Die Tonspur zum Sonntag – 2000 Jahre Karl Marx und darüber hinaus

Zum Abtakt des 200. Marx-Geburtstags im Mai, den dieser Blog von seiner Herkunft her naturgemäß beging: Der Mann mit dem Koks ist da! Essen und Villa Hügel. Schnee und Schwarz. Unser Fetisch ist die übliche Verkehrung und der Verkehr beim Betrachten. Mit Falco und einem Video, das den Verkehr mit Fetisch pointiert.

 

„Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, …“ – Karl Marx zum 200. Geburtstag (1)

Was gilt es zu feiern? Man kann es mit Kant sagen und hat darin die Marxsche Sache in nuce:

„Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.“

Prägnant formulierte es Kant in seiner Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft. Es sind „die dornichten Pfade der Kritik“, die es zu beschreiten gilt und Marx beschritt sie – mutig, denn es kostete ihn seine bürgerliche Existenz. Mit seiner Flucht aus Preußen war Marx ein Staatenloser und starb im englischen Exil. Er focht für die Pressefreiheit, er schrieb gegen die preußische Zensur, und die Freiheit der Gesellschaft war ihm nichts ohne die Freiheit des Individuums – was bei Marx gerne unterschlagen wird.

Mit der Aufklärung traten wir ins kritische Zeitalter und unter diesem Denken trat auch Marx an: „Der kritische Weg ist allein noch offen“. Das hätte genauso gut ein Satz von Marx sein können, stammt aber vom Ende der Kritik der reinen Vernunft. Marx steht in dieser kantischen Tradition. Er formulierte diesen Umstand eines offenen und zu beschreitendenWeges jedoch anders und trug die Erkenntniskritik mitten in die Gesellschaft hinein:

„Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“ (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie)

Was mit Marx nicht zu haben war: die Atomisierung des Subjekts. Gesellschaftlich losgelöst.  Das nur bei sich und noch nicht einmal für sich seiende Individuum als fensterlose Mondade ist eine Illusion. Aufs triviale Niveau der popular music heruntergedimmt, könnte man es mit Ton Steine Scherben singen: „Allein machen sie dich ein“. (Auch darum ging es Marx: Nur gemeinsam in großer Zahl kann eine Revolution funktionieren, die mehr als eine Revolte sein will. Politische Streiks wirken nur als Generalstreik.) Über diese Atomisierung, die sich als (bürgerliche) Robinsonade verkleidet, spottete Marx bereits im ersten Abschnitt des Kapitals, wo es um die Ware ging, mit dessen Analyse das Kapital einsetzt:

„Da die politische Ökonomie Robinsonaden liebt, erscheine zuerst Robinson auf seiner Insel. Bescheiden, wie er von Haus aus ist, hat er doch verschiedenartige Bedürfnisse zu befriedigen und muß daher nützliche Arbeiten verschiedner Art verrichten, Werkzeuge machen, Möbel fabrizieren, Lama zähmen, fischen, jagen usw. Vom Beten u. dgl. sprechen wir hier nicht, da unser Robinson daran sein Vergnügen findet und derartige Tätigkeit als Erholung betrachtet. Trotz der Verschiedenheit seiner produktiven Funktionen weiß er, daß sie nur verschiedne Betätigungsformen desselben Robinson, also nur verschiedne Weisen menschlicher Arbeit sind. Die Not selbst zwingt ihn, seine Zeit genau zwischen seinen verschiednen Funktionen zu verteilen. Ob die eine mehr, die andre weniger Raum in seiner Gesamttätigkeit einnimmt, hängt ab von der größeren oder geringeren Schwierigkeit, die zur Erzielung des bezweckten Nutzeffekts zu überwinden ist. Die Erfahrung lehrt ihn das, und unser Robinson, der Uhr, Hauptbuch, Tinte und Feder aus dem Schiffbruch gerettet, beginnt als guter Engländer bald Buch über sich selbst zu führen.“ (Karl Marx: Das Kapital Bd. I, 1. Abschn. 1. Kap.)

Buch über sich selbst zu führen, ist eine schöne Wendung, an der auch Foucault seine Freude gehabt hätte. Eine Art solitäre Beichte des homo oeconomicus in diesem Falle, die das Subjekt in seinem Handeln bestimmt. In der Tat: die Ökonomie läßt sich nach dem Modell Robinsons denken, aber anders als es sich die Wirtschaftsliberalen und die heutigen Neoliberalen vorstellen, die in Naivität oder aber in bewußter Täuschung insinuieren, es gäbe keine Gesellschaft, sondern nur Individuen und den freien Markt:

„Stellen wir uns endlich, zur Abwechslung, einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben. Alle Bestimmungen von Robinsons Arbeit wiederholen sich hier, nur gesellschaftlich statt individuell. Alle Produkte Robinsons waren sein ausschließlich persönliches Produkt und daher unmittelbar Gebrauchsgegenstände für ihn. Das Gesamtprodukt des Vereins ist ein gesellschaftliches Produkt. Ein Teil dieses Produkts dient wieder als Produktionsmittel. Er bleibt gesellschaftlich.“ (Karl Marx: Das Kapital Bd. I)

Das ist die eine der Zentralstellen marxschen Denkens. Unsere Verhältnisse sind gesellschaftliche. Sie sind nicht zufällig, sie hängen nicht festgeklebt am Himmel oder autochon ruht es in Gaias Schoß. Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewußtsein, wie Marx es zu Beginn der Deutschen Ideologie formulierte. Unabhängig von allen politischen Folgerungen, die man aus dem Text von Marx in die eine wie die andere Richtung ziehen kann, ist dies ein Scharnier marxscher Dialektik. Daß es von Menschen gemachte Verhältnisse sind, die sich im Extremfall verselbständigen und über den Menschen hinauswachsen, so daß sie uns als unveränderliche Naturformen erscheinen. Das aber sind sie nicht, und dieses Verhältnis gilt es in die Reflexion wieder einzuholen. Denn nur so zeigen sie sich als veränderbar. In diesem Sinne nämlich ist Marx‘ Philosophie Kritik im besten aufklärerischen Sinne: die Gesellschaft über sich selbst aufzuklären. denn in den Erscheinungen zeigt sich nicht immer das Wesen. Kompakt und komplex nachzulesen in jenem Fetischismuskapitel aus dem Kapital und ebenso in Vorrede der Deutschen Ideologie und in dem ersten Kapitel über Feuerbach. Zwar erschöpft sich Marx nicht in diesen Texten, aber als Einstieg in sein Denken eignen sie sich, zusammen mit dem Manifest der kommunistischen Partei gut.

Was es, im Sinne eines doktrinären Marxismus, ganz sicher nicht zu würdigen gilt, sind die zahlreichen marxschen Epigonen – von evangelischen Akademien bis hin zu dubiosen K-Gruppen im dogmatischen Schlummer, vor allem, was im angeblichen Namen von Marx an Systemen errichtet wurde. Mit Marx ist eine ausgepinselte sozialistische Utopie nicht zu haben:

„Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten.“ (Marx, Briefe aus den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“)

Und noch viel weniger ist mit Marx ein diktatorisches Regime zu rechtfertigen. Marx analysierte die Funktionsweise des Kapitalismus – nicht mehr, nicht weniger. Jener Marxsche Satz „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin“ gilt hier und auch für das, was sich zu Marxens Zeiten zutrug. Er sagte diesen Satz als er Bekanntschaft mit dubiosen Leuten machte, die sich Marxisten nannten. Jene, die sich auf ihn beriefen, können sich nur bedingt auf Marx berufen. Zur klassenlosen Gesellschaft und wie die in concreto auszusehen habe, gibt es bei Marx nur wenige Passagen. Allenfalls in den Frühschriften wie den Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844 finden sich essentialistische Bestimmungen eines arbeitenden Wesens Mensch. Aber auch hier ist der Begriff der Arbeit zunächst so zu verstehen, daß der Mensch grundsätzlich in einem „Stoffwechsel mit der Natur“ steht oder wie es später dann in Marx‘ Kapital heißt:

„Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert.“

Diese Art der Arbeit als Auseinandersetzung mit der eigenen Umwelt gilt für alle Menschen und Gesellschaften gleichermaßen. Ein sich in sich zurückziehender Mensch, der sitzend wartet, ist die Kulturleistung fürs Theater oder Stoff für einen Roman, aber selten wird ein solches Wesen Mensch eine Woche in der unbehauenen Natur überleben. Wir brauchen zweite Natur und wir müssen sie bearbeiten – allein um das fehlende Fell und die dünne Haut des Menschen durch schützende Kleidung zu ersetzen. Das geht hin bis zur Spinning Jenny zu Marx‘ Zeiten, im Zeitalter der Baumwolle. (Dazu das ungemein anregende und interessante Buch von Sven Becker: King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus)

