Da thronen im Regal jene Lebensbücher, die wir nie wieder verlassen können. Einstmals, vor Jahren und Jahrzehnten in sie hineingezogen, springen wir nur unter Schwierigkeiten aus jenen Büchern wieder heraus und kommen als andere Menschen in der Lebenswelt wieder an: jene Welt, die man die normale nennt. In diesen Büchern wohnen wir gleichsam. Sie begleiten uns ein Leben lang. Ich schrieb bereits an dieser Stelle von jenem Text in der „Zeit“ letzten Jahres, wo der Autor Stephan Wackwitz das Projekt „Drei Bücher“ vorstellte, und zwar unter der Überschrift: „Ein Lichtfunke, der in mich fiel. Über Lenin, Norbert Blüm und das Erbe des Kolonialismus – wie drei Bücher meinen Blick auf die verworfene Welt verändert haben“. Ganz so dramatisierend wie in der Überschrift, bei zudem relativ trivialen Titeln, soll es in meinen Beiträgen nicht zugehen, sehr wohl aber interessiere ich mich für jene besonderen Bücher, also in etwa das, was mit Nietzsches Worten (freilich in leichter Abwandlung) als „Verzückungsspitze“ unseres Denkens (und damit auch unseres Handels am Ende) bezeichnet werden kann: also nicht nur die Frage, was wir mit einem Text tun, sondern, was der Text mit uns macht und vielleicht auch, weshalb er dies tut. Die gekonnten Texte sind eh schlauer als ihre Leser – insbesondere, wenn jene Leser noch jung und ungestüm sich gebärden.
Da es im Internet bereits in allem möglichen oder unmöglichen Formen eine Menge an Buchwettbewerben gibt – meist unter der Rubrik „Die 10 wichtigsten Bücher, kein Kommentar nur ein Bild“ – möchte ich den Vorschlag von Wackwitz hier auf AISTHESIS ebenfalls probieren und mir drei Bücher greifen – vielleicht werden es auch vier. Ich bin kein Prinzipienreiter, sondern mache, wie es kommt.
Mit solchen Büchern meine ich nicht jene Prosa, die junge Leser einst fesselten und in die sie sich stürzten und darin dann identifikatorisch versanken, etwa ein Abenteuer-Buch von Karl May, Alistair MacLeans Thriller in den Jungsjahren oder jene Romane, die „ganz nett“ sind oder einfach nur das Herz bewegen, also all die Bücher, die wir einst verschlangen, in deren Geschichten wir hineinglitten und die wir dann irgendwann wieder vergaßen, sondern vielmehr meine ich damit eine Literatur, die uns ein Leben lang begleitet – bis heute. Eine Literatur, die uns bereits beim ersten Lesen in den produktiven Schock versetzte, vielleicht eine Art Starre und ein anderes Denken in uns erzeugte. Prosa, die uns immer wieder aufs neue anspringt. Im guten wie im schlechten. Oder wie es Alban Nikolai Herbst in einem seiner Essays formulierte: „Gute Literatur muß grausam sein“. Wer je Curzio Malapartes Prosa, insbesondere „Die Haut“ und „Kaputt“ gelesen hat oder Celines „Reise ans Ende der Nacht“, aber auch Gides „Falschmünzer“, der weiß, was dieser Satz bedeutet. Man kann dazu auch jenes leider überreizte und deshalb aus dem Gebrauch gefallene Zitat Kafkas von der Axt und dem gefrorenen Meer nehmen. Aber ich denke, dieses Zitat paßt nur bedingt. Ein Buch erst macht die Schockgefrierung. Es taut das Herz nicht auf, sondern es verändert dessen Takt.
