Eine Verteidigung der Postmoderne gegen den Mißbrauch (1)

Auch dieses Wochenende erscheint kein Text zu Habermas/Adorno, sondern der Beginn eines längeren Textes über die Postmoderne. (Überhaupt werde ich den Habermas-Text auf unbestimmte Zeit nach hinten schieben, da er mir momentan nicht so ergiebig erscheint und andere Denkfigurationen mir im Moment wichtiger sind. Um aber zu versöhnen und doch ein paar Stichworte hierzu preiszugeben nur soviel:

I. Vorläufer und Denkfiguren

In gewissem, nicht unberechtigten Sinne kann man sagen, daß Adorno/Horkheimer mit ihrer „Dialektik der Aufklärung“ einen Vorgriff auf bestimmte Denkfiguren, die die sogenannte Postmoderne – schlagwortartig zumindest – auszeichnen, geleistet haben. Es ist in ihren Positionen ein Vorspiel und eine Argumentationsfigur auf eine kommende Szenerie angelegt.

Und Foucaults Bemerkung, daß ihm mancher Umweg erspart geblieben wäre, hätte er dieses Buch früher gelesen, ist eine sympathische Randnotiz hierzu. Die sozialen Strategien sowie die Mechanismen der Disziplinierung des Subjekts etwa legen beide Philosophien, wenngleich von sehr unterschiedlichen theoretischen Voraussetzungen ausgehend, anschaulich dar.

Es ist dieser Vorgriff Adornos und Horkheimers bzw. dieser Argumentationsstrang die Figur einer alles überbietenden Vernunftkritik, die noch ihre eigenen Grundlagen, damit also sich selbst, angreift, und durch dieses Verfahren, nach Habermas (siehe hierzu etwa „Der philosophische Diskurs der Moderne“, aber auch ThdK) in einen performativen Selbstwiderspruch gerät. Eine sich selbst kritisierende Vernunft, die sich absolut destruiert, aber zugleich sich selber innerhalb dieses Aktes in Anspruch nehmen muß, um solche Dinge überhaupt aussprechen zu können und nicht nur sprach- und begriffslos darauf zu deuten. Vor dieser Aporie steht, nach Habermas, die „Dialektik der Aufklärung“ bzw. die Kritische Theorie der 30er bzw. 40er Jahre. Ich hatte diese hier bereits angedeutet. Hieraus motiviert sich bei Adorno, so Habermas, die Konzeption von Mimesis als Widerpart einer zurüstenden Rationalität. (Daß diese Sichtweise Habermas‘ nicht richtig ist, zeigt bereits die Lektüre der „Negativen Dialektik“, wo eine mehrdimensionale Form von Rationalität entfaltet wird,die über ein bloßes Mimesis-Konzept hinausgeht.)

Natürlich ist die Kritik der Vernunft in der Geschichte der Philosophie nicht neu. Die Philosophie seit Platon läßt sich wohl mir Fug und Recht als ein insgesamt immer auch kritisches Geschäft bezeichnen. Und spätestens seit Kants „Kritik der reinen Vernunft“ ist einer Vernunft, die sich selber Maßstäbe setzt und sich auf sich selbst bezieht, in der Moderne ein Weg gebahnt, und in unterschiedlicher Weise setzten Foucault und Lyotard dieses Kantische Projekt der Aufklärung in ihren Philosophien ganz explizit fort. Man schlage nur nach, wie häufig bei Foucault und Lyotard der Name Kant fällt.

II. Grundsätzliches

Zugegeben: Die Wortkoppelung „Postmoderne“ ist ein seinerzeit in die (philosophische) Diskussion gebrachter Begriff, der sehr unglücklich gewählt wurde und welcher nicht nur vielfältig schimmert und scheint, sondern auch verschiedenste Strömungen unter sich befaßt. Und zwar so viele Richtungen und Denkbewegungen, daß es eigentlich kaum möglich ist, dies in einem Blog überhaupt darzustellen. Man müßte unendlich darüber schreiben. Einen unendlichen Text, versehen mit Kommentaren, Eingriffen und Fortschreibungen, Lektüren; in einem fast talmudischen Ausmaß als Fußnote oder Kommentar und Text zur Geschichte einer Philosophie im Abendland, die wiederum nur gedacht war als Fußnote zu Platon. Mit der Schrift als Supplement.

