„Sicher ist, daß ich kein Marxist bin.“ (Karl Marx) – Einige Aspekte zur Kritischen Theorie Adornos

Diese Überlegungen sind eine Antwort auf einen Kommentar von „Mathepauker“ hier im Blog. Ich stelle sie als eigenständigen Beitrag in den Blog, weil sich in diesem Text einiges über die Philosophie Adornos lernen läßt. Schließlich möchte auch dieser Blog – zumindest von Zeit zu Zeit – seinem Bildungsauftrag nachkommen. Wieweit ist die Kritische Theorie Adornos vom Text Marx‘ geprägt?

Überschreiben wir diesen Beitrag zunächst einmal so: „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin“ (Karl Marx in: MEW 37) Damit haben wir zunächst einiges über die Engführung der Begriffe Marxismus/Marxist hin zu Karl Marx gesichtet. Und so können wir dann und in diesem Kontext schreiben: sicher ist, daß Adorno kein Marxist ist. Ansonsten geriete die Formulierung Adorno sei kein Marxist, sondern Linksweberianer schief. Es ist nicht der Arbeitermarxismus oder der Herz-Jesu-Marxismus evangelischer Akademien, der Adorno umtrieb und auf den der Text von Marx gerne heruntergebrochen wird.

Daß sich die Kritische Theorie von Marx her nicht sinnvoll rekonstruieren ließe, ist schlichtweg falsch. Die Bestimmungen zum Fetischcharakter der Ware sowie die Tendenz der Verdinglichung, die bis ins Bewußtsein hineinragt, bilden immer noch den Bestandteil Kritischer Theorie. Allerdings produziert Adorno keinen Marxismus und keinen (Vulgär-)Materialismus, der Phänomene des Überbaus schlicht auf die Produktionsbedingungen zurückführt. Richtig ist es allerdings, daß wir bei Adorno – anders als bei der Philosophie Hegels oder Kants – keine direkte Auseinandersetzung mit dem Text von Marx finden. Dieser Umstand mag auf den ersten Blick befremden. Was freilich nicht bedeutet, daß die Kritische Theorie Adornos sich von Marx‘ Kritik der Politischen Ökonomie verabschiedet hätte. Ganze Passagen der „Dialektik der Aufklärung“ sind davon getragen und Adornos Überlegungen zum Begriff eingreifender, gesellschaftsverändernder Praxis sind eine implizite Weiterführung Marxscher Begrifflichkeit. Adorno Text von Marx zu „befreien“ und ihn der Metaphysik zuzuschlagen, bedeutet schlicht eine Entschärfung der Kritischen Theorie. Nicht anders als Habermas es mit Adorno tat, indem er den Gehalt Kritischer Theorie in Kommunikation und kommunikative Rationalität überführte. „Um sich vom Ideologieverdacht zu reinigen, ist es neuerdings gelegener, Marx einen Metaphysiker zu nennen, als den Klassenfeind.“ (Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Einleitung) Dies trifft ebenfalls auf eine bestimmte (entschärfende) Adorno-Lektüre zu, die Adorno von Marx zu reinigen beabsichtigt.

In Adornos akademischer Antrittsvorlesung von 1931 „Die Aktualität der Philosophie“ heißt es:

„Wenn Marx den Philosophen vorwarf, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert, und ihnen entgegenhielt, es käme darauf an, sie zu verändern, so ist der Satz nicht bloß aus der politischen Praxis, sondern ebensowohl aus der philosophischen Theorie legitimiert. In der Vernichtung der Frage bewährt sich erst die Echtheit philosophischer Deutung und reines Denken vermag sie von sich aus nicht zu vollziehen: darum zwingt sie die Praxis herbei. Es ist überflüssig, eine Auffassung vom Pragmatismus ausdrücklich zu sondern, in welcher Theorie und Praxis derart sich verschränken wie in der dialektischen. (GS 1, S. 338-339)

Nun hat sich freilich in dieser Zeit zwischen 1931 und 1945 einiges geändert: Die Weimarer Republik geriet mithilfe einer entstellen Sozialdemokratie endgültig in die Geiselhaft reaktionärer Kreise, die Arbeiterklasse dankte dank Stalin ab und verschwand wie eine Träne im Ozean, Hitler kam, Stalin säuberte, ein totalitärer US-Kapitalismus verkaufte Kultur als Ware. Diese Parameter bestimmten fortan auch die Kritische Theorie der Gesellschaft. Den Hitler-Schergen entronnen, blieb nicht viel Spielraum für Hoffnungen auf die Arbeiterklasse. Wenn sie nicht in den Lagern deportierte wurde oder mitmachte, sah sie Filme aus Hollywood oder inhalierte vorfabrizierte Musik. Nicht anders als die bürgerliche Klasse, die sich anschickte im nivellierten Mittelstand zu verschwinden. Grob gesprochen.

Daß Adorno nicht der Arbeiterklasse entstammt, dürfte kein Geheimnis sein. Adorno generell Empathie für Arbeiter abzusprechen, läuft der Philosophie Adornos entgegen. Es käme ihm kaum in den Sinn, einzelne Individuen oder Gruppen pauschal zu verurteilen. Was er in seinen Texten jedoch freilegt, sind Mechanismen der Subjekt- und Bewußtseinszurichtung sowie – auch an Weber orientiert – Formen der Rationalität. In dieser Weise der Analyse und der Kritik folgte ihm Foucault später nach. Allerdings hegte Adorno, anders als mancher Linke in der BRD, keinerlei Illusion, daß dem Arbeiter als Klasse irgend eine revolutionäre, gesellschaftsverändernde Funktion zukäme. Im Bewußtseinsstand hatte der Arbeiter dem Kapitalisten nichts mehr voraus. Und auch hinsichtlich der Studentenproteste verstand Adorno seine eigene Theorie nicht als Handlungsanweisung für einen alleinseligmachenden Weg.

Richtig ist es, daß Adorno an Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes festhält. Allerdings aus einem materialistischen Motiv heraus: In der Leiderfahrung sowie ihrer Anamnesis in Philosophie und Kunst verschwistern sich Materialismus und Metaphysik. Die verschiedenen Stränge der Adornoschen Philosophie lassen sich nicht in einem einzigen Aspekt zusammenfassen, so daß man sagen könnte: Adorno sei nun dies oder das, ihm ginge es lediglich um die Rehabilitierung einer Metaphysik, wobei damit die Aspekte Marxscher Theorie aussetzten. Er ist so nahe bei Hegel und Nietzsche wie er nahe bei Kant und Marx ist. Dialektische Lektüre läuft darauf hinaus, den einen mit dem anderen gegenzulesen und in ein konstellatives Denken zu bringen. Was die Dialektik betrifft, so borgt Adorno von Hegels Denken. Aber diese Dialektik stellt sich nicht positiv still und kommt zu keinem Abschlußhaften. Das Nichtidentische ist kein Ort, der sich fixieren läßt, sondern es changiert, erzeugt immer wieder neue Modelle und Bilder – kaleidoskopähnlich. Die Nähe zur literarischen Romantik ist hier evident, und damit berührt sich die Adornosche Gesellschaftskritik auch mit der Ästhetik: Das Kunstwerk und ästhetische Erfahrung liefern Bilder und Modelle, aber sie lassen sich im Akt eines zugreifenden hermeneutischen Verstehens nicht stillstellen.

„Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe. Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheit des Kantischen. Ihn diskursiv zu behandeln, wäre Frevel: an ihm läßt leibhaft das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen sich fühlen. Leibhaft, weil es der praktisch gewordene Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz ist, dem die Individuen ausgesetzt sind, auch nachdem Individualität, als geistige Reflexionsform, zu verschwinden sich anschickt. Nur im ungeschminkt materialistischen Motiv überlebt Moral. Der Gang der Geschichte nötigt das zum Materialismus, was traditionell sein unvermittelter Gegensatz war, die Metaphysik.“ (Th. W. Adorno, Negative Dialektik)

Diese Sätze inthronisieren nicht die Metaphysik, sondern sie deuten vielmehr darauf, wie sich inmitten einer Gesellschaft, die nicht mehr auf unmittelbare revolutionäre Befreiung hoffen kann, die Kategorien verschoben haben. Telos Adornoscher Philosophie ist ein Subjekt, das sein Anderes in sich befaßt und auch die leiblichen, die somatischen, die impulshaften Momente in sich aufnimmt. Hierfür steht in vielfältiger Weise Adornos Begriff der Mimesis ein, die sich, um nicht bloßer idiosynkratischer Impuls zu bleiben, mit begrifflichem Denken koppelt. Synthesis des Zerstreuten ohne dieses gleichzumache, so könnte man es formelhaft auf den Punkt bringen, wenn sich denn Philosophie in einzelnen Sätzen erschöpfte. Das aber tut sie nicht.

Adorno liefert theoretische Bestimmungen zur Möglichkeit und zur Unmöglichkeit von Praxis. Es geht ihm dabei nicht um Handlungsmodelle, die zu einer Parole oder zum Pamphlet gerinnen, sondern es überlebt in der Theorie ein Moment von Praxis. Dies aber bedeutet nicht, daß sich Adorno nun im stillen Kämmerlein und als unschuldiger Metaphysiker von der 11. Feuerbachthese des Karl Marx verabschiedet hätte, um der Innerlichkeit zu huldigen. Daß die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert haben und eine Veränderung nun unmöglich sei. Allerdings bleibt Adorno skeptisch gegen allzu einfache Modelle, weil er – darin freilich Webers Modell von Rationalität folgend – eine Vernunft und ein Denken am Werke sieht, das genau diese Emanzipation des Subjekts verhindert. Von diesem Blick her kann man dann wiederrum Adornos Denkmodelle, die er in der „Negativen Dialektik“ entwickelt mit seinen Texten aus den „Minima Moralia“ und der „Dialektik der Aufklärung“ gegenlesen.

Kritische Theorie der Gesellschaft bleibt eine Theorie der Emanzipation und sie ist der Aufklärung geschuldet, darin der Kritik der Politischen Ökonomie verwandt. Die Aufklärung wird innerhalb einer Dialektik der Aufklärung nicht mit der Gegenaufklärung eines Heidegger, eines Carl Schmitt oder eines Leo Strauss bekämpft, sondern dialektisch bei ihrem eigenen Begriff genommen. Dies schließt materialistische und metaphysische Aspekte zusammen.