Um dabei aber diesem meist nur in Auszügen zitierten Satz Kafkas, den er in einem Brief an Oskar Pollak vom 27. Januar 1904 schrieb, Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, sollte man ihn komplett zitieren. Denn in dieser Form stimmt er, weil er auf jenes besondere Moment solcher besonderen Bücher hinweist:
„Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“
Ja, Malaparte gehört bei mir dazu und war einer dieser Autoren, die ich spät erst entdeckte. Die Freuden am Lesen ist es, daß immer wieder neue Bücher und Autoren auftauchen, die noch nie gelesen wurden und an denen der Geist neu und anders entflammt. Es gibt bis ins hohe Alter Literatur zu entdecken, wo neue Welten sich formen, wo in Sprache ein Szenario sich auftut, das wir bisher noch gar nicht auf dem Schirm hatten. Fritz J. Raddatz schrieb 2008 in den letzten Einträgen seiner legendären und lesenswerten Tagebücher – lesenswert deshalb, weil sie einen Blick auf den Literaturbetrieb der alten BRD wie auch des Nachwendedeutschlands eröffnen – in bezug auf die Bildende Kunst eine Notiz, die den Leser und Entdecker des Neuen melancholisch stimmen kann. Denn auch Schönes vergeht und gerinnt irgendwann für den Profi zur bloßen Routine:
„Ich habe so viele van Goghs, Vermeers, Picassos, Cézannes gesehen: Es BESTIMMT nicht mehr den inneren Wert, den Frieden meines Lebens, das 33. zu sehen. (Oder Brendel, Pollini, Schiff zu hören). Da ist etwas ‚ausgelebt‘, leer gegessen, der Sinn ist ausgeflossen.“
„Aber die geradezu erotische Glückseligkeit, die bildende Kunst für mich immer war: erloschen und tot. Glücksimpotent.
Nun auf zum großen Gala-Abend der SZ für Joachim Kaiser. Ich habe noch gar nicht die Krawatte gebunden – und bin schon enttäuscht.“
Vom Lesen selbst wäre zu schreiben, was da in diesem Akt in uns und mit dem Text und dann auch wieder im Text selbst geschieht, wie da ein strukturiertes Kunstwerk eine Welt öffnet, und auch vom Verlust dieser Emphase ist zu reden, weil da einer wie der Literaturkritiker Raddatz wie eine Kerze von zwei Seiten abbrennt. Darum aber geht es heute nicht, das wäre ein Thema für sich. Vielmehr war da zum Anfang der 1980er Jahre jene schöne blonde Frau mit der lila Latzhose, mit der ich zu Mittelstufe- und Oberschulzeiten gut befreundet war. Ich mochte es, wenn sie sich mit ihren weiten Hippie-T-Shirts tief vorbeugte, weil ihr Neigen einen Blick auf feine Brüste freigab und damit meine Neigung für Schönes beförderte. Selbst weiße Frotteeschlüpfer fand ich damals erotisierend. Jener Neigungswinkel des Daseins, wie ich im Nachklang – postexistenzialistisch verklärend – schreiben möchte, der ebenfalls unseren Blick und unser Begehren lenkt.
Aber auch um diese Blickachse des Schönen soll es nicht gehen, sondern daß diese Frau und ich im selben Deutschkurs einst in der Oberstufe saßen, uns eifrig beteiligten und hin und wieder uns schöne und manchmal auch böse Debatten lieferten. Als es zur Literatur der sogenannten „Klassischen Moderne“ ging (ich war und bin kein Freund solcher Festschreibung von Epochen, aber zum Orientieren hilft es manchmal, wenngleich man sie irgendwann auch wieder hinter sich bringe), ließ nun der Lehrer im Kurs das Lesepensum abstimmen – was ich bereits, obwohl damals noch links, durchaus seltsam fand, denn ich hielt den Geist der meisten Schüler nicht für derart gut ausgebildet, um zu beurteilen, was zu lesen wäre und dachte, mir, daß es in Bildungsdingen falsch ist, vermeintlich demokratisch abstimmen zu lassen.
Zur Wahl standen Hermann Hesse und Franz Kafka, und wie ich bereits im Vorfeld böse ahnte und insbesondere auch von der Hippiefrau so gestimmt, gewann Hesse den Kampf. Es wurde „Mist mit Goldrand“ gelesen. Allerdings konnte der Lehrer es am Ende denn doch nicht übers Herz bringen, keinen Kafka zu machen; oder die Abstimmung diente dem guten Mann einfach dazu, unsere Präferenzen auszuforschen, uns auszuspähen gar in unserem Treiben und Trachten. Oder der Lehrer ließ sich durch meinen vehementen Protest für Kafka und gegen Hesse nachhaltig beeindrucken: daß es nicht sein könne, auf einen Schriftsteller wie Kafka zu verzichten: es wurden also beide Texte gelesen. „Narziß und Goldmund“ sowie „Das Urteil“, samt „Die Verwandlung“.