Man denke nur an jenen schreibenden Sokrates, dem Plato in die Feder spricht und souffliert, auf jener reproduzierten, sozusagen verdrehten „Postkarte“. Hier halte ich es mit einem der bedeutendsten und komplexesten Gegenwartsphilosophen, falls solche Superlative erlaubt sind, mit Jacques Derrida, dessen Denken lange nicht zu Ende gedacht ist. Eine Subsumption seiner Philosophie unter dem Begriff Postmoderne oder Poststrukturalismus ist ungenügende „Kennzeichnung“ der Spuren seiner Schrift.

Gleiches gilt für so heterogene Autoren wie Foucault, Deleuze, Lyotard, Barthes, Vattimo, Eco, Virilio, um nur einige der bekanntesten Autoren zu nennen. Allerdings sollte man auch den äußerst umstrittenen Jean Baudrillard in dieser Reihe nennen. (Vielleicht gerades deshalb, weil seine Theorie wohl am lautesten die Aufschreie auslösen wird, scheit es mit geraten, hier eine Auseinandersetzung vorzunehmen.)

Angesichts all der aufzunehmenden Fäden, der Faltungen, der differenten, teils auch widerstreitenden Ansätze greifen auch allzu leicht genommene Definitionsversuche der Postmoderne nicht so recht. Sie prallen zunächst am Phänomen ab oder dienen der Reduzierung von Komplexität. Man muß sich dann in den Bestrebungen des Erfassens zunächst mit Stichworten wie Dezentralisierung, Dekonstruktion (der Präsenzmetaphysik), Subjektverlust, totale Vernunftkritik, Intensitäten, Präferenz des Körpers, Textualisierung, Abschaffung der Realität und so fort begnügen. Denn Philosophie, mit Adorno gesprochen, ist im wesentlichen nicht referierbar und damit eben auch nicht umstandslos definierbar und in Schlagworten darzustellen. Es entstehen ansonsten die unzureichenden Verkürzungen.

Philosophie entfaltet sich nur  in ihren Konstellationen, genauer gesagt: im Lesen von einzelnen Texten, die in Bezug gesetzt werden zu anderen Texten. Weiterhin muß man sich immer den Zusammenhang und die Probleme vergegenwärtigen, die sich dem jeweiligen Philosophen stellten. Hobbes ist eben nicht zu verstehen ohne die Kenntnis, daß es in England blutige Bürgerkriege gab. (Ich schreib das hier wesentlich für Nicht-Philosophen; den Philosophierenden sind diese Dinge bekannt.)

Im Grunde genommen, um sich diesem Phänomen der Postmoderne angemessen zu nähern, so muß man hierzu die einzelnen Texte unterschiedlicher Philosophen lesen. Aber auch dies schützt leider vor Mißverständnissen nicht. Als prominentestes und wohl bekanntestes Beispiel mag hier Habermas Buch „Der philosophische Diskurs der Moderne“ herhalten, das ich für verunglückt halte, was die Auseinandersetzung mit der Postmoderne (oder Moderne, wie man will) betrifft. Habermas „Lektüren“ von so heterogenen Autoren wie Derrida, Bataille und Foucault sind unzureichend. Das Lob in der Widmung des Buches „Für Rebekka, die mir den Neostrukturalismus nähergebracht hat“ ist kein Kompliment für Rebekka Habermas. Sie brachte ihm den sogenannten Neostrukturalismus nicht sehr gut nahe. So können Widmungen schnell auf den Verfasser als auch auf den Gewidmeten zurückfallen.

