Da stand sie – diese Schallfolie, die mit dem goldenen Cover, und auf der Rückseite eine Photographie in Schwarz-weiß-Ästhetik, auf der die Band posierte. Drei Mann, düster-schwarz, vor einer Art Wellblechschlagzeug, zwei Synthis, allerlei Schlagwerkzeug lagen da am Boden herum: Hammer, Meißel, Schlagbohrmaschine für Betonwände, Säge, Axt, Gitarre, Baß, Zangen und Undefinierbares – Anspielung auf jene Bombastrockbands, die auf dem Cover ihre Instrumente zur Schau stellen, mit denen sie im dicken Klangteppich ihre Hörer malträtieren. Die Tortur der Neubauten sollte eine ganz andere sein. Im Hintergrund das Berliner Olympia-Stadion und die hoch in der Luft schwebenden Olympia-Ringe.
Ich hatte für den Totalitarismus in Architektur immer schon etwas übrig, auch als Schüler: Strategen gegen Architekturen, Haus der Lüge. Bauten, fest, starr, aus Beton, etwas aus den Fugen zu bringen und zurück zum Beton, Ekel, Ekel, Natur, Natur. Gegen die Ästhetik einer Preußischen Säulenordnung anstampfend, obwohl ich auch diese schnell lieben lernte und eine Reise nach Rom zeigte, welche Kraft die Ästhetik der Ruinen entfalten konnte. In den antiken Ruinen Roms symbolisierte sich etwas von jenem Vanitasmotiv: daß Zeit, daß Geschichte vergänglich sind. Daß wir selbst es sind, die vergehen. Man spaziert einfach so über das Forum Romanum. Und war doch realiter zugleich in einer ganz anderen Gegenwart.
Politischer Protest der Jugend prägte diese Zeit der frühen 80er Jahre. Das war für uns nicht einfach nur die Verlängerung bereits bestehenden Protests, ein Post-68. Denn wir wollten auch unsere 68er-Lehrer aufregen. Wir wollten keine Hippies sein. Man mußte also auch mit Relikten sich umgeben, die beim pädagogischen Personal wenig Freude erzeugten. Aber auf Dauer war auch „Belsen was a gas“ zu dumm, um wahr zu sein. Velvet Underground kam uns da entgegen, ebenfalls Iggy and the Stooges. Bowies Spiel mit den Identitäten war seltsamerweise nie meine Sache. Zu glatt schien mir diese Musik, und zu sehr am Wohlklang und vermutlich auch am Bombast orientiert. (Wobei diesen Bombast eben auch die Neubauten besaßen. Nur war der Teppich aus Tönen industrieller Natur und damit für mich in diesem Sinne des Brutalen auch wahrer. Eine Pop-Musik der Dissonanz, des schrillen Einschnitts. Wie eine Wunde, passend vielleicht zu dem Motto von Beuys, den wir ebenfalls gerne sahen.)
Seltsame Zeit, ohne daß man groß den Apokalyptiker Johannes las, ich trug lieber schwarze Lederjacke: man ragte mit der Menschenexistenz in die endgültig-finale Krise, zumindest glaubten wir dies. Lauter negative Geschichtszeichen. Nein, nein, das war keine NO FUTURE-Punk damals, in dem ich mich ausbreitete, vom Schulfreund in diese Musik gezogen, trotz Le Waldsterben, Le Nachrüstung, Le Atomangst, später dann Le Volkszählung und trotz der sozialen Proteste dieser Zeit. Lalelu – wir tanzten den Protesten nicht, sondern diskutierten ihn und wir versahen ihn mit den passenden Soundtracks. Die (zum Glück) stabilen Verhältnisse der alten BRD brachte all das Aufbegehren nicht ins Wanken. Im Grunde war die Ära Kohl gemütlich beziehungsweise: es kommt auf die Perspektiven an. Und die von Schmidt war es trotz deutschem Herbst, trotz Natodoppelbeschluß sowieso: das Glück der Technokraten oder wie es FSK im Blue Yodel für Herbert Wehner sangen:
„Junge wer mit 20 kein Anarchist gewesen ist/ Aus dem wird nie ein guter Demokrat!/ Und wer sich über Altersheim und Autobahn empört/ Hat das Signal der Zeit wohl überhört!/ Yo-Deedle-Day!/ Yo-Deedle-Day!“
Besser Langeweile als Faschismus, wie Habermas es auf den Punkt brachte. Jene Politleute, die damals noch den faschistischen Staat am Werke sahen, konnte ich bereits in Jugendjahren nicht ernst nehmen, selbst dort, wo ich eine Situation als dramatisch sah, sehr viel dramatischer als es sich im Rückblick darstellte. Schon gar nicht funktionierte dieses vermeintliche Faschismus-Drama der Gegenwart auf der Ebene der Theorie. Ihren Adorno zumindest hatten sie nicht gelesen oder begriffen.
