Diese Überlegungen sind eine Antwort auf einen Kommentar von „Mathepauker“ hier im Blog. Ich stelle sie als eigenständigen Beitrag in den Blog, weil sich in diesem Text einiges über die Philosophie Adornos lernen läßt. Schließlich möchte auch dieser Blog – zumindest von Zeit zu Zeit – seinem Bildungsauftrag nachkommen. Wieweit ist die Kritische Theorie Adornos vom Text Marx‘ geprägt?
Überschreiben wir diesen Beitrag zunächst einmal so: „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin“ (Karl Marx in: MEW 37) Damit haben wir zunächst einiges über die Engführung der Begriffe Marxismus/Marxist hin zu Karl Marx gesichtet. Und so können wir dann und in diesem Kontext schreiben: sicher ist, daß Adorno kein Marxist ist. Ansonsten geriete die Formulierung Adorno sei kein Marxist, sondern Linksweberianer schief. Es ist nicht der Arbeitermarxismus oder der Herz-Jesu-Marxismus evangelischer Akademien, der Adorno umtrieb und auf den der Text von Marx gerne heruntergebrochen wird.
Daß sich die Kritische Theorie von Marx her nicht sinnvoll rekonstruieren ließe, ist schlichtweg falsch. Die Bestimmungen zum Fetischcharakter der Ware sowie die Tendenz der Verdinglichung, die bis ins Bewußtsein hineinragt, bilden immer noch den Bestandteil Kritischer Theorie. Allerdings produziert Adorno keinen Marxismus und keinen (Vulgär-)Materialismus, der Phänomene des Überbaus schlicht auf die Produktionsbedingungen zurückführt. Richtig ist es allerdings, daß wir bei Adorno – anders als bei der Philosophie Hegels oder Kants – keine direkte Auseinandersetzung mit dem Text von Marx finden. Dieser Umstand mag auf den ersten Blick befremden. Was freilich nicht bedeutet, daß die Kritische Theorie Adornos sich von Marx‘ Kritik der Politischen Ökonomie verabschiedet hätte. Ganze Passagen der „Dialektik der Aufklärung“ sind davon getragen und Adornos Überlegungen zum Begriff eingreifender, gesellschaftsverändernder Praxis sind eine implizite Weiterführung Marxscher Begrifflichkeit. Adorno Text von Marx zu „befreien“ und ihn der Metaphysik zuzuschlagen, bedeutet schlicht eine Entschärfung der Kritischen Theorie. Nicht anders als Habermas es mit Adorno tat, indem er den Gehalt Kritischer Theorie in Kommunikation und kommunikative Rationalität überführte. „Um sich vom Ideologieverdacht zu reinigen, ist es neuerdings gelegener, Marx einen Metaphysiker zu nennen, als den Klassenfeind.“ (Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Einleitung) Dies trifft ebenfalls auf eine bestimmte (entschärfende) Adorno-Lektüre zu, die Adorno von Marx zu reinigen beabsichtigt.
In Adornos akademischer Antrittsvorlesung von 1931 „Die Aktualität der Philosophie“ heißt es:
„Wenn Marx den Philosophen vorwarf, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert, und ihnen entgegenhielt, es käme darauf an, sie zu verändern, so ist der Satz nicht bloß aus der politischen Praxis, sondern ebensowohl aus der philosophischen Theorie legitimiert. In der Vernichtung der Frage bewährt sich erst die Echtheit philosophischer Deutung und reines Denken vermag sie von sich aus nicht zu vollziehen: darum zwingt sie die Praxis herbei. Es ist überflüssig, eine Auffassung vom Pragmatismus ausdrücklich zu sondern, in welcher Theorie und Praxis derart sich verschränken wie in der dialektischen. (GS 1, S. 338-339)
Nun hat sich freilich in dieser Zeit zwischen 1931 und 1945 einiges geändert: Die Weimarer Republik geriet mithilfe einer entstellen Sozialdemokratie endgültig in die Geiselhaft reaktionärer Kreise, die Arbeiterklasse dankte dank Stalin ab und verschwand wie eine Träne im Ozean, Hitler kam, Stalin säuberte, ein totalitärer US-Kapitalismus verkaufte Kultur als Ware. Diese Parameter bestimmten fortan auch die Kritische Theorie der Gesellschaft. Den Hitler-Schergen entronnen, blieb nicht viel Spielraum für Hoffnungen auf die Arbeiterklasse. Wenn sie nicht in den Lagern deportierte wurde oder mitmachte, sah sie Filme aus Hollywood oder inhalierte vorfabrizierte Musik. Nicht anders als die bürgerliche Klasse, die sich anschickte im nivellierten Mittelstand zu verschwinden. Grob gesprochen.