Die Kennzeichnung der Positionen Foucaults oder Batailles als „neo-konservativ“ entstammt den alten Konflikten und den Blickwinkeln vergangener Debatten. Im Grunde herrschte hier bei der bundesrepublikanischen  (philosophischen) Linken ein Reiz-Reaktions-Muster vor, wie man es den Konservativen beständig vorwarf. Doch das Hin-und-her-spielen von Bällen und Hülsen nützt nicht viel und ist meines Erachtens langweilig bis unergiebig. Auch wenn man Carl Schmitt oder Heidegger höflich gesagt für „konservativ“ oder schärfer gesprochen für NS-Mitläufer halten mag: es ändert nichts daran, daß dort in den Texten gute und wichtige Gedanken zu finden sind. Beide sind mir menschlich eher weniger sympathisch. Aber ich will ja nicht mit ihnen Ski fahren oder Essen gehen, sondern lediglich ihre Texte lesen. Es geht darum, sich mit Texten auseinanderzusetzten. (Das darin auch – politische – Haltungen stecken, ist unbenommen, steht aber auf einem anderen Blatt. Richtig ist es jedoch, diese (theoretischen) Haltungen, welche  ja durchaus  Relevanz für die Praxis haben, anzusprechen und zu kritisieren. Prominentestes Beispiel der letzten Zeit dürften wohl die Auslassungen Sloterdijks sein. Hierzu schreiben etwa die Blogs Exportabel und Kritik und Kunst gute Dinge. Und ich müßte eigentlich auch noch etwas dazu schreiben, weil man solche Unverschämtheiten wie die von Sloterdijk nicht so im Raume stehen lassen darf. Und, in all den Ausreden,  hinterher hat es dann keiner so richtig gewußt. Soviel am Rande.)

Und wer Foucaults „Überwachen und Strafen“, seine Texte zur Psychatrie, zum Subjekt oder zur Biopolitik gelesen hat, wird diese Behauptung, daß es sich um neokonservative Positionen des Denkens handelt, mit Ernst nicht aufrecht erhalten können. Insofern ist vor den Etikettierungen zu warnen: Sie sind schon Adornos Texten nicht gut bekommen, was seine Auslassungen zu Heidegger betraf. In der theoretisieren Auseinandersetzung mit Heidegger lagen gerade nicht die Stärken von Adornos Philosophie.

III. Moderne vs Postmoderne?

Was aber am meisten an den Definitionsversuchen dieses unglücklichen Begriffs der Postmoderne verwundert, ist der Umstand, daß auf beiden Seiten teilweise recht eindimensional verfahren wird, ohne die Durchdringungen und die gegenseitigen Bezüge und Verweisungen in den Blick zu bekommen. Von der Postmoderne aus gesehen ergibt sich die Vereinfachung so: Statt Vernunft nun keine Vernunft, statt Gespräch/Dialog nun Text, statt Geist nun Körper, statt Moral nun Macht und Diskurs, statt Hermeneutik nun Dekonstruktion. Und von den Nicht-Postmodernen dann entsprechend in der anderen Reihenfolge gedacht.

Wir sollten uns von diesen Oppositionen und den einfachen Zuschreibungen unsentimental verabschieden, um, sozusagen phänomenologisch, zu den Sachen selbst bzw. zu den Problemlagen zu gelangen. Denn es würde ja auch niemand auf die Idee verfallen, die Moderne als das Zeitalter der vollendet herrschenden Vernunft und der gelingenden Aufklärung zu bezeichnen. In ihr steckte immer schon als gleichwertiger Partner die Gegenaufklärung, der (jakobinische, faschistische, stalinistische) Terror, das Totalitäre, das Vernichtungslager und der Gulag (den manche gerne übersehen).

Man sollte deshalb nicht übereilig die Postmoderne als die konservative, irrationale Positionierung anzeigen. So schwierig es ist, die Modernen eindeutig zu kennzeichnen, so komplex ist in ihrer Beschreibung auch die Epoche einer Postmoderne samt den dazugehörigen Begriffsbestimmungen; zumal sich hier wie auch beim Begriff der Moderne zahlreiche Felder und Bereiche überlagern. Es wird sich bei jeder Stimme eine Gegenstimme erheben. Wo bereits lasse ich die Moderne ansetzten? Schon mit der Renaissance als Überwindung der mittelalterlichen Ordnung? Was die Kunst bzw. die Ästhetik betrifft: mit den „Querelle des ancien et moderne?“ Oder mit Baudelaire? (Hierzu etwa: Walter Benjamin, Adorno, aber auch Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik.) Mit dem Naturalismus, wie es der Literaturwissenschaftler Th. Kiesel in seinem Buch „Geschichte der literarischen Moderne“ vorschlägt? Oder ist es sinnvoller, hier Karl Heinz Bohrer zu folgen und die literarische Moderne mit der Romantik beginnen zu lassen? Bereits diese unterschiedlichen Ansätze allein aus dem Bereich der Literaturwissenschaft zeigen, daß eine Abgrenzung der Moderne nicht ganz einfach ist und vielfach vom theoretischen Referenzrahmen abhängt, in dem man sich bewegt. Und insofern gilt es bei diesen Versuchen der Beschreibung natürlich, die eigenen Metaeben im Modus einer Beobachtung der zweiten Ordnung in den Blick zu bekommen.