Den Menschen vom Kopf auf die Füße zu stellen, dies kann man ebenfalls als Aufgabe der marxschen Philosophie sehen. Aufklärung ist dies allemal. Über Georg Büchners Kunstfigur Lenz, die nach dem gleichnamigen sozialkritischen Schriftsteller geformt wurde, heißt es in Büchners gleichnamiger Erzählung: „Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.“ Celan kommentierte diesen Satz in seiner „Meridian“-Büchnerpreis-Rede als eine katastrophale Wendung oder zumindest als eine solche, die den Sturz in den Malstrom fürchten läßt: „Wer auf dem Kopf geht, (…) der hat den Himmel als Abgrund unter sich.“ Diese Kritik des verkehrten Wesens beginnt bei Marx mit der Kritik der Religion, um von dort her auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zu stoßen:

„Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“ (Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung)

Das Programm der Marxschen Aufklärungsphilosophie ist in dieser frühen Schrift aus den Jahren 1843/44 bereits im Kern enthalten und dieses Wesen, das zur Erscheinung kommen muß, wird Marx rund 20 Jahre später dann im Kapital als Kapital entfalten und in die Darstellung bringen: Analyse und Kritik in einem. Jene Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie ist noch eine Kampfschrift, trägt einiges an Hoffnung in sich und eine dialektische Volte eben: Mit jenem schönen religiösen Pathos verkündet Marx am Ende dieser so literarisch formulierten Prosa:

„Wenn alle innern Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns.“

Diese Hoffnungen zerschlugen sich nach der gescheiterten Revolution von 1848. Marx bleib immer Realist, und als in Paris 1848 die deutschen Handwerksgesellen und Exilanten in Deutschland bewaffnet losschlagen wollten, riet er davon dringend ab, nicht nur weil die „Waffe der Kritik (…) allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen“ kann, sondern weil für diese Kategorie des praktischen Ereignisses die Zeit reif sein muß. Ansonsten kann es nicht gelingen. Wenn die Revolutionen die Lokomotiven der Weltgeschichte sind, dann muß man sehr genau die Konstruktion der Lok und die Zugfahrpläne kennen. Marx lieferte dazu das nötige Werkzeug. Was das praktisch bedeutet, steht im Offenen. Von der historischen Gegenwart Walter Benjamins her nimmt sich dieses revolutionäre Ereignis freilich um einiges skeptischer aus:

„Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“
(Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte)

Abbildung: Gemeinfrei, Wikipedia

1. Mai – Marxjahr

„Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eignen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung. Wenn das Proletariat die Negation des Privateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in ihm als negatives Resultat der Gesellschaft schon ohne sein Zutun verkörpert ist. Der Proletarier befindet sich dann in bezug auf die werdende Welt in demselben Recht, in welchem der deutsche König in bezug auf die gewordene Welt sich befindet, wenn er das Volk sein Volk wie das Pferd sein Pferd nennt. Der König, indem er das Volk für sein Privateigentum erklärt, spricht es nur aus, daß der Privateigentümer König ist.

Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehn.

Resümieren wir das Resultat:

Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt. In Deutschland ist die Emanzipation von dem Mittelalter nur möglich als die Emanzipation zugleich von den teilweisen Überwindungen des Mittelalters. In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen. Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.

Wenn alle innern Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns.“
(Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung)

Wieweit man hier aus diesen Passagen des frühen Marx wiederum die sehr viel prägnanter formulierte 11. Feuerbachthese schon herauslesen kann – zeitlich liegen beide Text dicht beieinander – und inwiefern diese These wieder revoziert werden muß zugunsten einer Theorie der Gesellschaft, ist eine Frage, die für die westeuropäischen Gesellschaften relevant sein mag. Adorno formulierte nicht nur zum Beginn seiner „Negativen Dialektik“ jene Arbeit der Theorie, die nötig ist, da eine Philosophie, die nach Marx einmal überholt schien, sich am Leben erhält, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Sondern auch in seiner „Vorlesung über negative Dialektik“ aus dem Semester 1965/66 gibt es jene Überlegungen zur Feuerbachthese:

„Dieses Zurückgeworfensein auf die Philosophie hat nun in der Situation selbst auch sein reales Äquivalent. Wir befinden uns in einer Art geschichtlicher Atempause. Wir sind in einer Lage, in der im Ernst nachzudenken uns den materiellen Voraussetzungen und auch einer gewissen Friedlichkeit der Zustände nach, jedenfalls soweit es sich um die Bundesrepublik handelt, wieder möglich ist. Und die Versuche, einen darin irre zu machen und unterbrochen: Wolf, Wolf! zu rufen, sind wohl im Augenblick gerade deshalb eine Ideologie, weil auf Grund einer gesellschaftlichen Analyse à la longue nicht damit zu rechnen ist, daß dieser Zustand, in dem man überhaupt nachdenken kann, sich erhält, – so daß man diesen Zustand nicht versäumen darf.“ (Adorno, Vorlesungen Negative Dialektik)

Nicht nur ein Satz gegen den Alarmismus bestimmter Kreise. Aber: Für solche Gesellschaften jedoch, in denen Armutsverhältnisse herrschen wie im Deutschland des 19. Jahrhundert, für Länder, wo Menschen in Slums, gebaut aus Scheiße, wohnen ist diese Frage zur Revolution immer noch virulent. Während hohe Herren im Palast und im Prunk hausen. Haben hier in der BRD die Arbeiter alles erreicht? Ja. Und nein zugleich. Ich müßte nochmal bei Wolfgang Pohrt nachlesen, wo gerade in der Edition Tiamat eine Ausgabe seiner Werke erscheint, im Design schön wie die gute, alte feine MEW-Ausgabe gehalten. Ein Schatz. „Kapitalismus forever“ und „Das allerletzte Gefecht“. Aber eine proletarische Revolution hier in der BRD ist weiter entfernt denn je. Ein letztes Flackern mochte es 1968 während des Pariser Mai gegeben haben und allenfalls in der italienischen Arbeiterbewegung im Operaismus, dessen Geschichte uns nahegebracht werden sollte. Denn nur mit den entsprechenden Narrativen, kann man Theorie und kann man Waffen machen.

(Photographien von Bersarin: Maidemo Berlin, 2014)

Zum neuen Jahr

„Als zum erstenmal das Wort ‚Friede‘ ausgesprochen wurde, entstand auf der Börse eine Panik. Sie schrien auf im Schmerz: Wir haben verdient! Lasst uns den Krieg! Wir haben den Krieg verdient!“ (Karl Kraus)

Den Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich ein gutes neues Jahr, mit all den Wünschen, die zu einem neuen Jahr so dazugehören. Man wird wohl das beste daraus machen müssen.

Hier ist der Morgen des ersten Tages vom Neuen Jahr. Von Greifswald, der Stadt Caspar David Friedrichs, ging es zu Silvester herüber auf die Insel Rügen. Weit und fern der Schüsse und Raketentests im „Reichshauptstadtslum“, wo es eigentlich ganz und gar unmöglich bis widerwärtig ist, Silvester zu feiern. (Aber ich will hier keine Bernhardsche Beschimpfungskaskade machen, Berlin ist mit sich und einem Großteil seiner Blasenbewohner bereits genug gestraft.)


 
 

Also besser sich den Landschaften widmen. Und was Sie dann sehen, ist der hereinbrechende Abend des neuen Jahres samt Vollmond. Auf Rügen und mit wenig bis gar keinem Internet. So sollte es auch in Zukunft weitergehen. Zumindest, was die Zeitdiebe Facebook und Twitter betrifft. Über Hegel, über den Deutschen Idealismus oder über die wunderbare Malerei von Caspar David Friedrich läßt sich da nichts bis wenig lernen. Eine innere Uckermark finden und erfinden. Nicht im Netz partizipieren, sondern wieder die Texte produzieren. Es muß im Netzwerk nicht jeder ein Leser dort sein.

Und nach der alten Maßgabe weitermachen: Nicht jenen ahnungslosen Kleinemädchenjournalismus lesen, irgendwas zwischen Hannah Lühmann, Judith Engelmann und Margarete Kreischkowski, genau das, worauf ich seit Jahren keine Lust habe und was die kostbare Zeit raubt. Weniger ist mehr. Keinen Online-Journalismus. Oder kaum. Die durchs Dorf getriebenen Säue. „Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können – das macht den Journalisten.“ (Karl Kraus) Heute funktioniert viel zu oft nicht einmal mehr das Ausdrückenkönnen. Schreibimpotenz. Nicht einmal zu jener Beschreibungsimpotenz, die Handke 1967 in Princeton nannte, reicht es. Was ja immerhin noch ein Ton und ein Klang wäre: Nichts zu beschreiben, sondern Dinghaftes als Ding einfach zu zeigen. Ich will nach Wien in die Stadt von Karl Kraus. Auf diesen Spuren. Dieses Jahr. Die bösen und die guten Dinge tun.

