der literarischen Form der 1. Lieferung in einem Zusammenhang steht, die aber in der Durchführung und insbesondere in dem teils literarisch gehaltenen Stil doch etwas anderes betreibt, etwa über der Postkarte als Kommunikationsmedium, den Begriff der Telekommunikation, einer Art von actio in distans, was zugleich ein Verweis auf die Zauberei und eben auch auf Nietzsches gleichnamigen Aphorismus in der „Fröhlichen Wissenschaft“ ist: die Wirkung der Frauen aus der Ferne und der Begriff „Frau“ ist dabei nicht bloß als empirische Reifizierung gemeint und auch nicht als Prinzip, sondern „Frau“ und „Weib(lichkeit)“ stehen für eine bestimmte Bewegung eines anderen Denkens. Eine Komplexion an Bezügen also – gerade das machte für mich damals Anfang der 1990er diese „Postkarte. 1. Lieferung“ für mich reizvoll. Was bei Derrida „Dekonstruktion“ ist, kann man eben immer nur am konkreten Text selbst zeigen.

Das universitäre Milieu

Für meinen eigenen philosophischen Werdegang gehörte der Text Derrida in den junge, den wilden und verwegenen Jahren des Studiums wesentlich dazu, sicherlich auch ein wenig als Attitüde gegen einen saturierten Habermasianismus der bundesdeutschen Philosophie, und er bestimmte mein Denken: zusammen mit Kant, Hegel, Nietzsche, Adorno, Foucault, Benjamin und eben auch Martin Heidegger. Dialektisches Denken Hegelscher Provinienz bzw. dialektische Kritik, die von Marx, Hegel und Adorno her kam,  einerseits und Dekonstruktion bildeten die beiden Pole, um die sich mein Schreiben gruppiert. (Und möglicherweise ebenso meine Photographien.) Ein Schüler zu sein, ein gehorsamer zumal, der gelehrig aufnimmt, sich in die Schrift vertieft und talmudartig entziffert und unentwegt kommentiert, bedeutet jedoch nicht, es dem Meister dieser Philosophie gleichzutun. Genaues und gründliches Lesen will gelernt sein und oft überhebt man sich in den jungen Jahren in Gesten und Simulation von Philosophie – Philosophie hat in diesem Sinne auch etwas mit dem Finden der eigenen Position zu tun, und deshalb identifizieren manche sich zuweilen zu sehr. Das ist nicht weiter schlimm. Schlimm wird es, wenn man es im Laufe des Prozesses nicht bemerkt.

Die schlechteste Art dieses Überlassens an einen Text geschah in der unreflektierten Mimesis: wenn da, was es leider bis heute gibt, der Jargon des „Meisters“ in einer seltsamen Blödig- und Hörigkeit nachgeahmt wird: Neologismen kaum zu unterscheiden, ob das nun Dada oder Derrida oder Derridada ist. Gefasel, das sich klug dünkt und als wissenschaftlicher Text oder als Essay oder einfach nur als Kommentar doch über die bloße und leere Assoziation nicht hinauszukommen vermag, Parodie auf Philosophie und bis heute leider eine Praktik. Schon damals im Studium saßen da in den Seminaren jene postmodernen Jünger des Jargons der Uneigentlichkeit mit ihrem Hang zum ortlosen Verschwafeln. Man mochte da fast wieder zum Habermasianer werden.

Against methode?

Die sogenannte Dekonstruktion (und ebenso die Dialektik) sind keine Methoden, die starr zu handhaben sind. Mit solcher imitatio wird keiner glücklich – es sei denn, die Duplizierung des Meisters gelingt auf eine derart überzeugende Weise, daß daraus wiederum eine Gestalt hervortritt, die überbordend in der Imitation und dadurch im stillen verformend (und das Wesen des Meisters radikal befolgend und strikt gelesen) dennoch eine Verschiebung ums ganze erzeugt, indem durch solches Verfahren eine neue Gestalt des Denkens freigelegt wird. Dies freilich ist selten. Eine Striktur. Was sich idealerweise aus dem Kokon spinnt, ist immer eine neue Gestalt, mögen ihr die Fäden noch anhaften, die aber irgendwann reißen. Der Faden der Ariadne kann aus dem Labyrinth bringen. Eine der Aufgaben der Philosophie ist es jedoch, die Labyrinthe zu begehen, zu sichten und ihnen einen Ort zuzuweisen, sie zu befragen. Und dennoch überlassen wir uns diesen Labyrinthen der Texte, die Gewebe, Faden und Kokon sein können. Was immer wir in diesem Labyrinth antreffen mögen. Wenigen nur gelingt dieses Spiel.

Solche Wege ins Abseitige eines Textes beschritt Derrida. Eine unscheinbare oder gar „wolkige“ Stelle gab den Anlaß zur Lektüre, möglicherweise dem Leser unwesentlich erscheinend, wie etwa in „Sporen. Die Stile Nietzsches“ jener Satz Nietzsches, daß er seinen Regenschirm vergessen habe. Derrida insistierte in seiner Lektüre auf genau diesem winzigen Detail. So brachte er auf diese Weise die undialektische Oppositionsbildung bei Michel Foucault auf den Begriff. Eine eher zu überlesende Passage in Foucaults 1961 erschienenem Buch „Wahnsinn und Gesellschaft“ war es, wo Foucault eine Ausführung Descartes in seinen „Meditationen“ aufgriff, in der die Gestalt des Wahnsinnigen im Kontext des Wissens auftrat. Derrida zeigte in seinem Aufsatz „Cogito und die Geschichte des Wahnsinns“ (1964), daß Foucault in dieser Lesart einem viel zu starren Schema der Oppositionsbildung nachhing. Das genial Perfide Derridas – sozusagen die Strategie des Textes – bestand nun insbesondere darin, daß er Foucaults Text strikt befolgte, in einer Art von Kommentar und immanenter Lektüre, wie Derrida schreibt: „… wir werden der Absicht Foucaults so getreu wie möglich folgen, indem wir erneut die Interpretation des kartesianischen Cogito in das Gesamtschema des Foucaultschen Buches einschreiben.“ (J. Derrida, Cogito und die Geschichte des Wahnsinns) Einmal unabhängig davon, wieweit Derridas Foucault-Lektüre hier plausibel ist, zeigt sie das Interessante, aber auch das Heikle solchen Vorgehens. Schnell kann solche Lektüre freilich ebenso ins Beckmesserische, ins Rechthaberische driften. Derrida und Foucault waren nach diesem Derrida-Text keine guten Freunde mehr, erst sehr viel später wieder enspannte sich deren Verhältnis.

Wer die Details zu diesem Disput nachlesen will und noch vieles anderes aus dem Leben Derridas, der greife unbedingt zu der lesenswerten Biographie von Benoît Peeters. Sie zeigt die intellektuellen Dispute mit Lacan, Foucault, Lévy-Strauss und vielen anderen wie etwa dem legendären Streit zur Sprachphilosophie mit John Searle – auch hier wieder zeigt sich, daß die Verhärtung der Fronten oftmals das Gemeinsamein der Differenz zurücktreten läßt. Auch findet sich darin ein schöner Blick auf  jene wilden 1960er Jahren in Paris, zwischen Revolte, Revolution, Sartre, Althusser, Foucault, Kristeva, Derrida und auch manches zur Tel Quel-Gruppe. Und als ich die Biographie damals las, dachte ich mir zugleich, daß es doch schön wäre, wenn es für Deutschland auch eine Geschichte zu jener den intellektuellen Diskurs prägenden Tel Quel-Gruppe bzw. der Zeitschrift gäbe, vielleicht so, wie das Philipp Felsch im „Langen Sommer der Theorie“ zum Merve Verlag tat und den dort stil- und denkbildenden Diskursen, die aus dem Spektrum zwischen Kritischer Theorie, Poststrukturalismus und Dekonstruktion entstanden, ein Erinnerungsbuch schrieb, das die Geschichte von Denksystemen, freilich launig erzählt, uns liefert.

Vor allem aber, und das macht diesen Text als Gegenpol interessant, kommt Peeters nicht aus dem Umkreis der Dekonstruktion, liefert insofern keine irgendwie in den Fußspuren Derridas sich einschreibende Lektüre. (Was man freilich ebenso als ihren Schwachpunkt lesen kann.)

Derridas konstellatives Denken

Begriffe wie Dekonstruktion und Aufpfropfung greifen für den Text Derridas zu kurz, sind eine Abbreviatur komplexen Denkens. Denn jedesmal, an jedem Text, in jedem Idiom und Stil des Schreibens, an jeder Struktur eines Textes oder eines Satzes entwirft sich die Dekonstruktion neu. Als Stil. Das macht ihr literarisches Element  aus und aus diesem Grunde kann man bei der derridaschen Dekonstruktion nicht von einer Methode sprechen. Sie ist dabei unbedingt affirmativ, indem sie ihren Gegenstand beläßt. Darin unterscheidet sie sich womöglich von der (hegelschen) Dialektik, in der ein Gegenstand und ein Begriff an sich selber kollabieren und dabei zugleich weiter und über sich hinaus treiben und wie Phönix und die bekannte Asche steigt und steigert eine neue Verbindung. [Der Kohlenstoff ist ein ganz und gar eigenwilliges und vielseitiges Element der Bindung und des Lebendigen. Die Bedeutung der Asche als verstreubarer Rest, Vernichtung und Spur in einem ist für Derrida zentral. Das zeigt seine Celan-Lektüre ebenso wie „Feu la cendre“ und das darin entfaltete Spiel mit dem Geben, der Gabe, dem Feuer, dem „Es gibt …“. Ähnliches in „Falschgeld. Zeit geben I“, wo wir zum einen eine Lektüre von Baudelaire und zugleich eine Poetik des Tabaks finden.]

Es ließe sich zwar ein Feld von Begriffen nennen, die das Denken Derridas charakterisierten: Kultur und Natur, Schrift, Kommunikation, Sprechen, Text, Logozentrismus, Gerechtigkeit, Gabe, Differenz, der Eigenname, das Idiom, die Psychoanalyse, die Spur. Mit all diesen Begriffen verbinden sich bestimmte Texte Derridas und Phasen seines Denkens. Die Zahl seiner Bücher und Aufsätze ist schier unnennbar.

Zentral für den Text Derridas bleibt jedoch der Begriff der différance – jener Kunstbegriff, der vom lateinischen Wortstamm her über das Verb differer auf zwei Aspekte verweist: verschieden sein und verschieben. Ein bedeutungstragender, graphischer Unterschied, der sich beim Klang, beim Aussprechen des Wortes jedoch nicht ausmachen läßt und nur in der Schrift selber in seiner Mehrdeutigkeit lesbar ist. Ein Begriff, der eine Verschiebung in der Zeit bezeichnet, als Aufschub und Entfernung dessen, was niemals in eine volle Präsenz gebracht werden kann und niemals als Präsenz zu haben ist, denn diese bleibt immer Phantasma. Die reale Gegenwart ist ein Trug. Darin teilt Derrida sicherlich Hegels Kritik der Unmittelbarkeit. Wie sich überhaupt Derrida und Hegel in der Bewegung des Textes ähneln, wo Begriffe und Bestimmungen des Denkens flüssig werden – wo sie mithin liquidiert werden, indem starre Festsetzungen und Fixierungen aufgelöst werden sollen. Mit dieser différance verbunden ist ein räumlicher Aspekt des Aufschubs, der sich als Spur manifestiert, eine Heterogenität und Alterität. Zudem ist es das andere seiner selbst, als Verschiedenheit, absolute Differenz, wie im Idiom oder Eigennamen, der das eigene bezeichnet und der dennoch wiederholbar ist und ebenso auf andere zutrifft, die denselben Namen tragen.

Aber diese différance ist im strengen Sinne kein Wort, kein Begriff, sondern in den Diktion Derridas ein „Bündel“, in dem sich verschiedene Aspekte verdichten, sammeln und formieren, um sich jedoch immer neu wieder zu verschieben und zusammenzuschießen: nicht still zu stellender Sinn: von der Ökonomie (des unendlichen Aufschubs) von Präsenz bis hin zu einem strategischem Spiel der Kräfte und Bündnisse.