Eigentlich geschah diese meine Erweckung durch die Kafka-Prosa spät. Ich hatte zwar schon einiges an Autoren der Moderne mit Lust gelesen: Brecht, Schiller, sofern man den noch dazurechnen mag, ein wenig Nietzsche, Sartre, Camus, Boris Vian, Alfred Jarry, Baudelaire, Raymond Queneau, Apollinaire, Aragon, Flaubert, viele viele Franzosen. Doch von diesem seltsamen Autor aus Prag hatte ich vorher noch keinen Text in der Hand gehabt, was eigentümlich war, denn ich las viel. Leider auch viel vom Polit-Kram: Texte zur Atomkraft, so etwa Holger Strohms umfangreiches Standardwerk „Friedlich in die Katastrophe“, las zu F.J. Strauß, zur Nato-Nachrüstung, zur RAF und von Meinhof die Essays, Aufsätze von Marx und mit Engelszungen (gut geklaut vom Biermann) redete ich immer mal wieder auf die Hippie-Frau ein, ebenfalls diese Texte zu lesen, vielleicht sogar ein konkret-Abo zu beziehen. Lauf ins Leere von politisierten Lederjackenmännern. Nein, es war dieser Knabe eher ein Jüngling, kein Mann. Zartverpeilt, hochnäsig.
Aber was faszinierte ihn damals an dieser Prosa von Franz Kafka, als er im Deutschkurs die ersten Zeilen las? Es ist schwierig, nach fast vier Jahrzehnten herauszubekommen, wie diese Empfinden eines jungen Mannes war und was man einmal vor einem solchen Prosatext empfand. Das, was bei Bloch das „Dunkel des gelebten Augenblicks“ heißt, in den hinabzutauchen, um zu sehen, wie es einstmals war, schwierig ist. Eine Erfüllung, die ebenso etwas mit einer Nachträglichkeit zu tun hat. Jetztzeit, die im Vollzug erlosch und die doch nachwirkt – vielleicht auch als Theorie, die das eigene Leben teils strukturierte. Man braucht eine Mémoire involontaire, vielleicht der Geruch jener Hippiefrau und der nach den Zigaretten von damals und dem billigen Wein. Jene Jahre, die für die intellektuelle Biographie prägend waren.
Beim „Urteil“ war es vor allem diese Stringenz der Geschichte, die so harmlos und ganz normal begann, verräterisch fast, mit dem agilen Sohn und diesem seltsam-hilflosen, im Dunklen des Schlafzimmers abgelegten alten Vater im Bett, der am Ende riesenhaft wird. Es waren sicherlich die sprachlichen Bilder und der nüchterne Stil im Erzählen, mit dem Kafka diese Effekte erzielte. Das Ende dieser Erzählung, die im Grunde eine Novelle ist, nämlich eine unerhörte Begebenheit, ist den meisten bekannt:
„Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt, den Schlag, mit dem der Vater hinter ihm aufs Bett stürzte, trug er noch in den Ohren davon. Auf der Treppe, über deren Stufen er wie über eine schiefe Fläche eilte, überrumpelte er seine Bedienerin, die im Begriffe war heraufzugehen, um die Wohnung nach der Nacht aufzuräumen. „Jesus!“ rief sie und verdeckte mit der Schürze das Gesicht, aber er war schon davon. Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang sich über, als der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit schwächer werdenden Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise: „Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt“, und ließ sich hinfallen.
In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“
Die Lakonie dieses Schlusses war es, die mich reizte und ich empfand dabei – in jenen jungen Jahren empfinden und fühlen die Adoleszenten in Dauerschleife, wenngleich ich durchaus vorhatte, diese Emotionen aus der Analyse herauszubekommen und ins Eiskristall zu bringen – eine Art von Vergnügen an diesem Satz. Vielleicht war es jener Kälteton, jenes Schockmoment, das mich faszinierte: wie nämlich eine eigentlich erwartbare Geschichte von einem in der Blüte seiner Jahre stehenden, im Leben gefestigten jungen Mann einen ganz und gar anderen Lauf nimmt und sich Zug um Zug da in der Vita Risse zeigen. Vor allem aber stand dieses Szenario im Kontrast zu der Seichtigkeit und dem, wie ich mich zu erinnern meine und wie es damals empfand, viel zu Lieblichen des „Narziß und Goldmund“. „Gebeißte Stimmungskunst“ wie Adorno solche Werke, in einem anderen Kontext freilich, nannte.