„Der Prozeß, durch den Metaphysik unaufhaltsam dorthin sich verzog, wogegen sie einmal konzipiert war, hat seinen Fluchtpunkt erreicht. Wie sehr sie in die Fragen des materiellen Daseins schlüpfte, hat Philosophie seit dem jungen Hegel nicht verdrängen können, wofern sie sich nicht an die approbierte Denkerei verkaufte. Kindheit ahnt etwas davon in der Faszination, die von der Zone des Abdeckers, dem Aas, dem widerlich süßen Geruch der Verwesung, den anrüchigen Ausdrücken für jene Zone ausgeht. (…) Wem gelänge, auf das sich zu besinnen, was ihn einmal aus den Worten Luderbach und Schweinstiege ansprang, wäre wohl näher am absoluten Wissen als das Hegelsche Kapitel, das es dem Leser verspricht, um es ihm überlegen zu versagen. Theoretisch zu widerrufen wäre die Integration des physischen Todes in die Kultur, doch nicht dem ontologisch reinen Wesen Tod zuliebe, sondern um dessentwillen, was der Gestank der Kadaver ausdrückt und worüber deren Transfiguration zum Leichnam betrügt. Ein Hotelbesitzer, der Adam hieß, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot, die auf dem Hof aus Löchern herausquollen; nach seinem Bilde hat das Kind sich das des ersten Menschen geschaffen. Daß das vergessen wird; daß man nicht mehr versteht, was man einmal vorm Wagen des Hundefängers empfand, ist der Triumph der Kultur und deren Mißlingen.“ (Negative Dialektik, Meditationen zur Metaphysik)

Dies sind entscheidende Sätze Kritischer Theorie: jener Hotelbesitzer, der Adam hieß, ist eines der Urbilder entstellter Subjektivität. Wer jene Passagen in dieser Adornoschen Diktion liest, dem stellt sich die Frage nach der (unsinnigen) Wahlmöglichkeit „Materialismus oder Metaphysik“ nicht mehr. Als ob das Subjekt in einer Cafeteria sich befände: Marx oder Cola oder Metaphysik? Adornos Text lediglich einer Seite zuzuschlagen, perpetuiert verdinglichtes und undialektisches Denken. Dieser Umstand eben macht nach wie vor die Aktualität Adornos aus: daß sein Text in immer neuen Facetten schimmert und scheint, weil es eine Theorie ist, die sich nicht auf eine Position festnageln läßt. Darin dem Denken Hegels und Marx‘ verwandt.

Kleine Nachlese zur Frankfurter Buchmesse

 
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Wenn ich die Wahl habe, nach Davos zu fahren oder Thomas Manns „Der Zauberberg“ zu lesen, dann lese ich den „Zauberberg“. Eine Fahrt nach Davos ist beschwerlich, die Umstände sind meist mißlich, der Zug überfüllt, das Flugzeug hat Verspätung, vom Flughafen aus muß der Transfer nach Davos organisiert sein. Und selbst falls all diese Verwerfungen nicht eintreten, so gibt es dennoch zu viele andere Widrigkeiten. Wenn ich jedoch den „Zauberberg“ lese, bin ich nicht nur reisend in Davos, sondern zugleich in einer ganz andren Welt, die einerseits durchaus Davos ist und es zugleich doch nicht ist. In jener Welt dort drüben, über den Wipfeln – im Text. Im Schneegestöber und auf einem eiskalten Spaziergang. Durchs Gebirg. Keine Wirklichkeit mag die Verschlingungen, Verwindungen, Verstrickungen, Vielschichtigkeiten, die Bezüge, die Assonanzen, die Assoziationen, die Eindrücke so eindringlich und mit solcher Intensität in eine Anordnung zu bringen, wie ein Text, wie die Literatur. Metaphern, die die Imago anheizen und solche, die die Wirklichkeit neu strukturieren und begehbar machen. Gute Literatur schafft einen Raum des Imaginären sowie des Begehrens. Die Wirklichkeit ist um der Kunst willen geschaffen und nicht umgekehrt.

Die Welt ist ein Bild, um der ästhetischen Produktion Gestalt und Form zu geben, und nur als solches gerechtfertigt. Die Rechtfertigungslehre kann im Zeitalter der Immanenz nur eine ästhetische sein. Die Welt überlebt und hält sich in Rückhalt einzig im ästhetischen Schein.
 
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„Die von der Kulturindustrie Überlisteten und nach ihren Waren Dürstenden befinden sich diesseits der Kunst: darum nehmen sie ihre Inadäquanz an den gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebensprozeß – nicht dessen eigene Unwahrheit – unverschleierter wahr als die, welche noch daran sich erinnern, was einmal ein Kunstwerk war. Sie drängen auf Entkunstung der Kunst. Die Leidenschaft zum Antasten, dazu, kein Werk sein zu lassen, was es ist, ein jegliches herzurichten, seine Distanz vom Betrachter zu verkleinern, ist unmißverständliches Symptom jener Tendenz. Die beschämende Differenz zwischen der Kunst und dem Leben, das sie leben und in dem sie nicht gestört werden wollen, weil sie den Ekel sonst nicht ertrügen, soll verschwinden; das ist die subjektive Basis für die Einreihung der Kunst unter die Konsumgüter durch die vested interests. Wird sie trotz allem nicht einfach konsumierbar, so kann das Verhältnis zu ihr wenigstens sich anlehnen an das zu den eigentlichen Konsumgütern. Erleichtert wird das dadurch, daß deren Gebrauchswert im Zeitalter der Überproduktion seinerseits fragwürdig wurde und dem sekundären Genuß von Prestige, Mit-dabei-Sein, schließlich des Warencharakters selbst weicht: Parodie ästhetischen Scheins.“
(Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie)

Aber es gelten diese Sätze ebenso in anderen Zusammenhängen. Ja, Kritik ist dunkel und negativ. „Aber wo bleibt denn das Positive, Herr Adorno?“ so wurde er gefragt. Und mit einem Zitat von Kästner antwortete er „Ja – wo bleibt es denn?“

Ach, und zur Nachlese verlinke ich zudem auf Don Alphonso. Herrlich geschrieben, böse, bissig, auf den Punkt gebracht dort in seinem FAZ-Blog, das gesamte Gewese um die digitalen Welten samt dem e-commerce.

Wie immer bei Don Alphonso finden sich Texte mit Substanz, subtil. Daß solche von  Denkfauleritis befallenen Schnellschußschreiber wie Sascha Lobo bei Rowohlt und in anderen Ranz-Medien Platz finden, zeigt im Grunde wie heruntergewanzt dieser ganze Betrieb ist. Oder um es mit Helene Hegemann im Jugend(stil)slang zu schreiben: Heruntergerockt. „Fettklößchen“, wie eine Novelle von Guy de Maupassant heißt: der Ranz schwimmt immer oben. Ob es sich bei der digitalen Inszenierungs-Bohème jedoch so verhält wie mit dem Eifelturm, über den Maupassant schrieb, daß er sich jeden Tag dort oben auf der Plattform aufhielte, weil diese der einzige Ort in Paris sei, an dem er dieses scheußliche Objekt nicht sehen müsse, bleibt eine Überlegung wert.
 
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Once Upon a Time in the West and Forty Years ago: Kurz vor Ende des Vietnamkriegs – Die Macht und das Leben der Bilder (4)

„Um aber den Kommunisten zum Wohl des Saigoner Regimes weitere Konzessionen abzutrotzen, versuchten die USA mit Operation Linebacker II Hanoi unter Druck zu setzen. Die elf Tage andauernden so genannten „Weihnachtsbombardements“ von 1972, bestehend aus 739 Angriffen mit Boeing B-52-Bombern und etwa 1.200 Angriffen mit Kampfflugzeugen auf die Städte Haiphong und Hanoi, töteten 2.000 Zivilisten und fügten dem Ansehen der USA weiteren Schaden zu. 15 B-52-Bomber und 10 Kampfflugzeuge wurden von den Nordvietnamesen unter anderem mit sowjetischen Flugabwehrraketen vom Typ SA-2 Guideline abgeschossen.

Letztlich wurden dadurch bei den Friedensverhandlungen lediglich Einzelheiten im Vertragstext geändert, während Thiệu sich allein auf die brieflichen Zusagen Nixons verließ.

Am 27. Januar 1973 wurde in Paris das Friedensabkommen von allen beteiligten Parteien unterzeichnet. Am 29. März verließen offiziell die letzten US-Soldaten das Land. Kissinger äußerte die Einschätzung, dass das Saigoner Regime noch ‚anderthalb Jahre‘ existieren würde.“ (Quelle: Wikipedia)

Was mich an diesem Video fasziniert, sind die Photographien. Ich hätte sie ebenfalls gerne gemacht. Photographen arbeiteten in den 60er und 70er Jahren noch nicht als „Embedded Journalists“, sondern konnten sich relativ frei bewegen. Man mußte lediglich einen gewissen Schneid haben sowie diese Mischung aus Umsicht, Wagnis, Gespür für die richtige Situation, wann auszulösen sei, Intuition und Instinkt für den Moment. Der große Magnum-Photograph Robert Capa fand 1954 in Vietnam den Tod. Er trat auf eine Mine. Shit happens. Die Photographien und Bilder, die aus Vietnam von verschiedenen Photographen mitgebracht wurden, so von dem großartigen Donald McCullin, veränderten im Rahmen der medialen Inszenierungen das Bild vom gerechten und sinnvollen Krieg gegen die commies sehr schnell. „Kill a commie for mommy“ war von dem Punk-Rocker Johnny Ramone durchaus ernst gemeint – denn Johnny war anders als der intellektuelle Joey ein Reaktionär –, und die Mehrheit der US-Amerikaner dachte ebenso.

Dennoch: die Macht und das Leben der Bilder ändern Bewußtsein und Wahrnehmung. An der Heimatfront ist ein Krieg nicht zu gewinnen, wenn Zeitungen und Fernsehen den Familien die Särge präsentieren und brennende Kinder, vernichtete Dörfer, getötete Soldaten gezeigt werden. Der Vietnamkrieg war in gewissem Sinne auch ein Krieg, der mit den Bildern und der Musik der Pop-Kultur zu schaffen hatte. Die GIs hörten eine Musik, die eigentlich rebellisch gemeint war, sie drehten die Rolling Stones oder Jimi Hendrix auf, und sie verhielten sich dennoch so, wie im Rahmen der Militärdiskurse Soldaten sich verhalten müssen. Das emanzipativ gemeinte Potential, was sich seit dem Monterey Pop Festival in der Musik auf einer breiten Basis entfaltete, erweist sich am Ende als regressiv. Adorno etwa kritisierte diese regressive Tendenz wie folgt:

Dieser Betrag bringt es auf den Punkt: Eine uniformierte Welt, die sich aber als kritische Gegenöffentlichkeit gerierte. Schielen nach dem Konsum sowie Warencharakter sind die entscheidenden Stichworte. Das hat auch heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Eine solche Haltung spricht nicht gegen denn Pop per se, sondern vielmehr gegen eine bestimmte Haltung, die aus der Banalität noch die Subversion herauslesen möchte und nicht die begrenzte Reichweite dieses Ausdrucksmediums durchschaut. In Abwandlung eines Tocotronic-Stückes dachte ich mir bereits in den jungen Jahren: „Ich möchte kein Teil einer Jugendbewegung sein!“ Bereits bei den Demos war ich der abseits stehende Photograph.

Aber die Photographien aus dem Vietnamkrieg üben zudem einen eigenwilligen ästhetischen Reiz aus. Sie faszinierten mich bereits als Kind, wenn ich durch Zufall am frühen Sonntagabend noch im Wohnzimmer mich befand, wo der Fernseher mit der Sendung „Weltspiegel“ lief, dann schaute ich begeistert den anfliegenden und abfliegenden Hubschraubern zu. Meine Eltern schickten mich meist aus dem Zimmer, weil ich Kriegsbilder nicht sehen sollte. Im Jahre 1987 kurz bevor die erste Intifada in Palästina/Israel begann, erhielt ich das Angebot für die taz nach Israel zu reisen, um zu photographieren. Ich war so dumm, das abzulehnen. Heute stünden auf meinem Blog dann Bilder aus Ägypten oder Jemen statt der ewigabgelatschten, im Grunde langweiligen Demophotographien.