„Ich bestehe darauf, die différance ist keine Opposition, nicht einmal eine dialektische Opposition: Sie ist eine Bejahung-aufs-neue des Selben, eine Ökonomie des Selben in seiner Beziehung zum Anderen, ohne daß es notwendig ist, damit sie existiert, sie einzufrieren oder sie in einer Unterscheidung oder in einem System dualer Oppositionen zu fixieren.“ (Jacques Derrida/Elisabeth Roudinesco, Woraus wird Morgen gemacht sein?)

Gleichzeitig bedeutet diese différance eine Weise der Ermöglichung, sie ist Bedingung von Diskursen, Texten, Äußerungen. Insofern kommt ihr – unter anderem – eine transzendentale Struktur zu. Wie jenes kantische „Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können …“ läßt sich die différance nicht reifizieren und in dieser Weise des Empirischen exponieren. Derrida umschreibt diese Form der différance in seinem gleichnamigen Text. Dieser Text ist schwierig, er braucht Zeit, er muß genau gelesen werden, er ist auf den ersten Blick rätselhaft in seiner Gestalt, und das hat bei mir damals im Studium seinen Reiz ausgemacht. Poetisch manchmal. Eine Philosophie des Entzugs. Und damit ganz und gar mimetisch einerseits: der Text führt das vor, was er beschreibt, Inhalt und Form stehen in einem Verhältnis, das nicht bloß zufällig ist. Andererseits sich jeglicher Verwertungslogik entziehend. Diese „Struktur“ der différance macht die ästhetische wie auch die philosophisch-kritische Kraft dieses Neologismus, der weder Begriff noch Zeichen ist, aus. Den Unterschied einzuschreiben, zu bewahren, ihn aufzuheben, ihn zugleich aber nicht im Sinne der Oppositionsbildung absolut zu setzen, ist eine der Tätigkeiten der différance. Denn der Dekonstruktion Derridas geht es um die Auflösung und Verflüssigung von Oppositionen: was wir als naturgegeben annehmen, erweist  sich als kulturell gemachte Unterscheidung. Das freilich ist seit Marx so neu nicht. Aber Derrida polt diese Verhexung, die unser Denken beständig präformiert und gesellschaftlich Gemachtes als Naturwüchsiges  simuliert, auf Bereiche, die sich unserem überkommenen Blick entzogen und die wir bisher als randständig erachteten.

Politik der Dekonstruktion oder Die Ethik des Textes

Derrida wird immer wieder vorgeworfen, seine Dekonstruktion sei unpolitisch und ein sinnfreies Spiel, das die Wirklichkeit zugunsten schierer Textualität auflösen will. Solche Kritik summiert Derrida meist unter dem pejorativ gemeinten Slogan „Postmoderne“. Aber es ist das bloß eine Postmoderne – sofern es diese denn überhaupt gibt –, die zu einem reduzierten Preis ins Angebot der Theoriedesigns gestellt wird. Sie ist eher unterhaltender Natur und bedient das Feuilletonistische. Mit den Begriffen der Philosophie Derridas und noch weniger mit Derridas philosophischer Operation hat all das nicht viel zu tun: die Realität löst sich nicht in Texte auf. Jener dazu bemühte Satz Derridas aus der „Grammatologie“ „[e]in Text-Äußeres gibt es nicht“ bedeutet nicht, daß wir nichts als Texte hätten, sondern vielmehr, daß wir bei der Lektüre von Texten immer nur auf Texte uns beziehen können; darin folgt Derrida zunächst einmal einer ganz und gar hermeneutischen Einsicht. Wenn wir uns lesend und in intensiver Lektüre uns auf Texte beziehen, dann sind es zunächst Texte, mit denen wir umgehen und die aufeinander verweisen und in Beziehungen stehen. So auch dieser Blogeintrag: ein Text. Inwiefern sich in jeden Text auf eine ganz bestimmte Schreibweise ein Idiom und damit ein Privates darin einschreibt, das eine Spur erzeugt und als Einzelnes verschwindet, um sich dennoch in Anzeichen wieder lesbar zu machen, ist  eines der Themen Derridas. Der Text selbst ist der Maßstab und wird als Text genommen.

In seiner Auto-Biographie „Zirkumfession“ vergleicht Derrida die Abnahme des Blutes – der Moment, wo aus dem eigenen Körper das unsichtbare Innere, jene Flüssigkeit, die am Leben hält, nach außen freigesetzt wird – mit dem Schreiben: Die Feder, also das Schreiben mit der Hand, denn für Derrida kam, wie auch für Heidegger, der Handschrift eine ganz besondere Bedeutung zu, gebiert einen Text – sei es Prosa oder Philosophie. Blut wie auch Schreiben entlassen ein zunächst Unsichtbares aus dem Inneren, die Schrift bringt dieses Unsichtbare als Text in eine (wiederholbare) Anordnung. Die Spritze, in die das Blut aus der Vene fließt, gibt jene Flüssigkeit in ein Röhrchen ab, die dort eingeschlossen, mit einem Namen beschriftet und dann untersucht wird. Feder und Spritze stehen in einem Verhältnis, sie stellen das Innerstes eines Lebens nach außen zur Schau. Insofern ist die Annahme, die von mancher und manchem gehegt wird, ein Text sei körperlos, eine den Charakter der Schrift verkennende Illusion. Auch eines dieser Phantasmen. Der Text hingegen löst sich im Prozeß unwiederbringlich vom Körper ab und wird unbeherrschbar. Niemandes Eigentum. Eine Gabe.

Am 15. Juli wurde Derrida in El Biar, einem Vorort von Algier, als algerisch-französischer Jude geboren. Daß Herkunft prägt und zugleich einfache Identitätsmuster zum Durchstreichen bringen kann, zeigen die unterschiedlichen Texte Derridas – insbesondere seine Celan-Lektüre zur Poetik des Datums, zur Beschneidung und eben zum Schibboleth, das ja gerade ein Identitätsausweis ist, gleichsam mit dem Körper gemacht und als tödlichfaktisches Wort, als Codewort und Erkennungszeichen kann die Aussprache dieses Wortes ganz unmittelbar über Leben und Tod entscheiden, wenn wir an jene Bibelstelle denken:

„Gilead schnitt Efraim die Jordanfurten ab. Und wenn die Flüchtlinge aus Efraim sagten: Ich will hinüber!, fragten ihn die Männer aus Gilead: Bist du ein Efraimiter? Wenn er Nein sagte, forderten sie ihn auf: Sag doch einmal Schibbolet! Sagte er dann Sibbolet, weil er es nicht richtig aussprechen konnte, ergriffen sie ihn und machten ihn dort an den Furten des Jordan nieder. So fielen damals zweiundvierzigtausend Mann aus Efraim.“ ( Buch der Richter 12,5–6)

Geburt bedeutet, einen Anfang zu setzen: in diesem Falle ganz empirisch und relativ einfach. Beim Denken ist dies bereits anders: wir eigenen uns an, stehen auf den Schultern von Riesen. Es gibt keinen Anfang und im chronologischer Weise zu lesen hat wenig Sinn, weil wir nach Interessen auch lesen. Derridas Lesepensum war gewaltig. Wie wir im Text als Leben und im Leben als Schrift wirken, die Lektüren und Re-Lektüren gestalten und eine Tradition des Denkens als Neues und immer wieder neue Spur reanimieren, zeigen uns Derridas Texte. Zugleich war Derrida ein unermüdlich Reisender als sei’s eine Flucht: die Stationen und Konflikte dieses Lebens eines französischen, in Algerien geborenen Juden, der sich identitär nicht festlegen lassen mochte und in kein Bündnis einzubinden war, lassen sich gut in Benoît Peeters‘ Biographie nachlesen. Ebenso lesenswert ist auch Geoffrey Bennington Buch „Jacques Derrida. Ein Portrait“, darin befinden sich, was für eine Biographie ungewöhnlich ist, aber gut zu Derridas Schreibweise paßt, Fußnoten und Ergänzungen von Derrida selbst zum Text von Bennington. In diesem Sinne ein Duett in Schrift, „Zirkumfession“, wie Derrida es nennt, „Neunundfünfzig Perioden und Periphrasen geschrieben in einer Art innerem Rand zwischen dem Buch Geoffrey Benningtons und einem Werk in Vorbereitung“. Während Bennington solche für Derrida wesentlichen Begriffe wie „Gabe“, „Kontext“; „Übersetzung“, „Zeichen“, „Schrift“, „Husserl“ oder „Eigenname“ umschreibt und Korrespondenzen zu Derridas umfangreichen Werk herstellt.

Obwohl Derrida in der akademischen Philosophie Frankreichs mit ihren strengen Hierarchien und ihrem trockenen Rationalismus nie recht ankam, wurde er einer der anregendsten, umstrittensten Philosophen. An Derrida scheiden sich bis heute die Geister. Was man unbedingt in den Blick nehmen müßte, auch hier wieder Derrida gegen seine postmodernen Liebhaber oder eher noch: gegen jene schlechte Mimesis verteidigt, ist die eminent rationale Weise seines Philosophierens. Ebenso wie die literarische Frühromantik nicht die Opposition zur Aufklärung und ihren unterschiedlichen Philosophien bildete, sondern diese Philosophie weiterführt und ergänzt, so steht auch Derrida nicht dem Denken der Vernunft und des Logos entgegen. Aus guten Gründen knüpften die Gebrüder Schlegel und Novalis unter anderem an Kant und auch an Fichte an. So wie man Derridas Philosophie in diesem Sinne auch als eine Fortschreibung des Projekts Hegelscher Philosophie lesen kann: nämlich ein Ganzes zu denken, das doch nicht ganz zu denken ist. Es aber in Bewegungen immer wieder und dabei auch selbstreflexiv in den Blick zu nehmen

Differenz des Idioms – Zum 10. Todestag Jacques Derridas

DerridaDie Philosophie Jacques Derridas auf ein, zwei Begriffe oder Motive zu bringen, die zentral für sein Denken sein mögen, vermag wohl niemand – einmal davon abgesehen, daß es eine verdinglichte und unangemessene Weise ist, sich derart auf Philosophie zu kaprizieren. Insofern kann auch ein eher knapper Blogbeitrag nichts Grundsätzliches leisten. Allenfalls einige Motive der Philosophie Derridas umkreisen, anschneiden, anspielen und würdigen: Das Literarische seines Schreibens; dort wo, eine Konstellation von Texten in eine Grenzform driftet – wie bspw. in Glas oder in Derridas Postkartentext.

Für meinen eigenen philosophischen Werdegang gehörte der Text Derrida in den junge, den wilden und verwegenen Jahren des Studiums wesentlich dazu und er bestimmte mein Denken: zusammen mit Kant, Hegel, Adorno, Foucault, Benjamin und eben auch Martin Heidegger. Dialektisches Denken bzw. dialektische Kritik und Dekonstruktion bildeten die beiden Pole, um die sich mein Schreiben gruppiert. (Und möglicherweise ebenso meine Photographien.) Ein Schüler zu sein, ein gehorsamer zumal, der gelehrig aufnimmt, sich in die Schrift vertieft und talmudartig entziffert und unentwegt kommentiert, bedeutet jedoch nicht, es dem Meister dieser Philosophie gleichzutun. Denn Dekonstruktion (und ebenso die Dialektik) sind keine Methoden, die starr zu handhaben sind. Mit solcher imitatio wird keiner glücklich – es sei denn, die Duplizierung des Meisters gelingt auf eine derart überzeugende Weise, daß daraus wiederum eine Gestalt hervortritt, die klonend, reproduktiv, mimetisch, überbordend in der Imitation, dadurch im stillen verformend (und das Wesen des Meisters radikal befolgend und strikt gelesen wie ein Text des Gesetz, nachgerade adeptisch, dogmatisch und radikal) eine Verschiebung ums ganze erzeugt. Eine Striktur. Was sich freilich aus dem Kokon spinnt, ist immer eine neue Gestalt, mögen ihr die Fäden noch anhaften, die aber irgendwann reißen. Der Faden der Ariadne kann aus dem Labyrinth bringen. Aufgabe der Philosophie ist es jedoch, die Labyrinthe zu begehen, zu sichten und ihnen einen Ort zuzuweisen, sie zu befragen. Und dennoch überlassen wir uns diesen Labyrinthen der Texte, die Gewebe, Faden und Kokon sein können. Was immer wir in diesem Labyrinth antreffen mögen.