Dieses Jahr – es steht Marx an, dessen Gedenkjahr 2018 zelebriert wird, mal angemessen, und sehr viel öfter vermutlich dumm-überflüssig , weil die Lektüre von Inkompetenz und Vorurteil getragen wird. Nicht was im Text steht, wird gelesen, sondern was sich im Köpfchen des Betrachters abspielt, ist das Maß der Lektüre und wird posaunt. Am Anfang steht nicht der Versuch und der Wille mehr oder weniger ausgebildet zu verstehen, sondern eine Hermeneutik des Verdachts. Lesenswert auf alle Fälle scheint mir die im September erschienene Biographie von Jürgen Neffe Marx. Der Unvollendete. Und dazu noch, allerdings älteren Datums, von Terry Eagleton Warum Marx recht hat. Man kann – so steht zu vermuten – allerdings schon dankbar sein, wenn die Diskussion dieses Jahr nicht auf dem Niveau „Aber Marx hat den Gulag möglich gemacht“ entlang glitscht. Mit solcher Unfug-Vermeidung wäre bereits einiges gewonnen. (Wenn auch wenig erreicht).

Auf geht es also zur Lektüre. Am besten die Originale selbst. Denn wie schon mein Professor Kleining in der Soziologie einst den Eleven sagte, die da im Proseminar saßen: Wer das Original nicht begreift, wird auch die Sekundärliteratur nicht verstehen.

Was Karl Marx und Karl Kraus übrigens eint: beide waren nicht nur kritische Analytiker und Beobachter ihrer Epoche, sondern ebenso glänzende Stilisten und Polemiker.

Marxens „Kapital“

Vor 150 Jahren, genauer gesagt am 14. September 1867 erschien eines der zentralen philosophischen wie auch ökonomischen Werke des 19. Jahrhunderts. Die Bedeutung wie auch der inspirierende Einfluß dieses Buches auf Kritische Theorie der Gesellschaft hält bis heute an und ist zu recht ungebrochen. Nicht nur finden wir eine Analyse der Gesellschaft, sondern gleichzeitig auch deren Kritik. Dialektisches Verfahren heißt, daß sich Analyse und Kritik in der Methode und in der Durchführung wechselseitig durchdringen.

Was hat Marx mit heute zu tun? Eine im Grunde polemische Frage und aus dem Baukasten der konventionellen und leider auch vorhersehbaren Marx-Kritik. Christoph Henning – lesens wert auch sein Buch „Philosophie nach Marx“ – betont die Aktualität von Marx und schreibt in seinem lesenswerten Essay in der NZZ:

„Im ‚Kapital‘ dagegen wird der Kapitalismus als Wirtschaftssystem verstanden, zu dessen normalem Funktionieren Wirtschaftskrisen gehören. Krisen sind für viele Menschen grausam, für den Kapitalismus aber nicht ungewöhnlich. Ihre Analyse war für Marx wichtig, weil Krisenzeiten Gelegenheit zum politischen Umsteuern bieten. Darauf hoffte die Arbeiterbewegung – und mit ihr die Frauen- und Umweltbewegung sowie die weltweite Dekolonisierung, die lange mit dem Marxismus liiert waren.
(…)
Marx wäre daher von den heutigen Krisenerscheinungen kaum überrascht gewesen – weder vom Phänomen der Working Poor, von der Zunahme an Depressionen durch Überarbeitung, der Erosion des Zusammenlebens und des Klimas noch von den verheerenden Wirtschaftskrisen. Eine traurige Aktualität eines Klassikers also. Schöner wäre es, dieses Buch wäre veraltet.“

Marx‘ „Kapital“ brachte das, was in unserer Gesellschaft geschieht und was sie in ihrem Wesen zusammenhält, in einer komplexen ökonomischen Analyse auf den Begriff. Nicht immer leicht zu lesen. Aber das eben ist kein Kriterium. Was damals einfachen Arbeitern in Lesekreisen möglich war, sollte auch heute noch Studenten möglich sein. Obwohl, wenn man an manche Exemplare denkt, hege ich meine Zweifel. Man muß dazu nicht in den Osten Berlins fahren, um mangelnde Lesekompetenz zu erleben.

Man kann es in bezug auf den praktisch-pragmatischen Gehalt dieses Buches gar nicht oft genug herausstreichen: „Das Kapital“ ist keine Handlungstheorie, nicht als Handlungsanweisung zu lesen, wie nach einem Regelkatalog Revolution zu fabrizieren sei, vielmehr analysiert „Das Kapital“ zunächst, was eine Gesellschaft in ihrem Wesen strukturiert.

„…, und alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen …“

So zitiert Arno Widmann in seinem Aufsatz „Das Drama beschreiben und verstehen“ in der „Berliner Zeitung“ einen Satz Marx‘ aus dem dritten Band im „Kapital“, postum erst erschienen, wie auch der zweite Band, herausgegeben von seinem Freund Friedrich Engels. Da aber Wesen und Erscheinung nicht in eins gehen und die unio mystica als Akt unverstellter Erkenntnis (bzw. im Schellingschen Sinne als intellektuelle Anschauung) lediglich den Imaginationen im Rausch der Drogen oder auch in dem der Poesie vorbehalten ist (und vielleicht in der Liebe ihren zentralen Ort hat), bleibt dem endlichen Wesen Mensch die Analyse übrig. Sie ist Aufgabe der Philosophie und im speziellen der Kritik der politischen Ökonomie. Ebenso wie der ästhetischen Theorie. Dafür reicht die Empirie alleine nicht aus. Engels Standardwerk teilnehmender soziologischer Beobachtung „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ ist eine gelungene Beschreibung der Lebensrealität von Arbeitern. Erschreckendes und Drastisches tritt da zutage, so wie man es heute vermutlich aus den Flüchtlingslagern dieser Welt berichten könnte. Das eine aber ist die Registrierung dessen, was der Fall ist und das andere, diese Fakten zu deuten. Marx hätte durch die reine Beobachtung von Fabriken nicht auf den Begriff bringen können, wie Kapitalismus funktioniert, was Wert ist, wie er entsteht und wie Kapital sich bildet und vermehrt. Wesen und Erscheinung decken sich nicht. Oder genauer geschrieben: aus den Erscheinungen muß das Wesen erst herausgelesen werden. „Kapitalismus verstehen heißt Karl Marx studieren“, wie die „Nachdenkenseiten“ ganz richtig titelten.

Kritische Theorie der Gesellschaft also und besser allemal, als in der Manier eines verklemmten deutschen Kleinbürgers Gedichte nach verstecktem Sexismus abzuklopfen, um symbolisch zu agieren, wo realiter kaum noch Chancen sind, überhaupt wahrgenommen zu werden. Also nicht die Partikularinteressen einer sexuell deformierten Studentenschaft, die in Prüderie ein neues 19. Jahrhundert uns auferstehen lassen will, mithin das Gegenteil marxschen emanzipierten Denkens. Sondern eine Kritik mit Lust und vor allem mit Kraft. Schiller brachte das Wesen solcher intellektuellen Finsterling gut zur ästhetischen Erscheinung: das, was heute bei einer bestimmten kulturalistischen Linken ausgeprägt ist – Greinen und Jammern:

„Der lohe Lichtfunke Prometheus‘ ist ausgebrannt, dafür nimmt man jetzt die Flamme von Bärlappenmehl – Theaterfeuer, das keine Pfeife Tabak anzündet. Da krabbeln sie nun, wie die Ratten auf der Keule des Herkules und studieren sich das Mark aus dem Schädel was das für ein Ding sey, das er in seinem Hoden geführt hat?. Ein französischer Abbé doziert, Alexander sei ein Hasenfuß gewesen; ein schwindsüchtiger Professor hält sich bei jedem Wort ein Fläschchen Salmiakgeist vor die Nase, und liest ein Kollegium über die Kraft. Kerls, die in Ohnmacht fallen, wenn sie einen Buben gemacht haben, kritteln über die Taktik des Hannibals – feuchtohrige Buben fischen Phrases aus der Schlacht bei Cannä, und greinen über die Siege des Scipio, weil sie sie exponieren müssen …“ (Friedrich Schiller, Die Räuber, 1. Akt, 2. Szene)

Wie eine immanente Kritik aussieht, kann man sich – rein formal gesehen – sowohl von Hegel als auch von Marx abschauen. Und wie man einen literarischen Text immanent sowohl dekonstruiert, als auch seine dialektische Struktur entfaltet, zeigen Adornos Essays etwa zu Kafka, Beckett, Goethes Iphigenie oder zu Hölderlin in „Parataxis“. Lehrstücke in dialektisch-materialer Literaturkritik.