Assoziatives Denken und Entspannung – Ökonomie der Zeit

Entspannung, in diesem hier entfalteten Zusammenhang, einmal nicht im Sinne der Freizeit und all der Unsäglichkeiten genommen, die bloß als Kompensationsleistung fürs überforderte Subjekt dienen, sondern vom Sinn des Begriffes her gelesen. Und zuweilen findet sich jene produktive Entspannung gerade in der äußersten Anspannung, indem eine oder einer sich auf die Sache einläßt und sich im selben Moment von ihrem Strom (auch dem darin sedimentierten kollektiven) treiben läßt. So erging es mir vielfach bei der Lektüre Hegels. Ich habe sicherlich nicht alles sofort verstanden, aber bereits in den jungen, wilden Jahren des Schülers las ich die „Phänomenologie“ auch als ein Stück Literatur, und zwar konzipierte sie sich mir im Sinne der klassischen literarische Moderne ebenfalls als ein Stück surrealistisch und auch montagehaft inspiriertes Traumbewußtsein, was sicherlich in gewissem Maße einer jugendlichen Unbedarftheit sich schuldete. Während andere noch wendezeitisch (auch im kohlschen Sinne: esoterisch-konservativ-asiatisch-wissenschaftlich) bei Fritjof Capra und dem New Age verharrten, trieb das Bewußtsein mit Hegel den Geist der Zeit auf die Spitze: Macht kaputt, was Euch kaputt macht! Die Energie des „destruktiven Charakters“ fruchtbar zu machen gälte es.

Und immer gab es zugleich die anderen: Es zog sie mittelamerikanisch mit Carlos Castaneda hin und mit Hesse asiatisch von Kathmandu bis nach Japan, um das westliche Denken zu transzendieren und sich selber und den Weg zu finden: Alles Vergeblichkeit: jede gotische Kathedrale und jedes Madonnenbild, jede Pietà, jeder Supermarkt und jedes Geschäft für Designersonnenbrillen sagt Euch mehr über Euch selbst als der Gang ins Om-Om-Nirvana. Sie (bedeutungsvoll): „Ich lasse mir mein Parfum in Asien selber herstellen und individuell zusammenkomponieren.“ Die andere sie: „Ach, das macht heute fast jede Frau. Bei einer interessanten Frau riecht auch der Parfümklassiker noch hinreißend gut, träufelt die Frau ihn nur angemessen auf die Haut.“ Individualität ist, wenn alle das gleich machen, tragen, hören und es nicht bemerken – die Eleganz des Pseudos durch selbstbemachtes Parfüm aus Südostasien. Andererseits: wenn zwei das Gleiche tun, ist es eben noch lange nicht das gleiche. Der Begriff des Scheins findet sich dann in Hegels Wesenslogik entfaltet und bestimmt wieder. Das Scheinen des Wesens ist Reflexion, so lautet eine der ersten Bestimmungen. Bei Hegel bedeutet dieses Verhältnis von Sein, dessen Wahrheit im Gang des Denkens das Wesen ist, zugleich einen Bezug zur Zeit. „Erst indem das Wissen sich aus dem unmittelbaren Sein erinnert, durch diese Vermittlung findet es das Wesen. – Die Sprache hat im Zeitwort sein das Wesen in der vergangenen Zeit, ‚gewesen‘, behalten; denn das Wesen ist das vergangene, aber zeitlos vergangene Sein.“ (WdL, II, S. 13)

Warum soll ich das, was ich mit eigenen Worten kaum besser sagen kann, nicht durch fremde Zunge aussprechen lassen? Nehmen wir also Adorno beim Wort und lesen wieder einmal den Hegel, Zeit dafür ist es immer. Und es wird sich in dieser Lektüre das Moment der Versenkung, des Meditativen, der Inversion, der Kompression auf jenen einen Punkt, die unendliche Ausdehnung und ebenfalls die notwendige Leichtigkeit und Verspieltheit des Daseins einstellen, gerade und insbesondere vermittels jener Kraft zur Negativität, der es ins Auge zu blicken gilt, wie es in einer sehr schönen Stelle in der Vorrede seiner „Phänomenologie des Geistes“ heißt. Aber nun zu Adorno:

Entspannung des Bewußtseins als Verhaltensweise heißt, Assoziationen nicht abwehren, sondern das Verständnis ihnen öffnen. Hegel kann nur assoziativ gelesen werden. Zu versuchen ist, an jeder Stelle so viele Möglichkeiten des Gemeinten, so viele Beziehungen zu anderem einzulassen, wie irgend sich aufdrängen. Die Leistung der produktiven Phantasie besteht nicht zum letzten darin. Zumindest ein Teil der Energie, ohne die so wenig gelesen werden kann wie ohne Entspannung, wird dazu gebraucht, jene automatisierte Disziplin abzuschütteln, welche die reine Konzentration auf den Gegenstand verlangt und welche dadurch ihn leicht verfehlt. Assoziatives Denken hat bei Hegel sein fundamentum in re. Seine Konzeption von der Wahrheit als einem Werdenden ebenso wie die Absorption der Empirie im Leben des Begriffs hat die Trennung der philosophischen Sparten des Systematischen und Historischen, trotz den entgegenlautenden Deklarationen der Rechtsphilosophie, überschritten. Das Substrat seiner Philosophie, der Geist, soll, wie man weiß, nicht abgespaltener subjektiver Gedanke sein sondern real, und damit seine Bewegung die reale Geschichte. Gleichwohl pressen selbst die späteren Kapitel der Phänomenologie, mit unvergleichlichem Takt, die Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins und die von der menschlichen Geschichte nicht brutal ineinander. Die beiden Sphären schweben in ihrer Berührung. In der Logik wird, ihrer Thematik gemäß, wohl auch unterm Druck der Versteifung des späteren Hegel, die auswendige Geschichte von der inneren Historizität der Kategorienlehre verschluckt.“
(Theodor W. Adorno: Skoteinos oder Wie zu lesen sei, S. 128 f., in: Drei Studien zu Hegel, Fft/M 1987)

Daran anknüpfend und in Zusammenhang mit seinem Hölderlin-Essay  „Parataxis “ schreibt Adorno, daß die Logik der Hegelschen Philosophie zur Geschichte werde (S. 474). Adorno ist in diesem, freilich inversen Sinne (sein immanenter Bezug zu Marx wird gerne unterschlagen) sehr nahe an Marx‘ „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“. Wieweit es unterschwellig auch eine Kritik daran ist, vermag ich auf Anhieb nicht zu sagen. In seiner Kritik an jenem § 270 der Rechtsphilosophie, der vom Zweck  des Staates sowie seinem Verhältnis zur Religion handelt, heißt es:

Das Wesen der staatlichen Bestimmungen ist nicht, daß sie staatliche Bestimmungen, sondern daß sie in ihrer abstraktesten Gestalt als logisch-metaphysische Bestimmungen betrachtet werden können. Nicht die Rechtsphilosophie, sondern die Logik ist das wahre Interesse. Nicht daß das Denken sich in politischen Bestimmungen verkörpert, sondern daß die vorhandenen politischen Bestimmungen in abstrakte Gedanken verflüchtigt werden, ist die philosophische Arbeit. Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment. Die Logik dient nicht zum Beweis des Staats, sondern der Staat dient zum Beweis der Logik.“ (Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 216)

An dieser Stelle freilich gerät die Assoziation aus den Fugen, und es trägt die Assonanz nicht mehr. Ein Blogtext, der als eine Art Textwerkstatt, als Laboratorium, als Versuch und als Raum für Assoziatives sowie Komponiertes fungiert, reicht nicht mehr hin, um in diesen Kontexten logische Bestimmungen und Sichtungen zwischen Hegel, Marx und Adorno vorzunehmen. Es bedürfte hier eines austarierten Essays, und der ist keine asiatische Tathandlung, sondern erfordert Zeit. Man gibt die Zeit und den Rest der Zeit. Auch dies erfordert eine bestimmte Ökonomie, was wiederum auf Derridas Buch „Falschgeld. Zeit geben I“ verweist:

„‚Der König nimmt meine ganze Zeit; den Rest gebe ich Saint-Cry und wie gern wollte ich sie Saint-Cry doch ganz geben.‘“ So die einflußreiche Mätresse am Hofe des Sonnenkönigs, Françoise d’Aubigné, Marquise de Maintenon

Maintenon: welch bezeichnender Name.

Geben und nehmen im Verhältnis zum Ganzen. „Denn wenn man seine ganze Zeit gibt, gibt man alles, gibt man das Ganze, sofern alles, was man gibt, in der Zeit ist, und man seine ganze Zeit gibt.“ (Derrida, Falschgeld, S. 9) Hier wäre der Bezug zur Liebe und zu Lacan aufzuzeigen:

Geben, was man nicht hat.


Auferstehung (2) – „To Leave, with Love“ (Erika M. Anderson)

Das Gesetz der Zeit zu brechen …

Es schrieb der emeritierte Professor für Geschichte und Literatur des frühen Christentums in Göttingen, Gerd Lüdemann, in der der Berliner Zeitung vom 6.4.2012:

„Die in Jerusalem auf den Namen Jesu erfolgende Taufe, die dem Schutz vor bösen Mächten diente, wurde in Damaskus zu einem mystischen Akt in das göttliche Wesen Christus Jesus hinein. Die dabei ausgesprochene programmatische Formel – ‚Hier ist weder Jude noch Heide, weder Sklave noch Freier, weder männlich noch weiblich; denn ihr alle seid eins in Christus Jesus‘ – spiegelt antike Utopien von der einen Menschheit wider.

Die Aussagen zu den drei Gruppen von Menschen, welche die Taufe empfangen, sind im damaligen gesellschaftlichen Kontext revolutionär. Sie proklamieren das Ende der Sklaverei, reißen Schranken zwischen Juden und Nichtjuden nieder und heben die sozialen, gesellschaftlich bedingten Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf. Wahrscheinlich haben die Christen in Damaskus ihre große Vision sogar in die Tat umgesetzt.

Aufbegehrende Frauen musste in Gottesdiensten Schleier tragen

Indes ergaben sich für Paulus daraus, dass ‚in Christus Jesus‘ die Unterschiede zwischen Mann und Frau, Sklave und Freier aufgehoben sind, keine Konsequenzen für die Stellung von Frauen oder Sklaven in Gemeinde und Gesellschaft. Unter Hinweis auf den Konsens mit den anderen Gemeinden Gottes zwang Paulus später in Korinth aufbegehrende Frauen, im Gottesdienst einen Schleier zu tragen; die Sklaven wies er an, die Freiheit auch dann nicht zu suchen, wenn sich dazu eine Möglichkeit ergebe. Einzig die Gleichstellung von Juden und Heiden setzte Paulus in seinen Gemeinden durch.