Daß Adorno nicht der Arbeiterklasse entstammt, dürfte kein Geheimnis sein. Adorno generell Empathie für Arbeiter abzusprechen, läuft der Philosophie Adornos entgegen. Es käme ihm kaum in den Sinn, einzelne Individuen oder Gruppen pauschal zu verurteilen. Was er in seinen Texten jedoch freilegt, sind Mechanismen der Subjekt- und Bewußtseinszurichtung sowie – auch an Weber orientiert – Formen der Rationalität. In dieser Weise der Analyse und der Kritik folgte ihm Foucault später nach. Allerdings hegte Adorno, anders als mancher Linke in der BRD, keinerlei Illusion, daß dem Arbeiter als Klasse irgend eine revolutionäre, gesellschaftsverändernde Funktion zukäme. Im Bewußtseinsstand hatte der Arbeiter dem Kapitalisten nichts mehr voraus. Und auch hinsichtlich der Studentenproteste verstand Adorno seine eigene Theorie nicht als Handlungsanweisung für einen alleinseligmachenden Weg.
Richtig ist es, daß Adorno an Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes festhält. Allerdings aus einem materialistischen Motiv heraus: In der Leiderfahrung sowie ihrer Anamnesis in Philosophie und Kunst verschwistern sich Materialismus und Metaphysik. Die verschiedenen Stränge der Adornoschen Philosophie lassen sich nicht in einem einzigen Aspekt zusammenfassen, so daß man sagen könnte: Adorno sei nun dies oder das, ihm ginge es lediglich um die Rehabilitierung einer Metaphysik, wobei damit die Aspekte Marxscher Theorie aussetzten. Er ist so nahe bei Hegel und Nietzsche wie er nahe bei Kant und Marx ist. Dialektische Lektüre läuft darauf hinaus, den einen mit dem anderen gegenzulesen und in ein konstellatives Denken zu bringen. Was die Dialektik betrifft, so borgt Adorno von Hegels Denken. Aber diese Dialektik stellt sich nicht positiv still und kommt zu keinem Abschlußhaften. Das Nichtidentische ist kein Ort, der sich fixieren läßt, sondern es changiert, erzeugt immer wieder neue Modelle und Bilder – kaleidoskopähnlich. Die Nähe zur literarischen Romantik ist hier evident, und damit berührt sich die Adornosche Gesellschaftskritik auch mit der Ästhetik: Das Kunstwerk und ästhetische Erfahrung liefern Bilder und Modelle, aber sie lassen sich im Akt eines zugreifenden hermeneutischen Verstehens nicht stillstellen.
„Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe. Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheit des Kantischen. Ihn diskursiv zu behandeln, wäre Frevel: an ihm läßt leibhaft das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen sich fühlen. Leibhaft, weil es der praktisch gewordene Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz ist, dem die Individuen ausgesetzt sind, auch nachdem Individualität, als geistige Reflexionsform, zu verschwinden sich anschickt. Nur im ungeschminkt materialistischen Motiv überlebt Moral. Der Gang der Geschichte nötigt das zum Materialismus, was traditionell sein unvermittelter Gegensatz war, die Metaphysik.“ (Th. W. Adorno, Negative Dialektik)
Diese Sätze inthronisieren nicht die Metaphysik, sondern sie deuten vielmehr darauf, wie sich inmitten einer Gesellschaft, die nicht mehr auf unmittelbare revolutionäre Befreiung hoffen kann, die Kategorien verschoben haben. Telos Adornoscher Philosophie ist ein Subjekt, das sein Anderes in sich befaßt und auch die leiblichen, die somatischen, die impulshaften Momente in sich aufnimmt. Hierfür steht in vielfältiger Weise Adornos Begriff der Mimesis ein, die sich, um nicht bloßer idiosynkratischer Impuls zu bleiben, mit begrifflichem Denken koppelt. Synthesis des Zerstreuten ohne dieses gleichzumache, so könnte man es formelhaft auf den Punkt bringen, wenn sich denn Philosophie in einzelnen Sätzen erschöpfte. Das aber tut sie nicht.