Nicht anders Marx im Blick auf die Gesellschaft. Noch ganz abstrakt formulierte es Marx 1840 in seiner Dissertation, wie solche Analyse der Gesellschaft vorgeht.

„Es ist die Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen, die besondere Wirklichkeit an der Idee misst.“

Der Begriff der bürgerlichen Freiheit ist an dem zu bemessen, was er konkret unter sich befaßt und was er im gesellschaftlichen Leben konkret einlöst. Die Arbeit der Kritik ist es, diese Widersprüche an den realen Ausprägungen des Lebens zu benennen. Hegel führte dieses Verfahren methodisch in seiner „Rechtsphilosophie“ vor.

Hier geht es in der Theorie aufs Ganze, und man könnte meinen, Marx schriebe diese folgende Passage ex ante bereits als eine gallige Kritik der kulturalistischen Linken:

„Der Kritiker bildet sich … ein, daß seine moralische Forderung an die Menschen, ihr Bewusstsein zu verändern, dies veränderte Bewußtsein zustande bringen werde, und er sieht in den durch veränderte empirische Verhältnisse veränderte Menschen, die nun auch natürlich ein anderes Bewußtsein haben, nichts Anderes, als ein verändertes Bewußtsein. … Diese ganze Trennung des Bewußtseins von den ihm zugrunde liegenden Individuen und ihren wirklichen Verhältnissen … ist nur eine alte Philosophenmarotte.“ (Marx, Deutsche Ideologie)

Es ist die Klassenlage, die den Blick von Marx antreibt. Aber es gab im frühen 19. Jahrhundert sehr wohl eine Zeit, als diese Klasse des Proletariats dissoziiert und divers war. Es bedurfte einiger Arbeit eine solidarische Gemeinschaft zu schaffen. Edward P. Thompsen weist darauf in seinem Standardwerk „Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse“ hin, indem er auch auf die vorrevolutionären Zustände weist:

„Ich versuche, den armen Strumpfwickler, den ludditischen Tuscherer, den ‚obsoleten‘ Handweber, den ‚utopistischen‘ Handwerker, sogar den verblendeten Anhänger von Joanna Southcott vor der ungeheuren Arroganz der Nachwelt zu retten. Ihre Berufe und Traditionen waren möglicherweise im Absterben, ihre Feindschaft gegen den neuen Industrialismus war vielleicht rückwärtsgerichtet, ihre kommunitären Ideale waren unter Umständen Phantasiegebilde und ihre rebellischen Verschwörungen tollkühn. Aber sie waren es, die diese Zeit akuter sozialer Unruhen erlebten, und nicht wir. Ihre Bestrebungen waren im Rahmen ihrer eigenen Erfahrungen berechtigt. Wenn sie auch die Gefallenen der Geschichte sind, so überdauern sie doch, verurteilt in ihrem eigenen Leben, als Gefallene.“

Diesen Aspekten geht Patrick Eiden-Offe in seiner im Juni erschienenen Studie „Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats“ nach, und zwar im Hinblick auf die Literatur- und Sozialgeschichte, also anhand von literarischen Texten, in denen sich solche Tendenzen zeigen. In gewissem Sinne also Überbauphänomene zu analysieren.

Arbeiter, Handwerker, Wandergesellen, Vagabunden und Tagelöhner wirkten in jenen Jahren des frühen 19. Jahrhunderts noch unorganisiert in der Welt – eine Zeit, die heute längst Vergangenheit ist. Auch dies ist ein Blick auf die Formen von Pauperismus, die dann ebenso Marx analysierte und weitertrieb. Andererseits ist der Grad an Organisation solcher Arbeiter im Vergleich zum ausgehenden 19. Jahrhundert heute erheblich geschwunden.

Was diese Separation sowie die Entsolidarisierung betrifft, befinden wir uns auf einem Stand, der weit hinter das späte 19. Jahrhundert zurückfällt. Was uns manche Soziologen als die Mobilität der Klassen andrehen, verdeckt einen Grundwiderspruch: Daß all diese so mobilen Menschen arbeiten müssen. Auflösung von Klassenidentität: Auch eine Frage, die zu klären ist und mit dem Verfall linker Politik ins Spartenressort zu tun hat. Ebenso campuflieren Begriffe wie Freizeit- oder der Risikogesellschaft die realen Verhältnisse. Sie zielen lediglich auf einen Aspekt ab. Immer noch beruht diese Gesellschaft wesentlich auf Arbeit. Didier Eribon schrieb darüber unter anderem in seiner Autobiographie „Rückkehr nach Reims“. Die Entkoppelung von Arbeiterklasse und linken Parteien sowie einer am Kulturbetrieb ausgerichteten Linke, der es wesentlich um Partialinteressen geht, die zu ihrem eigenen Vorteil gereichen. Der Kulturjournalist Ulrich Greiner brachte solche Widersprüche in seinem Buch „Heimatlos“ gut auf den Begriff:

„Und die Bewohner der zumeist gut ausgestatteten Wohnungen am Prenzlauer Berg oder Eppendorfer Baum müssen in der Regel die industrielle Reservearmee, die mit der Flüchtlingswelle ins Land kam, nicht fürchten.“

Das mag zwar aus einem konservativen Impuls formuliert sein, trifft aber einiges auf den Punkt, was man mit einem neuen Klassenantagonismus bezeichnen kann. Aporien allerorten. Auf diese gehen etwa so unterschiedliche Bücher wie Thomas Seiberts „Ökologie der Existenz“, aber auch Nick Srnicek und Alex Williams in „Die Zukunft erfinden. Ohne Arbeit“ ein. Srnicek etwa ist an den Akzeleratorischen Manifesten mitbeteiligt, und man kann sich fragen, wieweit darin lediglich eine Transformation neoliberalen Denkens stattfindet. Auch innerhalb der unterschiedlichen linken Theorieansätze gibt es Debatten und Grabenkämpfe, bis heute, und dies war auch zu Marxens Zeit nicht anders.

Daß der Widerspruch Motor des Denkens ist und es antreibt, ist eine Einsicht, die aus den Uranfängen der griechischen Philosophie stammt: Von den Vorsokratikern über Platon bis hin zu Hegels „Wissenschaft der Logik“ reicht diese Einsicht. Marx insbesondere insistierte auf der praktischen Bedeutung des Widerspruchs. Verhältnisse zu ändern, daß der Mensch als Gattungswesen es ist, der Gesellschaft machen kann. In diesem Sinne ist Marx‘ Theorie im besten Sinne und in der Tradition der Aufklärung.

Wesen und Erscheinung decken sich nicht – dies formulierte Giesela Wysocki in ihrem Roman „Wiesengrund“, und zwar im Hinblick auf Siegfried Kracauers soziologische Analyse „Die Angestellten“. Und darin weist sie auf einen Grundwiderspruch insbesondere im voll entfalteten Kapitalismus:

„In aller Ruhe kann ich darüber nachdenken, warum Fräulein Struff, die als Stenotypistin arbeitet und jeden Morgen schlechtgelaunt in ihre Firma aufbricht, kein gutes Wort für Kracauer finden würde. Sie hat Freundinnen und Liebhaber, sie geht ins Kino. Sie fühlt sich nicht deklassiert.“

Banal fast, aber daran krankt in den westlichen Ländern jegliche Revolutionstheorie. Auch die noch so schönen Multitude-Konzepte können das nicht fassen. Umgreifende Ereignisse, die als revolutionär zu setzen wären, gibt es in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern nicht. Allenfalls eruptive Riots in Paris, London oder Straßburg, wo die Abgehängten sich die Waren aus den Schaufenstern nehmen, die ihnen die Werbung pausenlos verspricht. Angewandter Kapitalismus könnte man zynisch sagen, eine Anwendung zudem, der die Wirksamkeit wie auch die Ubiquität des Warensystems um so drastischer veranschaulicht.

Diese Arbeit zu leisten, Widersprüche in der Gesellschaft aufzuzeigen, ist die Arbeit Kritischer Theorie. Adornos Nichtidentisches als Form der Verweigerung ist ein solches Modell fürs Denken. Nicht jedoch, Gedichte oder winzigste Lebensregungen, Äußerungen oder von Weißen getragener Rastalook in neoevangelikalem Furor zu denunzieren. Nächstens zerschlagen diese Leute unter lautem Trara Porzellantassen, denn das  Porzellan stammt bekanntlich aus China und bedeute eine Form von cultural appropriation. Man fragt sich freilich, ob bei solchen Leuten nicht eher die Schranktassendiebe zu Hause waren als daß es sich hierbei um wirksames politisches Engagement handelt. Eher um Counter-Theorie, die die Linke ruhigstellt. Der Blogger che übrigens startet mit einer Serie und zeigt wo die Irrtümer jener Leute liegen, die sich fälschlicherweise auf Butler und Foucault berufen.