So gab Paulus, der ehemalige Verfolger und berühmteste Schüler der Gemeinde von Damaskus, deren emanzipatorischen Ideale preis; er machte langfristig nicht nur Frauenunterdrückung, sondern auch Sklaverei in Christentum und Gesellschaft hoffähig. Die große Vision der Christen von Damaskus aber ist geblieben.“

Die Figur des Paulus, seine Gesetzeslehre sowie die Paulinische Gnadentheologie sind umstritten. War Paulus der, welcher Jesus am ehesten verstand und in die Schriftform brachte oder handelte es sich um einen Scharlatan, der die praktizierte und gesprochen dargebrachte „Lehre“ Jesu als Herrschaftsinstrument verfälscht in die Auslegung transformierte? Der Anfang des 1. Römerbriefes lautet in der lateinischen Übersetzung des Hieronymus: „Paulus servus Jesu Christi, vocatus apostolus, segregatus evangelium Dei“ (Röm 1,1) „Paulus Sklave des Jesus Messias, berufen zum Apostel, ausgesondert für das Evangelium Gottes.“ (Vgl. G. Agamben, Die Zeit die bleibt, S. 17)

Am Jesus, der zum Messias wurde, ist insbesondere die Figur des Opfers, jenes bedingungslosen Opfers interessant. Daß kein anderer Mensch mehr, daß kein Tier mehr und kein Nichts geopfert werden müssen, weil ein Wesen seine Entäußerung zum letzten Opfer brachte, um künftig auf jedes weitere Opfer zu verzichten. Dies ist die zentrale christliche Lesart, welche allerdings in der Folge bloßes Bekenntnis blieb und als gestanzte Phrase ihren Nachhall fand. Es ist diese Bewegung von Einheit und Differenz zugleich eine der vielfach variierten Figuren europäischer Philosophie: nämlich die Entäußerung als Entzweiung und Differenzbildung, was zugleich bedeuten kann, daß jener als unteilbar angenommene Ursprung eben doch einer gleichsam „ursprünglichen“ Differenzstruktur unterliegt, so daß sich im Sinne Derridas von einer ursprünglichen Spaltung sprechen läßt. Urbild ist nicht die Einheit. Und noch der Begriff des Urbilds trägt dieses Moment der Einheit in sich und müßte im Grunde anders heißen. Mit Derrida gedacht, erscheint das Urbild als eine Spur. Sinnbildlich stellt sich diese Figur der Entäußerung sowie der vermittelten Rückkehr zum Ursprung am Odysseus dar, der als ein anderer in Ithaka wieder ankam und der dann in seinen Transformationen im Grunde die Gestalt für jenen klassischen Bildungsroman etwa im Sinne  „Wilhelm Meisters“  abgab. Die etwas andere Perspektivierung dieser Entäußerung lesen wir in jenem genialen exalktiert-sexuellen Monolog der Molly Bloom am Ende des „Ulysses“

Diese Perspektive, daß kein Opfer mehr sei, gibt auch jenen Impuls der Philosophie Adornos: Der Verzicht auf das Opfer, indem die Logik und die Spirale der Gewalt gebrochen wird. Das Verstömen in Natur, wie es in seinem Essay zu Goethes  „Iphigenie“  heißt. Vor ihm formulierte dies in anderer Weise Nietzsche im „Zarathustra“: den Geist der Rache zu überwinden.

„Daß die Zeit nicht zurückläuft, das ist sein Ingrimm; ‚das, was war‘ – so heißt der Stein, den er nicht wälzen kann.

Und so wälzt er Steine aus Ingrimm und Unmut und übt Rache an dem, was nicht gleich ihm Grimm und Unmut fühlt.

Also wurde der Wille, der Befreier, ein Wehetäter: und an allem, was leiden kann, nimmt er Rache dafür, daß er nicht zurück kann.

Dies, ja dies allein ist Rache selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ‚Es war‘.

Wahrlich, eine große Narrheit wohnt in unserm Willen; und zum Fluche wurde es allem Menschlichen, daß diese Narrheit Geist lernte!

Der Geist der Rache: meine Freunde, das war bisher der Menschen bestes Nachdenken; und wo Leid war, da sollte immer Strafe sein.

‚Strafe‘ nämlich, so heißt sich die Rache selber: mit einem Lügenwort heuchelt sie sich ein gutes Gewissen.

Und weil im Wollenden selber Leid ist, darob, daß er nicht zurück wollen kann – also sollte Wollen selber und alles Leben – Strafe sein!“
(F. Nietzsche, Von der Erlösung, in: Also sprach Zarathustra)

Dieses Statement impliziert eine (andere) Philosophie der (anderen) Zeit, und insofern geschieht bereits an dieser Stelle im „Zarathustra“, von seiner Erzählstruktur her, die Ankündigung jenes Motivs von der Wiederkehr des Immergleichen – jenes schwersten Gedankens. Es gilt, das Gesetz der Zeit zu brechen.

Dies wäre die soteriologische Perspektive, die beiden Texten innewohnt – auch im Text des Pfarrerssohnes Nietzsche, wobei über den Perspektivismus, welcher seinen Text trägt, zugleich bei jedem Dreh und bei jeder Wendung eine andere Sicht sich ergibt. Alles könnte auch ganz anders sein. Nimmt man jedoch den „Zarathustra“ als solchen, so deutet dieser Text auf ein explizit theologisches Moment: die Verkündung des Todes Gottes erzeugt eine neue Religion der Diesseitigkeit, und Zarathustra tritt eben doch als ein Religionsstifter auf. Der Text selbst zeigt dies auf performative Weise, indem er die Sprache Luthers einerseits fast mimetisch einkreist und sie zugleich als hohen Ton parodiert.

Das Messianische Ereignis, es ist dies zum einen die Auferstehung, aber zum anderen, in der Perspektive des Judentums, daß der Messias erst kommt. Dies setzt, so steht zu vermuten, eine andere Ordnung und eine andere Zeit voraus. Wird die Gerechtigkeit oder aber das Recht in jener eschatologischen Perspektive außer kraft gesetzt? Es bestünde ebenso die Möglichkeit, daß lediglich eine falsch verstandene Gerechtigkeit durch dieses Ereignis suspendiert wird.

„Ermöglicht die Dekonstruktion Gerechtigkeit, ermöglicht sie einen Diskurs über die Gerechtigkeit und über die Möglichkeitsbedingungen von Gerechtigkeit?“ (J. Derrida, Gesetzeskraft) Derrida setzt sich in diesem Text unter anderem mit Benjamins legendärem Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ auseinander, der zugleich mit Carl Schmitt korrespondiert. Der Antisemit Carl Schmitt führte in einem perversen Akt der Reinwaschung ausgerechnet Walter Benjamin zu seiner Rechtfertigung nach 1945 an. Aber dies ergibt ein anderes Thema. Derrida führt in seinem Text „Gesetzeskraft“ jenes Gleiten zwischen Recht und Gerechtigkeit vor und zeigt das Moment der Unbestimmtheit auf, das konstitutiv im Begriff der Gerechtigkeit steckt:

„‚Vielleicht‘ – wenn es um (die) Gerechtigkeit geht, muß man immer ‚vielleicht‘ sagen. Die Gerechtigkeit ist der Zukunft geweiht, es gibt Gerechtigkeit nur dann, wenn sich etwas ereignen kann, was als Ereignis die Berechnungen, die Regeln, die Programme, die Vorwegnahmen usw. übersteigt. Als Erfahrung der absoluten Andersheit ist die Gerechtigkeit undarstellbar, doch darin liegt die Chance des Ereignisses und die Bedingung der Geschichte.“
(J. Derrida, Gesetzeskraft, S. 57)

Das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, jene Dialektik im Stillstand, die Einhalt gebietet, inmitten der Katastrophe.

„Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à l‘ordre du jour – welcher Tag eben der jüngste ist.“
(W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte)

Die Römerbriefe des Paulus scheinen mir, andererseits, nicht ganz uninteressant. Ich lese dazu gerade ein wenig in Giorgio Agambens „Die Zeit, die bleibt“. Er liefert eine gleichsam dekonstruktive Lesart des ersten Satzes des Römerbriefes, rehabilitiert Paulus gewissermaßen, wie auch Alain Badiou in seinem Buch zu Paulus, indem er gerade die in der Christologie aus dem Römerbrief getilgte Lesart des Messianischen in den Blick nimmt und das jüdisch-griechische Denken des Damszeners Paulus darstellt. Was mich an Agambens Text fasziniert: diese Fülle an Assoziationen und die entfalteten Bezüge.

Was im Paulinischen Text, und zwar in der sozusagen dekonstruktiven-rekonstruierenden Lesart eines Alain Badiou und Giorgio Agamben, wirkt, ist eine neue Form der Subjektivität, die als Lektüre einen Blick auf den Text erlaubt, welche eine andere Dimension desselben freilegt.

Es ist nicht die Ununterscheidbarkeit zwischen Literatur, Philosophie und Theologie, sondern das Gleiten zwischen diesen Sphären, was am Ende eine ästhetisch inspirierte Lektüre ausmacht, die Bezüge ausgräbt, welche in einer orthodoxen Lesart womöglich verborgen bleiben müßte. Jene Zeit, die bleibt und die wir geben, wenn wir lesen, um uns von jenem ganz Anderen als Flüchtigkeit des Augenblicks, als Konstellation des Denkens, als Spiel eines Kaleidoskopes affizieren zu lassen.

Adornos „Mimima Moralia“ schließen mit jener Reflexion auf das beschädigte Leben und auf welche Weise ein Modus von Erkenntnis zu gewinnen sei. Was bleibt, ist die Kraft zur Negativität:

Zum Ende. – Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an. Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Aber es ist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat. Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet um des Unbedingten willen, um so bewußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.“
(Th.W. Adorno, Minima Moralia, in: GS 4, S. 283)

Esoterik, Asiatisches und Okkultes

„Mit Recht fühlen die Okkulten von kindisch monströsen naturwissenschaftlichen Phantasien sich angezogen. Die Konfusion, die sie zwischen ihren Emanationen und den Isotopen des Urans anstiften, ist die letzte Klarheit. Die mystischen Strahlen sind bescheidene Vorwegnahmen der technischen. Der Aberglaube ist Erkenntnis, weil er die Chiffren der Destruktion zusammen sieht, welche auf der gesellschaftlichen Oberfläche zerstreut sind; er ist töricht, weil er in all seinem Todestrieb noch an Illusionen festhält: von der transfigurierten, in den Himmel versetzten Gestalt der Gesellschaft die Antwort sich verspricht, die nur gegen die reale erteilt werden könnte.

VI. Okkultismus ist die Metaphysik der dummen Kerle. Die Subalternität der Medien ist so wenig zufällig wie das Apokryphe, Läppische des Geoffenbarten. Seit den frühen Tagen des Spiritismus hat das Jenseits nichts Erheblicheres kundgetan als Grüße der verstorbenen Großmutter nebst der Prophezeiung, eine Reise stünde bevor. Die Ausrede, es könne die Geisterwelt der armen Menschenvernunft nicht mehr kommunizieren, als diese aufzunehmen imstande sei, ist ebenso albern, Hilfshypothese des paranoischen Systems: weiter als die Reise zur Großmutter hat es das lumen naturale doch gebracht, und wenn die Geister davon keine Notiz nehmen wollen, dann sind sie unmanierliche Kobolde, mit denen man besser den Verkehr abbricht. Im stumpf natürlichen Inhalt der übernatürlichen Botschaft verrät sich ihre Unwahrheit. Während sie drüben nach dem Verlorenen jagen, stoßen sie dort nur aufs eigene Nichts. Um nicht aus der grauen Alltäglichkeit herauszufallen, in der sie als unverbesserliche Realisten zu Hause sind, wird der Sinn, an dem sie sich laben, dem Sinnlosen angeglichen, vor dem sie fliehen. Der faule Zauber ist nicht anders als die faule Existenz, die er bestrahlt. Dadurch macht er es den Nüchternen so bequem. Fakten, die sich von anderem, was der Fall ist, nur dadurch unterscheiden, daß sie es nicht sind, werden als vierte Dimension bemüht. Einzig ihr Nichtsein ist ihre qualitas occulta. Sie liefern dem Schwachsinn die Weltanschauung. Schlagartig, drastisch erteilen die Astrologen und Spiritisten jeder Frage eine Antwort, die sie nicht sowohl löst, als durch krude Setzungen jeder möglichen Lösung entzieht. Ihr sublimes Bereich, vorgestellt als Analogon zum Raum, braucht so wenig gedacht zu werden wie Stühle und Blumenvasen. Damit verstärkt es den Konformismus. Nichts gefällt dem Bestehenden besser, als daß Bestehen als solches Sinn sein soll.“