Solche Wege ins Abseitige eines Textes beschritt Derrida. Eine unscheinbare oder gar „wolkige“ Stelle gab den Anlaß zur Lektüre, möglicherweise dem Leser unwesentlich erscheinend. Derrida insistierte in seiner Lektüre auf genau diesem winzigen Detail. So brachte er auf diese Weise die undialektische Oppositionsbildung bei Michel Foucault auf den Begriff. Eine eher zu überlesende Passage in Foucaults 1961 erschienenem Buch „Wahnsinn und Gesellschaft“ war es, wo Foucault eine Ausführung Descartes in seinen „Meditationen“ aufgriff, in der die Gestalt des Wahnsinnigen im Kontext des Wissens auftrat. Derrida zeigte in seinem Aufsatz „Cogito und die Geschichte des Wahnsinns“ (1964), daß Foucault in dieser Lesart einem viel zu starren Schema der Oppositionsbildung nachhing. Das genial Perfide Derridas – sozusagen die Strategie des Textes – bestand nun insbesondere darin, daß er Foucaults Text strikt befolgte, in einer Art von Kommentar und immanenter Lektüre, wie Derrida schreibt: „… wir werden der Absicht Foucaults so getreu wie möglich folgen, indem wir erneut die Interpretation des kartesianischen Cogito in das Gesamtschema des Foucaultschen Buches einschreiben.“ (J. Derrida, Cogito und die Geschichte des Wahnsinns) Es rächte sich hier der Anti-Hegelianismus Foucaults, der teils zu strikten Oppositionen neigt, ohne deren Vermittlung in den Blick zu bekommen, bitterlich.

Aber Begriffe wie Dekonstruktion und Aufpfropfung greifen für den Text Derridas viel zu kurz, sind eine Abbreviatur komplexen Denkens. Denn jedesmal, an jedem Text, in jedem Idiom und Stil des Schreibens, an jeder Struktur eines Textes oder eines Satzes entwirft sich die Dekonstruktion neu. Das macht ihr literarisches Element  aus. Als Stil. Sie ist dabei unbedingt affirmativ, indem sie ihren Gegenstand beläßt. Darin unterscheidet sie sich womöglich von der (hegelschen) Dialektik, in der ein Gegenstand und ein Begriff an sich selber kollabieren und wie Phönix und die bekannte Asche steigt und steigert eine neue Verbindung. [Der Kohlenstoff ist ein ganz und gar eigenwilliges und vielseitiges Element der Bindung und des Lebendigen. Die Bedeutung der Asche als verstreubarer Rest, Vernichtung und Spur in einem ist für Derrida zentral.]

Es ließe sich zwar ein Feld von Begriffen nennen, die das Denken Derridas oder seine Themen charakterisierten: Begriffe wie Kultur, Schrift, Text, Logozentrismus, Gerechtigkeit, Gabe, Differenz, der Eigenname, das Idiom, die Psychoanalyse, die Spur. Mit all diesen Begriffen verbinden sich bestimmte Texte und Phasen seines Denkens. Die Zahl seiner Bücher und Aufsätze ist schier unnennbar.

Zentral für den Text Derridas bleibt jedoch der Begriff der différance – jener Kunstbegriff, der vom lateinischen Wortstamm her über das Verb differer auf zwei Aspekte verweist: verschieden sein und verschieben. Ein bedeutungstragender, graphischer Unterschied, der sich beim Klang, beim Aussprechen des Wortes jedoch nicht ausmachen läßt und nur in der Schrift selber in seiner Mehrdeutigkeit lesbar ist. Ein Begriff, der eine Verschiebung in der Zeit bezeichnet, als Aufschub und Entfernung dessen, was niemals in eine volle Präsenz gebracht werden kann und niemals als Präsenz zu haben ist, denn diese bleibt immer Phantasma. Die reale Gegenwart ist ein Trug. Darin teilt Derrida sicherlich Hegels Kritik der Unmittelbarkeit. Wie sich überhaupt Derrida und Hegel in der Bewegung des Textes ähneln, wo Begriffe und Bestimmungen des Denkens flüssig werden – wo sie mithin liquidiert werden. Mit dieser différance verbunden ist ein räumlicher Aspekt des Aufschubs, der sich als Spur manifestiert, eine Heterogenität und Alterität. Zudem ist es das andere seiner selbst, als Verschiedenheit, absolute Differenz, wie im Idiom oder Eigennamen, der das eigene bezeichnet und der dennoch wiederholbar ist und ebenso auf andere zutrifft, die denselben Namen tragen.

Aber diese différance ist im strengen Sinne kein Wort, kein Begriff, sondern in den Diktion Derridas ein „Bündel“, in dem sich verschiedene Aspekte verdichten, sammeln und formieren, um sich jedoch immer neu wieder zu verschieben und zusammenzuschießen: nicht still zu stellender Sinn: von der Ökonomie (des unendlichen Aufschubs) von Präsenz bis hin zu einem strategischem Spiel der Kräfte und Bündnisse.

„Ich bestehe darauf, die différance ist keine Opposition, nicht einmal eine dialektische Opposition: Sie ist eine Bejahung-aufs-neue des Selben, eine Ökonomie des Selben in seiner Beziehung zum Anderen, ohne daß es notwendig ist, damit sie existiert, sie einzufrieren oder sie in einer Unterscheidung oder in einem System dualer Oppositionen zu fixieren.“ (Jacques Derrida/Elisabeth Roudinesco, Woraus wird Morgen gemacht sein?)

Gleichzeitig bedeutet diese différance eine Weise der Ermöglichung, sie ist Bedingung von Diskursen, Texten, Äußerungen. Insofern kommt ihr – unter anderem – eine transzendentale Struktur zu. Wie jenes kantische „Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können …“ läßt sich die différance nicht reifizieren und in dieser Weise des Empirischen exponieren. Derrida umschreibt diese Form der différance in seinem gleichnamigen Text, der schwierig zu interpretieren ist. Rätselhaft in seiner Gestalt. Poetisch manchmal. Eine Philosophie des Entzugs. Und damit ganz und gar mimetisch einerseits. Andererseits sich jeglicher Verwertungslogik entziehend. Diese „Struktur“ der différance macht die ästhetische wie auch die philosophisch-kritische Kraft dieses Neologismus, der weder Begriff noch Zeichen ist, aus. Den Unterschied einzuschreiben, zu bewahren, ihn aufzuheben, ihn zugleich aber nicht im Sinne der Oppositionsbildung absolut zu setzen, ist eine der Tätigkeiten der différance. Denn der Dekonstruktion Derridas geht es um die Auflösung und Verflüssigung von Oppositionen: was wir als naturgegeben annehmen, erweist  sich als kulturell gemachte Unterscheidung. Das freilich ist seit Marx so neu nicht. Aber Derrida polt diese Verhexung, die unser Denken beständig präformiert und gesellschaftlich Gemachtes als Naturwüchsiges  simuliert, auf Bereiche, die sich unserem überkommenen Blick entzogen und die wir bisher als randständig erachteten.

Derrida wird immer wieder vorgeworfen, seine Dekonstruktion sei unpolitisch und nichts als ein sinnfreies Spiel, das die Wirklichkeit zugunsten schierer Textualität auflösen will. Solche Kritik summiert Derrida meist unter dem pejorativ gemeinten Slogan „Postmoderne“. Aber es ist das bloß eine Postmoderne – sofern es diese denn überhaupt gibt –, die zu einem reduzierten Preis ins Angebot der Theoriedesigns gestellt wird. Sie ist eher unterhaltender Natur und bedient das Feuilletonistische. Mit den Begriffen der Philosophie Derridas freilich hat all das nicht viel zu tun: die Realität löst sich nicht in Texte auf. Aber wenn wir uns lesend und in einer intensiven Lektüre auf Texte beziehen, dann sind es zunächst Texte, mit denen wir umgehen und die aufeinander verweisen und in Beziehungen stehen. So auch dieser Blogeintrag: ein Text. Inwiefern sich in jeden Text auf eine ganz bestimmte Schreibweise ein Idiom und damit ein Privates darin einschreibt, das eine Spur erzeugt, ist zusammen mit der Dekonstruktion des Textes das große Thema Derridas.

In seiner Auto-Biographie „Zirkumfession“ vergleicht Derrida die Abnahme des Blutes – der Moment, wo aus dem eigenen Körper das unsichtbare Innere, jene Flüssigkeit, die am Leben hält, nach außen freigesetzt wird – mit dem Schreiben: Die Feder, also das Schreiben mit der Hand, denn für Derrida kam, wie auch für Heidegger, der Handschrift eine ganz besondere Bedeutung zu, gebiert einen Text – sei es Prosa oder Philosophie. Blut wie auch Schreiben entlassen ein zunächst Unsichtbares aus dem Inneren, die Schrift bringt dieses Unsichtbare als Text in eine (wiederholbare) Anordnung. Die Spritze, in die das Blut aus der Vene fließt, gibt jene Flüssigkeit in ein Röhrchen ab, die dort eingeschlossen, mit einem Namen beschriftet und dann untersucht wird. Feder und Spritze stehen in einem Verhältnis, sie stellen das Innerstes eines Lebens nach außen zur Schau. Insofern ist die Annahme, die von mancher und manchem gehegt wird, ein Text sei körperlos, eine den Charakter der Schrift verkennende Illusion. Auch eines dieser Phantasmen. Der Text hingegen löst sich im Prozeß unwiederbringlich vom Körper ab und wird unbeherrschbar. Niemandes Eigentum.

Am 8. Oktober 2004 starb Derrida nach langer Krankheit, unermüdlich reisend als sei’s eine Flucht. Die Stationen und Konflikte dieses Lebens eines französischen, in Algerien geborenen Juden, der sich identitär nicht festlegen lassen mochte und in kein Bündnis einzubinden war, die intellektuellen Dispute mit Lacan, Foucault, Lévy-Strauss und vielen anderen oder der Streit mit dem unsäglich banalen John Searle, die Zeit der 60er und 70er Jahre in Paris mitsamt den politischen Konflikten im akademischen Milieu, die Zeit der literarisch-philosophisch und vor allem politisch inspirierten Tel Quel-Gruppe zeichnet die Ende letzten Jahres bei Suhrkamp erschienene Derrida-Biographie von Benoît Peeters nach. Sie ist lesenswert, um’s mal im Daumen-hoch-Verfahren kurz anzureißen, gibt einen umfassenden Überblick von den Stationen und Szenen. Vor allem aber, und das macht diesen Text als Gegenpol interessant, kommt Peeters nicht aus dem Umkreis der Dekonstruktion, liefert insofern keine irgendwie in den Fußspuren Derridas sich einschreibende Lektüre. (Was man freilich ebenso als ihren Schwachpunkt lesen kann.)

Obwohl Derrida in der akademischen Philosophie Frankreichs mit ihren strengen Hierarchien und ihrem trockenen Rationalismus nie recht ankam, wurde er einer der anregendsten, umstrittensten Philosophen. An Derrida schieden sich die Geister. Manchmal schwer verständlich sein Schreiben. Aber wer es handhabbar und pragmatisch einfach möchte, sollte sich nicht weiter mit der Philosophie abgeben.

Adieu, Jacques Derrida! Wie wir im Text als Leben und im Leben als Schrift wirken, die Lektüren und Re-Lektüren gestalten und eine Tradition des Denkens als Neues und immer wieder neue Spur reanimieren, deren Verschwinden ihr jedes Mal, aufs neue und einzigartig, immer wieder eingeschrieben bleibt.

Texte und Gewebe, und dahinter. Die Schleier. Die Auslegung des Buches, die Lektüre der Schrift

Eine Kunstkritik im Sinne der literarischen, der deutschen Romantik? Zumindest heute ein Tag ohne Heideggers Verstrickungen. Text und Lektüre als Dekonstruktion und als Wirken des Werkes – freilich nicht im Sinne einer Rezeptionsästhetik.