Mit den Achtundsechzigern, mit den Sechzigerjahren begann das, was Philipp Felsch den „Langen Sommer der Theorie“ nannte. Aber diskutierten wir als letzter Nachklapp einer Ära, einer langsam abklingenden Epoche, diesen Protest wirklich in seiner gebotenen Intensität? Um intellektuell die Gesellschaft mit der scharfen Waffe der Kritik zu durchdringen – was wir gerne glauben wollten? Erste Ableitung der Gesellschaft: die Arbeit, zweite Ableitung der Gesellschaft: das Kapital, dritte Ableitung: die Vermittlung beider und die Aufhebung des Widerspruchs. Simple Schematismen, passend zu den Rowohl-Büchlen: Marx für Anfänger, Theorie als Comic gezeichnet, Freuds als Comic, die seinerzeit im Schwange waren. Schrecklich schon damals.
Nein, wir destruierten den Protest, wir destruierten die Kritik, obgleich ich in diesem Alter noch nichts von der Dekonstruktion im engeren Sinne gehört hatte und auch Heidegger nur vom Hörensagen irgendwo im Philosophieunterricht seinen Ort hatte, eher schon waren wir von Walter Benjamins destruktivem Charakter fasziniert, von der Dialektik der Aufklärung, dem Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und daß die Existenz der Essenz vorausginge. Leben in Parolen, und so begleitete ich die sozialen Proteste dieser Zeit mit Marx und Sartre im Herzen und mit Hegel und Adorno im Kopf, mit Liedgut der Liedermacher, dem geschätzten Walter Mossmann, aber ebenso mit jener seltsamen Erweckungsmusik im goldenen Cover, mit einer strichartig stilisierten Menschengestalt darauf, die wie ein chinesisches Schriftzeichen anmutete, jenem Logo der Neubauten, und dazu ein Sound, der sich um Tonalität und klassischen Rock nicht scherte.
Und es gab da jene (meist etwas älteren) Experten des Diskurs-Politischen, die diese Platten ins Musikdetail analysieren konnten. Doch mich interessierte diese Musik nicht in all ihren Ausfaltungen, wie das beim Narrensaum der Punk-Musik-Perfektionisten, der absoluten Experten geschah, jene Diedrich-Diederichsenisierung der Musik als Distinktion weckte bei mir nur am Rande Interesse: Die Geburt des Protestes als Geist der Distinktion aus dem Geist des Diskurs-Jugendzimmers. Nein, ich glaubte nicht an die Kraft der Musik im politischen oder diskursstiftenden Sinne – allenfalls für den Augenblick galt das, allenfalls an die welterschließende Kraft der Musik glaubte ich und dachte, diese ausmachen und ins Wort bringen zu müssen und genauer noch: der welterschließenden Kraft der Kunst, der Kunstmusik ihren Ort zu geben. Als bloßes Ästhetisieren.
Eigentlich war da das lʼart pour lʼart, die Kunst um der Kunst willen in ihrer Struktur und ihrem Sein zur Geltung zu bringen, bereits angelegt. Wenn wir auf der Demo gegen die Innenministerkonferenz in Hamburg aus dem Lautsprecherwagen Slime hörten oder Ton Steine Scherben „Die letzte Schlacht gewinnen wir“, so war da zwar ein vages Hoffen, daß es anders werden müßte, aber zugleich ahnte ich als junger Mann bereits, daß ich mit diesen Leuten dort die letzte Schlacht vielleicht gar nicht gewinnen wollte und daß ich da womöglich der Verlierer wäre. Ästhetiker müssen auf der Hut sein – das begriff ich schnell. Wer nicht hurtig in die Engagement-Parolen einfällt, ist flugs weg von der Strecke. Dennoch: Es begleitete diese Zeit ein besonderer Sound, ein Klangteppich. Brokdorf, Gorleben. Hafenstraße, Karoviertel. Alle glücklichen Öffentlichkeiten gleichen einander, jede unglückliche Öffentlichkeit ist auf ihre eigene Weise unglücklich:
„Jeder paßt zuerst und zunächst auf den Anderen auf, wie er sich verhalten, was er dazu sagen wird. Das Miteinandersein im Man ist ganz und gar nicht ein abgeschlossenes, gleich-gültiges Nebeneinander, sondern ein gespanntes, zweideutiges Aufeinander-aufpassen, ein heimliches Sich-gegenseitig-abhören. Unter der Maske des Füreinander spielt ein Gegeneinander.“ (Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 174 f.)