(Th. W. Adorno, Minima Moralia in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 277)

„Wortwerden des Fleisches“ (2)

„Die materialistische Sehnsucht, die Sache zu begreifen, will das Gegenteil: nur bilderlos wäre das volle Objekt zu denken. Solche Bilderlosigkeit konvergiert mit dem theologischen Bilderverbot. Der Materialismus säkularisierte es, indem er nicht gestattete, die Utopie positiv auszumalen; das ist der Gehalt seiner Negativität. Mit der Theologie kommt er dort überein, wo er am materialistischesten ist. Seine Sehnsucht wäre die Auferstehung des Fleisches; dem Idealismus, dem Reich des absoluten Geistes, ist sie ganz fremd. Fluchtpunkt des historischen Materialismus wäre seine eigene Aufhebung, die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung. Erst dem gestillten leibhaften Drang versöhnte sich der Geist und würde, was er so lange nur verheißt, wie er im Bann der materiellen Bedingungen die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse verweigert.“

(Th. W. Adorno, Negative Dialektik, in: GS 6, S. 207)

Das Bild als solches bereits ist eine Form von Fixierung, weil der Gegenstand in den verschiedenen Weisen der Verbildlichung in den Bann des Blickes gerät und damit ist das Bild dem Objekt bloß äußerlich. Jenes zweite mosaische Gebot und auch das Bilderverbot des Islam zeugen davon.

Bilder sind zugleich narzißtische Fixierungen und das Double des Subjekts, weil sie zur (auch kollektiven) Identitätsbildung beitragen. Solche narzißistischen Fixierungen, die aufgrund dieser Statik vielfältige Todespunkte und Todesbilder abgeben, gilt es mit den Mitteln von Kunst aufzubrechen oder, wenn solcher Wurf nicht zu gelingen vermag, doch in das Strömen der Bilder aufzulösen. Darin ist Adorno der Philosophie der Romantik verwandt, wobei in ihrer Schlegelschen Variante und in der des Novalis jene Auflösungen von bildlicher Fixierung und das Betreiben der Fragmentierungen einer Ganzheit und Totalisierung sich schulden, die es in jenem Schritt zurück auf einen Ursprung hin erst herzustellen gilt. Die Bilder, welche strömen, zielen am Ende doch wieder auf jene Quelle ab, zu der es zieht und drängt. An der Unwahrheit dieser gleichsam fragmentierend-totalisierenden Bewegung der literarischen Romantik wäre im gleichen Zuge das Moment des gesellschaftlich Wahren und Notwendigen darin zu reflektieren. Adornos Philosophie und Ästhetik dialektisiert die Romantik, indem sie beide Momente aufeinander bezieht. Nicht die parteiische, erziehende und unmittelbar eingreifende, abbildende oder widerspiegelnde ästhetische Darstellung – etwa im Sinne Schillers Thesentheater, auf daß die Idee von Freiheit sich versinnliche – trifft Gesellschaft am Ende auf den Punkt und bringt sie in die Konstellation, sondern vielmehr deren Gegenteil zeigt deren Wahrheit. Insbesondere im Text Kleists wird diese virulent.

Bei Adorno verschwistern sich die Utopie der Erkenntnis, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen (ND, S. 22), mit einem theologischen Moment – unter anderem auch als Dialektik des Todes, was sich in jener Wendung von der „Auferstehung des Fleisches“ eben zeigt. Materialismus und Theologie konvergieren. (Wesentlich wird und zum zentralen Motiv gerät diese Dialektisierung des Todes im Zusammenhang mit dem Bild zum Ende von Adornos Beckett-Aufsatz, wo es um jene Figuren des Stillstandes und des Todes, insbesondere im Rekurs auf Proust und den Tod Bergottes, geht, aber auch in Adornos „Meditationen zur Metaphysik“ – so etwa wenn Adorno jenen Hotelbesitzer Adam skizziert, der für nichts die Ratten totschlägt. Adorno variiert hier Bilder und erzeugt einen Strom von Todesbildern, gleichsam komponierte Assoziation, der zwischen Gesellschaftskritik, kritischer Philosophie im Kantischen Sinne, erfahrungsgesättigten Momenten, die sich an die Biographie Adornos koppeln, Ästhetik und Metaphysik changiert.)

Die Rettung des Objekts, mithin das materialistische Motiv, und die (messianische) Theologie bedingen einander, ähnlich wie bei Benjamin. Auch jene anfangs zitierte Textpassage Adornos variiert Benjamins erste Geschichtsphilosophische These bzw. spielt darauf an. Freilich – im Fortgang der Geschichte – um den Preis, daß die (eingreifende und verändernde) Praxis vertagt wurde, wie es zum Beginn der „Negativen Dialektik“ heißt. Einzig Theorie, einzig Kunst vermögen Gesellschaft in Konstellation zu bringen. Wesentlich geschieht dies über die Sprache. Der sprachliche Ausdruck ist nichts der Sache Akzidentielles, sondern der Begriff erwächst aus dieser.

Zu dieser Wendung von der Auferstehung des Fleisches entwickelte Adorno im Rahmen seiner Ästhetik zugleich die Gegenfigur, welche aber nicht als Gegensatz, sondern als dialektisches Verhältnis im Rahmen der verschiedenen Lektüren aufzufassen ist. Es kehrt sich jener Satz aus dem Evangelium des Johannes von der Fleischwerdung des Wortes (Joh. 1.14) im Akt des Ästhetischen um: Das Subjekt versprachlicht sich, verschwindet im Text, mit Celan gesprochen und von der Spätmoderne her gedacht: im glühenden Leertext. Adorno führt diese Versprachlichung des Subjekts (und mithin auch den Tode desselben) in seinem Eichendorff-Essay aus:

„Die ‚Sprache als Darstellungsmittel der Poesie‘, als ein Autonomes, ist seine [Eichendorffs] Wünschelrute. Ihr dient die Selbstauslöschung des Subjekts. Der sich nicht bewahren will, findet für sich die Zeilen: ‚Und so muß ich, wie im Strome dort die Welle, / Ungehört verrauschen an des Frühlings Schwelle.‘ Zum Rauschen macht sich das Subjekt selber: zur Sprache, überdauernd bloß im Verhallen wie diese. Der Akt der Versprachlichung des Menschen, ein Wortwerden des Fleisches, bildet der Sprache den Ausdruck von Natur ein und transfiguriert ihre Bewegung ins Leben noch einmal.“

(Adorno, Zum Gedächtnis Eichendorffs, in: GS 11 (Noten zur Literatur), S. 83)

Eichendorffs entfesselte Romantik, so Adorno, führt bewußtlos zur Schwelle der Moderne (S. 78). Seine Dichtung überläßt sich dem Strom der Sprache, allerdings noch in einer lyrischen Bildlichkeit, die dem frühen 19. Jahrhundert angehört, doch ihr Gehalt ist eminent modern zu nennen. Nicht Integration, System oder subjektiv gestiftete Einheit des Mannigfaltigen, sondern Ausatmen und Dissoziation bringt jene Dichtung seit Lessing, die sich gegen den Klassizismus wandte, in die Gestalt. Eichendorffs Dichtung hat daran insgeheim Anteil (S. 79) Adorno verweist an dieser Stelle auch auf jenen Teil der Moderne, der „vom jungen Goethe, über Büchner und manches von Hauptmann bis zu Wedekind, dem Expressionismus und Brecht treibt, …“ (S. 79)

Doch Eichendorffs Dichtung ist nicht rein subjektivistisch, wie man es der Romantik nachsagt, sondern, „sie erhebt, als Preisgabe an die Impulse der Sprache, stummen Einspruch gegen das dichterische Subjekt.“ (S. 79)

In solchen Anordnungen, in die Adorno Eichendorff bringt, vergeht der Eichendorff nachgesagte Konservatismus, und dieser Text Adornos ist zusammen mit seinen etwa zeitgleich entstandenen Essays „Rede über Lyrik und Gesellschaft“ sowie „Der Essay als Form“ (alle etwa 1957/58) eine Absage an jene restaurativen Tendenzen der Dilthey-, Heidegger-, Gadamer oder Emil-Staiger-Schulen bzw. jenem Gerede von Dichtung als Erlebnis. Dichtung entschärft sich in solchen Weisen werkimmanenter Lesarten zur leeren Ergriffenheit und zum hohlen Pathos einer wiedererstandenen Kultur nach Auschwitz. Diese Kritik Adornos an der Ergriffenheit des Subjekts reicht noch hin bis zur französischen Existenzphilosophie. Und in dieser Kritik am Subjekt steht Adorno sicherlich den poststrukturalistischen Ansätzen Derridas und Foucaults sehr viel näher als den Positionen herrschender Identitätsphilosophie. (Wenngleich sich die Differenzen zu Derrida, etwa über den Begriff der Utopie, nicht übersehen lassen.)

Zudem findet sich in diesen Texten Adornos eine Theorie der Sprache bzw. seine Sprachphilosophie in nuce, um auch diesen Aspekt in der Lektüre aufzunehmen, und um auf solchem Umwege gleichsam wieder zu jenen Texten zum „Ende der Kunst“ zu gelangen. Zentrale Wendung bei Adorno ist die vom „Rauschen der gegenständlichen und begrifflichen Sprache“ (N.z.L., S. 514) sowie das Motiv des Ermattens in der Natur. Solche Bilder, die Adorno dann in seinem Aufsatz zu Goethes Iphigenie ausführt, greifen zugleich auf einen von der „Dialektik der Aufklärung“ her zu entfaltenden Zusammenhang von Natur und Subjekt, Verdinglichung und Entgrenzung über.

Wozu Kunst? (Teil 3) – Das unendliche Kreisen um das Ende – Apokalypse Now (Part 2)

Deutete ich im ersten Teil von „Apokalypse Now“ an, daß eine Kritik der Kunst qua Autoreferenzialität bei Teilen der Avantgarde im Kunstwerk selber statt hat, so geht es im zweiten Teil und in anderer Perspektive, also nicht im Rahmen der Kunstwerke, sondern aus den Reflexionssystemen der Ästhetik heraus, die für solche externen Reflexionen zuständig ist, um die Analyse und das In-den-Diskurs-bringen jener Rede vom Ende der Kunst. Zuvor möchte ich jedoch voranschicken, daß es innerhalb dieses Textes nicht um Endzeit-Verkündungen oder Apokalypse-Szenarien im Sinne eines Dekretes geht: Die Kunst ist zum Ende gekommen!, wie man das im Rahmen der 60er Jahre kannte, als das Ende der Literatur (oder zumindest ein grundsätzlicher Wandel derselben) und überhaupt das Ende der bürgerlichen Kunst verkündet wurde. In Frankreich gab es, an die Wände der Sorbonne gemalt, die Parole „L‘art est mort!“ Es stellt dieser Ausruf das Höchstmaß jener These von der Souveränität der Kunst dar, welche ein Teil der Avantgarden anstrebte, indem die Kunst im Leben selbst aufgehoben werden sollte. Daß die Kunst als eine letzte Bastion gegen den universalen Zugriff und die Zurüstung sich erweisen könnte, wurde bei solchen Slogans bzw. plakativen Sätzen meist übersehen.

