Zum Karfreitag

„Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot (dasjenige, was gleichsam nur empirisch ausgesprochen war mit Pascals Ausdrücken: »la nature est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et hors de l’homme«) -, rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein – weil das Heitere, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien sowie der Naturreligionen verschwinden muß – die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß.“ (G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche)

Kreuzigung Christi, um 1494/95, Werkstatt Michael Wolgemut
Nürnberg St. Lorenz

(In Nürnberg wirkte Hegel, nachdem er in Jena bzw. Bamberg 1807 seine „Phänomenologie des Geistes“ vollendete und diese als Buch erschein, von 1808 bis 1818 als Rektor des Egidiengymnasiums. Er unterrichtete Philosophie, Germanistik, Griechisch und höhere Mathematik. Seine Unterrichtsmethoden waren für seine Zeit mehr als modern.)

Karfreitag und „Marias Testament“

Erinnerungen können täuschen, ich bin nicht sicher, ob ich dieses El-Greco-Bild damals im Frühjahr 1989 im Prado in Madrid wirklich gesehen habe oder ob es dort gar nicht hing: „Die Entkleidung Christi“. Vor allem an das flammende Rot erinnere ich mich genau, aber dieses El-Greco-Rot eines Gewandes, das mich damals mit Mitte zwanzig beim Prado-Besuch so in den Bann zog, war doch ein anderes Bild. Freilich ein ähnliches Rot. Nach meiner Recherche hängt das Christi-Bild in der Alten Pinakothek in München. In Erinnerung bleibt dieses Rot, bleibt ein Spaziergang durch den Prado, eine Woche vor Ostern, die dort in Spanien zelebrierten Semana Santa, und es bleibt in Erinnerung, daß ich noch nie ein Museum mit derart herrlichen Bildern gesehen habe: Roger van der Weydens berühmte Kreuzabnahme und seine Pietá. Die Trauer der Mutter, die ihren toten Sohn in die Arme schließt: sie zeigt sich fast unscheinbar in den Augen, im Mundwinkel: Keine große Mimik, sondern in einfachen Zügen gemalt. Zart fast und gerade dadurch so innig und traurig.

Eine ganz andere Geschichte der Maria bietet Colm Tóibíns Erzählung „Marias Testament“ [Rezension zum Buch an dieser Stelle] – das Buch wird zwar als Roman betitelt, besitzt für mich jedoch eher den Charakter einer Erzählung. Darin geht es um eine Maria, die die revolutionären Absichten ihres Sohnes keineswegs teilt. Es ist das persönliche Testament einer Frau, die ihren Sohn verlor. Geflohen und in Ephesos lebend. Und da tauchen plötzlich zwei Jünger auf, wollen Maria befragen und jenen toten Sohn in einen Schmerzensmann, in einen Mythos umwandelt. Stiftung einer Religion, Stiftung des Besseren. „Wenn ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war,“ so Maria.

Eindringlich auch die Angst einer Mutter:

„Ich habe geträumt, ich sei dort. Ich habe geträumt, dass ich meinen zerschlagenen Sohn in den Armen hielt. Als er ganz blutig war, und dann wieder, als er gewaschen war, dass ich ihn wiederhatte, dass ich sein Fleisch berührte und meine Hände an sein Gesicht legte, das jetzt, wo sein Leiden vorbei war, eine hagere Schönheit gewonnen hatte.“

Der Glaube, die Verklärung und der Sinn für Höheres mag für alle anderen eine wichtige Sache sein. Für den aber, dem das Opfer alles nahm, bleibt die krude Empirie und das Tödlichfaktische zurück, der Tod, der Leichnam, der leblose Körper  – auch wenn Hegel diesen Rekurs aufs bloße Faktische in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte in die Kritik nimmt: wenn nämlich die Kreuzfahrer das Heilige Grab suchen und es leer finden:

„Endlich haben mit vieler Mühe und ungeheurem Verluste geordnetere Heere ihren Zweck erreicht: sie sehen sich im Besitz aller berühmten heiligen Orte, Bethlehems, Gethsemanes, Golgathas, ja des Heiligen Grabes. In der ganzen Begebenheit, in allen Handlungen der Christen erschien dieser ungeheure Kontrast, der überhaupt vorhanden war, daß von den größten Ausschweifungen und Gewalttätigkeiten das Christenheer wieder zur höchsten Zerknirschung und Niederwerfung überging. Noch triefend vom Blute der gemordeten Einwohnerschaft Jerusalems fielen die Christen am Grabe des Erlösers auf ihr Angesicht und richteten inbrünstige Gebete an ihn.“

Und warum dieses Unternehmen schiefgehen muß: dazu wird am Sonntag hier die entsprechende Ergänzung durch Hegel geliefert.

Die liturgische Farbe des heutigen Tages ist schwarz. Es ist der höchste Feiertag der katholischen Kirche. Damals, in jener anderen Zeit regten sich viele Menschen über das sogenannte Tanzverbot auf. Ich hielt dies immer für eine gute Sache, obwohl keiner Konfession zugehörig: an was sollte der Teufel auch glauben? Eine gewisse Faszination bot ihm Dostojewskis kleine Erzählung vom Großinquisitor in den „Brüdern Karamasow“: eine Parabel auf die Kirche, erzählt wie eine biblische Geschichte aus dem Neuen Testament, gleichsam dessen geheime Ergänzung, geschrieben im Auftrag der Kirche. Das hat was. Aber ich schweife in eine andere Richtung. Das Tanzverbot hielt und halte ich deshalb  für eine gute Sache, weil es, wenn auch unter Zwang, einmal im Jahr so etwas wie eine Besinnung einfordert. Ein Anhalten, ein Innehalten, so etwas wie Ruhe, auch wenn diese Ruhe von den meisten vermutlich nicht so genutzt wird, wie man es wollte. In einer Welt im Westen, in der für die meisten Menschen so gut wie alles verfügbar ist, einen einzigen Tag der Ruhe einzulegen. Zwischen Sonntagsshoping, Dauerrave, Dauererregung. Aber auch dagegen gibt es inszenierte Mittel: ein ganzer Markt der Achtsamkeitsindustrie bedient die Satten. Wer durchgeravt hat, nimmt ein Aloe vera-Duschbad. „Wir werden immer so weiterleben.“ Was Rainald Goetz affirmativ und als eine Art fröhlichen Positivismus der Partylaune meinte, ist am Ende traurige Universalie. Aber der Protestant sieht das anders: „Dont‘ cry – work!“ (R. Goetz, Irre)