Noch komplexer wird es, wenn sich innerhalb dieses Begriffes verschiedenen Ebenen der Postmoderne vermischen und die Bereiche eigentlich nicht mehr klar voneinander geschieden sind. Die Postmoderne der Architekten ist eine andere als die der Philosophen, die wiederum eine andere ist als die der Soziologen. Es gibt insofern „die“ Postmoderne nicht. Nun wird mancher Verächter der Postmoderne sicherlich milde lächeln und entgegnen: „Dies genau ist es ja, was die Postmodernen fortwährend betreiben. Die Vermengung aller Unterschiede und die Dispensierung von der Realität und vom Begriff der Realität.“ Ob dem so ist, wird sich zeigen.

Sowieso sollte man bei der Betrachtung von sogenannten typischen Figuren der Postmoderne im Auge behalten, daß diese nicht ganz neu sind, so wie es zuweilen gerne dargestellt wird, sondern in einem geschichtlichen Zusammenhang und in geschichtlicher Kontinuität stehen. Die Kategorie des Spiels existiert bereits als zentrale bei Kant und Schiller, und wer es mag, kann sogar bis ins Mittelalter gehen, um dort Vorläufer auszumachen.

Das Fragment ist keine genuin postmoderne Erfindung, sondern steckt bereits in der Romantik, weshalb ja auch manche Auseinandersetzung mit der Postmoderne die Rückgriffe auf die literarische Romantik unternimmt und dort sozusagen Verbündete aufsucht. Als Name sei hier Friedrich Schlegel genannt. (Und wer möchte, der findet auch früher etwas zum Fragment, etwa bei Lessing, Hamann, Herder, aber auch Lavaters Physiognomik und Lichtenbergs geistreiche Entgegnung darauf im „Fragment von Schwänzen, ein Beytrag zu den Physiognomischen Fragmenten“ zeigen, daß es früher bereits rege Diskussionen gab, die das Fragment als Stilmittel verwendeten.) Und auch schon die literarische Moderne des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich eingehend mit dem Fragmentarischen. Als (fragmentarische) Schnittstelle zwischen den Modernen und den Postmodernen sei Ingeborg Bachmann genannt.

Soviel für heute. Im nächsten Teil des Essay möchte ich eine Begriffsabgrenzung vornehmen und ein paar weitere einleitende Worte schreiben, die noch einmal eher ins Allgemeine gehen werden. Sodann wird es zu einzelnen Texten und Positionen postmodernen Philosophierens gehen. Ich lasse mich hier eher lose treibe. Denn das ganze Projekt hat noch keinen konkreten Plan.

So wünsche ich ganz real einen schönen Sonntag.

21 Gedanken zu „Eine Verteidigung der Postmoderne gegen den Mißbrauch (1)

  1. Dankeschön aber schon mal so weit!

    Und die Moderne „beginnt“ mit Kant. Die Struktur seiner 3 Kritiken, das Autonomwerden von Erkenntnistheorie, Moralphilosophie und Ästhetik voneinander und die Reflexivität in der Behandlung derer. So dämlich der „philosophische Diskurs der Moderne“ ja tatsächlich ist, dass Habermas das in seiner Theorie der Geltungssansprüche weiter zu denken versucht, das ist ja aller Ehren wert, weil die meisten anderen Denker sich in der Relation dieser Sphären verheddern und dann die Relation „Theorie“ und „Praxis“ gar nicht mehr gebacken kriegen.