Der Blick Kritischer Theorie geht aufs Ganze. Er entzündet sich zwar an Details, aber er moralisiert dies nicht im Gestus evangelikaler Bigotterie. Auch diese Form von Kritik am Individuellen kann die kulturalistische Linke verschiedenster Couleur von Marx lernen. Man muß dabei nicht jede einzelne Fabrik aufsuchen, sondern erst im Denken entsteht solche Kritik an Gesellschaft. Dieses freilich setzt bereits eine Form von Befreiung voraus, um sich ins Ungeschützte zu wagen.

(Ansonsten: Einen detaillierteren Essay zu Marx brachte ich bereits im Mai dieses Jahres.)

Post Marx? Postromantischer Belastungsstreß? 150 Jahre „Das Kapital“

„Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein zoon politikon nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann. Die Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft – eine Rarität, die einem durch Zufall in die Wildnis verschlagnen Zivilisierten wohl vorkommen kann, der in sich dynamisch schon die Gesellschaftskräfte besitzt – ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen sprechende Individuen.“
(Karl Marx: Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie)

„Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit.“
(Karl Marx, Das Kapital I)

„Der Revolte garstiger Feuerstank!“
(Bersarin, Dankesrede zur Verleihung der Joseph de Maistre-Medaille)

Was fangen wir mit Marx an? So schalt es, freilich verhalten, im Gewimmel des bürgerlichen Feuilletons und in den öffentlichen Diskursen. 150 Jahre Kapital – im Sommer 1867 erschien der erste Band. Und im nächsten Jahr werden wir Marx‘ 200. Geburtstag begehen. Ob es dazu ebensolchen Rummel gibt wie zu Luthers Thesen, wird man sehen. Gewiß wird mancher, wie schon bei Luther, den vorgeblichen Antisemitismus von Marx hervorkramen. Dumm freilich – insbesondere von Hannah Arendt, aber, so steht zu vermuten, eher ihrem boshaften Beißreflex gegen die Frankfurter Schule geschuldet, als der Sache. [Davon ab, daß diese Kritik insbesondere bei Luther kein völkischer Antisemitismus im modernen Sinne ist, sondern sich aus dem religiösen Antijudaismus speist.]

Wie sich Marx nähern? Am besten sinnlich und konkret vom Text her. Das heißt, die beiden Zitate laut zu lesen. Den Klang der Wörter, den Rhythmus des Satzes beim Vorlesen wirken lassen. Marx schrieb nicht die Revolution, sondern er war Analytiker der Gesellschaft und in seiner Analyse der kapitalistischen wie bürgerlichen Gesellschaft zugleich ein Stilist. Er legte beim Schreiben Wert auf Sorgfalt. Selbst einer wie der Springer-Journalist und der spätere Leiter der Henri Nannen-Schule, Wolf Schneider, der wie sein Namensgeber mehr von einem Wehrmachtssoldaten mit Störkraftfeuer als von einem feinsinnigen Schreiberchen hatte, konzedierte Marx einen hervorragenden Stil. Klar, präzise, deutlich, wie Scheider es sich wünschte, wenn einer schrieb.

Und Marx war stilistisch ein Vorläufer von Karl Kraus, nicht nur, weil er die Sprache zum Tanzen brachte, sie mit Schwung auf die Sache kaprizierte und ihr so zum Ausdruck verhalf, sondern vor allem, was den bösen Ton betraf. Marx‘ Polemiken sind Legion, sie sind scharf, sie treffen den Gegner genau. Ins Gesicht. Gesellschaftskritik läuft (auch) über die Sprache. Marx wußte das, Kraus wußte es und ebenso Adorno und Benjamin, die Kraus‘ „Methode“ schätzten.

Was also tun mit Marx: Ihn nachbeten, ihn rekonstruieren, wie Habermas es in „Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus“ forderte? Geschichte ist Rekonstruktion, Theorie ist dies auch – sicherlich, – und ebenso lassen sich die ökonomischen Prozesse der Vergangenheit wie auch der Gegenwart beschreiben. Marx hat sie in seinem Kapital analysiert. Er lieferte jedoch keine Volkswirtschaftslehre für Linksradikale, wie manche fälschlich annahmen, sondern er spielte der Gesellschaft ihre eigene Melodie vor. Marx schrieb, was ist. Marx „Kapital“ ist im besten Sinne eine kritische Theorie der Gesellschaft, weil er sie bei ihren eigenen Begrifflichkeiten nahm.

Historischer Materialismus ist dabei, wie auch der Begriff der Dialektik, ein Schlagwort. Wie aber füllt man sie mit Inhalt? Auch in diesem Sinne ist der Begriff der Rekonstruktion zu verstehen. Linien bei Marx nachzeichnen. Ob dafür Habermas tatsächlich der richtige Gewährsmann ist, daran wird mancher Kritische Theoretiker zu Recht seine Zweifel hegen. Rekonstruktion von Marx im Sinne Habermas? Er schreibt dazu in der Einleitung seines Buches, 1976 erschienen, die Träume der 60er Jahren waren zu dieser bleiernen Zeit schon lange keine linken Nachwehen mehr, sozusagen postromantischer Belastungsstreß (den es sicherlich auch gab im Vorrausch wie in den Nachwehen und dem Abklang der 60er), sondern nach der großen Misere von 1968 bereite sich die Leere aus, die Theorie der Dogmatiker mit den Ismen gelangte in die objektlose Innerlichkeit marxistischer Exegese-Orthodoxie der unterschiedlichen K-Gruppen. Marx als Säulenheiliger.

Aber nicht im Text selbst mehr bewegte man sich, diese Immanenz, das, was da buchstäblich stand, tatsächlich zu verstehen, war selten, trotz der Lektürekreise, die in Hochintensität lasen, sondern es steckten die K-Kombattanten – statt im Analysemodus der Theorie zu fahren – in den Revolutionspostulaten, postromantisch ein Revolutionssubjekt imaginierend – sie glaubten die IG-Metall wäre links und auf ihrer Seite. Aber was sie projizierten, das waren in Wahrheit Arbeiter in der BRD, die lange schon keine Arbeiter mehr sein wollten und sich schon gar nichts von jungen Männern mit Bärten sagen lassen mochten, die von der Universität kamen und klug daherredeten. Marx-Exegeten, die vor lauter Tauschwert nicht mehr die Schönheit des Gebrauchswertes sahen. Im Grunde völlig contre Marx, diesen unproduktiv mißverstehend. Und so sahen die Menschen in den Lesekreisen noch bis in meine Studienzeit aus: Unansehnlich. Gleichförmig. Aber wie wir wissen, sind Statuen und Säulen tot, leblos unlebendig, manchmal erschlagen sie ihre Anbeter, kraft ihrer Größe. Es ist das Gegenteil von kritischer Philosophie Idolatrie zu betreiben.

Habermas schreibt in der Einleitung von „Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus“:

Renaissance würde die Erneuerung einer Tradition bedeuten, die inzwischen verschüttet worden ist: das hat der Marxismus nicht nötig. Rekonstruktion bedeutet in unserem Zusammenhang, daß man eine Theorie auseinandernimmt und in neuer Form wieder zusammensetzt, um das Ziel, das sie sich gesetzt hat, besser zu erreichen: das ist der normale (ich meine auch für Marxisten normale) Umgang mit Theorie, die in mancher Hinsicht der Revision bedarf, deren Anregungspotential aber noch (immer) nicht ausgeschöpft ist.“

Ob das so funktioniert, steht auf einem anderen Blatt. Ich denke, daß Kritische Theorie heute lediglich deskriptiv sein kann, mit Foucault sozusagen ein fröhlicher Positivismus, obgleich sich die Dinge eigentlich nicht fröhlich gestalten, denn diese Gesellschaft ist, wie Karl Kraus es bereits für die k.uk.-Monarchie festhielt ein riesiges Versuchslabor für den Weltuntergang. Zu sagen also, was ist. Die Zeichen der Zeit zu deuten:

„Sie zeigen, wie selbst in den herrschenden Klassen die Ahnung aufdämmert, daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist.“ (K. Marx, Vorwort zur ersten Auflage des Kapitals)

Die Begriffe an dem zu messen, was sie unter sich befassen, auch das bedeutet, der Dynamik der Gesellschaft nicht nur gerecht zu werden, sondern ebenso den Schwung und die Entwicklung in Bewegung zu bringen. Auf Defekte weisen. Und zwar möglichst in einer ästhetisch ansprechenden Art, wie Karl Kraus es tat – der beileibe kein Marxist war – oder wie aus anderer Ecke immer wieder Wolfgang Pohrt es macht. Mit bösem Biß, wider den Stachel löcken, auch gegen die eigene Gemeinde.