Zum Ostersonntag

Zwar gibt es zum Ostersonntag noch kein Mailicht, wie es unten in dem schönen Gedicht von Hölderlin genannt wird und wie es eher zu Pfingsten leuchtet, aber doch ein anderes Licht schon herrscht als noch in den späten Wintertagen. Vor allem aber eine andere Zeit wird dort ausgerufen. Passend zum Ostersonntag und wie es zum Ostern-Sonntag heißt: Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Das Grab ist leer:

„Am ersten Tag der Woche gingen die Frauen mit den wohlriechenden Salben, die sie zubereitet hatten, in aller Frühe zum Grab. Da sahen sie, daß der Stein vom Grab weggewälzt war;  sie gingen hinein, aber den Leichnam Jesu, des Herrn, fanden sie nicht.  Und es geschah, während sie darüber ratlos waren, siehe, da traten zwei Männer in leuchtenden Gewändern zu ihnen.  Die Frauen erschraken und blickten zu Boden. Die Männer aber sagten zu ihnen: Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?  Er ist nicht hier, sondern er ist auferstanden.“ (Lukas 24, 1-6)

Jenes Heilige, jenes Wunder zeigt sich durch die Abwesenheit. Hier nicht die des Gottes, sondern der physischen Abwesenheit des Leichnams, des Leibes und seine Auferstehung. Solche Transzendenz kann Befreiung bedeuten.

Bei Hölderlin ist es in seinem „Gang aufs Land“ jene Neckarlandschaft, die dann in anderen Gedichten mit der Landschaft Hellas sich vermischt und die ins Offene uns führt – ohne Pudel freilich. Man kann dieses Gedicht auch als eine Art Osterspaziergang lesen und ebenso als eine Weise der Transzendenz, der Transgressions, des Überschreitens eben: Gedichtet auf einen Augenblick, einen Kairos vielleicht.

Der Gang aufs Land

An Landauer

Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.
Dennoch gelinget der Wunsch, Rechtglaubige zweifeln an Einer
Stunde nicht und der Lust bleibe geweihet der Tag.
Denn nicht wenig erfreut, was wir vom Himmel gewonnen,
Wenn ers weigert und doch gönnet den Kindern zuletzt.
Nur daß solcher Reden und auch der Schritt‘ und der Mühe
Wert der Gewinn und ganz wahr das Ergötzliche sei.
Darum hoff ich sogar, es werde, wenn das Gewünschte
Wir beginnen und erst unsere Zunge gelöst,
Und gefunden das Wort, und aufgegangen das Herz ist,
Und von trunkener Stirn höher Besinnen entspringt,
Mit der unsern zugleich des Himmels Blüte beginnen,
Und dem offenen Blick offen der Leuchtende sein.

Denn nicht Mächtiges ists, zum Leben aber gehört es,
Was wir wollen, und scheint schicklich und freudig zugleich.
Aber kommen doch auch der segenbringenden Schwalben
Immer einige noch, ehe der Sommer, ins Land.
Nämlich droben zu weihn bei guter Rede den Boden,
Wo den Gästen das Haus baut der verständige Wirt;
Daß sie kosten und schaun das Schönste, die Fülle des Landes,
Daß, wie das Herz es wünscht, offen, dem Geiste gemäß
Mahl und Tanz und Gesang und Stuttgarts Freude gekrönt sei,
Deshalb wollen wir heut wünschend den Hügel hinauf.
Mög ein Besseres noch das menschenfreundliche Mailicht
Drüber sprechen, von selbst bildsamen Gästen erklärt,
Oder, wie sonst, wenns andern gefällt, denn alt ist die Sitte,
Und es schauen so oft lächelnd die Götter auf uns,
Möge der Zimmermann vom Gipfel des Daches den Spruch tun,
Wir, so gut es gelang, haben das Unsre getan.

Aber schön ist der Ort, wenn in Feiertagen des Frühlings
Aufgegangen das Tal, wenn mit dem Neckar herab
Weiden grünend und Wald und all die grünenden Bäume
Zahllos, blühend weiß, wallen in wiegender Luft,
Aber mit Wölkchen bedeckt an Bergen herunter der Weinstock
Dämmert und wächst und erwarmt unter dem sonnigen Duft.

Jener 9. November 1989 – Jahrestage

Man könnte diesen Tag mit dem bekannten Gedicht Thomas Braschs vom „schönen 27. September“ einleiten – es erschien 1980, als Brasch bereits vier Jahre im Westen lebte:

Der schöne 27. September

Ich habe keine Zeitung gelesen.
Ich habe keiner Frau nachgesehn.
Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.
Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht.
Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.
Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen
und mit keinem über neue Zeiten.
Ich habe nicht über mich nachgedacht.
Ich habe keine Zeile geschrieben.
Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.

Es ist in seiner Alltäglichkeit und als Moment des Rückzugs aus jenem Alltag ein schönes, ein ruhiges, ja auch ein kontemplatives Gedicht und manchmal liefert solche Dichtung eine Art Korrektiv gegen das Überschießende wie auch gegen das Politische. Es läßt im Trubel der Zeiten einen Schritt zurücktreten. Für solchen Abstand in der (dichterischen) Reflexion kann ein solcher datierter Tag zu einem Ritual werden. Wurde es auch und war es, nämlich für Christa Wolfs Buch „Ein Tag im Jahr“. Wolf folgte im Jahr 1960 einem Aufruf der Moskauer Zeitung „Iswestija“, den 27. September zu schildern und ihn zu beschreiben, und sie setzte das bis ins Jahr 2000 als Tagebuch fort und hielt fest, was an diesem Datum geschah. Eine zwar unter schlechtem Zeichen sich inszenierende, aber zugleich doch gelungene Idee, die auf Maxim Gorki zurückgeht, der im Jahr des Stalin-Terrors 1936 und kurz vor den großen Säuberungen diesen Schreib-Tag zum Lobe des Sozialismus ins Leben rief. Unfaßbar naiv und im Grunde unverzeihlich. Und gerade unter diesem Gesichtspunkt des schreibenden und engagierten Arbeiters bekommt die Lakonie des Brasch-Gedichtes besondere Bedeutung, und so fängt Brasch die Dialektik des Datums in einer Lyrik ein, die ins Oblomowsche Nichtstun in eine Art von Verweigerung geht. Eine Art Gegen-Sozialismus zum hohen Propaganda-Ton. [Wer zur Ästhetik und ebenso zur Politik des Datums als Einschnitt und Beschneidung einen Text lesen will, der greife zu Jacques Derridas „Schibboleth“.]