In der BRD schrieb Karl Markus Michel 1968 in der Zeitschrift „Kursbuch“ den Aufsatz „Ein Kranz für die Literatur“, in welchem es um eine Neubestimmung der Literatur sowie ihrer Funktion ging, was mithin eine Absage an die Autonomie der Kunst bedeutete und hin zu einer engagierten, parteiischen Literatur führen sollte. Es ging gegen „die tote, die repressive, die bürgerliche Kunst“, wie dies Peter Schneider in seinem Aufsatz „Die Phantasie im Spätkapitalismus und die Kulturrevolution“ formulierte, indem er „die agitatorische und die propagandistische Funktion der Kunst“ betonte (Kursbuch 16/1969). Enzensberger wiederum sprach von einer „politischen Alphabetisierung“. Kunst habe praktisch zu wirken, die bürgerliche Kunst und die bürgerliche Ästhetik seien an ihr Ende gekommen – im Grunde erweiterte sich in einer solchen Konzeption der Bitterfelder Weg auf das Feld der BRD-Literatur; und selbst das, was in den 70er Jahren unter dem Oberbegriff „Neue Subjektivität“ firmierte, teils politisch, teils in Opposition zum Politischen, ist nicht nur als bloßer Rückzug ins Private oder in die subjektive Sicht zu lesen, sondern – im Sinne dieses geforderten Funktionswandels – gerade als Reaktion auf jene Politisierung zu begreifen und damit der Objektivität geschuldet.

Per ordre oder als Wunschbegehren ist allerdings die Aufhebung der Kunst im Leben bzw. des Lebens in der Kunst kaum zu bewerkstelligen, es bleiben dies Parolen. Man müßte, wie in der Französischen Revolution geschehen, auf die Kirchturmuhren schießen, alle Uhren zerstören und den Kalender ändern, um die Diskurse umzupolen. Als frühe Antwort und Kritik auf solche Bestrebungen, einen (eingreifenden) Funktionswandel der Kunst und der Literatur herbeizuführen, damit es der Autonomie der Kunst um der Politik willen an den Kragen geht, läßt sich Adornos 1962 verfaßter Text „Engagement“ lesen, der eben nicht einer puren und reflexionslosen L‘art pour l‘art das Wort redet, sondern vielmehr die Autonomie der Kunst bewahrt, ohne dabei jedoch den Preis bürgerlicher Selbstgenügsamkeit und Inwendigkeit zu zahlen wie das auf der Linie Staiger, Heidegger, Gadamer liegt.

Etwas schärfer polemisierte Dieter Wellershoff 1975 gegen diesen Funktionswandel der Literatur:

„Das war wirklichkeitsfremdes Wunschdenken von Intellektuellen, die sich damit über ihre praktische Ohnmacht hinwegredeten und die komplexen Vermittlungen von Theorie und Praxis, Phantasie und Erfahrung, Literatur und Leben schlicht verkannten.“

Freilich kann es genauso wenig darum gehen, sich dem Realitätsprinzip zu beugen, um sich auf das vereidigen zu lassen, was ist. Ob jedoch ausgerechnet die Kunst der geeignete Rahmen ist, vermittels dieses Funktionswechsels eine andere Gesellschaft herbeizuführen bzw. das Denken über Gesellschaft und die Analyse in Gang zu bringen, möchte ich bezweifeln; insbesondere, wenn durch einen solchen Funktionswechsel das beste an der Kunst ausgetrieben wird: ihr subversives, untergründiges Potential, welches durch die Aussparung sehr viel beredter ist als das „Reih-dich-ein-in-die-was-weiß-ich-Einheitsfront“-Geschreibe. Eine autonomen Kunst, welche nicht der bloßen Parteinahme dient und die als Slogan oder Resonanzverstärker wirkt. Weshalb gegenüber den vermeintlich engagierten Texten und Bilden gerade die autonome, sich hermetisch abriegelnde, verschließende Kunst – Pointe der Ästhetik – als die sehr viel kritischere sich erweist, dies demonstriert die ästhetische Theorie Adorno. Anhand seiner Beckett- oder Kafka-Lektüre wird dies (beispielhaft) dargelegt werden. Es ließen sich genauso andere Texte Adornos aus den „Noten zur Literatur“ wählen. In den Aussparung der Kunst verbirgt sich zuweilen das Beste, wobei die Entwicklung andererseits an einem Punkt angelangt sind, wo manches zum bloßen Spiegelspiel gerät. Insbesondere die Tendenzen innerhalb der Malerei sehe ich als ruinös. Hier vom Ende der Kunst, zumindest aber von einem Bröckeln zu sprechen, hat sicherlich einige Berechtigung. Andererseits müssen diese Dinge dann auch wieder an konkreten Werken ausgehandelt werden. Vielleicht komme ich dazu, wenn ich hier im Blog über die Kunstschau „Based in Berlin“ schreibe.

Im Rahmen einer Kritik an Gesellschaft sehe ich zudem andere Bereiche eher in der Pflicht. Das reicht von den Vermittlungen und Darstellungen durch die verschiedenen Medien bis hin zu einer politischen Ökonomie, die an die Wurzel geht und sich nicht mit den Oberflächenphänomenen begnügt. Gleiches gilt für Philosophie als Kritische Theorie, Soziologie sowie die Geschichts- und Politikwissenschaften. Als gelungene Antwort auf den Wandel im Schreiben kann man etwa Günter Wallraffs Betriebsreportagen aus den 60er Jahren nennen. Ein Funktionswandel ist also zunächst auf dem Feld der Dokumentation, der berichtenden, non-fiktionalen Literatur erforderlich.

Daß ein Diskurs über das Ende der Kunst nicht zwangsläufig das Ende der Kunst bedeuten muß, zeigt sich in Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Man kann diesen Text gut auch als einen Vorläufer für das lesen, was in den 60er Jahren in den ästhetischen Diskussionszirkeln der BRD zur Aufhebung der Kunst thematisiert wurde. Ich streife den Text Benjamins nur kurz, weil es mir in diesen zunächst einführenden Erläuterungen lediglich um eine generelle Bewegung des Textes geht: daß innerhalb der Ästhetik ein Diskurs über ein Ende geführt wird, der jedoch kein Ende in einem absoluten, eschatologischen Sinne meint, sondern vielmehr auf eine Apokalypse oder ein Endspiel mit kathartischer Funktion hinausläuft. Ich werde diesem für die Ästhetikdebatte wichtigen Text Benjamins aber einen gesonderten Essay widmen. Und auch im Rahmen meiner Benjamin-Lektüren steht eine Sicht auf Photographie und Film aus.

Benjamin postuliert im Kunstwerkaufsatz nicht das Ende der Kunst im ganzen, aber doch das Ende einer bestimmten Form von Kunst, nämlich der bürgerlichen, welche als Raumkunst visuell wahrgenommen werden kann, wie etwa die Bildende Kunst. Die Erzählkunst wäre bei Benjamin gesondert in den Blick zu nehmen, so über seine Aufsätze „Der Erzähler“ oder „Erfahrung und Armut“, die unter anderem von dem Verlust der Erfahrung und den Möglichkeiten von Wahrnehmung im Modus des Erzählerischen handeln. Zur Musik gibt es im Werk Benjamins meines Wissens keine Texte.

Im Kunstwerkaufsatz spricht Benjamin aufgrund einer Veränderung in den Produktionsbedingungen vom Verlust der Aura. (Die Leser vertröste ich: diesen Aspekt der Aura sowie des Verlusts und die daran gekoppelte Entwicklung werde ich dann bei der intensiveren Lektüre des Benjamin-Textes entfalten.) Die „Entwicklungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen“ (GS I, 2. S. 475) gehen durch die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes in eine andere Form sowohl der Kunstproduktion als auch der Rezeption von Werken über. Beispielhaft für diese Veränderung ist der Film, der in seiner Rezeption nicht mehr das kontemplative Moment mit sich führt, wie es in der bürgerlichen Kunstbetrachtung vorwaltet, sondern der diese Kontemplation hin zu einer Haltung der Zerstreuung überwindet. Das auratische, einzigartige Meisterwerk, welches als Original im Museum hängt und vor dem verweilt wird, gehört einer vergangenen Epoche, eben der bürgerlichen an, so Benjamin. Transformierte sich in der bürgerlichen Gesellschaft der Kultwert am Kunstwerk hin zum Ausstellungswert, so ändert sich dieser unter den Bedingungen der Spätmoderne und einer entfalteten, sich entwickelnden Technik des Apparates (Film- und Photokamera seien im Rahmen des Visuellen als die unmittelbar rezeptiven Medien genannt). „Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändert das Verhältnis der Masse zur Kunst.“ (GS I, 2. S. 496) Die Bedeutung des Apparates für das frühe 20. Jahrhundert innerhalb der Kunst ist nicht gering anzusetzen, man nehme nur Kafkas Faszination etwa für den Parlographen und den Phonographen. Und überhaupt ist sein Werk angefüllt mit teils seltsamen und teils weniger seltsamen Apparaten: vom Ding Odradek über komplexe Apparate der Verwaltung und Bürokratie oder eines Hotels bis hin zu dieser wundervollen Maschine in „Die Strafkolonie“, welche dem Angeklagten in einer langwierigen Prozedur das Vergehen in die Haut graviert.

Man kann bezüglich des emanzipatorischen/politischen Potentials von Kunst, das Benjamin als These vertritt, zwar mit Adorno Kritik üben, insbesondere am Klassenbegriff und an einer Naivität im Hinblick auf die politische Wirksamkeit von Kunst. Und Adorno wiederum, so die Kritik von der anderen Seite her formuliert, nimmt gegenüber Benjamins progressiver Sicht, die vom Klassenstandpunkt aus operiert und jene ganz andere Kunst will, eine gleichsam überkommene bürgerliche Auffassung von Kunst in Schutz, deren Zeit jedoch im Grunde vorbei ist. Schuß und Gegenschuß. Es ist aber bei dieser Kritik an Adorno, die zuweilen mit dem Vorwurf des Elitären daherkommt, zu bedenken, daß es sich bei Adornos Begriff von Kunst nicht um den des herabgesunkene, behaglichen Bürgers handelt, sondern um eine Form von Bürgertum, das sich in einem emphatischen Sinne versteht, so wie der Bürger einstmals konzipiert und gedacht war: emanzipatorisch und notwendig. Auf dieses Moment der Kritik, das sich insbesondere im Briefwechsel zwischen Adorno und Benjamin entfaltet, komme ich in einer späteren Lektüre.