Daß es im 20 Jahrhundert mit Marx allein nicht mehr geht, darauf verwies insbesondere die frühe Kritische Theoriem, die sich ebenso die Einsichten Freuds und Nietzsches zu eigen machte und soweit eine sozialpsychologische Dimension in die Theorie der Gesellschaft einführte – das eben ist deren eigentliche Pointe. Habermas ist da eine Abzweigung, die mit der Kritischen Theorie im eigentlichen Sinne nicht mehr viel zu tun. Die Frage nach Geltungsansprüchen ist ein universalphilosophisches Projekt, im Rahmen der Philosophie als Reflexionsmedium über die Vernunft, mithin eine Reflexion auf ihre eigenen Bedingungen. In dem gleichnamigen Sammelband „Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus“ spricht Habermas von solchen Begründungsfragen. Das aber, diese Fragen nach moralischem Sollen und nach Geltung sind etwas ganz anderes als die Kritische Gesellschaftstheorie von Marx.

Was also tun, mit Marx? Am besten, ihn lesen.

„Der Mensch streift heute nicht mehr mit seinen Hunden und seinem Bogen am Rande der Sümpfe umher: sein Freiheitsdrang hat sich andere Einöden erschlossen. Intellektuelles Brachland, wo der Einzelne dem gesellschaftlichen Zwang entgeht. Dort lebt ein unbekanntes Volk, das sich um seine Legende wenig kümmert. Ich sehe seine Landhäuser, seine Laboratorien der Lust, sein Handgepäck, seine Schliche und Listen, seine Vergnügungen.“ (Louis Aragon, Le Paysant de Paris)

Eine Vorstellung von Arbeit, die nicht entfremdet ist, vermittelt die Kunst. Utopie und Vorschein eines Anderen, von dem wir nicht wissen, was es ist. Auch darauf deutet der Text von Marx.

Assoziationen – Grenzen der Gemeinschaft (2)

kafka5jahreDer Journalist Nils Markwardt wies vor einigen Wochen bei Facebook auf einen Text von Franz Kafka hin, der im „Merkur“-Heft Oktober/November 2013 mit dem Thema „Wir? Formen der Gemeinschaft in der liberalen Gesellschaft“ abgedruckt wurde.

Gemeinschaft

„Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt so leicht, wie ein Quecksilberkügelchen gleitet, der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: ‚Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen.‘ Seitdem leben wir zusammen, es wäre ein friedliches Leben, wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde. Er tut uns nichts, aber er ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will. Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es, aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen. Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unsern Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf. Mag er noch so sehr die Lippen aufwerfen, wir stoßen ihn mit dem Ellbogen weg, aber mögen wir ihn noch so sehr wegstoßen, er kommt wieder.“

Die Prosa bringt das Prinzip der Gruppenbildung in eine bündige Miniatur. Dieser Mechanismus der Exlusion leuchtet – zunächst – intuitiv ein. Kafkas Parabel ist auf den ersten Blick einfach, sie reduziert das Komplexe auf ein deutliches Bild und führt in dieser Weise den Dezisionismus ad absurdum. Solches Verhalten fängt im Kleinsten an, im Kindergarten nämlich, wenn sich Kids zusammentun und wenn sie andere zugleich ausschließen. Du nicht! Und wird, wie der Erzähler richtig feststellt, zu lange über Gründe diskutiert, käme ein Gespräch fast einer Aufnahme gleich. Willkür dient als Prinzip, um die Identität einer Gruppe auszubilden. Das strikte Nein und niemand begründet.

Genausogut ließe sich diese Parabel aber völlig anders lesen. Daß in eine intakte Gruppe, in einen sinnvollen Zusammenhang etwas Fremdes eindringt. Ein Etwas, das jenes Zusammenspiel sabotiert. Zwar ergab sich diese gelungene Konstellation durch einen Zufall, aber da sie nun einmal besteht und funktioniert, scheint es fahrlässig, solches Gelingen zu stören. Kafka selbst war empfindlich gegen Eindringlinge, was seine Situation in der elterlichen Wohnung betraf. Die Schwestern lärmten, die Eltern rumorten. Man lese in „Die Verwandlung“, wie dort die Zimmer angeordnet sind und gleiche es – sozusagen Binder-positivistisch – mit Kafkas Wohnsituation in Prag ab. Und auch seine späte Erzählung „Der Bau“ findet starke Bilder für den Solipsismus. Ein grabendes Tier, das daran frickelt, sich abzuschotten. Gemeinschaft mit sich, seinen Sinnen und seinem ungeteilten Selbst. Ein untrennbares Konglomerat. Der Mensch ist ein Widerspruch in sich.

Gruppen können, wenn sie länger Bestand haben, Gemeinschaften bilden. So wie jene fünf Gesellen in Kafkas Parabel. Solche Allianz impliziert die Frage nach dem Eigenen und dem Fremden. Was bildet die vereinende Klammer, das Band, was ein- und ausschließt?

Zunächst kann man festhalten, daß Gemeinschaftsbildungen für komplexe Gesellschaften unabdingbar sind. Entsprechende Theorien dazu sind Legion, sie finden sich bei Hegel in seiner Rechtsphilosophie, in Ferdinand Tönnies Standardwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“, stark beeinflußt durch das „Marxische System, das mitbestimmend auf ihren Inhalt gewirkt hat“, so Tönnies. Wir lesen sie in Max Webers zum Werk gefügten Aufsatzsammlung „Wirtschaft und Gesellschaft“, bis hin zu Luhmann und Habermas legendärer Kontroverse Anfang der 70er Jahre, eine Art Soziologen-Battle. „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie“ fragte Habermas im Titel seines Aufsatzes polemisch. Am Ende läuft der unheilvolle Zusammenhang der Immanenz spätbürgerlicher Gesellschaft auf die „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ hinaus. Der gesellschaftliche Kitt bei Habermas verlagert sich, weg von der politischen Ökonomie und einer materialen kritischen Theorie der Gesellschaft, ins rationale Prozedere der Argumentationsfiguren bzw. in eine „Rekonstruktion des historischen Materialismus“. Sabbelkommunismus, wie wir damals witzelten.

Es gibt keine Gesellschaft ohne Gemeinschaften. Der Begriff „alle Menschen“ taugt nur bedingt, nicht einmal im religiösen Kontext funktioniert er. Die Gruppe der Rechtgläubigen schließt alle anderen aus. Insofern ist jede Religion orthodox. Der Mann Moses, der gewaltig vom Berg schreitet: Du sollst keinen anderen Gott neben mir haben. Diese Satzung gilt für alle monotheistischen Religionen. Man müßte schauen, ob solche Gemeinschaftsbildung qua Ausschluß nicht vielmehr eine anthropologische Konstante ist. Laut der Ethnologie kennen Naturvölker nur zwei Gruppen von Fremden: Gäste, die wieder gehen, und Feinde, die geschlachtet werden. Homers Ilias singt das grausame Lied vom Tod Hektors. Dazwischen bleibt nicht viel Platz für anderes.

Johannes Fried schreibt in seiner Biographie zu Karl dem Großen:

„Der Fremde, war er nicht Händler, Gesandter oder Gast, wurde in seinem Fremdsein kaum geachtet, eher als Bedrohung empfunden. Jede Kommunikation mit ihm fiel schwer und mißlang nur allzuhäufig. Es fehlten angemessene Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, um die Anderen in ihrem Anderssein erfassen und würdigen zu können.“

Solche Möglichkeiten der Referenzierung sind entscheidend. Und das prägt bis heute sich ein, auch in einer komplex ausdifferenzierten Gemeinschaft wie dem modernen Staat, der das Individuum und dessen (formal-bürgerliche) Freiheit zum Gegenstand hat.

Ganz anders konzipiert ist jene Phase von Individualität und Gemeinschaft bei Friedrich Hölderlin, wie er sie in „Brot und Wein“ dichtete:

„…immer bestehet ein Maß
Allen gemein, doch jeglichem auch
ist eignes beschieden;

Dahin gehet und kommt jeder,
wohin er es kann.“

Das Gemeinsame wird aufs Eigene zurückgeführt. Mit Heideggers Andenken-Vorlesung zu Hölderlin ließe sich vom „freien Gebrauch des Eigenen“ sprechen, den es zunächst einmal überhaupt zu erlernen gilt.