Solche Daten können privat sein und sie ragen zugleich übers Private hinaus. In ihnen bündelt und pointiert sich Geschichte und ebenso privates Erleben. Fast jeder weiß, was er am 11. September tat. Dieser neunte November ist für die Deutschen solch ein Gedenktag. Kein Geschichtszeichen zwar – ausgenommen vielleicht der 9. November 1989 – aber doch vielfältig determiniert. Es müßte dieser Tag wegen dieser hohen, fast überdeterminierten Symbolik der zentrale Feiertag der Deutschen sein. Ein Datum, in dem sich unterschiedliche Ereignisse kreuzen und treffen und die miteinander in einem Bezug stehen oder zumindest geschichtlich korrespondieren und eine Linie bilden.

Am 9. November 1848 die standrechtliche Hinrichtung von Robert Blum in Wien, am 9. November 1918 im Deutschen Reich die Absetzung des deutschen Kriegskaisers und die Proklamation der Republik: eine deutsche Revolution, aber mit fatalem Ausgang, denn man vergaß, die Generäle Ludendorff und Hindenburg vor ein Gericht zu stellen, und man hätte sie vorher zwingen müssen, eigenhändig den Friedensvertrag zu unterschreiben. Am 9. November 1923 der Hitler-Ludendorff-Putsch in München und am 9. November1938 die Pogrome und der systematische Angriff auf Juden und ihre Synagogen. Damit war, fürs Volk gut sichtbar, jene Szenerie eingeläutet, auf die das Dritte Reich zulief: die Endlösung der Judenfrage. Das Ende des Zweiten Weltkrieges machte diesem Grauen ein Ende und brachte ein anderes Europa – ein in Ost und West geteiltes. Eines, das wohl hundert Jahre und mehr noch dauern mochte, so nahmen die meisten bis weit ins Jahr 1989 hinein an. Aus dieser politischen Konstellation gingen die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR, hervor – von der Springer-Presse bis in die 1980er Jahre noch in Anführungszeichen geschrieben.

Die Solidarität der West-Linken mit der DDR-Opposition war mäßig bis gleichgültig. Das einige Deutschland stand kaum auf der Agenda, denn auch nach über 40 Jahren noch galt es, die unendliche Schuld abzutragen, für die die Teilung der Preis war, inzwischen aber in den Schleifen der Gewöhnung eine abstrakte Schuld, die tatsächliches Gedenken aufs Ritual zurückbrach – wie Martin Walser das nicht zu unrecht in seiner Friedenspreisrede 1998 feststellte. Kranzabwurfstellen eben, die da wohlfeil eingerichtet wurden – wobei die symbolische Dimension solcher Akte nicht zu unterschlagen ist.

Floskeln, Phrasen und Parolen vielfach auch von links: „Hoch und nieder, vorwärts, nie wieder!“, wie 1997 in leicht-melancholischem Ton der Sammelband zu vierzig Jahre „konkret“ titelte. Nicht schlecht eigentlich und die Hoffnungen und die Kämpfe der Jahre nicht in einen Satz, sondern vielmehr in Begriffe gegossen, gemeißelt, wissend, daß jene linken Jahre vorüber sind und zugleich das bloß noch Symbolisches rezitierend. Nicht daß mir diese Position einer Deutschland-Kritik damals fern stand, ich will mich hinterher nicht widerständischer machen als ich war. Im Rückblick aber und selbst als Zeuge der Zeit hätte einem das Falsche daran aufgehen können. Daß zwei Staaten mit einer ähnlichen Kultur, der gleichen Geschichte und derselben Sprache in dieser Weise geteilt waren, erschien auch mir nicht als der normale Weg. Da stand einerseits eine widerständische Linke, die viel auf Protest und bei der DDR die Schnauze hielt – wenn man von den Grünen und einigen wenigen Ausnahmen absieht – und da stand andererseits ein festgefügter Block des kapitalistischen Lebens, der zugleich aber auch ein Rechtsstaat war.

Mir ging seit Mitte der 1980er jedoch jene Gesinnungs-Linke zunehmend am Arsch vorbei. Der Solidaritäts-Kaffee aus Nicaragua schmeckte nach Scheiße, also trank ich ihn nicht. Jacobs- und Tschibo-Kaffee waren Wirtschafts-Betrug und beruhten, so steht zu vermuten, auf der Ausbeutung der Arbeiter in den Plantagen, aber sie schmeckten wenigstens halbwegs und erweckte nicht den Eindruck, daß da zugleich neben den Bohnen der Marke „Schlechte Solidaritätsernte“ gemahlene Eicheln und deutsche Bucheckern mitverarbeitet wurden. Dennoch kam mir, 1989, als inzwischen lange schon ins Ästhetische, in die Kunst und als Praxis in die Photographie abgewanderter Zaungast von Politik diese deutsch-deutsche Grenze widersinnig vor und sie kam mir auch schon 1982, als ich im Schwarzen Block in Hamburg als Fußvolk mitlief, falsch vor – vielleicht auch, weil ich früh schon, mit 14 Jahren die Biermann-Gedichte las und seine Lieder hörte: die von der kaputten DDR, von der Hoffnung auf ein besseres Land, nicht auf bessere Zeiten zu warten, sondern zu mache, zu protestieren, und irgendwann war klar, daß die Greise bleiben, und wie Attinghausen schon in Schillers „Tell“ deklamierte: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.“

Wenn man von der Lebensqualität und den Möglichkeiten eines guten Lebens, die die Bundesrepublik immerhin bot, einmal absieht: Das Spektrum an politischen Überzeugungen in der BRD war deutlich breiter als in der rigiden DDR, wo Witze nicht nach dem Lacheffekt gemessen wurden, sondern wie viele Jahre Knast sie einbrachten. Die Höhe der Haft war auch insofern ein nicht nur qualitatives Maß für die DDR, sondern ebenso quantitativ ein wohlfeiler Tauschwert im guten marxschen Sinne, weil die Haftdauer den Preis des politischen Gefangenen im Freikauf durch die BRD bestimmte. Wenn sie auch sonst nichts von Marx begriffen: das Prinzip des Kapitalismus, wie man eine Ware teuer verkauft, verstanden sie und auch die in diese Ware Mensch investierte Arbeit durch Befragung, Folter, Schlafentzug und Sonderbehandlung sollte sich in der Höhe des Preises auszahlen. Den Mehrwert fuhren dann immerhin die Arbeiter und die Funktionäre ein. Wer sich ein Bild von dieser Art der DDR machen will, besuche in Torgau die Ausstellung zu den Jugendwerkhöfen oder die Gedenkstätte Hohenschönhausen, mithin den Stasi-Knast.