Daß ausgerechnet ein Philosoph und Theologe mit dem Namen Friedrich Schleiermacher als Begründer der modernen Hermeneutik genannt wird, erscheint sinn- und geistreich: der Name ist ein Zeichen. Aber ich werde sicherlich nicht der erste gewesen sein, der dieses Spiel mit dem Namen, zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion treidelnd, entdeckte. Für manche mag im Hinblick auf die Lektüre von Texten bzw. von Kunst jener Satz aus Goethes Faust Richtigkeit beanspruchen: „Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch.“ Wenn man freilich Gefühl mit phronesis paart und ein Gespür für die Strukturierung, das Spielen und Schimmern des Textes aufbringt, mag der Satz Goethes sogar stimmen. Andererseits läßt sich – manchmal auch im Sinne der Onomatopoesie – das Wesen ebenso aus dem Namen lesen. Es verweist der Eigenname auf den Wiederspruch bzw. die Aporie: daß es im Feld der Auslegung kein Ende des Textes gibt, daß sich die Schichten des Texten überlagern, überdecken, einander zudecken in den verschiedenen Weisen der Lektüre. Daß jegliche Lektüre die Schleier nicht nur produziert, sondern fortwebt und als Geflecht und Spiel und Spur der Schleier diese potenziert. Stéphane Mallarmé Würfelwurf. „Toute Pensée emet un Coup de Dés“

Dieser Umstand der Schichtungen und der Umschriften bedeutet nicht, daß – ganz im Sinne des Diskurses der Hermeneutik – jegliche Auslegung vorläufig und tentativen Charakters sei, wenngleich die Wahrheit der Hermeneutik ebenso wenig abstrakt zu negieren sei, wodurch wir ins Schema der Oppositionsbildungen verfielen, sondern jegliche Auslegung ist Teil eines umfangreichen Textes. Vergleichbar vielleicht mit dem Talmud oder einem unendlichen Kommentar. Samt der Kritik. Aber solche Kritik des Kunstwerkes ist im Sinne von Walter Benjamin konzipiert; überspitzt formuliert, schreibt Benjamin die romantische These der Schlegelschen Romantik fort, daß das Kunstwerk durch die Kritik nicht nur ergänzt, sondern in der Bewegung der kritisch-sichtenden Annäherung sogar erst „eigentlich“ zu einem Kunstwerk würde – zu fragen bleibt dabei freilich, ob dies eine (asymptotische) Annäherung an ein Ideal bleibt, oder ob bereits die Bewegung des Asymtotischen das Werk selber bedeutet. Die Kritik selber ist ein Kunstwerk, zumindest dann, wenn sie sich ans Werk schmiegt, sich ihm hingibt, sich ihm über-läßt.

Walter Benjamin schreibt in seinem Text über Goethes „Wahlverwandtschaften“:

„Die Kritik sucht den Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks, der Kommentar seinen Sachgehalt. Das Verhältnis der beiden bestimmt jenes Grundgesetz des Schrifttums, demzufolge der Wahrheitsgehalt eines Werkes, je bedeutender es ist, desto unscheinbarer und inniger seinem Sachgehalt gebunden ist.“

Insbesondere im Hinblick auf das (fundierte) ästhetische Urteil, das nicht bloß im Gefällig-Gefühlten „Find-ick-jut“ des Kunstschlürfens sich erschöpft, ist dieser Text Benjamins bedeutsam. Aus diesem Grunde auch wählte Benjamin das Eingangszitat zu seinem  Text klug: „Wer blind wählt, dem schlägt Opferdampf in die Augen.“ (Klopstock) Allerdings weist diese Eröffnung in seiner Geste bereits in mehrere Richtungen, denn auch die Liebe scheint manchmal ein seltsames Spiel, wie schon der deutsche Schlager wußte. Sie geht von einem zum anderen. Die Frage der Wahl bleibt kompliziert. Eine absolute Theorie, eine absolute Begründung gibt es nicht. Wie es keinen absoluten Text gibt. Aber es gibt Texte. Viel, ineinander geknäult. Verschlungen, als Gift und als Heilmittel träufeln sie in die Augen. Im Zwischenraum der weißen Flächen.

„Ein Text ist nur dann ein Text, wenn er dem ersten Blick, dem ersten, der daher kommt, das Gesetz seiner Zusammensetzung und die Regel seines Spiels verbirgt. Ein Text bleibt im übrigen stets unwahrnehmbar. Nicht, daß das Gesetz und die Regel Unterschlupf fänden im Unzugänglichen eines Geheimnisses – sie geben sich schlechthin niemals preis: der Gegenwart, einem solchen, das man in strengem Sinne eine Wahrnehmung nennen könnte.

In der Gefahr, stets und wesensmäßig, derart endgültig verlorenzugehen. Wer wird je um ein solches Verschwinden wissen?

Die Verschleierung der Textur kann durchaus Jahrhunderte erfordern, ihr Gewebe (toile) freizulegen. Gewebe umhüllendes Gewebe. Jahrhunderte, das Gewebe freizulegen. Es also einem Organismus gleich wiederherstellend. Endlos sein eigenes Weben (tissu) registrierend hinter der schneidenden Spur, Dezision einer jeden Lektüre. Der Anatomie oder Physiologie einer Kritik immer eine Überraschung vorbehaltend, die glaubte, Herr des Spiels zu sein, alle Fäden davon zugleich zu überwachen, sich so dem Trug hingebend, den Text erblicken zu wollen, ohne daran zu rühren, ohne an den ‚Gegenstand‘ Hand zu anzulegen, …“ (Jacques Derrida, Platons Pharmazie)

Der oder die erste, die daherkommt. Die erste, die den Text erblickt, ihn anblickt und damit in eine Form des Lebens bringt. Und es bleibt als Risiko der Lektüre immer: das Verschwinden, das Nichts. Als Spiel einer differánce. Ursprünglich, einschneidend, aber ohne Zentrum. Ich imaginiere den Rauch der Zigaretten. Es gibt keinen Herrn des Spiels und keine Frau des Spiels. Nō -Theater. Der Text verbirgt sein Antlitz. Darin liegt seine Stärke. Jeder Text ist unendlich mehr als seine Schöpferin oder sein Schöpfer. Die Utopie der Erkenntnis wäre das Intentionslose, das dennoch nicht gleichgültig bleibt und im Belieben steht, in einer Anordnung von Epitaphen und Texten aufzutun.

„Ein Würfelwurf niemals wäre er auch geworfen unter ewigen Sternzeichen aus der Tiefe eines Scheiterns niemals auslöschen wird den Zufall“ (St. Mallarmé)

Von Text zu Text: Babylonisch, westwärts und vom Erfahrungshunger: Worstward ho!

Mit dem Begriff des Subjekts und mit der Vielfalt an Erfahrungen sind viele schnell zur Hand, wenn es um Literatur und Philosophie – oder generell: wenn es um Texte geht. Ein Text muß erfahrungsgesättigt sein, er soll mit Leserin und Leser gar in Kommunikation treten und Bezug zu ihnen aufweisen, und das alles möglichst originell konzipiert – ganz aus dem eigenen Ich genommen, das da mit seinen Erfahrungen brilliert, fest geerdet und die Form aus Lehm gebrannt, lebensgeschwängert mit den beiden Beinen verwurzelt in der Fülle. („Das Buch muß mit mir zu tun haben“, „da kann ich mich gut einfühlen“, „dieses Buch habe ich nie ausstehen könne“ so drei von vielen Wendungen und bloßen Geschmacksurteilen aus dem Schatzkästlein der Phrasologie – es könnte das auch dem Flaubertschen „Wörterbuch der Gemeinplätze“ entnommen sein oder von Eckhard Henscheid aufgespießt, der solches Gewäsch als dummdeutsch entlarve.)

Es gibt Menschen, die lesen literarische oder philosophische Texte, und ihnen kommt im Zug ihres Lesens nichts anderes in den Sinn, als diese Texte unmittelbar auf sich selber, auf ihren lebensweltlichen Bezugsraum zu applizieren oder biographisch auszudeuten. Solches Verfahren nennt sich Referenzrahmenbestätigung oder biographischer Reduktionismus. Zuweilen äußert sich das auch in verzückt-deklamatorischen Ausrufungen: „Das beste Buch auf dem Markt seit …!“ Gab es schon immer, ist nicht weiter schlimm, wenn es lautlos unter der wohlfühligen Lese-Bettdecke im gehüteten Heim geschieht. Schlecht gerät diese Angelegenheit jedoch, wenn sich ein solcher Umgang mit Literatur (bzw. mit Kunst überhaupt) in einen allgemeinen Diskurs transformiert. Dies mag sich nun beim Geschwätz auf den Vernissagen, dem Herumreden in den Seminaren oder beim Plaudern nach einer Ausstellung ereignen: immer wieder geben die subjektiven Reaktionsweisen den Maßstab ab, und es wird mit Regelmäßigkeit von der Sache selbst abgesehen.

In den 70er Jahren potenzierte sich dieses Schreiben, welches das Ich zum Maßstab nahm, wurde öffentlich, es gab einen Boom und damit auch: einen breiten Markt für solche Literatur der Empfindungs-, Gefühls und Erfahrungsseligkeit. Es hieß dieses Segment Verständigungstexte, und in der Literaturkritik firmierte solches Schreiben unter dem Slogan „Neue Subjektivität“. Das nahm schreckliche Ausprägungen an – von Karin Struck über Fritz Zorn bis hin zum „Tod eines Märchenprinzen“. Leerlaufendes Gefasel, die Grenze literarischer Aphasie mühelos überschreitend: ich, ich ich. Literarische Egozentrik, die sich mal politisch spreizte, dann wieder ganz im Ich ruhend wandelt: om om, sei sei! Eine vermeintliche Unmittelbarkeit des So-Seins wurde als Grund von Erfahrung und kommunikativem Austausch genommen: „Objektlose Innerlichkeit“ und Zustandsbeschreibungen. Und kaum einer vermochte es, einen Schritt zurückzutreten und vom Ich einmal abzusehen. Aber es gab auch Rausreißer innerhalb dieser Literatur, die das Ich so sehr kultivierte: so wie Peter Handke, Christa Wolf, Sarah Kirsch, R. D. Brinkmann oder Max Frischs „Montauk“, das in seiner fast abartigen männlichen Selbstbespiegelung gesellschaftliche Objektivität freisetzte: Ein gelungenes Werk, freilich ex negativo. (Die Reihe läßt sich fortsetzen, die Namen sind bloße Beispiele.) Diese Schriftstellerinnen und Schriftsteller waren zwar ebensolche Exzentriker, aber deren Schreiben immerhin glückte, und so ließen sich deren Texte als gelungene bezeichnen. Es war ja an dieser Epoche der wilden 70er (kleine serielle Referenz für die Fernseh- und Seriengucker) nicht alles Schreiben schlecht.

Schreiben von den eigenen Erfahrungen und die Korrespondenzen zwischen dem Text sowie dem Horizont meiner eigenen Erfahrung: Das reicht von den Fragen eines lesenden Arbeiters bis hin zur akademischen Selbstbespiegelung. Eine Selbstbefragung, ein Beicht- und Bekenntniszwang ohnegleichen setzte ein. Von der Lust, ein Ich zu sein, wandelte sich das Schreiben zum allesdurchdringenden Geschwätz, zum „Fütter-mein-Ego“.

Wie schreibe ich als Arbeiter, als Angestellter? Wie als Frau? Wie als Migrant? Wie als nicht-weißer Nicht-Europäer? Was sind die Rahmen des Textes? Das sind Fragen, die nicht vom Tisch zu wischen sind, die bedeutsam bleiben, aber zugleich stellen sie sich falsch und vor allem: sie entäußern sich als Text falsch, wenn das in einer direkten unmittelbaren Weise des Zugriffes auf die Wirklichkeit geschieht. Während das Ich unermüdlich bearbeitet und in Gesprächen befragt wird: Der Westdeutsche Bitterfelder Weg der Literatur. Diese Fragen, nach dem Status von Literatur, die zu recht gestellt werden müssen, handeln von Identität und von den Formen der Differenz- und Oppositionsbildungen: Wie erzeugen sich Differenzen und auf welche Weise bestimmt sich eine Identität, was konstituiert ein Subjekt (im Text)? Einen Teil der Antworten auf solche Fragen mag das dokumentarische Schreiben liefern, einen anderen die Literatur bzw. die Kunst, einen anderen die Philosophie – hier sei insbesondere auf Foucault und Derrida verwiesen.

In der Literatur der frühen 70er Jahre betrieb dieses Sich-über-sich-Hinausschreiben Ingeborg Bachmann in ihrem Todesarten-Zyklus, der stellen- und satzweise zwar in den Kitsch ragt, aber im Zusammenhang mit „Malina“ gelesen, ein Konzept von Schreiben als (weibliches) Subjekt abgibt, das eben nicht nur aus dem Horizont von biographischer Erfahrung heraus gedeutet werden kann, wie sie Ingeborg Bachmann als Frau machen mußte. Am Ende verschwindet ein Wesen in der Wand und spricht dennoch als Stimme. Das war Ende der 60er Jahre, Anfang der 70er. Und dann ihre Gedichte:

„Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.“

Abschiede werden das Thema und jene Zeit, die vergeht. Die Frage, die sich stellt: spricht das lyrische Ich noch sich selber oder bereits jenes männliche Subjekt an?