    Bin gespannt auf den nächsten Teil!

  2. Pingback: Blick zurück nach vorn « Metalust & Subdiskurse Reloaded

  3. Ganz zentral finde ich diese Perspektive: „Die Postmoderne der Architekten ist eine andere als die der Philosophen, die wiederum eine andere ist als die der Soziologen. Es gibt insofern „die“ Postmoderne nicht.“ ——- Ich hatte mich bei der Lektüre z.B. von Lyotard immer gefragt, was dessen explizit als postmodern bezeichnete Positionen mit der Postmoderne in der Architektur zu tun haben sollten (die mir 10 Jahre vor meiner erstmaligen Beschäftigung mit postmoderner Philosophie als die einzige Anwendung des Begriffs „Postmoderne“ bekannt war), und bevor ich das bei Momorulez vor vielleicht einem Jahr las, wäre ich nie auf die Idee gekommen, Poststrukturalisten wie Foucault oder Lacan zur Postmoderne zu zählen. Die Postmoderne mit der Renaissance oder Baudelaire wurzeln zu lassen ist eine originelle Überlegung, über die ich länger nachdenken müsste.

  4. Auch ich würde Habermas im Rückblick differenzierter sehen wollen, als ich es seinerzeit getan habe. Das Konzept der Geltungsansprüche ist als analytisches Instrument sicherlich zentral für Habermas. Hinsichtlich der Beschreibung von Gesellschaft ist mir Luhmann theoretisch allerdings näher als Habermas.

    PS: Danke für die Empfehlung meines Textes in Deinem Blog

  5. Ja, in der Architektur, aber auch in der amerikanischen Literaturwissenschaft nahm der Begriff der Postmoderne seinen Ausgang, wenn man einmal von dem Buch Rudolf Pannwitzs Die Krisis der europaeischen Kultur absieht.

    Entschuldige, daß ich zudem ein wenig korrigiere: Aber ich wollte die Renaissance als Beginn zumindest der politischen der Moderne setzen. Ästhetisch erfolgte die Moderne eher später. Man müßte das im Detail untersuchen. Andererseits bin ich skeptisch gegenüber solchen Epochendefinitionen, weil sich zuviel Dafür und Dagegen findet. ZU jedem Beispiel, das man nennt findet ein anderer ein großes „Aber“. Deshalb auch werde ich versuchen, mich auf das 20. Jahrhundert zu beschränken. Mit einer Ausnahme allerdings: Der zentrale Gruündungstext, welcher bereits zahlreiche Figuren postmodernen Denkens enthält, stammt aus dem 19. Jhd: Nämlich Nietzsches Text Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Diesem Text werde ich eine besondere Lektüre widmen.

  6. @bersarin:

    Gern geschehen!

    „Hinsichtlich der Beschreibung von Gesellschaft ist mir Luhmann theoretisch allerdings näher als Habermas.“

    Na ja, da wird ja auch gerne vergessen, dass Habermas in der „Theorie des Kommunikativen Handelns“ Gesellschaft als System UND Lebenswelt beschreibt und daraus dann mit der Kolonisierungsthese ein kritisches Potenzial zu entwickeln sucht, dass gar nicht so weit weg ist von Foucault oder der DdA.

    Ob nun seine Parsons-Adaption geglückt ist oder nicht, das ist noch mal ’ne andere Frage, und ab „Faktizität und Geltung“ wird’s dann schwierig.

    Die Verweise auf Nietzsche und Baudelaire – Baudelaire wird ja ansonsten immer als Beginn der ästhetischen Moderne behandelt – sind ja eher solche, die, wie mir scheint, klar machen, dass die Postmodernen und ihre Kritiker oft gleichermaßen modern wie postmodern sind. Was ja Lyotard dann auch zu betonen nicht müde wurde: Postmoderne als im Modernen angelegter Reflexionsmodus ihrer selbst.

    Bei Habermas gibt es trotz der „Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“ aber auch eine dezentrierte Rationalität, er folgt dem „Linguistic Turn“, und das Subjekt verabschiedet auch er und verzichtet auf „Letztbegründungen“ (anders als Apel).