Die Ambivalenz von Aura und dem vermittels der Reproduktion nichtauratischen Moment am Kunstwerk zieht sich bis in die Gegenwart hinein und läßt sich insbesondere beim Rezeptionsverhaltens in Museen vorführen. So war es im Louvre vor Leonardo da Vincis Mona Lisa anfangs verboten, Photographien zu fertigen. Als die Museumsleitung jedoch bemerkte, daß sich durch dieses Verbot ein Gedränge vor diesem Gemälde einstellte und der Menschenstrom sich staute, weil die Besucher sich dieses Bild nun genauer ansahen, beschloß man, das Photographierverbot wieder aufzuheben, was nicht weiter weh tat, da durch die Glasplatte vor dem Bild sowieso kein vernünftiges Foto gefertigt werden kann. Die Menschen machten nun wieder Bilder vom Bild. Und nachdem sie dieses Bild ausgelöst und gebannt hatten, auf dem häufig nicht nur die Mona Lisa zu sehen ist, sondern weitere Menschen, die ein Bild vom Bild machen, strömen die Betrachter beruhigt weiter. Es wurde die (vermeintliche) Aura vermittels eines Apparates eingefangen, der Betrachter hat nichts versäumt, sondern hielt den Moment fest und eilt zum nächsten Event, das der Louvre bietet. Der Akt als solcher, das Fotografieren selbst ist hier entscheidend, denn hinterher werden diese Fotos kaum angeschaut. Bei dieser Maßnahme der Museumsleitung handelt es sich zwar nicht um eine explizit angeordnete Verweilzeit vor den Bildern, aber es ist dies bereits ein Mittel zur Kanalisation, in einem Zeitalter, wo die Reglementierung und die Vorschriftensammlung innerhalb des Museums und insbesondere bei sogenannten Glanzaustellungen immer mehr zunimmt: Was Betrachter dürfen und was nicht. Ich schilderte eine solche Performance in meinem Text „Your Security is my Security is our Security“ anläßlich eines Besuches im Essener Folkwang Museum. (Und auch die Schlangen vor all den einschlägigen Großausstellungen sind nichts anderes als vom Museumsmarketing erdachte Maßnahmen, um zum einen zweierlei Eintrittspreise kassieren zu dürfen und durch Verknappung die Nachfrage zu erhöhen.) Aber zurück zur Sache.

Es sei nebenbei erwähnt: so sehr ich Benjamins Kunstwerkaufsatz schätze, weil sich darin einige interessante Figuren des Denkens finden, die man weitertreiben kann, so halte ich ihn doch für einen seiner schwächeren Texte. Adornos „Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens“ stellt eine mehr oder weniger direkte Antwort auf Benjamins Text dar und nimmt insbesondere die zerstreute Rezeptionsweise in die Kritik. Und auch in jenem Briefwechsel Benjamin – Adorno finden sich Stellen scharfer Kritik an Benjamins Thesen.

Was ich jedoch in einer ersten Andeutung, vermittelt über den Text von Benjamin und den Verweis auf die Proteste der 60er Jahre, zeigen wollte, war, daß es zwar ein Ende der Kunst gibt, jedoch ohne ein Ende im absoluten, finalisierten Sinne des vollkommen Verstummens und des Aufhörens. In einer veränderten Gesellschaftsformation ändert sich auch der Begriff von Kunst. Dies freilich ist bei Benjamin – über die Politisierung der Kunst – ein positiv ausgemaltes utopisches Konzept, ein Messianismus, der ins Materialistische gewendet wurde. Zugleich muß man diesen Text aber auch als eine Reaktion auf den in Europa umgreifenden Faschismus ansehen. Ob Benjamins Aufsatz darauf allerdings die angemessene Reaktion ist, bezweifle ich. Wesentlich skeptischer geht es dann auch in Benjamins letztem Text „Über den Begriff der Geschichte“ zu.

Zum Schluß hin zu unseren kurzem Beitrag zum endlosen Enden der Kunst als wesentlichem Merkmal der Selbstvergewisserung der Kunst bzw. der Selbstreflexivität der Moderne, auch als Diskursform der Philosophie, möchte ich doch auf den Maler Ad Reinhardt und seine schwarzen Gemälde hinweisen. Aber vielmehr noch als die Gemälde sei sein Gedicht „Kunst in Kunst ist Kunst als Kunst“ erwähnt. Das ganze Gedicht kann ich hier nicht geben, weil die Arbeit des Abschreibens mir zu mühsam ist. Soviel nur davon: der zweite und die letzten beiden Verse:

„Das Bild der Kunst ist kein Bild.
Ein Kunstwerk ist kein Werk.
In der Kunst arbeiten ist nicht arbeiten.
Arbeit in der Kunst ist Arbeit.
Nicht in der Kunst arbeiten ist arbeiten.
Spiel in der Kunst ist nicht Spiel.
Geschäft in der Kunst ist Geschäft.
Kunst im Geschäft ist Geschäft.
Das Geschäft der Kunst ist nicht Geschäft.

(…)

Der Anfang der Kunst ist nicht der Anfang.
Das Beenden der Kunst ist nicht das Beenden.
Das Einrichten von Kunst ist Einrichten.
Das Nichts in der Kunst ist nicht Nichts.
Verneinung in der Kunst ist nicht Verneinung.
Das Absolute in der Kunst ist absolut.

Kunst in der Kunst ist Kunst.
Das Ende der Kunst ist Kunst als Kunst.
Das Ende der Kunst ist nicht das Ende.“

Allerdings: es ist dies die Perspektive des Künstlers, wenn er nicht als Apokalyptiker arbeitet, sondern, aus anderem Zusammenhang heraus ein Bild Heraklits aufgreifend, als spielendes Kind wirkt: er kann nicht anders als die Endlosigkeit der Kunst zu hypostasieren – diese Endlosigkeit in jenem Schwarz, das freilich nicht ins Verstummen gleitet, sondern einerseits die Valeurs entfaltet, andererseits aber Figuren des Endens sichtbar macht. Und auch Eva Geulen unterliegt zum Schluß ihres Buches „Das Ende der Kunst“ dem Irrtum, wenn sie schreibt. „Was bleibt, ist weitermachen.“ Sowieso ist das Buch von Geulen, was die Lektüre Adornos betrifft, defizitär. Stellenweise zwar instruktiv, aber in der Perspektive und der Mixtur aus standardisierter Adorno-Kritik unter der Optik von Habermas (als Stichwort sei genannt: Totalisierungsvorwurf) und einem Schuß modischer Dekonstruktion Paul de Manscher Provenienz, so geschehen über den Begriff der Parodie, den sie Adorno unterjubelt, fällt das Buch hinter seinem Gegenstand weit zurück.

Was bleibt für Praxis und Theorie übrig? In der Logik ästhetischer Theorie kann Kunst an ein Ende kommen. Hegel eröffnete hier einen umfassenden Diskurs, der sich bis heute wirkungsmächtig und mit Gründen gehalten hat. Das Gesetz der Form ist ausgereizt, die Moderne tendiert zum Spannungsverlust und ihr Wesen ist das Altern; genauso gilt dies, was das gesellschaftliche Moment betrifft. Nirgends steht als Wort oder These am ewigen Ideenhimmel gezimmert: „Du sollst nicht enden!“. Die von Adorno in seinem Beckett-Essay festgestellte „Logik des Verfalls“ geht auf die Kunst insgesamt über. (Ich referiere diesen Text demnächst, weil er zentral ist und hier im Blog schon so häufig erwähnt wurde und als Folie diente.) Ich werde dieses Ende der Kunst in einer der nächsten Folgen zunächst an Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ und sodann anhand verschiedener Texte der Ästhetik Adornos in den Blick nehmen. Mit anderen Worten: wir gehen im Gang der Ästhetik vom Allgemeinen zum Besonderen, kommen zu den Details, den aufsässigen, um uns nicht dem Vorwurf auszusetzen, abstrakt zu bleiben. Andererseits und mit Hegel gesprochen „Abstrakt lernt man denken, durch abstraktes Denken.“ (Suhrkamp Ausgabe Bd 4, S. 413)

Was aber bleibt, ist diese Sentenz als schönes Schlußwort, um demnächst in die Texte selbst zu gleiten.

Vom Kunstwerk – Subjekt und Objekt

Aus Adornos 16. Vorlesung zur Ästhetik vom 22.1.1959

„… ob und in welcher Weise überhaupt ästhetische Betrachtungen sinnvoll durchgeführt werden können, in denen der Begriff der Schönheit nicht seinen Ort hat. Es könnte darauf ja zunächst einmal geantwortet werden: Wenn ein Kunstwerk nicht schön ist, also wenn es nicht in irgend einer Weise sich doch auch einem wie immer idealen Betrachter, Hörer, Leser gegenüber legitimiert, wozu ist dann das Ganze eigentlich da? Wenn es also kein Maß gibt, an dem ästhetische Erfahrung überhaupt gemessen werden kann, wozu soll das Ganze eigentlich gut sein? Hat dann Kunst überhaupt so etwas wie eine raison d‘être? Ich glaube, daß dieser Einwand nicht durchschlägt, weil er eben doch (…) etwas voraussetzt wie einen Betrachter, der also doch in irgendeiner Weise etwas davon haben müßte, dem, wie man so schön sagt, das Kunstwerk etwas ‚gibt‘; wobei ich Sie nur en passant auf den abscheulichen Tauschgedanken hinweisen möchte, der darin steckt. Der Betrachter gibt also dem Kunstwerk die Ehre, ihm seine Zeit, seine Augen, seine Ohren und seine kostbare Nervenkraft zu widmen, und dafür will er dann aber auch vom Kunstwerk etwas in barer Münze, sei es als Genuß, sei es als Bereicherung seines werten Innenlebens oder in sonst irgendeiner Gestalt, zurückgezahlt haben: Eine Vorstellung, deren Vulgarität sie eigentlich a priori von der ästhetischen Betrachtung ausschließen sollte.“
[Th. W. Adorno, Ästhetik (1958/1959), S. 247 f, Frankfurt/M 2009]

„In der verwalteten Welt ist die adäquate Gestalt, in der Kunstwerke aufgenommen werden, die der Kommunikation des Unkommunizierbaren, die Durchbrechung des verdinglichten Bewußtseins. Werke, in denen die ästhetische Gestalt, unterm Druck des Wahrheitsgehalts, sich transzendiert, besetzen die Stelle, welche einst der Begriff des Erhabenen meinte. (…) Kants Lehre vom Gefühl des Erhabenen beschreibt erst recht eine Kunst, die in sich erzittert, indem sie sich um des scheinlosen Wahrheitsgehalts willen suspendiert, ohne doch, als Kunst, ihren Scheincharakter abzustreifen. Zur Invasion des Erhabenen in die Kunst trug einst der Naturbegriff der Aufklärung bei. Mit der Kritik an der absolutistischen, Natur als ungestüm, ungehobelt, plebejisch tabuierenden Formenwelt drang in der europäischen Gesamtbewegung gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in die Kunstübung ein, was Kant als erhaben der Natur reserviert hatte und was in ansteigenden Konflikt mit dem Geschmack geriet. Die Entfesselung des Elementarischen war eins mit der Emanzipation des Subjekts und damit dem Selbstbewußtsein des Geistes. Es vergeistigt als Natur die Kunst. Ihr Geist ist Selbstbesinnung auf sein eigenes Naturhaftes. Je mehr Kunst ein Nichtidentisches, unmittelbar dem Geist Entgegengesetztes in sich hineinnimmt, desto mehr muß sie sich vergeistigen. Umgekehrt hat Vergeistigung ihrerseits der Kunst zugeführt, was, sinnlich nicht wohlgefällig und abstoßend, dieser zuvor tabu war; das sensuell nicht Angenehme hat Affinität zum Geist. Die Emanzipation des Subjekts in der Kunst ist die von deren eigener Autonomie; ist sie von der Rücksicht auf Rezipierende befreit, so wird ihr die sinnliche Fassade gleichgültiger. Diese verwandelt sich in eine Funktion des Gehalts. Er kräftigt sich am nicht bereits gesellschaftlich Approbierten und Vorgeformten. Nicht durch Ideen, die sie bekundete, vergeistigt sich Kunst, sondern durchs Elementarische. Es ist jenes Intentionslose, das den Geist in sich zu empfangen vermag; die Dialektik von beidem ist der Wahrheitsgehalt.
(Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 292 f., in: GS 7)

Kunst und Geschmack (6)

Adornos Kritik des Geschmacksbegriffs (2): Vorlesungen zur Ästhetik von 1958/59

Eine genauere Bestimmung des Geschmacks läßt sich aus den „Vorlesungen zur Ästhetik“ von 1958/59 und im Rahmen der „Ästhetischen Theorie“ rekonstruieren. Allerdings handelt es bei diesen Ausführungen lediglich um Streifzüge und nicht um eine systematische Auseinandersetzung, die Adorno dort tätigt. Denn Geschmack ist für die Ästhetik nur bedingt tauglich, weil er mit jener falschen Subjektivität konnotiert ist, die es zu kritisieren gilt. Geschmack ist Schein im Sinne von pseudos. In der spätbürgerlichen Gesellschaft will es nicht mehr so recht emanieren.