Einen Spezialfall dieser Form der Literatur, die sich selber befragt, liefert weiterhin Thomas Bernhards fünfteilige Autobiographie: Furios in der Schrift herausgeschlagen und das Medium autobiographischen Schreibens umkrempelnd. Das hatte nichts mehr mit dem (krank-kränkelnd-todgeweihten) Autor-Subjekt zu schaffen, sondern es eröffnete sich da die Krankheit zum Tode als eine condition humaine, die keine solche sein will, Biographisches weit hinter sich zurück lassend, und gleichzeitig wurde ein Zorn gesunken, so wie eben das abendländische Epos begann: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, …“ (Wie auch R. D. Brinkmann.) Das maskuline Schlachtfeld. Und nie betrieb eine Literatur schöner das Granteln und keilte – vom Rhythmus her musikalisch – um sich. Der Beginn der Erzählung „Gehen“, wo Denken, Schreiben, Empfinden und Dasein sich in eben dieser Tätigkeit ineinander verschränken, präsentierte und vereinigte diese Momente deutlich: das Musikalische in der Sprache, den Furor und das Moment des selbstbezüglichen Kreisens als Gehen und Denken in einem. Und dies alles ereignet sich als Text, im Text. Die Wörter kreisen, umkreisen und stoßen wieder zurück innerhalb der Selbstbezüglichkeit der Reflexionsschleifen, und es hat insofern gute Gründe, daß sich der Protagonist im „Kalkwerk“ ausgiebig mit Novalis befaßt: Das Ich der Fichte-Studien und hinab geht der Weg.

Doch dies sind die Glanzstücke, in den Niederungen träuflt‘s und dümpelt‘s.

Höhepunkt solcher Ausschweifungen geballter Subjektivität, herabgesunken in den studentischen Alltag, präsentierten sich mir in den 80ern in einem Literaturwissenschaftlichen Seminar zu den Romanen und Erzählungen Franz Kafkas, wo es seminarteilnehmende Frauen gab, die über die „Strafkolonie“ von Kafka sprechen wollten, um in diesem Gespräch ihre Gefühle zum Thema zu machen, die sie beim Lesen dieser grausamen Passagen plagten. Es waren – leider muß ich sagen – fast ausschließlich Frauen und nur wenige Männner, die dieses abenteuerliche Begehr vortrugen, um ihre traumatischen Leseerfahrungen der Allgemeinheit aufzudrängen. Allerdings: meine Lieblingskommilitonin der 80er Jahre und ich schauten uns vielsagend an: und da sie hegelianisch-impulsiv war, während ich doch eher dem kurzsätzigen Sarkasmus zuneigte, legte sie gleich los und fuhr die Frau an, daß sie diese Dinge besser zu Hause und im Freundeskreis erledigte als hier in der Öffentlichkeit. Und genau so ist es: Ich möchte von den Empfindungen und Gefühlen mir fremder Menschen nichts wissen. Schon gar nicht dann, wenn eine Äußerung der anderen gleicht und das Ach-so-Individuelle bloß die Widerspiegelung eines kollektiven Bewußtseinsstromes immergleicher Ödnis und des tausendmal Vernommenen bedeutet.

In den 90ern und darauf folgend nannte es sich Pop-Literatur: Besser als der Zusammenhang des Textes war das Ironisieren jedes Zusammenhanges und besser als dieses Ironie erwies es sich, Texte in unwillkürliche, dem Zufall geschuldete Assonanzen und Anordnungen zu transponieren und kleinteilig zu zerlegen. Assoziieren mit Adorno, Kafka auf dem Klo, dadaisieren mit Derrida: Das ist eine Zeit lang spaßig, langweilt aber – ähnlich wie das Zufallsprinzip der Lomographie und wie heutige Handyphotos, die ästhetisch gehaltvoll aufgeplustert werden – weil dieses Verfahren beliebig ausfällt und einer gewisse Ritualisierung nicht entbehrt. Es hat sich der Schock aber seit Dada totgelaufen. Das „épater le bourgeois!“ funktionierte nicht einmal mehr beim Punk, sondern wurde schnell eingemeindet: „Prunk mit Punk beim Kaufhof“ wie in den mittleren 80ern eine Werbebotschaft ging. Der Struktur und der Form des Textes wurde dieses Verfahren postmoderner Seicht-Dekonstruktion nicht gereicht. Es war dies die Postmoderne für Kinder, in ihrer Sucht nach Originalität, die nur leider immer gleich klang: Eine aphoristische Sentenz wie die andere.

Und obwohl ich selber aus dem Feld des Poststrukturalismus komme, muß ich – leider – bekennen, daß diese Philosophie eine Menge Unheil anrichtete, weil sie zum hemmungslosen Schwadronieren verführte, ohne daß sich da in den Äußerungen ein Gewinn an Erkenntnis ergab. Ein wenig mutet dieses Prozedere an wie die Lenor-Weichspülwäsche-Wohlfühlaktion: „What a feeling!“: der Nullpunkt des Sinns: stop making sense! Bitte nicht denken, bitte nicht auf Strukturen und Bezüge achten, bitte schauen sie nicht auf den Text. Ich nenne das Scheuklappenlektüre. Bezugspunkt war ein omnipräsent-narzißtisches Ego, das sich im gleichen Zuge jedoch selber durchstreichen und als Subjekt dekonstruieren wollte, sich dabei zunehmend in die eigene Imago verstrickend: der Erfahrungsraum. Die existentiell-daseinsmäßigen Subjekt-Fragmente, die den großen Theorien mittlerweile mißtrauten, fielen doch arg ganzheitlich aus. This happens, if postmodernism goes pop.

Worum geht es in diesem meinem Essay eigentlich? Ich nahm einen Umweg und schrieb über Dinge, die mit dem Folgenden nur mittelbar zu tun haben. Denn ich kommentierte auf dem Blog Gleisbauarbeiten ein wenig und lieferte mir einige Dispute zum Textbegriff und zu den Weisen des Lesens: daß der gelungene Text eine Wahrheit besitzt, die in der ästhetischen Kritik zur Entfaltung gelangt, daß dieser Text nicht bloß der Leseerfahrung und hermeneutisch inspirierte Kommunikation (oder dort so genannt: Gespräch mit dem Text) dient, sondern es existiert vielmehr ein Überschuß. Die Blogbetreiberin Melusine Barby hat darauf einen Text zu Texten geschrieben. Auch ein Literaturratespiel gibt es da. Eine interessante Diskussion zur subjektiven Intention (seien es Produzenten oder Rezipienten) und dem objektiven Gehalt eines Textes kann man an diesen Stellen nachlesen. (Am Ende jeder Lektüre jedoch erlischt und verglüht die subjektive Intention im objektiven Gehalt des Textes, indem jene Lektüre diesen Gehalt darstellt und einen weiteren, nämlich den eigenen Text in die Schrift bringt.)

Kurzer Hinweis nur zum Nachlesen: Der Ausgangspunkt findet sich hier, wo ich mich auf ein Zitat von Jörg Fauser bezog.

Zum Phänomen des Textbegriffes und der Lektüre folgt womöglich, demnächst und wenn mich das Thema dann noch fesselt, hier im Blog mehr. Dies wäre dann ein willkommener Anlaß endlich mit der Lektüre von Adornos „Der Essay als Form“ zu beginnen.

Out of limits: die Rahmen des Logozentrismus, die Überwindung der Metaphysik – Lektüren Derridas (3)

I. Nach der Moderne

Innerhalb jenes Rahmens der europäischen Philosophie, den Derrida als die Epoche der Metaphysik ansetzt, also seit der Philosophie Platons, wirkt ein Zentrum, ein Punkt der Präsenz und strukturiert, ohne dabei selber in den Blick zu gelangen.

„Die Struktur oder vielmehr die Strukturalität der Struktur wurde, obgleich sie immer schon am Werk war, bis zu dem Ereignis, das ich festhalten möchte, immer wieder neutralisiert, reduziert: und zwar durch einen Gestus, der der Struktur ein Zentrum geben und sie auf einen Punkt der Präsenz, auf einen festen Ursprung beziehen wollte. Dieses Zentrum hatte nicht nur die Aufgabe, die Struktur zu orientieren, in Gleichgewicht zu bringen und zu organisieren – es läßt sich in der Tat keine unorganisierte Struktur denken –, sondern es sollte vor allem dafür Sorge tragen, daß das Organisationsprinzip der Struktur dasjenige in Grenzen hielt, was wir das Spiel der Struktur nennen können. Indem das Zentrum einer Struktur die Kohärenz des Systems orientiert und organisiert, erlaubt es das Spiel der Elemente im Inneren der Formtotalität. Und noch heute stellt eine Struktur, der jegliches Zentrum fehlt, das Undenkbare selbst dar.“ (Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen, S. 422, in: Die Schrift und die Differenz)

Das Zentrum, der Ursprung besitzen eine regelnde, leitende als auch konstituierende Funktion, bleiben als blinder Fleck jedoch gleichzeitig leer. Exemplarisch ließe sich das an Kants transzendentalem Subjekt zeigen. Dieses ist bei Kant jedoch nicht nur im Sinne der „ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption“ zu fassen, wie im § 16 der K.d.r.V. entwickelt, sondern zugleich als eigentliches Selbst, wie es an sich existiert; also ein „Grenzbegriff (…), der jeder Bestimmbarkeit durch die Erfahrung entzogen bleibt.“ (Hist. Wörterb. d. Phil. Bd. 10, Sp. 399) Gleichzeitig bleibt dieser Begriff bei Kant eigentümlich leer, es ist ein bloßer Konstitutionsbegriff: Das Selbstbewußtsein wird sich erst in der Philosophie Hegels zu einem komplexen Zentrum entfalten, so daß Form und Inhalt ihren adäquaten Ausdruck finden.

Es spielen diese Sätze Derridas möglicherweise auch auf Foucault „Die Ordnung der Dinge“ an, wo es in der einleitenden Analyse von Velázquez‘ „Las Meninas“ um eine Achse der Blicke und die Frage des Zentrums geht (beide Texte erschienen 1966), und es sind diese Sätze Derridas zugleich Passagen, die den Strukturalismus als herrschende Strömung der französischen Philosophie auf einen Punkt zusammenfassen: „das Spiel der Elemente im Inneren der Formtotalität“, was man einerseits als kreative Permutation, andererseits aber auch als mechanistisches Geklapper des Strukturalismus ansetzten kann. Mit dieser Anwesenheit und dem Zentrum ist jedoch zugleich der Gegenpart konnotiert: Die Abwesenheit, jenes nicht mehr da, der Verlust (des Zentrums), aber auch Formen der Aneignung, der Enteignung (durch die Schrift) und des Begehrens, und so kreuzen sich im Text Derridas zuweilen philosophische, literarische und psychoanalytische Bestimmungen.

In diese Opposition, gleichsam als Leerstelle, die nicht vermittelt, sondern im Modus des Aleatorischen verfährt, schiebt sich das Spiel, welches, sozusagen verborgen wirkend, dezentriert. Inspiriert ist dieses Spiel bei Derrida einerseits durch Nietzsche, auf den Derrida sich in jenem Text über den Begriff der Bejahung explizit bezieht, aber auch durch Mallarmés Gedicht „Un coup de dés …“/“Ein Würfelwurf niemals auslöschen wird den Zufall.“ Die Strategie Derridas ist es, jedes Denken von Präsenz, jede Zentrierung und Fixierung darauf hin zu lesen, wo das Zentrum überbordet, es zu überführen, indem die Lektüre zeigt, daß dieses Zentrum nicht das ist, was es zu sein vorgibt – es seines illusionären Charakters zu überführen.