    Und dass häufig einfach eine Geltungssphäre die jeweils andere kristiert, das scheint mir auch entscheidend in dem Streit – aus ästhetischer Perspektive verwirft man Wahrheitsfragen, aus moralischer Perspektive eine Ästhetsierung des Denkens usw.

    Und was die „Epochenschwelle“ betrifft, halte ich ja Foucaults „Ordnung der Dinge“ schon für ganz brauchbar. Und dann isses der Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert. In „Überwachen und Strafen“ auch.

    Aber ich greife vor, sorry.

  7. Der kleine Vorgriff macht ja nichts. Es es ist hier nichts systematisch angelegt. Der Verweis zu Lyotard ist schon sehr wichtig: Daß die Postmoderne nicht das ganz Andere zur Moderne ist. (Dies etwa zeigt sich ja auch bei Lacan, der eben nicht nur in (Post-)Strukturalismus macht, sondern durchaus in Traditionszusammenhängen steht.)

    Interessanterweise gibt es diese gegenseitige Kritik der Geltungssphären bereits bei Nietzsche. So geht dies in „Menschliches, Allzumenschliches“ vehement gegen die rein ästhetische Konzeption, wie sie bei Nietzsche noch in der „Geburt …“ entfaltet wurde. In dieser Schrift wird das Ästhetische nun im Namen der Wissenschaft (bzw. der wissenschaftlichen Denkweise) kritisiert.

    Soviel nebenher.

  8. Zum begriff des Fragments: ich verweise an Tiecks/Wackenroders herzergießungen, an das erste rein romantische Kunstwerk (nämlich Goethes Werther, wenn es nicht Rousseaus Heloise war), an Herder…

    lg

  9. Ja, das ist richtig. Die (philosophischen und literarischen ) Texte zur Romantik sind da unverzichtbar, wenn es um das Fragment und damit auch um poststrukturalistische Positionen geht.

    Es trägt sich hier vieles zusammen.

    Dank und Grüße ins schöne Hamburg

  10. Schöner Text, interessant!
    Nur kurz zu Momorulez: Die Trennung und eigenständige Behandlung von Erkenntniskritik, Moralphilosophie und Ästhetik finden wir bereits bei Aristoteles, nicht erst bei Kant.

  11. Wenn man das jetzt systematisch vergleichen würde, wie sich da Kant zu Aristoteles verhält, dann käme man einer Vorstellung der philosophischen Moderne wohl schon mal ein Stück näher ;-) …

  12. Momorulez, es ging mir lediglich darum festzustellen, dass die in Rede stehende Einteilung der Philosophie von Kant vorgefundene Tradition, und nicht, wie Du meintest, für ihn Anlaß zur Neuschöpfung war.

  13. Na ja, „Neuschöpfung“ war meine These nicht.

    Dass Kant sein Denken in Auseinandersetzung mit der Tradition formuliert hat, das ist ja klar. Aber eine systematische Selbst-Kritik der Vernunft in ihren differenten Funktionsweisen, so dass dann anschließend eine Autonomie der jeweiligen Sphären von den anderen gedacht werden konnte, die bei Kant noch architektonisch im Sinne von DIE VERNUNFT zusammen gefügt werden, ist noch mal was anderes als Metaphysik, Ethik, Rhetorik, der Tragödie etc. jeweils eigene Lehrtexte zu widmen.

    Zudem Du ja unterschlägst, dass ich das Merkmal der Reflexivität da oben auch erwähnt habe. Um noch mal Herrn Greenberg zu bemühen:

    „In meinen Augen ist der Modernismus eine Intensivierung, um nicht zu sagen eine Verschärfung dieser selbstkritischen Tendenz, die mit dem Philosophen Immanuel Kant begonnen hat. Weil er der erste war, der die Mittel der Kritik ihrerseits der Kritik unterzog, halte ich Kant für einen wirklichen Modernisten.“

    Kann ja nun sein, dass diese Struktur in Aristoteles schon drinsteckt. Dann erläuter mal. Kann ja sein, dass ich irre.