Da war diese Schallplatte. Ich weiß nicht mehr, ob es im Laden von Uli Durchschnitt war oder bei Michelle oder doch nur im Kaufhaus Brinkmann – freilich besaß Brinkmann Anfang der 80er Jahre eine gar nicht einmal so schlechte Musikabteilung. Vermutlich war es aber Michelle, am Gertrudenkirchhof, wo ich diese Platte erstand, ich erinnere mich noch, wie ich damals, früher als Kind mit meinem Vater spazierte und es gruben Tiefbauarbeiter in der Erde, sie gruben und die Schaufel brachte bei der Arbeit Knochen und einen Totenschädel hervor. Mir war, als starrte mich dieses Kopf an. Ich mochte sieben oder acht Jahre gewesen sein. Heute also stehe ich vor dem Plattenladen und es geht ein Wunsch in Erfüllung. Musik sich zu kaufen, das muß man dazu sagen, war damals etwas Besonderes, und Schallplatten waren nicht billig.
Zu Hause angekommen legte ich das kostbare Gut auf den mehr schlechten als brauchbaren Plattenspieler, daran eine Mono-Box angeschlossen war. Musikhören ist Zelebrieren, selbst mit einem Teil aus Schrott. Wie passend, dachte ich mir, während andere diese harte Neubauten Musik mit ihren kostbaren Stereo-Anlagen genossen, schrammelte es bei mir aus dem Lautsprecher heraus. Es dröhnte. Nuancenunterdrückungsmedium, dachte ich mir beim Hören. (Nein, das habe ich mir damals natürlich noch nicht gedacht, das ist Ausdenk-Social-Media, solche Witzwortungetüme kamen bei uns erst später in Mode, im Grunde also die Weiterführung jenes Marquard-Witzes: Inkompetenzkompensationskompetenz, was scharf oder auch mit Ironie die kritische Philosophie der Gesellschaft rügen sollte, und in seinem Witz zwar eine gewisse Wahrheit offenbarte, aber am Ende kritisches Philosophieren doch verfehlt. Schwarzes Denken – schwindelfrei. Womit ich wieder bei Ton und Klang bin, bei jener Kollaps-LP)
Die Musik bestimmte das Medium, das Medium die Musik. Schlagzeug: im wahren Sinne des Wortes. Hämmern auf dem Blech, prügeln mit Zangen, Zwingen und Sägen, ein Stakkato-Sound: Gier, Gier, Gier. Gier nach Gier. Tanz debil, ganz debil. Blixas Stimme, so schneidend. Eine Musik der Ekstase. Ich hätte aufschreiben müssen, was ich mir bei diesem ersten Hören dachte, vielleicht habe ich das auch, aber ich finde alte Aufzeichnungen grundsätzlich nicht wieder, da diese auf irgendeinem Papier, das lose herumlag, notiert wurden, oft ohne Datum, und in einer Schrift, die nicht einmal ich lesen kann, in irgendwelchen Kartons müssen die Zettel verstaut sein. Solcher Text hätte etwas von der ersten Affektion veranschaulicht, noch einmal, in der Wiederholung, wie es damals eingefangen wurde – oder wie es damals war.
Solche Jugendzimmerzustände lassen sich vermutlich nur mit viel Phantasie rekonstruieren. Das erste Stück auf der Rückseite: Zischeln, sprühen, pfeifen, fast wie Jean-Michel Jarre, nur unebener im Zug des Klanges. Was da ertönte, überstieg meine Erwartungen. Ich war glücklich. Ein monotoner Gitarrenanschlag, Doomsday-Dröhnen. Kollaps. Die Hölle der Welt ist los, die Hölle der Gesellschaft, schwarzes Denken, ohne Boden, und ein Klang, der all dem plötzlich Ausdruck gab: Death, Destruction and Detroit Plötzlichkeit, Intensität war für mich damals noch kein rein ästhetischer Begriff, wie man das etwa aus Bohrers Schrift (1981) kannte, sondern sie koppelte sich ans Politische noch, zumindest residual. Contre Bohrer. Wenngleich diese Musik nichts von der Unmittelbarkeitsdarstellung eines Liedermachers hatte, der uns Mut sang oder einfach nur „Die Welt ist schlecht, wir machen sie morgen besser. Heraus, heraus, oh ihr Brüder!“ und auch nichts von der Slime-Peinlichkeit wilder Agitation: „Wir wolln keine, Bullenschweine“.