„Das Spiel ist Zerreißen der Präsenz. Die Präsenz eines Elementes ist stets eine bezeichnende und stellvertretende Referenz, die in einem System von Differenzen und in der Bewegung einer Kette eingeschrieben ist. Das Spiel ist immerfort ein Spiel von Abwesenheit und Präsenz, doch will man es radikal denken, so muß es der Alternative von Präsenz und Abwesenheit vorausgehend gedacht werden. Wenn Lévy-Strauss, besser als irgendein anderer, das Spiel der Wiederholung und die Wiederholung des Spiels sichtbar werden läßt, so nimmt man bei ihm doch eine Art Ethik der Präsenz, Heimweh nach Ursprung, nach der archaischen und natürlichen Unschuld, nach einer Reinheit der Präsenz und dem Sich-selbst-Gegenwärtig-sein in der Rede wahr. (…)

Der verlorenen oder unmöglichen Präsenz des abwesenden Ursprungs zugewandt, ist diese strukturalistische Thematik der zerbrochenen Unmittelbarkeit also die traurige negative, und nostalgische, schuldige und rousseauististische Kehrseite jenes Denkens des Spiels, dessen andere Seite Nietzsches Bejahung darstellt, die fröhliche Bejahung des Spiels der Welt und der Unschuld der Zukunft, die Bejahung einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung, die einer tätigen Deutung offen ist. Diese Bejahung bestimmt demnach das Nicht-Zentrum anders denn als Verlust des Zentrums. Sie spielt, ohne sich abzusichern. Denn es gibt ein sicheres Spiel: dasjenige, das sich beschränkt auf die Substitution vorgegebener existierender und präsenter Stücke. Im absoluten Zufall liefert sich die Bejahung überdies der genetischen Unbestimmtheit aus., dem seminalen Abenteuer der Spur (l‘aventure séminale de la trace). (Derrida SuD, S. 441)

Dieses affirmative Moment findet sich – über Nietzsche – in der französischen Philosophie des sogenannten Poststrukturalismus vielfach: sei es bei Foucault („fröhlicher Positivismus“), bei Deleuze, der in seinem Nietzsche-Buch explizit gegen Hegel und die Dialektik arbeitet, bei Lyotard („Affirmative Ästhetik“) bis hin zu Derrida, der eine vorbehaltlose große, allerdings auch maliziöse Bejahung der Hegelschen Philosophie betreibt, so u.a. in seinem Text über Bataille. Diese Affirmation ist einerseits zwar als Gegenbewegung zur Dialektik bzw. zur teleologischen Konzeption Hegelscher Geschichtsphilosophie zu lesen. Aber Derrida ist reflektiert genug, dabei nicht stehenzubleiben.

Das Nietzscheianische große Lachen, assoziiert mit dem spielenden Kind des Heraklit sowie dem Dioysischen, ist zugleich eines des Schauderns, es haftet im Mythos und hat viel mit dem zu tun, was Apollon dem Marsyas antat. Derrida dürfte derjenige sein, welcher dieses so grausame Wissen am ehesten in die Reflexion nahm. Das Denken der Gewalt spielt in der Philosophie Derridas eine zentrale Rolle, freilich ohne dabei auf eine Figur wie die vom Nomos des Lagers zu rekurrieren. Der Einsatz in diesem Spiel ist hoch und freigiebig, der Ausgang offen. Diese offene Ökonomie, welche der ästhetischen Moderne geschuldet ist, steht im Gegensatz zu einer beschränkten Ökonomie, die ihren Einsatz strategisch genau plant. (Adorno und Horkheimer prägten dafür den Terminus der instrumentellen Vernunft.) Derrida stellt diese Modelle von Ökonomie – etwa im Hinblick auf Hegels Figur der Aufhebung – in seiner Bataille-Lektüre dar. Interessant wäre es, im Zusammenhang mit der Ökonomie der Gabe, die sich vorbehaltlos gibt und nichts zurückbehält, an diesen Stellen mit Baudrillards „Der symbolische Tausch und der Tod“ gegenzulesen. Aber diese Lektüre liegt zu weit zurück, um das hier leisten zu können.

II. Heideggers Moderne – Dekonstruktion

In Derridas Sicht sind die Begriffe Zentrum und Präsenz durchzustreichen, umzupolen und gegenzulesen (wofür dann der Begriff der Dekonstruktion steht), und zugleich lassen sie sich nicht ohne Umstände durchstreichen oder aufheben. Das Denken des Anderen kommt, um es analog zu Hegels Begriff des absoluten Wissens in der „Phänomenologie“ zu formulieren, nicht aus der Pistole geschossen. Von der Struktur in Derridas Text her, die dann in der Différance kulminiert, verhält es sich wie bei Heideggers durchgestrichenem Begriff vom Sein. Heidegger versucht zwar, so Derrida, in seiner Philosophie die Metaphysik und das daran gekoppelte Denken von Einheit sowie die konventionelle Vorstellung von Subjekt/Objekt zu „entwinden“. Insofern ist Heidegger – wie auch Adorno, wenngleich in einer völlig anderen Weise – bereits ein Philosoph, welcher dem Denken der „Differenz“ zuzuordnen ist. (Paradigmatisch ließen sich für die Leserinnen und Leser, welche diese Dinge auch im Rahmen der Diskussion um die Postmoderne weiterlesen möchten, hier Heideggers zwei Aufsätze aus „Identität und Differenz“ zugrunde legen. In diesem Kontext kann man das dann mit Gianni Vattimo „Das Ende der Moderne“ weiterlesen. Es findet sich bei Vattimo ein Postmoderne-Bezug, der explizit auf Nietzsche und Heidegger fußt.)

Doch auch Heideggers Metaphysikkritik bleibt im Bann des Logozentrismus stecken, so Derrida. Die „Verwindung“ der Metaphysik – als Gegenwort zur Überwindung konzipiert, das die Opposition unterlaufen soll – gestaltet sich schwierig.

„Der Logozentrismus ginge also mit der Bestimmung des Seins des Seienden als Präsenz einher. Auch im Denken Heideggers fehlt dieser Logozentrismus nicht ganz: er hält es vielleicht noch in der Epoche der Onto-Theologie, jener Philosophie der Präsenz: eben der Philosophie, gefangen. Das könnte bedeuten, daß man aus einer Epoche, deren Abschluß (clôture) umrißhaft sich bereits abzeichnen läßt, doch nicht herauszutreten vermag. Die Bewegung der Zugehörigkeit oder der Nicht-Zugehörigkeit zu einer solchen Epoche sind zu subtil, die damit verbundenen Illusionen zu verführerisch, als daß sich hier eine Entscheidung treffen ließe.“ (Derrida, Grammatologie, S. 26 f.)

Derrida betreibt hier einerseits dieselbe Bewegung, die Heidegger bereits gegenüber Nietzsches Text unternommen hat: Nietzsche Philosophie bewegt sich insofern noch innerhalb der Metaphysik, als er die Oppositionen lediglich umdreht: statt Geist(-Metaphysik) nun eine Philosophie der Leiblichkeit, die doch nur eine verdeckte Metaphysik des Körper unter umgekehrten Vorzeichen abgibt. Und auch jener „tiefste Gedanke“ der Philosophie Nietzsches (der von der ewigen Wiederkehr sowie daran gekoppelt das Konzept des Übermenschen), welchen er im „Zarathustra“ entfaltet, steckt von der Struktur und der Art des Fragens, so Heidegger, noch im Bann der Metaphysik, es ist der metaphysische Gedanke Nietzsches.

Heidegger gehört in der Lesart Derridas noch dieser Epoche zu, während Derrida andererseits im Text Nietzsches eine Struktur ausmacht, die in Zügen bereits den Gegensatz dekonstruiert bzw. subtil hintertreibt. Diese Vielfalt im Text Nietzsches, welche sich in der Vielstimmigkeit äußert und sich über über Nietzsches Stile inszeniert, entfaltet Derrida in seinem Aufsatz „Sporen. Die Stile Nietzsches“, etwa anhand der Begriffe „maskulin/feminin“, über das Spiel der Schleier, das In-Szene-Setzen der Wahrheit.

„Mit der Radikalisierung der Begriffe der Interpretation, der Perspektive, der Wertung, der Differenz … sollte Nietzsche, ohne einfach (mit Hegel und wie Heidegger es möchte) innerhalb der Metaphysik zu bleiben, entscheidend zur Befreiung des Signifikanten aus seiner Abhängigkeit, seiner Derivation gegenüber dem Logos, dem konnexen Begriff der Wahrheit oder eines wie immer verstandenen ersten Signifikats beigetragen haben.“ (Gr. S. 36)

Andererseits sieht Derrida die Grenzen und die Schwierigkeit eines solchen unmittelbaren und dadurch lediglich postulierten Überstiegs. Es gibt kein Draußen. Der Immanenzzusammenhang ist bei Derrida total. Allenfalls finden sich minimale Sprünge und die Falten, welche sich auftun und in denen textuelle Operationen, Lektüren möglich sind. Das anfangs postulierte Spiel weicht bei Derrida zunehmend der Skepsis: denn es kann in der restlosen Verausgabung alles verloren gehen. Dieses die Denkstrukturen von Philosophie und Gesellschaft konstituierende Paradigma der Einheit als Anwesenheit und erfüllte Präsenz ist nicht per ordre abzuschaffen. Insofern plädiert Derrida zunächst für eine Form von Unentscheidbarkeit und für eine gleichsam partisanenhafte Teilhabe, die subtil unterminiert. („Die Bewegung der Zugehörigkeit oder der Nicht-Zugehörigkeit zu einer solchen Epoche sind zu subtil, die damit verbundenen Illusionen zu verführerisch, als daß sich hier eine Entscheidung treffen ließe.“) Insofern ist auch für Derrida die Moderne ein unvollendetes Projekt.

Die Moderne Heideggers hingegen ist die von Adalbert Stifter, der Jargon von Feldwegen. Agrarontologie. (Freilich entbindet das nicht von seiner Philosophie. Wie ich es oft betonte: man muß Heidegger gegen Heidegger lesen, und ich hoffe, daß ich hier im Blog irgendwann zu einer Heideggerlektüre komme.)

Wogegen sich Derridas Kritik jedenfalls richtet, sind Oppositionsbildungen, welche in seiner Lesart Effekt einer bestimmten Denkstruktur, mithin Effekte dieser Metaphysik sind, und die Formen des Ausschlusses (re-)produzieren. Dem Bann ist nicht einfach zu entkommen; es bedarf der Strategien und der Praktiken. Und insofern ist der Einwand, daß es sich bei Derridas Verfahren um eine Praktik handelt, die in ihrem textuellen Vollzug an den Modus des Ästhetischen gekoppelt ist, das aber gerade in diesem Vollzug seinen Eigenwert als Ästhetisches (und in seiner Reflexionsform als Ästhetik) nicht mehr behält, sondern in den Dienst genommen wird, nicht ganz falsch. (Siehe etwa bei Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst, und Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels).

Es geschieht solcher Überstieg im Text Derridas durch die Art des Schreiben, gleichsam vermittels des Stils. Solche Umpolung der Philosophie, und wenn man will, kann man es auch Kritik der Philosophie nennen, bedeutet freilich nicht, daß diese zu einem literarischen Genre sich transformiert; vielmehr thematisiert Derrida implizit und immer wieder in neuen Anläufen die Frage nach der Grenze. „Die Postkarte“ etwa funktioniert ein wenig, wie jene Wittgensteinsche Kippfigur des Hase-Entenkopfs. In diesem ästhetischen bzw. teils literarischen Moment mag auch einer der Gründe dafür liegen, daß es bei Derrida insbesondere in jenen Texten interessant wird, wo er nicht das „Programm“ der Dekonstruktion aufzeigt, sondern wenn er etwa Nietzsche, Celan, Kant, Kafka, Marx, Freud oder Benjamin liest. Dort eben, wo das Verfahren Derridas als Text praktiziert wird und anhand eines anderen Textes sich Passagen öffnen, wo Begriffe und Figuren in Bewegung oder in eine ungewöhnliche Konstellation geraten.

„Die Dekonstruktion besteht nicht darin, von einem Begriff zu einem anderen überzugehen, sondern darin, eine begriffliche Ordnung ebenso wie die nicht-begriffliche Ordnung (Herv. v. Bersarin), an der sie sich artikuliert, umzukehren und zu verschieben.“ (Signatur Ereignis Kontext, in: Randgänge, S. 314)

Mit der Kritik des Logozentrismus, den Derrida als Metaphysik der phonetischen Schrift (bspw. der Buchstabenschrift) konzipiert, ist allerdings keine Kritik abendländischer Philosophie im Sinne von Ludwig Klages gemeint, der mit dem Begriff „logozentrisch“ eine lebensfeindliche Geistigkeit kritisiert, die „das Leben im Geiste zu binden“ versuche (zit. nach Hist. W. d. Phil., Bd. 5, Sp. 502) und die es in einem Konzept von Einheit zu überwinden gelte. Solche Ursprünglichkeiten und Einheitssubreptionen bzw. den Schein der heilen Welt kritisieren Derrida wie auch Adorno massiv. Interessant – als Nebensatz formuliert – mag dabei sein, daß sich auch Klages mit der Schrift beschäftigte, allerdings geschieht dies bei ihm in der psychologistischen Variante der Graphologie.