    Bei Hume gibt es ja abgesehen davon auch schon Erkenntnistheorie, Moralphilosophie und Ästhetik, um mal noch’n Stück näher an die Moderne ranzurücken. Und bei ihm wie auch bei Descartes die Selbstkritik der Vernunft.

    Da wird’s dann hinsichtlich der Postmoderne wieder spannend, weil Foucault zum Beispiel das Cogito ergo sum der Repräsentationsphilosophie der Klassik zuordnet, mit Kant dann aber die transzendental-empirische Doublette auf den Plan treten sieht, also den Versuch der Selbstvergewisserung durch die Reflektion auf die Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis und Moral und Ästhetik. Und da greifen dann je unterschiedlich die Postmodernen an.

    Dass man jegliche Philosophie auch als Kommentar zur Antike lesen kann, in der eh alles immer schion enthalten ist, ja, gibt auch die, die das so sehen.

    Man kann das Ganze auch an der Systematik „ontologisches, mentalistisches und linguistisches Paradigma“ durchspielen, wenn man will.

    Oder an soziologischen Modernisierungtheorien, die zumeist Rationalisierung, Industrialisierung, Disziplinierung, Säkulariserung/Profanisierung und soziale Differenzierung in den Mittelpunkt rücken. Was die Disziplinierung betrifft, kann man auch in der frühen Neuzeit ansetzten. Beim Rest landet man irgendwie doch immer irgendwie zumindest auch bei Kant. Ob und inwiefern auch im Falle der Produktivkraftentwicklung, das kannst Du immer besser erläutern als ich ;-) …

  14. Ich würde bei den Positionen insofern vermitteln wollen, daß Kant ein Scharnier des modernen Denkens ist, indem er das, was er aus der Tradition heraus vorgefunden hat, in eine spezifische Lage brachte und daß erst bei Kant diese drei Bereiche in eine besondere Konstellation treten, die man in den auf Kant folgenden Thematisierungen seiner Philosophie (insbesondere im Deutschen Idealismus) entweder differenztheoretisch oder in einer holistischen Bewegung anschlußfähig zu machen versuchte. (Und überhaupt läßt sich – überspitzt gesagt – die ganze Moderne in der Auseinandersetzung mit Kant als ein Kreisen um diese beiden Pole ausmachen.

    Für letzteren Ansatz im Sinne eines Holismus der Vernunft steht natürlich die Philosophie Hegels. (Ich sage das jetzt einmal ganz vereinfacht, denn sicherlich wird man auch bei Hegel an der einen oder anderen Stellen differenztheoretische Aspekte sichten; allein schon durch die Konzeption der dialektischen Bewegung und die Momente des Widerspruchs. Im ganzen gesehen terminiert die Vernunft in der „Wissenschaft der Logik“ oder in der „Phänomenologie“ jedoch in ein eine Form von – allerdings extrem vermittelter – komplexer Einheit. Ähnliches bei Luhmann, wo es zwar zunächst differenztheoretisch abgeht, aber zum Ende hin dann doch im Holismus des Systems mündet. Den Gegenpart hierzu bietet Habermas.

    Unbedingt, und darauf möchte ich auch in meinen weiteren Ausführungen zur Postmoderne noch kommen, muß man im Zusammenhang der Moderne (und auch der Postmoderne) die gesellschaftlichen Formationen, die Systeme der Gesellschaft im Blick haben. Die Philosophie Kants ist eigentlich nicht angemessen zu verstehen, wenn man sie nur im theoretischen Rahmen festmacht. Dieser ist durch und durch gesellschaftlich vermittelt.

    Dies eben macht das Moderne der kantischen Philosophie aus: daß sich diese in einem Zeitalter gesellschaftlicher Umbrüche, in einer Schnittstelle gesellschaftlicher Entwicklung befindet: nämlich nicht mehr nur am Vorabend, sondern bereits inmitten der Ereignisse der Französischen Revolution. Kant Philosophie korrespondiert mit der Eröffnung einer neuen Epoche. Und gerade deshalb vielleicht ist Kant (und nicht Hegel) der Philosoph der Moderne. Auch was die (unfreiwillige) Thematisierung von Brüchen und Widersprüchen innerhalb seiner Philosophie angeht.