Jene kleine Kafka-Parabel ist insofern als Auftakt zum Thema gut geeignet, weil sie Basales deutlich macht, aber zugleich in einer eigentümlichen Schwebe verharrt. Zudem ist das Motiv der Gemeinschaft zentral für Kafkas Literatur. Es durchzieht sein Werk in einer vielfachen Bündelung: In den drei großen Romanen „Der Verschollene“ – man denke an das „Naturtheater von Oklahama – in „Der Prozess“, wo ein Einzelner aus der Gemeinschaft entfernt und am Ende wie ein Hund getötet und abgelegt wird. Oder in „Das Schloß“, wo jener anonyme Einzelne namens K ins Dorf und damit in das mysteriöse Wesen Schloß Aufnahme begehrt. Im Naturtheater von Oklahama zeigt sich die Form der Gemeinschaft in einem Plakataufruf:

„‚Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Teater in Oklahama aufgenommen! Das große Teater von Oklahama ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!‘“

Ein Feuerwerk an Ausrufezeichen und es wird ein Leben geboten, wo im Sinne einer gesellschaftlichen Utopie jeder nach seiner Façon und an seinem Platz, seinen Fähigkeiten gemäß, wirken kann; herausgelöst aus der gesellschaftlichen Entfremdung. Fast fühlt man sich beim Lesen dieses Aufrufes an das Diktum des jungen Marx in der „Deutschen Ideologie“ erinnert: eine Gemeinschaft der Freien, wird uns offeriert. Aber nicht bloß in literaturästhetischer Absicht:

„Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden. Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, und eben aus diesem Widerspruch des besondern und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, an, und zugleich als illusorische Gemeinschaftlichkeit, aber stets auf der realen Basis der in jedem Familien- und Stamm-Konglomerat vorhandenen Bänder, wie Fleisch und Blut, Sprache, Teilung der Arbeit im größeren Maßstabe und sonstigen Interessen – und besonders, wie wir später entwickeln werden, der durch die Teilung der Arbeit bereits bedingten Klassen, die in jedem derartigen Menschenhaufen sich absondern und von denen eine alle andern beherrscht.“

Eine Passage, die Kafkas Unbehagen an der Moderne ex ante auf den Punkt bringt. Nicht die Seinsvergessenheit bestimmt die Existenz, sondern die Ökonomie und noch genauer: das Konzept von Arbeit. Nach solcher Arbeit suchte Karl Roßmann, als er in Amerika ankam, und gerät in die seltsamsten Tätigkeiten, etwa als Page im „Hotel Occidental“. Abendländischer geht nimmer. Kafkas „Der Verschollene“ exerziert diese unfreie Existenz im „Stahlgehäuse des Kapitalismus“ bis zum Ende durch. Seine Erzählung deutet auf Entfremdung. Und auf eine wundersame Aufhebung in einer obskuren Gemeinschaft, die etwas von der Existenz des fahrenden Volkes hat. (Wir erinnern uns bei Kafka an die Zirkus-Szenen und die merkwürdigen Artisten.) Eschatologie zuckt am Himmel auf. Vor allem, wenn Kafka diese Zugfahrt ins Nirgendwo beschreibt. (Fortsetzung in Teil 3)

kafka-fronius

Teil 1 findet sich hier.

Bild 1: Wikipedia, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kafka5jahre.jpg
Bild 2: Franz Kafka‘ by Hans Fronius, qua wikipedia, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AKafka-fronius.jpg

„Sicher ist, daß ich kein Marxist bin.“ (Karl Marx) – Einige Aspekte zur Kritischen Theorie Adornos

Diese Überlegungen sind eine Antwort auf einen Kommentar von „Mathepauker“ hier im Blog. Ich stelle sie als eigenständigen Beitrag in den Blog, weil sich in diesem Text einiges über die Philosophie Adornos lernen läßt. Schließlich möchte auch dieser Blog – zumindest von Zeit zu Zeit – seinem Bildungsauftrag nachkommen. Wieweit ist die Kritische Theorie Adornos vom Text Marx‘ geprägt?

Überschreiben wir diesen Beitrag zunächst einmal so: „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin“ (Karl Marx in: MEW 37) Damit haben wir zunächst einiges über die Engführung der Begriffe Marxismus/Marxist hin zu Karl Marx gesichtet. Und so können wir dann und in diesem Kontext schreiben: sicher ist, daß Adorno kein Marxist ist. Ansonsten geriete die Formulierung Adorno sei kein Marxist, sondern Linksweberianer schief. Es ist nicht der Arbeitermarxismus oder der Herz-Jesu-Marxismus evangelischer Akademien, der Adorno umtrieb und auf den der Text von Marx gerne heruntergebrochen wird.

Daß sich die Kritische Theorie von Marx her nicht sinnvoll rekonstruieren ließe, ist schlichtweg falsch. Die Bestimmungen zum Fetischcharakter der Ware sowie die Tendenz der Verdinglichung, die bis ins Bewußtsein hineinragt, bilden immer noch den Bestandteil Kritischer Theorie. Allerdings produziert Adorno keinen Marxismus und keinen (Vulgär-)Materialismus, der Phänomene des Überbaus schlicht auf die Produktionsbedingungen zurückführt. Richtig ist es allerdings, daß wir bei Adorno – anders als bei der Philosophie Hegels oder Kants – keine direkte Auseinandersetzung mit dem Text von Marx finden. Dieser Umstand mag auf den ersten Blick befremden. Was freilich nicht bedeutet, daß die Kritische Theorie Adornos sich von Marx‘ Kritik der Politischen Ökonomie verabschiedet hätte. Ganze Passagen der „Dialektik der Aufklärung“ sind davon getragen und Adornos Überlegungen zum Begriff eingreifender, gesellschaftsverändernder Praxis sind eine implizite Weiterführung Marxscher Begrifflichkeit. Adorno Text von Marx zu „befreien“ und ihn der Metaphysik zuzuschlagen, bedeutet schlicht eine Entschärfung der Kritischen Theorie. Nicht anders als Habermas es mit Adorno tat, indem er den Gehalt Kritischer Theorie in Kommunikation und kommunikative Rationalität überführte. „Um sich vom Ideologieverdacht zu reinigen, ist es neuerdings gelegener, Marx einen Metaphysiker zu nennen, als den Klassenfeind.“ (Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Einleitung) Dies trifft ebenfalls auf eine bestimmte (entschärfende) Adorno-Lektüre zu, die Adorno von Marx zu reinigen beabsichtigt.

In Adornos akademischer Antrittsvorlesung von 1931 „Die Aktualität der Philosophie“ heißt es:

„Wenn Marx den Philosophen vorwarf, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert, und ihnen entgegenhielt, es käme darauf an, sie zu verändern, so ist der Satz nicht bloß aus der politischen Praxis, sondern ebensowohl aus der philosophischen Theorie legitimiert. In der Vernichtung der Frage bewährt sich erst die Echtheit philosophischer Deutung und reines Denken vermag sie von sich aus nicht zu vollziehen: darum zwingt sie die Praxis herbei. Es ist überflüssig, eine Auffassung vom Pragmatismus ausdrücklich zu sondern, in welcher Theorie und Praxis derart sich verschränken wie in der dialektischen. (GS 1, S. 338-339)

Nun hat sich freilich in dieser Zeit zwischen 1931 und 1945 einiges geändert: Die Weimarer Republik geriet mithilfe einer entstellen Sozialdemokratie endgültig in die Geiselhaft reaktionärer Kreise, die Arbeiterklasse dankte dank Stalin ab und verschwand wie eine Träne im Ozean, Hitler kam, Stalin säuberte, ein totalitärer US-Kapitalismus verkaufte Kultur als Ware. Diese Parameter bestimmten fortan auch die Kritische Theorie der Gesellschaft. Den Hitler-Schergen entronnen, blieb nicht viel Spielraum für Hoffnungen auf die Arbeiterklasse. Wenn sie nicht in den Lagern deportierte wurde oder mitmachte, sah sie Filme aus Hollywood oder inhalierte vorfabrizierte Musik. Nicht anders als die bürgerliche Klasse, die sich anschickte im nivellierten Mittelstand zu verschwinden. Grob gesprochen.

Daß Adorno nicht der Arbeiterklasse entstammt, dürfte kein Geheimnis sein. Adorno generell Empathie für Arbeiter abzusprechen, läuft der Philosophie Adornos entgegen. Es käme ihm kaum in den Sinn, einzelne Individuen oder Gruppen pauschal zu verurteilen. Was er in seinen Texten jedoch freilegt, sind Mechanismen der Subjekt- und Bewußtseinszurichtung sowie – auch an Weber orientiert – Formen der Rationalität. In dieser Weise der Analyse und der Kritik folgte ihm Foucault später nach. Allerdings hegte Adorno, anders als mancher Linke in der BRD, keinerlei Illusion, daß dem Arbeiter als Klasse irgend eine revolutionäre, gesellschaftsverändernde Funktion zukäme. Im Bewußtseinsstand hatte der Arbeiter dem Kapitalisten nichts mehr voraus. Und auch hinsichtlich der Studentenproteste verstand Adorno seine eigene Theorie nicht als Handlungsanweisung für einen alleinseligmachenden Weg.