Sagt man Derrida zwar ein gewisses Raunen nach (wie es Habermas in „Der philosophischen Diskurs der Moderne“ formuliert), so ist dieser Modus des Schreibens aber nicht im Irrationalen oder Prärationalen gegründet wie bei Klages, sondern funktioniert als Strategie des Schreibens. Es wird bei Derrida nicht umstandslos ein Anderes als Besseres oder Rettendes supponiert, an dessen Ort es Zuflucht gäbe. Die Skepsis Derridas ist dahingehend radikal, weshalb seinen Text zuweilen ein melancholischer Ton durchzieht. Rettung und Utopie sind bei Derrida schwarz verhüllt. Und anders als bei Adorno gibt es eine Utopie womöglich nicht einmal mehr. Was bleibt sind Formen des Spiels.

Auch wenn die Waffe der Kritik, die in Derridas Text durchaus steckt, dadurch womöglich stumpf zu werden droht und man hierbei auch eine Strategie der Entschärfung sehen kann, so überzeugen mich Derridas programmatischen, generalisierenden Überlegungen, die er in der „Grammatologie“ vornimmt, eher im Hinblick auf eine ästhetische Lesart, insbesondere in bezug auf seinen Begriffes von Schrift.

Wieweit Derrida diese (Re-)Produktion des Ausschlusses ökonomisch fundiert bzw. von seiner Theorie her überhaupt fundieren kann und diese Struktur nicht nur als – sozusagen – Funktionen des Überbaus sieht, ohne dabei die materiellen Bedingungen, die Produktionsbedingungen einer Gesellschaft in den Blick zu bekommen, müßte man im Hinblick auf Derridas Begriff von Ökonomie betrachten. Derridas Begriff von Schrift macht es im Hinblick darauf selbst dem wohlwollenden Leser nicht immer ganz einfach.

„… daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei.“ ( Zur Kritik der Politischen Ökonomie, S. 8, in: MEW 13,)

Auch der Begriff der Ökonomie bei Derrida scheint mir eher am Modus des Ästhetischen orientiert zu sein und insbesondere im Zusammenhang mit Texten zu funktionieren, was jedoch nicht bedeuten muß, auf ein Zusammen- aber auch ein Gegenlesen mit dem Text von Marx, mit der Kritik der Politischer Ökonomie zu verzichten.

Eve of Deconstruction? – Lektüren Derridas (1)

Wie anfangen?

Man muß irgendwo, an einer Stelle, an einem oder mit einem Punkt, anfangen. Es gibt keinen gerechten, keinen absoluten, keinen richtigen Anfang. Der Auftakt ist schwierig. Es ist – wie beim Spiel – zugleich eine Frage des Einsatzes. Hegel hat dieser Frage des Anfangs eine umfangreiche Einleitung zum Beginn seiner „Wissenschaft der Logik“ gewidmet: „Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“

Nun geht es im Text Derridas jedoch nicht um Philosophie als System, welche in dieser Art auch gar nicht mehr möglich ist. Das, was sich dem System entzieht und trotzdem als Philosophie auftritt, darf oder muß deshalb aber noch lange nicht unsystematisch im Sinne von Beliebigkeit, Durcheinander oder Spielerischem verfaßt sein, obwohl, wie wir sehen werden, die Momente des Spiels und der Aleatorik in Derridas Texten eine zentrale Rolle einnehmen.

Nicht immer kann der Auftakt eines Textes so vielschichtig sein und derart genau passen, wie in Derridas Vortrag „Die différance“, den er am 27. Januar 1968 vor der Société française de philosophie hielt. Wenn er nämlich damit ansetzt, daß er von einem Buchstaben sprechen werde: „Von dem ersten, wenn man dem Alphabet und den meisten Spekulationen, die darüber gewagt wurden, glauben darf.“ (Derrida, Die différance, S. 29, in: J. Derrida, Randgänge d. Philosophie, Wien 1988)

Jener bedeutungstragende Unterschied des „a“ anstelle von „e“, in dem von Derrida eingeführten Begriff bzw. Neologismus „différance“ (im Französischen gibt es nur „différence“), der in der Aussprache eines Vortrages nicht hörbar ist, sondern nur als Text lesbar, so daß man diese Einführung zugleich als einen strategischen Zug werten kann. Ein stummes Zeichen, ein schweigendes Denkmal, wie Derrida formuliert, das sich, als Majuskel geschrieben, durch eine Pyramide darstellbar macht.

„Das a der différance ist also nicht vernehmbar, es bleibt stumm, verschwiegen und diskret, wie ein Grabmal: oikesis. Kennzeichnen wir damit im voraus jenen Ort, Familiensitz und Grabstätte des Eigenen, an dem die Ökonomie des Todes in der différance sich produziert“ (S. 30)

Dieses Verhältnis von Eigenem und Anderem, der Aspekt der Ökonomie, des Aufschubs, der zeitlich-räumlichen Differenz, des Begehrens, des Todes (man denke hier korrespondierend an die Ausführungen Heideggers in „Sein und Zeit“ §§ 46 ff. und an das Herr/Knecht-Kapitel aus Hegels Phänomenologie, auch als Vorankündigung für hoffentlich Kommendes gedacht) spielen in Derridas gesamten Werk eine Rolle und tauchen darin – vielfach ausgefaltet – in unterschiedlichen Konstellation und Anordnungen auf. Insbesondere das Verhältnis von Einmaligkeit und Wiederholbarkeit gibt eine zentrale Chiffre ab: daß das, was nur ein einziges Mal stattfindet – beispielsweise die Beschneidung – in eine Struktur (der Wiederholung) eingeschrieben sein muß, um überhaupt erst als solches lesbar zu werden. Dieses Verhältnis von Einmaligkeit und Wiederholung, das man zunächst als ein dialektisches wird ausmachen können, wird aber bei Derrida in eine ganz andere Richtung als die dialektische transformiert, die man vielleicht als eine hyperbolische Dialektik wird bezeichnen können. Denn immer geht es Derrida darum, auch dem Diskurs der Dialektik, welchen er ernst nimmt und schätzt – sein Werk läßt sich genauso gut als ein Abarbeiten an Hegels Philosophie lesen –, in einer Form der Bejahung ohne Vorbehalt zu begegnen (anders etwa als Foucault oder Deleuze), was dann aber zugleich bedeutet, daß auch die Figuren der Dialektik einer Ökonomie (des Textes) unterliegen, die lesbar zu machen ist. Solches Lesbarmachen ist bei Derrida aber keines, das nun einerseits eine neue Opposition aufbauen will – es geschieht ganz immanent, und es verbindet sich nicht mit einem absoluten Geltungsanspruch oder operiert von einer sozusagen allwissenden Perspektive, von der aus die Lektüre vorgenommen wird. Auch die Dekonstruktion ist keine Letzte Philosophie, und es gibt immer die Möglichkeit ihres Verschwindens, so Derrida. Auch ihr Blick unterliegt Beschränkungen, die selber nicht gesehen werden können. (Hier wären auch Nähen zum Soziologen Niklas Luhmann auszumachen.) Nichts sichert ihren Bestand. Diesen Tod, dieses absolute Verschwinden als Möglichkeit ist in Derridas Texten immer mitgedacht, wird zum Thema oder schwingt als Grundton mit, weshalb zuweilen von einer melancholischen Skepsis, einem Ton der Trauer im Text Derridas gesprochen wird.

Ausführlich stellt Derrida dieses Verhältnis von Einmaligkeit und Wiederholung in seinem Buch „Schibboleth“ dar. Dort liest er verschiedene Gedichte Celans (unter anderem das für Celan zentrale Gedicht „Schibboleth“, was dem Buch seinen Titel gab) sowie Celans Büchnerpreisrede „Der Meridian“. Ich werde diesem Buch mindestens einen Text widmen. In „Schibboleth“ insbesondere entfaltet Derrida einen Begriff von Erfahrung, den ich für philosophisch als auch politisch so gewichtig halte, daß er nicht unerwähnt bleiben sollte. Das Spannende ist, daß gerade an einem Text, der sich auf den ersten Blick – über die Poetik des Datums – einem literarischen Werk widmet, das politische Moment der Dekonstruktion sich abzeichnet. Etwa wenn es darum geht, das sowohl das Diskriminierende als auch die Vernichtende, welche sich vermittels des Begriffs „Schibboleth“ eröffnen, zu zeigen:

„Und die Gileaditer nahmen ein die Furten des Jordans vor Ephraim. Wenn nun die Flüchtigen Ephraims sprachen: Laß mich hinübergehen! so sprachen die Männer von Gilead zu ihm: Bist du ein Ephraimiter? Wenn er dann antwortete: Nein! hießen sie ihn sprechen: Schiboleth; so sprach er: Siboleth und konnte es nicht recht reden; alsdann griffen sie ihn und schlugen ihn an den Furten des Jordans, daß zu der Zeit von Ephraim fielen 42000.“ (Buch Richter 12 5-6, Übersetzung aus der Lutherbibel)

Solches aber ist für Derridas Werk im ganzen typisch: insbesondere an Stellen, wo man es nicht erwartet, taucht ein völlig neuer Aspekt auf, der die Lektüre noch einmal in eine ganz andere Perspektive und Sicht bring. Es verschränken sich die verschiedenen Aspekte, der Text Derridas ist multiperspektivisch gefaltet. Dies macht den Reiz der Philosophie Derridas aus.

Um die Lektüre Derridas jedoch auch für die Leserinnen und Leser lesbar und fruchtbar zu machen, welche nicht zahlreiche Semester Philosophie studierten, möchte ich zunächst einige grundsätzliche Dinge schreiben und im ersten Text eine kleine Hinführung zu Derrida geben. Dabei stellt sich eben die Frage, wie hier vorzugehen sei: die für Derrida zentralen Begriffe wie différance, Schrift, Supplement, Spiel, Struktur, Gabe, Euro-, Phono- sowie Logozentrismus und einige mehr werde ich anhand von Texten und Zitaten darstellen und sichten. Es sind teils komplexe Begriffe, die sich nicht durch Definition erschließen, was ja in der Philosophie sowieso ein schwieriges und eher unphilosophisch sich gebärdendes Unterfangen ist, sondern durch ihren Gebrauch, die Darstellung bzw. die Art und Weise, wie Derrida diese Begriffe verwendet.

Wie ich das genau betreibe, wie ich en detail vorgehe, weiß ich nicht. Ich habe keinen konkreten Plan, es werden sich diese Teile, sozusagen wie beim Kaleidoskop, zusammenfinden, entwickeln und fügen oder auch nicht. Auf alle Fälle geschieht die Lektüre aber sehr nahe am Text Derridas und wird weniger Großthesen und Überflug eines Adlers, als vielmehr konkrete Arbeit bzw. Darstellung enthalten. Die qualifizierte Diskussion wird sich dann hoffentlich durch den einen oder anderen Kommentar ergeben. Zuweilen kann es aber geschehen, daß ich insofern abschweife, indem ich einen Blick auf Heidegger und Adorno insbesondere, aber auch auf Nietzsche und Hegel werfe, um hier wiederum gegenzulesen. „Sein und Zeit“ als auch Heideggers (hermeneutische) Hölderin-Interpretation, die er in seiner Vorlesung zum „Isther“ und zu „Andenken“ entfaltet, könnten hier Bezugspunkte bilden, um zu Derrida noch einmal eine Erweiterung zu produzieren, Gleiches gilt für Adorno Parataxis- und seinen Eichendorff-Aufsatz. Ein Strang der Lektüre wird also zu einer Philosophie des poetischen Sprechens hin ihren Lauf nehmen, ein anderer wird politische Aspekte der Dekonstruktion sichten. Denn die Dekonstruktion ist eben keine rein ästhetische oder literaturwissenschaftliche Angelegenheit. Dies zeigt sich etwa an dem Konzept einer Ethik der Gabe und insbesondere in den späteren Texten Derridas „Politik der Freundschaft“ (1994) und „Schurken“ (2003).