  15. Ich finde schon, dass man zumindest Foucault als neokonservativ bezeichnen kann.

    Wenn es nur diskurse und Macht gibt, wenn jeder Diskurs ein bestimmes Streben nach macht zum Ausdruck bringt und es keinen Metadiskurs geben kann, der ermöglicht, die einzelnen Diskurse gegeneinander abzuwägen., dann ist eigentlich nicht einzusehen, warum man einen Diskurs dem anderen vroziehen sollte.

    Warum soll ich mir einen antirassistischen Diskurs zu eigen machen und nicht einen rassistischen, wenn es in allen Diskursen in gleicher Weise nur darum geht, ein bestimmtes Machtstreben durchzusetzen?

    Das ist ja irgendwie auch ein neokonservatives Weltbild, das Recht des Stärkeren, dass die einmal existierenden Verhältnisse legitim sind, da sie sich nun mal durchgestzt haben.

  16. „Kryptonormativismus“ ;-) – ich glaube ja auch, dass es der Ergänzung des Denkens Focaullts durch eine Moral kanrtischen Typs bedarf.

    Zunächst funktioniert dieses aber als Versuch der „Zersplitterung“, also des diskursiven Aufsprengens von „Machtblöcken“ und Knotenpunkten, um Freiheitsspielräume zu ermöglichen – indem man Gegenmacht erzeugt.

    Und dann kann man auch spezifisch angreifen da, wo konkret unterjocht und illegitim geformt wird, und braucht dafür keine moralische Großtheorie, die die überall und für alle Zeit gültige Legimation verkündet.

    Nihilismus ist Freiheit, so habe ich ihn immer verstanden, Macht wird es immer geben, auch mein Diskurs hat Machtwirkungen, aber da, wo Mächte sich konzentrieren, haue ich rein. Das kann ich nicht konservativ finden.

    „Rassismus“ ist ja selbst einer dieser Legimationsdiskurse der Überlegenheit einer „Rasse“, die mit Foucault im Bodenlosen hängen, und nicht irgendein frei flottierender Dezisionismus (auch wenn es diese rätselhaften Passagen in „Die Verteidgung der GesellschafT“ gibt, über die Lévy sich so ereifert).

    Ich glaube, man muss aber ernst nehmen, dass Habermas da trotzdem Dezisionismus witterte, das stimmt schon.

  17. Nur sehr kurz einige unsystematische Bemerkungen zu Foucault: Dieser bezieht sich zum einen ja nicht nur auf das Thema Macht, sondern genauso geht es ihm um eine (kritische) Archäologie und später auch Genealogie von Wissen, Herrschaft, des medizinischen Blicks und vielen weiteren Themen.

    Macht wird bei Foucault eben auch historisch untersucht, weshalb Foucault meines Wissens auch für die Historiker nicht ganz uninteressant ist. Sarazin etwa oder Vernant stehen in dieser Linie.

    Weiterhin fragt Foucault nach den Bedingungen der Möglichkeit von … Hier eben ganz in der Kantischen Tradition. Es geht um Funktionsweisen und um Auschließungskritierien in Diskursen, die Foucault versucht aufzuzeigen. Dies geschieht in bester aufklärerischer Tradition, die allerdings wissenschaftstheoretisch etwas anders angesiedelt ist und eine andere Herkunft des Denkens aufweist als etwa die nicht minder interessanten Ansätze Habermas‘.

    In gewissem Sinne wäre wohl auch der Diskurs Foucaults ein Metadiskurs, wenngleich er dies wohl weder so nennen noch so sehen würde.

    Den Begriff der Macht bei Foucault muß man zunächst einmal auch ganz im Sinne Nietzsches verstehen, ähnlich auch, wie Deleuze in seinem Niezsche-Buch es darstellt, als ein Kraft- und Wirkungsfeld. Macht als ein geschehen, das nicht nur als negativ zu deuten ist.

    Aber lassen wir zum Schluß Foucault selber sprechen:

    „Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern.“ (WzW S. 113 f.)

    Doch auch dieser Satz erklärt eigentlich weniger als daß er weitere Kommentierungen nach sich zieht.

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