Und in den 1980er dann wußte noch der Doofste: es wird nichts sein und es wird nichts mit dieser Art des Sozialismus, der ein Volk einsperren muß, Endspiel, Warten auf Godot, das letzte Band und der letzte machtʼs Licht aus. Ökonomisch nicht mehr zu stemmen. Es gab keine Alternative, auch der Kapitalismus war es nicht. Kein Ort, nirgends, las ich damals von Christa Wolf. Das traf die Stimmung. Und dennoch verstand ich diese Menschen, die da heraus wollten oder die ein anderes Deutschland sich wünschten, ein ganz anderes sogar, oder wenn es auch nur darum ging, ein besseres Auto zu kaufen. Idiotische Wünsche vielleicht, auf äußere Bedürfnisse zu schielen. Die Frage des Gebrauchswertes, selbst dort, wo er ein versteckter Tauschwert und Symbolisierung samt Habitus bedeutet, ist nicht gering zu veranschlagen.

Solidarität in gemeinsamen Kämpfen auszubilden, ist schwierig. In Wackersdorf, in Gorleben sowie im Elsaß, im Kaiserstuhl und im Badischen im Kampf gegen Whyl, Fessenheim, Marckolsheim – schöne deutsche Ortsnamen, davon zwei in Frankreich lagen – gelang ein Bündnis ganz unterschiedlicher Kräfte gegen eine Macht. In der DDR geschah dies langsam, aber stetig. Immer schon gab es jene Dissidentenszene – im Westen prominent und bekannt geworden durch Sänger und Dichter wie Wolf Biermann oder den Physiker Robert Havemann.

Was war meine DDR? Eigentlich keine. Sie existierte für mich in Berichten und Erzählungen. Ich besuchte die DDR 1982 für einen Tag, genauer gesagt Ostberlin, ich fand es spannend dort, teils seltsam; und befremdlich, auf diese Weise innerhalb Deutschland zu reisen, schon die Transitstrecke mit dem alten Golf, den ein Freund fuhr, schien mir widersinnig und gegen die Geschichte. Viel Grau da in Ost und beim Blick vom Fernsehturm auf dem Alex und schweifend über die Stadt freute ich mich, als dann über der Stadt, im Drehrestaurant sitzend, die Dämmerung hereinbrach, daß auf Ostseite nicht Neonreklame blitzte, sondern eine Schwärze und Stille sich über die Stadt legte. Man konnte die Nacht sehen. Aber was waren Eindrücke des Beobachters. Mit der Situation und der Politik im Land hatte das alles nichts zu tun.

Wenige nur, wie etwa Teile der Grünen zeigten Solidarität mit der Opposition in der DDR. Die Solidarität galt fernen Völkern, man schweifte lieber in die Ferne. Das war bequem, das war so weit weg, daß niemand im Zweifelsfall Konsequenzen tragen mußte. Man ging auf Nicaragua-Demos, protestierte für ein freies El Salvador, prangerte – zu recht freilich! – die imperiale und aggressive US-Außen- und Wirtschaftspolitik an. Das war gut, das war richtig. Einer mußte es tun. Und wo die Konservativen schwiegen, sprach und protestierte die Linke, und weil die Konservativen zur DDR nicht schwiegen und protestierten, sprach die Linke nicht über die Repressionen dort oder man sprach darüber nur geringfügig. Solidaritätsdemos mit „Schwerter zu Pflugscharten“ und mit der Opposition der DDR gab es keine – allenfalls in kirchlichen Kreise und bei manchen Grünen sah ich damals dieses Logo, der übrigen Linken war es egal oder anderes war Thema. Immerhin aber in der Friedensbewegung der BRD vereinzelt Solidarität und offene Briefe:

„Die in Gefängnissen der DDR sitzenden Aktiven aus der Friedensbewegung haben nichts getan, was wir nicht auch tagtäglich tun … Sie wurden verhaftet, wofür wir von Ihnen gelobt werden.“ (Offener Brief an Erich Honecker, Januar 1984, unterzeichnet von Vertretern der westeuropäischen Friedensbewegung)

In Westberlin gab es 1984 einen von Frauen organisierten Protest am Checkpoint Charlie, die aus Solidarität mit den mutigen Bürgerrechtlerinnen Bärbel Bohley und Ulrike Poppe demonstrierten. Dieser Protest hielt an, bis die inhaftierten Frauen freigelassen werden.

Wesentliches zum Fall der Mauer trugen in der DDR die Kirchen bei, denn sie boten jenen einen Schutzraum, die gegen das System rebellierten. Der Satz Biermanns für die Revolution der Polen galt auch für die DDR: Besser Jesus im Herzen, als Marx im Arsch. Ebenso aber war es der Protest der Straße, samt einer kurzen aufkeimenden Hoffnung, es könnte ein anderes Deutschland geben. Diese Hoffnung war auf einer Illusion gebaut und auch mit demokratischen Mitteln, also durch freie und geheime Wahlen nicht herbeizuführen. Zu tief saß die Wut über alles das, was nur annähernd mit dem Begriff „Sozialismus“ konnotiert war. Dem konnte auch die in der DDR sich wieder etablierende und aus der Zwangskollektivierung sich befreiende Sozialdemokratie nichts entgegensetzen.

In fataler Umkehrung könnte man auch sagen, daß den Feinden einer gerechten und sozialen Gesellschaft nichts Besseres passieren konnte als der real existierende Sozialismus. In den Etagen Macht, in den Zentralen der Großkonzerne mit ihrem Shareholder-Value-Denken dürften schon lange die Sektkorken geknallt haben. Immerhin gab es bis 1989 einen – wenn auch schrecklichen, grausamen, aber in seiner Grausamkeit auch wieder gewünschten Widerpart: den real existierenden Sozialismus, der aber, wie Hermann L. Gremliza es für die BRD formulierte, eine gewisse Mäßigung bewirkte.