Was die Dekonstruktion betrifft, die zuweilen und fälschlich als eine Methode bezeichnet wird, so beschränke ich mich hier lediglich auf Derridas Texte. Paul de Man und überhaupt die sogenannte Yale-School tauchen hier nicht auf. Das wäre dann ein Projekt für sich. Wenn hier in den Kommentaren aber einer oder eine mit Judith Butler, die ja, wie ich das sehe, zentrale Aspekte Derridas aufgreift und weiterentwickelt, gegen- oder mitlesen möchte, so ist das herzlich willkommen. Ich selber kenne Butler zu wenig, um Qualifiziertes schreiben zu können.

Die Dekonstruktion Derridas ist keine Methode – Derrida hat sich gegen eine Funktionalisierung bzw. eine Kanonisierung seines Vorgehens vehement gesträubt –, sondern vielmehr eine, fast kann man sagen, individuelle (Text-)Praktik, die explizit mit dem Eigennamen „Derrida“ verknüpft ist. Wobei dieses Konzept des Eigenen von Derrida zugleich kritisiert wird. Als ein Movens seiner Philosophie kann man sicherlich feststellen, „daß das gesamte Werk J.D.s von von diesem Unbehagen an der Zugehörigkeit“ (G. Benningeton, Jacques Derrida, S. 333, Fft/M 1994) durchzogen ist. Derrida betreibt die Dekonstruktion des „Eigen(tlich)en“ und der identitären, das Subjekt besetzenden und fixierenden Diskurse – darin bestehen sicherlich eine Analogie zur Philosophie Adornos.

Ich gestehe, daß ich Derrida zusammen mit Adorno, Benjamin, Foucault und mit Abstrichen Heidegger für die bedeutendsten Philosophen des 20. Jhds halte, wobei diese Auswahl natürlich manche Perspektive ausläßt, denn die Einsichten der verschiedenen Positionen in der sprachanalytischen Philosophie und in der Phänomenologie sind auf ihre Weise für die Philosophie des 20. Jhds genauso bedeutsam, und freilich wird man auch hier einiges gegenlesen können. Insbesondere zwischen Derrida uns John Searle gab es eine philosophische Debatte.

Das aber, was Derrida mit Emphase betreibt, zu imitieren oder – unter dem Aspekt des Mimetischen – ähnlich zu machen, ist schlicht unmöglich. Wenn man dieses Vorgehen kopierte, käme lediglich ein furchtbarer Abklatsch heraus. Insofern wird es hier keine Dekonstruktion Derridas mit seinen eigenen Mitteln geben – was auch nicht einfach zu betreiben ist, weil dafür sein Text zu komplex gebaut ist. Derrida hat die Kritik an ihm bereits mitgedacht, ähnlich wie in der Philosophie Hegels, um es ein wenig generalisierend zu formulieren.

Nebenbei sei bemerkt, daß Derrida in der Rezeption auch für die Bildenden Künste sowie für die Architektur bedeutsam war. Vielleicht gelingt es mir, im Hinblick auf die Bildenden Künste eine Sicht auf sein Buch „Die Wahrheit in der Malerei“ zu werfen, das unter anderem eine Auseinandersetzung sowohl mit Kant als auch mit Heideggers Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerks“ sowie der darin enthaltenen Deutung des van Gogh Bildes „Ein Paar Schuhe“ abgibt.

Einige biographische Details noch: Derrida wurde am 15. Juli in El-Biar in der Nähe von Algier geboren, also im damals französisch besetzten Algerien. Er ist von seiner Religion her Jude, wuchs aber relativ säkular geprägt auf. Spät erst erhielt Derrida in Paris einen Lehrstuhl. Eines der wichtigsten Jahre für ihn war sicherlich das Jahr 1967, als gleich drei seiner Werke erschienen: „Die Stimme und das Phänomen“, „Grammatologie, und „Die Schrift und die Differenz“. Dieses Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen, wo so unterschiedliche Autoren wie Freud, Artaud, Hegel, Bataille, Foucault, Jabès und Lévinas gegengelesen werden.

Manche schreiben, diese drei Bücher seien die bedeutendsten Werke Derridas, aber es verfehlt den Blick auf ihn und steht quer zu seiner Philosophie, in der umfangreichen Literaturliste Hierarchisierungen vorzunehmen. Anerkannt war Derrida im traditionellen, altbackenen, konservativen akademischen Betrieb nicht. Viele begriffen nichts von seiner Philosophie, weil sie Derrida nicht gelesen hatten, oder hielten es für eine Spielerei, für Literatur oder Scharlatanerie. Solche Herren der offiziellen Diskurse konnten den Zug seiner Philosophie über Frankreich hinaus in die USA, nach Italien, aber auch in die Seminare deutscher Universitäten hinein nicht aufhalten.

Als besonders perfide gilt der Protest von zahlreichen Professoren aus der Sektion der analytischen Philosophie, darunter auch W. V.O. Quine, gegen die Ehrendoktorwürde der Universität Cambridge im Jahre 1992: „Weit verbreitet, so seine Philosophie-Kollegin Sarah Richmond, sei bei britischen Akademikern die Meinung, Derridas Ideen bedeuteten ‚Gift für den Geist junger Leute‘.“ (Der Spiegel v. 13.4.1992) Er erhielt diese Ehrendoktorwürde dennoch. 2001 wurde ihm der Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt verliehen. Auf Einladung von Jürgen Habermas hielt er in Frankfurt den Vortrag „Die Zukunft der Universität“. Am 31. Mai 2003 veröffentlichen Derrida und Habermas in der FAZ gemeinsam den Text zur Rolle der Europäischen Außenpolitik „Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas“. Der Text ist auch als eine Reaktion auf den Irak-Krieg der USA zu lesen.

Derrida starb am 8. Oktober 2004 in Paris. Er wurde lediglich 74 Jahre alt.

My Table

Dedicated to Tracey Emin

 

Nachdem bei WordPress in der Rubrik „Suchen“ beinahe jeden Tag – und gestern gar in sieben Varianten – nach Tracey Emin und dem Environment „My bed“ recherchiert wurde, heute jedoch keiner nach ihr suchte, bin ich es leid. Kein Begriff wurde bei mir so häufig gesucht wie Tracey Emin. Weder Adorno noch Beckett oder Kafka, Derrida, Fotografie, von erotisch konnotierten Begriffen ganz zu schweigen. Dabei habe ich nie einen längeren Text über Emin geschrieben, ich erwähnte lediglich in einem Beitrag ihr Environment „My bed“ kurz nur und schrieb einige Zeilen dazu. Ich weiß nicht, warum mit dem Begriff „Tracey Emin“ ausgerechnet mein Blog jeden Tag gesucht und gefunden wird. Nun fühle ich mich hierdurch zwar nicht belästigt oder gestört, weil die Einträge keine Geräusche machen und auch keine lange Lesezeit benötigen, die in der kostbaren Ökonomie der Zeit verschwendet werden müßte. Dennoch bin ich befremdet.

Um der Angelegenheit aber einen neuen Dreh zu geben, ändere ich die Bedingungen: Denn heute stelle ich mich selber aus, setzte meine Wohnung bzw. einen Teil derselben als Kunstwerk und mache den Anfang mit der Serie „One of my Tables“:

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Er ist dies ein Environment, welches jedoch in der Reflexion durchaus als gebrochen erscheint, da das Medium „Environment“ wiederum durch ein Medium dargestellt wird, nämlich vermittels der Photographie, dem klassischen Verfahren der Repräsentation. Der Charakter dieser Photographien ist jedoch fragil. Eine Ortsbestimmung eigentlich nicht möglich. Was ist konstruiert, was real? Der Zeuge, der bestätigen könnte, daß dies meine Wohnung sei, müßte gleichfalls überprüft werden, ob er ein echter oder nicht vielmehr ein fingierter Zeuge ist. Der Zeuge ist ein unzuverlässiger Chronist. Niemand zeugt für den Zeugen, wie es bei Celan heißt. Es gibt keine Metaebene, welche die Diskurse noch vereinen, überordnend erklären, bestätigen und zusammenhalten könnte. Mit Wolfgang Welsch gesprochen ist die Vernunft transversal geworden. Mit Lyotard gedacht, befindet sie sich in einem unaufhebbaren Widerstreit.

Die Photographie als Medium der Wahrheit und der Repräsentation trägt in sich bereits das Mal ihrer eigenen Dekonstruktion. Wenn wir eine Photographie lesen, so werden wir in der Regel mehr offene Stellen als Klarheiten entdecken. Nicht erst seit Photoshop, nicht erst seit der Frage, ob jener spanische Republikaner, der gerade erschossen wird, wirklich ein Republikaner ist, der gerade erschossen wurde. Wie tief diese Dinge hinsichtlich des Urteils und der Urteilskraft reichen, zeigt etwa Derrida in seinem Text „Gesetzeskraft“, wo in einer fulminanten Lektüre die Begriffe von Recht und Gerechtigkeit dekonstruiert werden. (Daß diese Aspekte und Aporien des Rechts bereits in der Rechtstheorie verhandelt wurden, spricht nicht gegen den Text Derridas. Ich hoffe sehr, daß ich mich diesem Text Derridas noch einmal im Rahmen meiner Benjamin-Lektüre widmen kann.)

Nein, es ist natürlich nicht fein, seine eigenen Werke zu zeigen und die Lektüre sogleich mitzuliefern. Aber verstehen Sie, liebe Leserinnen und Leser, diesen Schritt bitte als einen Akt tiefer philosophischer Verzweiflung über die Wiederkehr des Gleichen. Warum ausgerechnet ich? Weshalb diese über Monate jeden Tag anhaltende Suchanfrage? Warum gerade Tracey Emin, die nicht einmal eine schöne Frau, wenngleich eine interessante Künstlerin ist. Will man mich auf den Weg zur Pop-Kunst bringen, will man, daß ich in die Tücken der populären Kultur abtauche? Genügt Euch die zuweilen gegebene „Tonspur zum Sonntag“ als Reminiszenz an den Pop nicht? Fragen eben, die sich stellen und die von der Struktur her an jene (verzweifelten?) Fragen am Schluß von Kafkas „Prozess“ gemahnen.

Lieber Leser, der Du in Ausdauer Tracey Emin suchst: Du wirst sie in der Form, wie Du sie haben möchtest, hier nicht finden. Und so kann man, fast schon biblisch, sagen: Sie ist nicht da, sie ist aufgestanden. So wie Hegel sich seinerzeit über die Kreuzfahrer belustigte, die die Gebeine und Reliquien des Christus suchten.

„Aber im Grabe liegt wahrhaft der eigentliche Punkt der Umkehrung [griech. auch: metanoia (zu lesen etwa als Buße), Hinweis Bersarin], im Grabe ist es, wo alle Eitelkeit des Sinnlichen untergeht. Am Heiligen Grabe vergeht alle Eitelkeit der Meinung, da wird es Ernst überhaupt. Im Negativen des Dieses, des Sinnlichen ist es, daß die Umkehrung geschieht und sich die Worte bewähren: ‚Du läßt nicht zu, daß Dein Heiliger verwese‘. Im Grabe sollte die Christenheit das Letzte ihrer Wahrheit nicht finden. An diesem Grabe ist der Christenheit noch einmal geantwortet worden, was den Jüngern, als sie dort den Leib des Herrn suchten: ‚Was suchet ihr den Lebendigen unter den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden.‘“

Es ist dieses Zitat aus dem Lukas-Evangelium ein Satz, der mich bereits im Religionsunterricht der Oberschule im Denken fasziniert hat, so daß die – freilich jugendliche – Reflexion über jenes einsetzte, was ich später dann mit dem Begriff der Utopie verband.

„Das Prinzip eurer Religion habt ihr nicht im Sinnlichen, im Grabe bei den Toten zu suchen, sondern im lebendigen Geist bei euch selbst. Die ungeheure Idee der Verknüpfung des Endlichen und Unendlichen haben wir zum Geistlosen werden sehen, daß das Unendliche als Dieses in einem ganz vereinzelten äußerlichen Dinge gesucht worden ist.“ (Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 471 f., Frankfurt/M 1986, Werke 12)

Ja, auf solch verschlungenen Wegen kann man von Tracey Emins ungemachtem Bett zur Religion gelangen.