Insofern ist bei den Bestimmungen des Geschmacksbegriffs auch ein Maß an Vorsicht gegenüber Menkes Konzept angebracht. Er kappt, wie so viele Adorno-Interpreten, die geschichtsphilosophischen Bezüge ab und wendet eine Form von „Negativer Dialektik“ in den Modus erstarkter ästhetischer Subjektivität. Ästhetik erbringt jedoch nicht die Reparaturleistungen für eine vollständig deformierte Gesellschaft. Sie ist in ihrer Weise, wie auch die Philosophie als Kritische Theorie, Kritik des Bestehenden. Nicht mehr und nicht weniger. Sogar dann, wenn man es nicht immerzu aus der Ästhetik herausliest und wenn sie im Modus des Unengagierten auftritt.

Geschmack und der damit zusammenhängende Begriff vom Genuß tragen als gesellschaftlich vermittelte Begriffe das Moment des Scheinhaften in sich. So heißt es in Adornos Vorlesungen zur Ästhetik:

„… daß in einer Welt, in der gerade die Beziehung der Kunstwerke zum Begehrungsvermögen ihrerseits wieder vom Markt manipuliert worden ist und in der das sinnlich Wohlgefällige, das die Menschen Ansprechende, längst selbst wieder dazu gedient hat, die Kunstwerke herabzuwürdigen und um ihre Utopie zu betrügen, daß in einem solchen Zustand allerdings die Besinnung auf die reine Immanenz der Form, also auf das Prinzip des l‘art pour l‘art, doch ein außerordentlich großes Recht gehabt hat.“ („Ästhetik (1958/59)“, S. 62, Fft/M 2009)

Einzig in der Form, in der Versenkung ins Detail überlebt im Kunstwerk ein Moment des Widerständischen. Adorno hat dies in seinem Beckett-Aufsatz (und natürlich in vielen anderen Schriften) bis ins Detail dargelegt, wie eine solch mikrologischer Blick aussieht. Denn damit verbunden ist im Rahmen einer Lektüre von Kunstwerken eine hinreichend komplexe philosophische Ästhetik, die Kunstwerke zu lesen vermag.

Skepsis gegenüber dem Geschmack ist für Adorno aber nicht nur im Kontext des Gesellschaftlichen angebracht, sondern sie gründet auch in einem binnenästhetischen Moment – innerhalb des Kunstwerkes selbst: daß nämlich die Spannung darin, die zwischen dem Sinnlichen und dem Geistigen herrscht, zugunsten einer Seite hin aufgelöst wird:

„Die Schwierigkeit und das eigentliche Problem einer wirklichen philosophischen Theorie des Schönen, die ja nun einmal das Zentrum des Ästhetischen abgibt, läßt sich vielleicht auf diese Weise formulieren: Auf der einen Seite ist es unmöglich, einen Begriff des Schönen derart zu konstruieren, daß die Spannung zwischen diesen Momenten – den Momenten des Sinnlichen und des Geistigen – einfach weggeräumt wird, indem die beiden in eine ununterschiedene Einheit gesetzt werden, wie es mit dem Symbolbegriff immer wieder versucht worden ist. Auf der anderen Seite aber ist es auch genau so unmöglich, nun den Begriff der Schönheit oder die Idee der Schönheit zu polarisieren in der Weise, daß sie sagen: Das Schöne setzt sich zusammen aus einem Sinnlichen und aus einem Geistigen, und das Sinnliche ist dabei bloßer Träger des Geistigen. Das Wesen der Bestimmung des Schönen scheint mir vielmehr darin zu liegen, daß zwar diese beiden Momente als voneinander unterschiedene, also als gegeneinander gespannte vorliegen, daß sie aber durch einander vermittelt sind. Das heißt, daß es nichts Geistiges im Kunstwerk gibt, das nicht zugleich auch sinnlich wäre, und daß es nichts Sinnliches im Kunstwerk gibt, das nicht zugleich auch geistig wäre, ohne daß dabei aber nun das Geistige und das Sinnliche jemals einfach ineinander aufgingen.“ (S. 165 f.)

Dieses komplexe Verhältnis macht es insbesondere unter den Bedingungen der Moderne schwierig, eine angemessene philosophische Theorie des Schönen zu entwickeln. Werden beide Momente zur Einheit gesetzt, wie dies im überkommenen Symbolbegriff geschieht, so tilgt sich dieses Spannungsmoment zur Seite des Geistigen hin. Insofern ist auch das Plädoyer mancher Position der ästhetischen Moderne für die Allegorie zu verstehen. Wird jedoch, wie im Geschmack, der Prius auf das Sinnlich gelegt, so gerät das Kunstwerk gleichsam in einen kulinarischen Zustand: es wird geschlürft, aufgesogen, man hört Begriffe wie „Verzauberung“, es verzückt sich und was es dergleichen sonst noch gibt. Was einmal als Glück im Kunstwerk gedacht war, als Erfüllung sich konzipierte, gerät zum Surrogat.

Nun ist dieses Moment des Sinnlichen aus dem Kunstwerk allerdings nicht vollständig zu eskamotieren, darauf weist auch Adorno hin. Doch liegt aus der bereits genannten Entwicklung der Gesellschaft auf diesen Momenten nicht mehr die Priorität. Geschmack ist keine Kategorie mehr, die im Rahmen bürgerlicher Subjektwerdung und Emanzipation seinen Ort hat. Ein Zeitalter der Salons existiert nicht mehr. Die Gegenwart ist das der Vernissagen und der launigen Sektempfänge. Entscheidend ist vielmehr eine philosophisch-ästhetische Lektüre des Kunstwerkes, um sowohl dem Moment des Sinnlichen als auch dem des Geistigen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen:

„Und ein Kunstwerk verstehen heißt unter diesem Aspekt eigentlich gar nichts anderes, als der Konstellation oder der Dialektik innewerden, in der diese Momente zueinander stehen, also zu verstehen, in welcher Weise das Sinnliche das Geistige ist und in welcher Weise das Geistige sinnlich ist, die beiden Momente also immer auseinanderzuhalten und immer doch zugleich zusammenzudenken. Wer nur die sinnliche Seite des Kunstwerks wahrzunehmen vermag, der befindet sich im Grunde in einem vorästhetischen oder (…) in einem kulinarischen Zustand.“ (S. 166)

Was im Genuß und bei der lediglich geschmäcklerischen Rezeption fehlt, so Adorno, ist die Kraft zur ästhetischen Distanz. Das Werk wird einverleibend auf das Subjekt bezogen und gerät zur kommensurablen Größe. Gleiches erkennt nur Gleiches.

Gerade weil es einem emphatischen, philosophischen Denken bzw. einer Ästhetik, die nicht bloß positivistisch registrieren will, was im Kunstwerk der Fall ist, darum geht, von einem Subjekt abzusehen, das sozial deformiert ist, kann der Weg – anders als bei Menke – nur vom Subjekt fortführen, und zwar hinein ins autonome Kunstwerk selbst. Die kulinarische Einstellung, die sich nicht nur im Geschmack, sondern zugleich auch in der genießende Haltung zeigt, die Adorno insbesondere in seiner 12 Vorlesung kritisiert, verfehlt das Kunstwerk, weil sie von dem absieht, was im Kunstwerk eigentlich vorliegt. (Hierzu kann verdichtend das Zitat aus der letzten Sektion gelesen werden.)

Wesentlich ist für Adorno hierbei, daß das Kunstwerk aus seinem Funktionszusammenhang herausgebrochen werden muß. Erst an dieser Stelle, wo es keinen Zweck erfüllt, es gleichsam als ein An-sich-Seiendes auftritt, bedeutet ein Kunstwerk überhaupt etwas.

„Nur durch dieses An-sich-Sein, nur durch diese Konstitution seiner objektiven Gesetzmäßigkeit hindurch vermag es dann überhaupt jene Leistungen des Beglückenden zu erfüllen, die das arglose Bewußtsein nun einmal unmittelbar von dem Kunstwerk hic et nunc in jedem Augenblick erwartet.“ (S. 191)

Gewissermaßen, so könnte man auf den ersten Blick meinen, vertritt Adorno hier eine Ontologie des ästhetischen Objekts. Der Vorrang des Objekts, wie er ihn in der Negativen Dialektik auf der erkenntnistheoretischen Ebene als erkenntniskritisches Motiv entfaltet, gilt genauso im Ästhetischen. Daß es sich bei Adorno jedoch nicht um eine schlichte Ontologisierung des Kunstwerkes handelt, zeigt sich daran, daß dieser Vorrang des Objekts wesentlich dazu dient, ein Modell emphatisch verstandener Erfahrung zu eröffnen. Im Modus genießend-geschmäcklerischen Unmittelbarkeit verfehlt das Subjekt sowohl Kunstwerk als auch sich selbst. Gleichzeit muß aber Vorsicht walten beim Herstellen von Positivität – indem man Adorno in Handlungsanweisungen überführt, wie zu leben oder zu denken sei. Es bleiben solche Modelle inmitten des gesellschaftlich Falschen gleichsam Flaschenposten, wie Adorno dies in seiner Vorrede zur „Dialektik der Aufklärung“ nennt. Die „Rationalität des Nichtidentischen“ (A. Thyen) ist nur die halbe Wahrheit. Performativ, in einem ästhetisch-philosophischen Modus gilt es im Rahmen der Adornoschen Theorie zwischen der Skylla des rein Mystischen, des bloß Begriffslosen und der Charybdis rationaler Zurichtung des Nichtidentischen, welches die Funktionszusammenhänge füttert, hindurchzusegeln.

Zu fragen bleibt zum Schluß, wie man unter Rekurs auf Adornos Kritische Theorie für eine Ästhetik der Gegenwart den Geschmack überhaupt noch fruchtbar machen kann. Insbesondere im Zusammenspiel von Kunst und Elementen der Populärkultur, das für die Ästhetik der Nachkriegsmoderne bzw. der Postmoderne zentral wird, man denke an Roy Lichtenstein und die Pop-Art bis hin zum Gegenwartstheater, der Videokunst oder der Literatur, gerät diese Frage virulent. Hier erweist Geschmack sich als Interferenzphänomen.

Aber auch im ästhetischen Urteil selbst, in der angemessenen Beurteilung eines Kunstwerkes, sind Kennerschaft sowie Sachverstand, die mit Geschmack verbunden sind, vonnöten – sozusagen eine ästhetische Phronesis.