„Ich schätzte die Sowjetunion nicht wegen ihrer Nachteile, wie Planwirtschaft, Arbeitsplatzgarantie und festgeschriebener Einkommen, sondern wegen ihrer Vorzüge, wie Atomraketen, Panzerarmeen und riesiger Raketenkreuzer, die das einzige Mittel waren, den überbordenden Kapitalismus im Zaum zu halten und zu zivilisiertem Verhalten zu zwingen, aus reiner Angst“

Fatale Dialektik des Gesellschaftlichen. Im Kampf der Systeme siegte der Westen und mit dem Wegfall der Ostblock-Diktaturen und dem Zusammenbruch des Mutterlandes der Revolution war ein neuer Weg frei. Daß dieser Zusammenbruch einer bis in die Köpfe reichenden Diktatur sein Gutes hatte, steht außer Frage. Der 9. November 1989 brachte vielen Menschen Freiheit und zugleich einen tiefen Einschnitt in der Vita. Die Leerstellen, die entstanden und wo die Jugend, die in diesen Tagen aufwuchs, auf den Trümmern tanzte und in den Ruinen träumte und scheiterte, brachte Clemens Meyer in seinem wunderbaren Debüt- Roman in ein literarisches Bild.

Heiner Müller schreibt am 25. September 1992 in seinem in der „Frankfurter Rundschau“ erschienenen Text „Die Küste der Barbaren“:

„Ein Dokumentarfilm über Skinheads in Halle beginnt mit einer Sequenz, wo ein Junge in Bomberjacke und Springerstiefeln professionell und liebevoll nach dem Kochbuch vor der Kamera und für das Filmteam einen Napfkuchen bäckt. Sein Berufstraum war Bäcker und Konditor, und seine Chance auf eine Lehrstelle liegt im nächsten Jahrhundert. Nach dem Backen geht er uniformiert auf die Straße in der Neubauwüste Halle-Neustadt (der Städtebauer Ulbricht war stolz auf die längsten Langzeilen der Welt in diesem Viertel und in anderen Neubauvierteln, mit denen er, laut Auskunft seiner Witwe an den Architekten Henselmann während einer Mittelmeerrundfahrt mit dem Veteranendampfer VÖLKERFEUNDSCHAFT, dem deutschen Arbeiter das Flanieren beigebracht hat) und verwandelt sich im Kollektiv der anderen Arbeitslosen in ein Monster. In der Wohnung weint seine Mutter, ehemalige Lehrerin mit ehemaligem Glauben an die sozialistische Menschengemeinschaft DDR, jetzt Lohnsklavin für Neckermann irgendwo westlich der Elbe mit fünf Stunden Anfahrtsweg zur Arbeit und zurück, damit der Sohn ‚von der Straße bleibt‘

[…]

[Günter] Maschke sagte mir, aus der DDR-Revolution kann nichts werden, weil keine Leichen die Elbe hinabgeschwommen sind, von Dresden nach Hamburg. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, warum Brecht die Bauernkriege für das größte Unglück der deutschen Geschichte hielt. Sie kamen zur Unzeit, mit ihnen wurde der Reformation gut protestantisch der Reißzahn gezogen. Auch die Gewaltfreiheit der DDR-‚Revolution‘ 1989, gesteuert und gebremst von (protestantischer) Kirche und Staatssicherheit, war ein deutsches Verhängnis. Jetzt steht der Sumpf: die Unsäglichkeit der Stasidebatten, Versuch, die Kolonisierten durch die Suggestion einer Kollektivschuld niederzuhalten. Der versäumte Angriff auf die Intershops mündete in den Kotau vor der Ware. Von der Heldenstadt Leipzig zum Terror von Rostock. Die Narben schrein nach Wunden: das unterdrückte Gewaltpotential, keine Revolution/Emanzipation ohne Gewalt gegen die Unterdrücker, bricht sich Bahn im Angriff auf die Schwächeren: Asylanten und (arme) Ausländer, der Armen gegen die Ärmsten, keinem Immobilienhai, gleich welcher Nation, wird ein Haar gekrümmt. Die Reaktion auf den Wirtschaftskrieg gegen das Wohnrecht ist der Krieg gegen die Wohnungslosen. Eine Fahrt durch Mecklenburg: an jeder Tankstelle die Siegesbanner der Ölkonzerne, in jedem Dorf statt der gewohnten Schreibwaren Mc Paper & Co. Im Meer der Überfremdung ist Deutschsein die letzte Illusion von Identität, die letzte Insel. Aber was ist das: deutsch.“

Diese Frage bleibt bis heute. Sie ist Stachel und Ansporn. Müller schreibt vom grassierenden Haß aufs Fremde nach Rostock-Lichtenhagen. Auch das gehört zur Einheit dazu. So wie sie viele Aspekte hat. Schöne und weniger schöne. Und manchmal muß der Betrachter an solchen Gedenktagen, bei aller Freude über diesen geglückten Tag, daß die Mauer ohne einen Tropfen Blut fiel, dennoch Wasser in den Wein kippen. Die Dialektik der Kritik besteht darin, dieses Wort im etymologischen Sinne und in seiner Bedeutung vom Griechischen her zu lesen: krínein nämlich, was „unterscheiden“ bedeutet. Gute wie auch schlechte Aspekte zu sichten und beides perspektivisch als unterschiedliche Hinsichten einer und derselben Sache zu betrachten. Es gibt am 9. November Gründe zu feiern und es gibt Gründe zur Skepsis. Vielleicht gerät diese Bewegung des Denkens – in einem Rechtsstaat immerhin, wenn auch teils mit Tücken und Lücken, aber auch das ist als Errungenschaft nicht wenig! – zum sich vollbringenden Skeptizismus. Ohne Geschichtstelos, denn Geschichte ist ein offener Prozeß. Und dennoch wäre ohne das eschatologische und versöhnende Motiv alles Pragmatische ein Nichts. Eingedenk dessen, daß es kein richtiges Leben im falschen gibt und daß doch auch jenes Leben eines ist, das in seinem bescheidenen Horizont dennoch zu einem Teil auch ein gelingendes Leben sein kann. Der Fall der Mauer trug, trotz  mancher Tücken und mancher Verwerfungen, dazu bei, eine blutige Diktatur zum Fall zu bringen.

 

[Die beiden Photographien stammen aus dem Jahr 2014, als aus Luftballons symbolisch die Mauer nachgebaut wurde. Diese Ballons stiegen zu der Uhrzeit in den Himmel, als das Günter Schabowski jenen Worte sprach – so zumindest meine ich mich zu erinnern.]