Adorno liefert theoretische Bestimmungen zur Möglichkeit und zur Unmöglichkeit von Praxis. Es geht ihm dabei nicht um Handlungsmodelle, die zu einer Parole oder zum Pamphlet gerinnen, sondern es überlebt in der Theorie ein Moment von Praxis. Dies aber bedeutet nicht, daß sich Adorno nun im stillen Kämmerlein und als unschuldiger Metaphysiker von der 11. Feuerbachthese des Karl Marx verabschiedet hätte, um der Innerlichkeit zu huldigen. Daß die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert haben und eine Veränderung nun unmöglich sei. Allerdings bleibt Adorno skeptisch gegen allzu einfache Modelle, weil er – darin freilich Webers Modell von Rationalität folgend – eine Vernunft und ein Denken am Werke sieht, das genau diese Emanzipation des Subjekts verhindert. Von diesem Blick her kann man dann wiederrum Adornos Denkmodelle, die er in der „Negativen Dialektik“ entwickelt mit seinen Texten aus den „Minima Moralia“ und der „Dialektik der Aufklärung“ gegenlesen.
Kritische Theorie der Gesellschaft bleibt eine Theorie der Emanzipation und sie ist der Aufklärung geschuldet, darin der Kritik der Politischen Ökonomie verwandt. Die Aufklärung wird innerhalb einer Dialektik der Aufklärung nicht mit der Gegenaufklärung eines Heidegger, eines Carl Schmitt oder eines Leo Strauss bekämpft, sondern dialektisch bei ihrem eigenen Begriff genommen. Dies schließt materialistische und metaphysische Aspekte zusammen.
„Der Prozeß, durch den Metaphysik unaufhaltsam dorthin sich verzog, wogegen sie einmal konzipiert war, hat seinen Fluchtpunkt erreicht. Wie sehr sie in die Fragen des materiellen Daseins schlüpfte, hat Philosophie seit dem jungen Hegel nicht verdrängen können, wofern sie sich nicht an die approbierte Denkerei verkaufte. Kindheit ahnt etwas davon in der Faszination, die von der Zone des Abdeckers, dem Aas, dem widerlich süßen Geruch der Verwesung, den anrüchigen Ausdrücken für jene Zone ausgeht. (…) Wem gelänge, auf das sich zu besinnen, was ihn einmal aus den Worten Luderbach und Schweinstiege ansprang, wäre wohl näher am absoluten Wissen als das Hegelsche Kapitel, das es dem Leser verspricht, um es ihm überlegen zu versagen. Theoretisch zu widerrufen wäre die Integration des physischen Todes in die Kultur, doch nicht dem ontologisch reinen Wesen Tod zuliebe, sondern um dessentwillen, was der Gestank der Kadaver ausdrückt und worüber deren Transfiguration zum Leichnam betrügt. Ein Hotelbesitzer, der Adam hieß, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot, die auf dem Hof aus Löchern herausquollen; nach seinem Bilde hat das Kind sich das des ersten Menschen geschaffen. Daß das vergessen wird; daß man nicht mehr versteht, was man einmal vorm Wagen des Hundefängers empfand, ist der Triumph der Kultur und deren Mißlingen.“ (Negative Dialektik, Meditationen zur Metaphysik)
Dies sind entscheidende Sätze Kritischer Theorie: jener Hotelbesitzer, der Adam hieß, ist eines der Urbilder entstellter Subjektivität. Wer jene Passagen in dieser Adornoschen Diktion liest, dem stellt sich die Frage nach der (unsinnigen) Wahlmöglichkeit „Materialismus oder Metaphysik“ nicht mehr. Als ob das Subjekt in einer Cafeteria sich befände: Marx oder Cola oder Metaphysik? Adornos Text lediglich einer Seite zuzuschlagen, perpetuiert verdinglichtes und undialektisches Denken. Dieser Umstand eben macht nach wie vor die Aktualität Adornos aus: daß sein Text in immer neuen Facetten schimmert und scheint, weil es eine Theorie ist, die sich nicht auf eine Position festnageln läßt. Darin dem Denken Hegels und Marx‘ verwandt.