Peinlicher Politrock. Musik für Hippies, wie ein Punk-Freund sagte. Wenn also diese Musik auch nichts von jenem Engagiert-Politischen hatte, sondern die Destruktion besang, war diese Platte dennoch Ausdruck einer Haltung. Die bei mir zunehmen in eine rein ästhetische Form sich verwandelte. Blixa Bargelds Musik, seine Stimme begleitete mich in die bildende Kunst wie auch in die Texte der neuen Literatur: Peter Handke für die Intensität der Sprache, Thomas Bernhard für das Mäandernd-Schimpfende, Samuel Beckett für all die Leerläufe und das Spiel mit der Utopie, eine Verhandlung der Möglichkeiten des Dramas unter dem „schwarzen Himmel von Anthropologie“, Werner Schwab für den pointierten Exzeß und das Gegenwartsabsurde: wie man als Klofrau eine Toilette auch ohne Gummihandschuhe reinigt: die Lust, ins Rohr zu fassen – es war gesellschaftlicher Aberwitz: todestrunken und sinnlose Leber; Rainald Goetz dann wiederum funktionierte für ein politisches Abseits in Form einer gesplitteten Subjektivität – wenngleich mir die Goetz-Jünger gehörig auf den Zeiger gingen, man wollte mit diesem Getue am Ende nicht viel am Hut haben. Aber Irre und Kontrolliert waren schon noch besondere Romane damals, etwas womit man, wie in der Musik, ebenso die Riege der altgedienten Literaturkritik zu schockieren vermochte, weil sich da plötzlich eine andere Sprache Bahn brach.
Um diesen Schock, den die Jugendkultur gerne als Rebellion verpackt ging es uns wesentlich. Um zugleich darin die Pose zu erkennen. Zum Glück kam die Adorno-Lektüre vor der von Foucault, und damit war ich einigermaßen gefeit vor einer Philosophie, die bloß als Gestus auftritt. So wie man damals den Foucault zelebrierte, weil man ihn von den Photographien her kannte, Merve-Kultur: Im Dschungel in Berlin, der Mann mit der Lederjacke, im weißen Rolli oder im Seitenprofil, das Kinn auf die Faust gestützt.
Philosophie war in diesen jungen Jahren nicht einfach nur die Arbeit am Text, die man in Merve- und Suhrkamp-Bänden freilich auch leistete, sondern ebenso eine Pose, eine Lebenshaltung, eine Attitüde – in der Habermas oder Apel denkbar ungelitten waren, schon gar nicht, wenn es um die Letztbegründungsansprüche der Vernunft ging. In diesem Sinne behandelte man die Philosophie nicht einfach mehr als Wissenschaft, sondern sie geriet zur Theorie. Und zur Theorie gehörte eben auch der Gestus des Denkens, daß mit den Namen Zuschreibungen verbunden sind – im Grunde also das Gegenteil von emphatischem Text-Philosophieren in hermeneutischer oder dekonstruktiver Absicht.
Philosophennamen handelten wir damals wie Autoquartett-Namen. Kierkegaard sticht Marx, Nietzsche sticht Schopenhauer. Hegel sticht sie alle. Diese erste Platte der Neubauten war für mich wesentlich. Blixa Bargeld führte mich in diese Welt der Destruktion. Andere Musik führte mich da zum Glück auch wieder hinaus. Dennoch verdanke ich dieser Musik von Blixa Bargeld, ob Halber Mensch, ob Sehnsucht, Der Tod ist ein Dandy oder Armenia viel: nämlich den Sinn für den Stahl, den Sinn für all die Gewitter und die Kälte und ebenso, daß dies allein nicht alles ist, sondern nur als ästhetische Haltung funktioniert.
Auch Blixa Bargeld wurde mit den Jahren hedonistischer. Die Musik wurde tiefer, die Kompositionen ausgefeilter. Diese frühe Neubauten-Platte in Gold freilich war ebenso eine Tiefseefahrt, wenngleich ganz andere Art. Wie es beim süßen Vogel Jugend eben läuft: Tiefe aus Oberflächlichkeit heraus. Das also, was man im Sinne von Kleists Marionettentheater die unwillkürliche Anmut nennen kann. Jugendrebellen müssen zwar posen, aber sie spielen diese Anmut nicht, sie sind es. Dialektik des Scheins. Man merkt dies bis heute, wenn man solchen schönen jungen Menschen zusieht. Es ist ein altes Vergnügen, doch bleibt es immer neu.