Zeitlos – Dezember

Flieg wohl, mein lieber, geliebter wilder Sturmvogel. Dahin, wo Dein Nest und Dein Ort ist, Dein Glück und Dein Zauberberg, dort, wo Du wohnst und Dein Leben Dich trägt. Deine Behausung, in der ich niemals war und sein kann. Wir lebten einen Traum, ein wunderbarer Wunsch, waren einander Begehren und Lust. Wir waren real, gegenwärtig an den Orten. Das Wasser der Elbe, der Spree, der Saale fließt immer und immer dahin. Denn Bleiben ist nirgends. Wir, auf den Flüssen fahrend, im Sonnenglanz der Saale, das milde Oktoberlicht, die Burg vor uns. Unser letztes Mal. Der Fluß nimmt alles, behält alles im Sinn und in den Bildern der Spiegelung. Im Sommer unter der Brücke des Landwehrkanals, schwirrendes Licht. Das kommt niemals mehr und bleibt nicht, kann nicht bleiben. Du sprangst jedesmal zur Seite, wenn ich Dich photographierte oder es versuchte, zumindest, Dresden, Leipzig, Berlin, Halle, gescheiterte Photographien, zogst die Kapuze ins Gesicht. Nur auf diesem einen Bild, im Sommer auf der Spree, auf dem Schiff, das uns zum Österreicher fuhr, da gelang’s mir. Dein Gesicht, Dein Lächeln, Deine Augen, die Sonnenbrille im Haar. Es waren Augenblicke nur, doch die schönsten. Die Canaletto-Perspektive in Dresden, die wir im Strom der Küsse nicht sahen. Wenn Zeit fließt und ein Tag wie im Nu vergeht als sei’s Sekunde und reine Flüchtigkeit. Die Badewanne, meist ohne Fichtenschaumbad. Im Regen unserer Küsse, im Leipziger Winterregen, klamm die Kleidung, bis wir beim schlechtesten Griechen der Stadt landeten und lachten gemeinsam, mit der Straßenbahn ging die Fahrt durch die Stadt, beim Spätkauf erstanden wir die drei Bier, im Hotelbett, vor uns der Fernseher, „In der Mitte entspringt ein Fluß“ lief als Film. Und am Wegesrand zwischen Plagwitz und Lindenau, die Adorno-Tagung, wo wir ins Fenster linsten, spazierten und vorbei, kurz vor den Festtagen, die Tarte au Citron und Deine Hand, Deine wunderschöne Hand in meiner.

„Es geht nicht!“ Ich lachte, glaubte nicht, sah im Parkhaus, Leipzig, D.C., die Rücklichter des Wagens, davonfahren, schaute versonnen, ungläubig über die Nacht, den Tag, den Morgen, den Abend, das letzte Glas spanischer Rotwein war zuviel gewesen. „Natürlich geht es, wenn zwei wollen.“ Phänomenologisch-vertrackt, das holt kein Denken ein, diese Male, dieses einzige Mal. Unsere wilden Lebensmomente. Unwiederholbar. Ich habe mir immer vorgenommen, das aufzuschreiben und irgendwie festzuhalten. Aber es läßt sich nicht halten und schreiben und texten und fixieren, weil es die Szenen des Lebens sind, nein, keine Szenen, das wäre Theater: Ereignis, Geschehen immer im Fluß, mit Dir nur mit Dir, iterativ, genial, haltlos, zersetzend, zerstörend, kontraproduktiv-schön, waren wir ein einziger Glanz und zarter Hauch, und Wildheit, im Streit, in unserer Liebe. Im Jetzt-Blick, im Hier-Sein, in realer Gegenwart, den Fluß der Zeit aussetzend, Da-Sein, einfach da und am Ort, doch nun ist es Widerschein, in der Parklandschaft, ich spüre Deine Haut an meiner. Immer noch. Deinen Geruch. Gemeinsam durch den Pleasureground gestreift, Glienecker Park, Große Neugierde, abends, mit dem Blick durch die Pergola auf den Wannsee (Jungfernsee, im Abendrot, wo die Sonne tiefer ins Wasser stieg, Stück um Stück, der Wein und die Köstlichkeiten unserer Speisen, auf der Decke ausgebreitet) beim Parkpicknick vor dem Schinkel-Casino, das Gedicht über den Blinddarm, das der Fremde uns rezitierte, frei, aus dem Stehgreif erdichtet, dada-absurd und jener Satz von der Liebe, den er mit feinem Lächeln sprach. Diese eine Sommernacht. Wir wußten, daß es niemals ewig halten kann. Die Zeit heilt keine Wunden. Musizierender Dichter, der den Schluck Wein nahm, den er sich erbat, Riesling natürlich, bevor er zum Fest der feinen Gesellschaft ging, um sich als Musikant zu verdingen. Wir waren nie Schrift, in keinem unsere Briefe. Deine Stimme, der Klang, die wunderbare Farbe Deines sanften, weichen Dialekts vergesse ich niemals. Du warst zart, liebevoll, wild, frech, verwegen, voll Streitlust (wie auch ich) und von unbändiger Phantasie und Denkkraft, unser Humor, wenn wir lachten und uns freuten über „Finsterworld“. Dein schönes Lächeln am ersten unserer Tage bezauberte mich sofort, wilder, geiler Blondschopf. Mein Sturmvogel, voll von Kraft. Oft blieben wir einander Bilder, aus unseren Fernen heraus, Dein schönes Gesicht, mir immer vorgestellt, doch wenn wir uns näherten, waren wir Haut, Körper, Zungen, Küsse, die nie enden wollten, warst auch Freundin, von Gespräch zu Gespräch, Blicke und Blick, zwei Wesen aus Mensch, die sich einander gaben und schenkten. Du bist tief in mein Herz gemalt und wirst es immer bleiben. Geliebte.

Flieg wohl und auf guten Wegen davon, mein lieber, geliebter schöner Sturmvogel.

Von den Flüssen: der Landwehrkanal als (geschichtsphilosophisches) Fanal. Oder: die Farbe Rot. Die Beschneidung der Zeit (1)

 

DU LIEGST im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.