Dieses verstörende und zugleich mit Schönheit oder eher noch mit einem Reiz aufgeladene Moment in der Literatur vermerkte ich insbesondere dann bei jenem Roman, der mich bis heute begeistert und den ich für eines der gelungensten Bücher der Weltliteratur halte: Kafkas „Der Proceß“. Es setzte ob der Konstruktion und dem Gemachtsein dieses Werkes jene Lese-Euphorie ein, daß ich von jenem Kafka gar nicht mehr loskam.
Some of these days: nicht bei Sartres Kastanienwurzel im Park hatte ich diesen Eindruck, sondern bei Kafka schoß etwas ins Innere und zugleich entzog sich mir sein Text, nicht bei Camusʼ herrlich flirrendem Licht des Mittelmeers und dem Spiel zwischen solitaire und solidaire, nicht bei Vians und Queneaus bösem, gutem, lustbetonten Witz, den man heute wohl von #MeToo-Darstellern und den „säkularen Calvinisten“ des Literaturbetriebs in die Versenkung zensieren würde.
Diese Fluchtszene im „Urteil“, dieses plötzliche Aufbäumen des Vaters im Bett, wie er da fast an die Decke stieß, ebenso das Verhältnis zur Weiblichkeit in dieser Prosa. Vielleicht hing diese Intensität mit der Bildlichkeit der Erzählung zusammen, vielleicht mit meinem Faible für Photographie. Daß da eine Prosa Bilder wie in einem Stummfilm reihte und zugleich nicht ein Stück sentimental oder schwelgerisch-schwülstig auftrat. Kein Engagement, kein Pathos. Die Prosa Kafkas bereitete mich – anders als bei Sartre und den schlechteren Stücken von Brecht – auf eine Literatur vor, die realistisch war, ohne es aber im Gang des Erzählens und von der Handlung her doch zu sein; eine Literatur, die kein politisches oder soziales Engagement und keine unmittelbare Kritik zeigte, selbst die Daseinsmetaphern, wie man sie dann im „Proceß“ findet, sind kunstvoll gesetzt und wirken weder aufdringlich noch oktroyiert.
Kafkas Schreibszenen. Diesen Distanz-Erotiker gilt es ins Bild zu setzen, was ich dann im zweiten Teil meines Kafka-Textes tun möchte. (Es sollte dies eigentlich in einem Teil alles geschrieben werden. Doch ich kann mich – leider, ich bedauere es zutiefst – nie kurz fassen und schweife in mögliche, wirkliche und unmögliche Welten ab und es treibt mich mein „Ideengewimmel“ bunt herum.)
Wir verfallen, so dachte ich mir beim Lesen von Kafka – allerdings kam mir dieser Gedanke erst Jahrzehnte später in der Erinnerungsreflexion – nicht dem Zauber des Venusberges, wie wir etwa seinerzeit gerne einen Blick auf Frauen in lila Latzhosen warfen, sondern ich las damals jenen Abwehrtext, nahm ihn vielleicht als eine apotropäische Kraft: jenen Autor, der eine ungeheure Literatur schuf, und zwar eine solche, die ein unendlicher Kommentar ist und diesen unendlichen Kommentar als unendliche Deutung zugleich nach sich zieht, frei nach der Wahrheit jenes herrlichen Domgeistlichen im „Proceß“: „Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.“ Und diese Vielschichtigkeit und Offenheit des Textes eben erfordert diesen Strom an Deutungen und Geschichten, die sich an Geschichten anschließen. Und zugleich den Blick dafür, daß da eine Prosa ist, die all dies bewirkte und die Anlaß war. Anlaß auch und Beginn einer dialektischen Hermeneutik, einer dekonstruktiven Dialektik, die viel mit dem eigenen Leben zu tun hat. Franz Kafka war für dieses Denken wesentlich.