Geh zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden –

Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –

Der Mann ward zum Sieb, die Frau
mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden –

Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
stockt.
(Paul Celan, im Gedichtband „Schneepart“)

Ich hätte Ihnen das Gedicht gerne laut vorgelesen, weil es auf den Klang, die Färbung und den Ton ankommt. Das ist in der Schrift schwierig möglich, wenngleich das Internet Möglichkeiten zur Verlautbarung von Lyrik bietet. So aber stehen wir vor einem laut- und stimmlosen Text. Obwohl das nicht ganz richtig ist. Auch der Text hat eine Stimme und Laute. Die Frage ist nur, wie und in welcher Weise wir diese zu lesen und zugleich zu hören wissen. Zwischen den Zeilen.

Ein Rätsel ist bekanntlich Reinentsprungenes. Der Text als erratisches Moment, das treibt und umschlägt, so will es das moderne und ästhetisch gelungene Gedicht, so realisiert sich die Lyrik Celans. Zwang zur Form. Zwang zur Poetik. Poetisch, aber nicht im lenor-kuschelweichen Habitus der Sinnlichkeitsfanatiker und ihrer säuselnden Adepten, denen es nie lyrisch gestimmt genug zugehen kann [Rilke noch beim händischen Abwasch: denn da ist keine Stelle, die nicht abgeht], sondern als Wille zur Form und zum Ausdruck in einem. Die Welt als Wille zum Text. Der Fluß der Geschichte, die Geschichte, die vergeht und die bleibt, die Geschichten, die sich erzählen lassen, wenn zwei Menschen nebeneinander gehen, bei einem Spaziergang am Landwehrkanal. Peter Szondi und Paul Celan. Es gibt ein Unaussprechliches, genauer: ein zunächst Unverständliches, für den, der dieses Celan-Gedicht liest, ein Idiom, das sich erst einmal in keinen Kontext oder in keinen deutbaren Sinnzusammenhang überführen läßt, sofern man im Text als Text bleibt. „Verwisch die Spuren“, wie es Brecht in seinem Lesebuch den Bewohnern der Städte anriet. Ein Vorschlag, der keine fünf Jahre später für die Juden Berlins und anderer Städte überlebenswichtig wurde und der im Lyrischen ebenso die Gedichte Celans bestimmt.

Das Erratische als Block, deutbar als Zeichen vielleicht, in der „Polyvalenz seiner Struktur“ (so der schreckliche Gadamer) jedoch in der Deutung mehrere Möglichkeiten bietend, aber im Gehalt nicht mehr ins unmittelbar lyrische Bild zu bringen, das stimmungsvoll aufsteigen mag. Trotzdem viele der zunächst rätselhaft erscheinenden Begriffe, die Celan in seinen Gedichten verwendet, einer bestimmten Sprache entnommen sind, die uns freilich nicht immer geläufig ist. Begriffe wie „Hungerkerze“ oder aber solche wie Harnischstriemen, Faltenachsen, Durchstichpunkte und Kluftrose (aus dem Gedichtband „Atemwende“), die aus der Geologie stammen. Es wird in diesen Kontexten ein „semantisches Feld“ (Gadamer) erzeugt, das sich jedoch einerseits vom konkreten Gebrauch in der Fachsprache löst und einen ganz eigenen Horizont an Deutbarkeiten erzeugt, andererseits aber auf jenes Gestein, die Härte, die Färbung, das Bewahrende desselben zurückverweist.

Selbst hier noch die Polyvalenz. Das nähert das Schillernde und Rätselhafte, so daß die Texte Celans – zunächst – als undeutbare Zeichen erscheinen. Begriffe, die zu mehrschichtigen Chiffren sich sedimentieren. So wie jenes „Eden“, das zunächst theologisch aufgeladen zu sein scheint, um dann in einer genaueren Lektüre gleichzeitig eine andere Bedeutung zu erfahren. (Denn „Eden“ hieß das Hotel, wo im Januar 1919 Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die letzten Stunden vor ihrer Ermordung, unter der Folter der Freikorpssoldaten, harrten. Es war das Hauptquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, Ecke Budapester Straße/Kurfürstenstraße, nicht weit vom Kanal. Der Kommandeur der Division, Waldemar Pabst, rief beim späteren Reichswehr-Minister Gustav Noske (SPD) an und erhielt von selbigem Noske (SPD) in Absprache mit Friedrich Ebert (SPD) die Genehmigung zum Mord. Das faschistische Deutschland samt Ideologie kann man in einer absurden Inszenierung in dieser Sentenz erleben. Trostlos im Gesamt.)

Was ist es, das in einem Text, in einem Gedicht seine Spuren als Chiffre, als Zeichen als poetisches Wort, lesbar zwar, doch schwierig zu deuten, rätselhaft, schön und auch hart, als Ton, Klang und Konstellation hinterläßt? Schwer zu Entzifferndes. Ein im Gedicht ansprechbares Du, ein Imperativ in Poesie, als Satz, als Aufforderung und Anforderung zum Gehen, wie wir es bereits aus Celans „Engführung“ kennen. Eine Winterszenerie. Und das Gelausche steht – auch reimmäßig – im Zusammenhang mit jenem Kanal, der nicht mehr rauschen wird, sondern dahinfließt, der die Leiche der Frau mit sich führt. Nichts stockt. Aber das Gedicht ist eine Momentaufnahme, während die Leiche der Luxemburg treibt. Das Gedicht bringt eine Bewegung hervor („Geh“, die Namen der Flüsse Berlins und jenes Kanals) und zugleich friert es ein, um sich dabei im nächsten Zug als Bewegung wieder zu lösen („Nichts/stockt“) Das kann man zusammenlesen als „nichts stockt“, nichts fixiert sich und nichts kann zur Festigkeit gerinnen (das mag man sowohl positiv wie auch negativ als Unbeständigkeit sichten); in derselben Diktion steckt darin das Panta rhei des Heraklit, des Dunklen. [Und niemand steigt zweimal in denselben Fluß. Das wußten am Ende auch wir, in Paris, unter dem Pont Mirabeau, wo die Seine so träge dahinfließt und wo wir uns im Wissen Apollinaires und unter Abendsonne innig küßten. Deine Zunge, Deine Haut und Spurung, gekraustes Haar. Unter uns ein Fluß und unweit davon trieb 1971 die Leiche Celans.] Aber im Enjambement deutet sich dieses „Nichts/stockt“ ebenso als Bruch, als Spaltung, als „Nichts“ und als „stockt“, die – jeweils – als Ausfluß von Negation, Nichtigkeit und Nichtung im Gedicht stehen, bleiben und harren. Abgetrennt. Als Schluß eines Gedichts und als Chiffre der Zeit.

Während eines Ganges durch Berlin, im Jahre 1967. Gedichte sind datiert, wie es in Jacques Derridas Celan-Lektüre im „Schibboleth“ heißt, einem jeden Gedicht ist ein Datum eingeschrieben, das wir jedoch nicht unbedingt zu lesen vermögen und das sich entziehen kann. Es bleibt in vielen Fällen unsichtbar. (Dieser Aspekt des Datums läßt sich nicht nur an Celans Lyrik, sondern genauso etwa an Hölderlins „Andenken“ darstellen.) Nicht mehr der hohe Ton von Lyrik als Gestimmtheit, sondern Fragen des Datums und der Zeitlichkeit zeichnen den Text. Zumindest läßt sich dies für die Dichtung Paul Celans in bestimmten Aspekten zeigen. „Ver-merkung von Ort und Zeit. Im Schnittpunkt des Hier und Jetzt.“ (J. Derrida) Zeit als Einschnittpunkt. Wie diese Einzigartigkeit des Augenblicks schreiben? Des Augenblicks – in seiner Hoffnung, seinem Schrecken und als Phase des subjectum.

 „Wer auf dem Kopfe steht, der sieht den Himmel als Abgrund unter sich.“
(Paul Celan, Der Meridian“

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Von den Flüssen und den Inseln werden meine nächsten Buchbesprechungen handeln: „Pfaueninsel“, „Am Fluß“ und „Kruso“.

Wittenberg

 
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Im Gras des Elbeufers, Englandjacke im Gepäck. Über die Straße, weit von der Stadt, schlendern über die Wiese. Immer näher der Elbe zu. Über uns schwebt die Brücke. Bundesstraße nach anderswo. Am kleinen Sandplatz mit dem Namen Strand, dicht am Wasser. Deine Küsse im Kopf, die ich mir gerne geraubt hätte. Am Strand, auf der Jacke sitzend. Wir reichen uns die Wasserflasche. Drei Stunden zuvor: Am Brunnen vor dem Rathaus, auf dem Platz. Es war kein Brunnen dort, so sagtest Du, sondern nur eine Bank aus Stein, auf der Du saßt. Dein blondes Haar, Dein betrachtender Blick von weitem her, während ich suchend die Treppen zum Rathaus hinaufsprinte: Der Mann mit der schwarzen Englandjacke und der weißen Jeans. Und im Café vor Nervosität ein erstes Glas Sekt am Mittag. Jeder eins versteht sich, nicht geteilt, wie ein Jahr später im Schloß Wackerbarth: „Wir hätten gerne ein Glas Rieslingsekt!“ „Also zwei, eins für jeden“, murrte der Kellner mit Besserwissermimik des Schloßbediensteten. „Nein, eins – ein Glas für uns beide!“, schnarre ich, hanseatisch nasal. Das Glas Rieslingsekt vom Schloßgut Wackerbarth enthielt 0,1 l Getränk.

Die Bedienung schaute indigniert, wie man einen jener geizigen Wessies ansieht, die aus dem protestantischen Norden oder aus dem Schwäbischen stammen und die es nicht verstehen, zu trinken, zu leben. Lutheraner, Calvinisten, Bilderstürmer. Der Barock ging an ihnen vorüber. Die Frau blickte spöttisch zu mir hin und rühmte fürdahin meine großzügige Art. Da wir jedoch vom Weingut Wackerbarth noch weiter an unser Ziel fahren mußten und wir beide naturalistisch in genetischer Disposition einen extremen Hang zu Verkehrsdelikten haben und diesen Hang zudem gerne pflegen und kultivieren, gab ich mal den Part der Vernunft und dachte mir, daß es besser sei vom Alkohol nur wenig zu sich zu nehmen. [Erst vor zwei Monaten wieder: Rotlichtverstoß. Schöne Photographie von mir aus Leipzig. 1 Punkt, 118,50 Euro Buße, inklusive Bearbeitungsgebühr und Auslagen. (Was für Auslagen wohl? Die Handcreme für die Sachbearbeiterin, weil sie auf der Photographie einen Mann sah, der ausnahmsweise mal nicht dämlich in die Verkehrskamera schaute?) Die 118,50 Euro wären – ganz reicht es nicht – ein schönes Essen zu zweit in jenem hervorragenden Restaurant gewesen. Aber dahin gingen wir ja sowieso. Ob mit oder ohne Buße.] Im Ratskeller zu Wittenberg habe ich auf Dein Dekolleté geschielt und war schwer beeindruckt. Mehr aber noch von Deinen Worten und Deiner Art zu sprechen. Keines der Bilder ist verblaßt. Draußen fällt Regen, wie vor zwei Jahren, als wir in das seltsame, aber so gemütliche Café flüchteten. Keine Minute dieses Tages war langweilig oder belangloses Schweigen.

Wittenberg – mon amour. Jede Minute. Für jeden, jeden, jeden Tag mit Dir. Ich weiß, daß das Blogkitsch ist, den ich abgrundtief verachte, von der ästhetischen Konstruktionsleistung her hasse und der in die Tonne gehört, wie alle diese läppischen, im Internet ins Nichts erzählten Geschichten, die nicht einmal zur literarischen Erzählung taugen. Aber hier geht die Ausnahme. Denn wir können genauso den ironischen Ton. Den bösen sowieso. Dies freilich wissen wir beide, Liebste.

Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.

Mein Fräulein! seyn Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.
(Heinrich Heine)

Diese Sätze haben wir uns allerdings so nicht gesagt, als wir am Ufer der träge fließenden Elbe lagen. Aber über die Meere treiben wir. Und immer den Fluß hoch. Dieser eine Tag, in einer mir fremden Stadt an der Elbe, als zwei Menschen sich trafen, die sich vorher niemals sahen, sich nicht kannten. Acht Stunden vor Nordsee. Dein Lachen, Deine schöne Stimme. Und auf der Rückfahrt im Auto klingt laut Tocotronic aus dem CD-Player. Und damit komme ich dann zur Tonspur zum Sonntag, diesmal von „Element of Crime“, die mir bis Anfang der 00er Jahre noch gut gefielen, weil sie einen bestimmten Ton brachten, der dann aber in den unendlichen Wiederholungsschleifen nur noch zelebriert wurde. Eine einstmals  gute Band, die sich leider an die Filmmusik des neuen deutschen Spaßfilms wegwarf. Schade drum.