Richtig ist es, daß Adorno an Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes festhält. Allerdings aus einem materialistischen Motiv heraus: In der Leiderfahrung sowie ihrer Anamnesis in Philosophie und Kunst verschwistern sich Materialismus und Metaphysik. Die verschiedenen Stränge der Adornoschen Philosophie lassen sich nicht in einem einzigen Aspekt zusammenfassen, so daß man sagen könnte: Adorno sei nun dies oder das, ihm ginge es lediglich um die Rehabilitierung einer Metaphysik, wobei damit die Aspekte Marxscher Theorie aussetzten. Er ist so nahe bei Hegel und Nietzsche wie er nahe bei Kant und Marx ist. Dialektische Lektüre läuft darauf hinaus, den einen mit dem anderen gegenzulesen und in ein konstellatives Denken zu bringen. Was die Dialektik betrifft, so borgt Adorno von Hegels Denken. Aber diese Dialektik stellt sich nicht positiv still und kommt zu keinem Abschlußhaften. Das Nichtidentische ist kein Ort, der sich fixieren läßt, sondern es changiert, erzeugt immer wieder neue Modelle und Bilder – kaleidoskopähnlich. Die Nähe zur literarischen Romantik ist hier evident, und damit berührt sich die Adornosche Gesellschaftskritik auch mit der Ästhetik: Das Kunstwerk und ästhetische Erfahrung liefern Bilder und Modelle, aber sie lassen sich im Akt eines zugreifenden hermeneutischen Verstehens nicht stillstellen.

„Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe. Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheit des Kantischen. Ihn diskursiv zu behandeln, wäre Frevel: an ihm läßt leibhaft das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen sich fühlen. Leibhaft, weil es der praktisch gewordene Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz ist, dem die Individuen ausgesetzt sind, auch nachdem Individualität, als geistige Reflexionsform, zu verschwinden sich anschickt. Nur im ungeschminkt materialistischen Motiv überlebt Moral. Der Gang der Geschichte nötigt das zum Materialismus, was traditionell sein unvermittelter Gegensatz war, die Metaphysik.“ (Th. W. Adorno, Negative Dialektik)

Diese Sätze inthronisieren nicht die Metaphysik, sondern sie deuten vielmehr darauf, wie sich inmitten einer Gesellschaft, die nicht mehr auf unmittelbare revolutionäre Befreiung hoffen kann, die Kategorien verschoben haben. Telos Adornoscher Philosophie ist ein Subjekt, das sein Anderes in sich befaßt und auch die leiblichen, die somatischen, die impulshaften Momente in sich aufnimmt. Hierfür steht in vielfältiger Weise Adornos Begriff der Mimesis ein, die sich, um nicht bloßer idiosynkratischer Impuls zu bleiben, mit begrifflichem Denken koppelt. Synthesis des Zerstreuten ohne dieses gleichzumache, so könnte man es formelhaft auf den Punkt bringen, wenn sich denn Philosophie in einzelnen Sätzen erschöpfte. Das aber tut sie nicht.

Adorno liefert theoretische Bestimmungen zur Möglichkeit und zur Unmöglichkeit von Praxis. Es geht ihm dabei nicht um Handlungsmodelle, die zu einer Parole oder zum Pamphlet gerinnen, sondern es überlebt in der Theorie ein Moment von Praxis. Dies aber bedeutet nicht, daß sich Adorno nun im stillen Kämmerlein und als unschuldiger Metaphysiker von der 11. Feuerbachthese des Karl Marx verabschiedet hätte, um der Innerlichkeit zu huldigen. Daß die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert haben und eine Veränderung nun unmöglich sei. Allerdings bleibt Adorno skeptisch gegen allzu einfache Modelle, weil er – darin freilich Webers Modell von Rationalität folgend – eine Vernunft und ein Denken am Werke sieht, das genau diese Emanzipation des Subjekts verhindert. Von diesem Blick her kann man dann wiederrum Adornos Denkmodelle, die er in der „Negativen Dialektik“ entwickelt mit seinen Texten aus den „Minima Moralia“ und der „Dialektik der Aufklärung“ gegenlesen.

Kritische Theorie der Gesellschaft bleibt eine Theorie der Emanzipation und sie ist der Aufklärung geschuldet, darin der Kritik der Politischen Ökonomie verwandt. Die Aufklärung wird innerhalb einer Dialektik der Aufklärung nicht mit der Gegenaufklärung eines Heidegger, eines Carl Schmitt oder eines Leo Strauss bekämpft, sondern dialektisch bei ihrem eigenen Begriff genommen. Dies schließt materialistische und metaphysische Aspekte zusammen.

„Der Prozeß, durch den Metaphysik unaufhaltsam dorthin sich verzog, wogegen sie einmal konzipiert war, hat seinen Fluchtpunkt erreicht. Wie sehr sie in die Fragen des materiellen Daseins schlüpfte, hat Philosophie seit dem jungen Hegel nicht verdrängen können, wofern sie sich nicht an die approbierte Denkerei verkaufte. Kindheit ahnt etwas davon in der Faszination, die von der Zone des Abdeckers, dem Aas, dem widerlich süßen Geruch der Verwesung, den anrüchigen Ausdrücken für jene Zone ausgeht. (…) Wem gelänge, auf das sich zu besinnen, was ihn einmal aus den Worten Luderbach und Schweinstiege ansprang, wäre wohl näher am absoluten Wissen als das Hegelsche Kapitel, das es dem Leser verspricht, um es ihm überlegen zu versagen. Theoretisch zu widerrufen wäre die Integration des physischen Todes in die Kultur, doch nicht dem ontologisch reinen Wesen Tod zuliebe, sondern um dessentwillen, was der Gestank der Kadaver ausdrückt und worüber deren Transfiguration zum Leichnam betrügt. Ein Hotelbesitzer, der Adam hieß, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot, die auf dem Hof aus Löchern herausquollen; nach seinem Bilde hat das Kind sich das des ersten Menschen geschaffen. Daß das vergessen wird; daß man nicht mehr versteht, was man einmal vorm Wagen des Hundefängers empfand, ist der Triumph der Kultur und deren Mißlingen.“ (Negative Dialektik, Meditationen zur Metaphysik)

Dies sind entscheidende Sätze Kritischer Theorie: jener Hotelbesitzer, der Adam hieß, ist eines der Urbilder entstellter Subjektivität. Wer jene Passagen in dieser Adornoschen Diktion liest, dem stellt sich die Frage nach der (unsinnigen) Wahlmöglichkeit „Materialismus oder Metaphysik“ nicht mehr. Als ob das Subjekt in einer Cafeteria sich befände: Marx oder Cola oder Metaphysik? Adornos Text lediglich einer Seite zuzuschlagen, perpetuiert verdinglichtes und undialektisches Denken. Dieser Umstand eben macht nach wie vor die Aktualität Adornos aus: daß sein Text in immer neuen Facetten schimmert und scheint, weil es eine Theorie ist, die sich nicht auf eine Position festnageln läßt. Darin dem Denken Hegels und Marx‘ verwandt.

150 Jahre SPD: Keine neue Zeit, wenn wir schreiten Seit an Seit …

An der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes dennoch festzuhalten, bleibt ein zentraler Punkt kritischer Theorie und damit auch des kritischen Philosophierens, welches das Bestehende in seinem So-Sein, in seinem gesellschaftlichen Sein nicht bloß affirmiert oder als im Grunde unabänderlich darstellt: Zu sehen, daß alles gut ist, wie es ist, wenn man reförmchenhaft nur ein paar kleine Stellschräublein verändert, und wo ansonsten jegliche Kritik an Verhältnissen als Miesepetrigkeit abgetan wird: „Liefere doch erst mal Alternativen, anstatt immer zu meckern!“ So tönt’s hohl. Dieses Genöhle liegt argumentativ in etwa auf dem Niveau jenes Einwurfes: „Dann geh doch in die DDR!“ Das Klagen über das Klagen ist jedoch das, was eigentlich beklagenswert ist, weil jenes Klagen nur noch als tumber Beiß-Reflex von Sozialtechnokratinnen und -technokraten daherkommt, nicht jedoch als Reflexion auf Verhältnisse sich abspielt.

Bei Adorno bedeutete diese dialektische Drehung einer nicht-metaphysischen Metaphysik – die Metaphysik gerade in einer Zeit, in der sie als abgewirtschaftet galt, zu halten und als Stachel der Kritik fruchtbar zu machen – ein Moment von theoretischer Besinnung, ohne dabei starr in der Theorie zu verharren und sich häuslich dort einzurichten; ebenso verhält es sich in seinen Überlegungen zum Anfang der „Negativen Dialektik“ gegen das Primat von unmittelbarer und unvermittelter Praxis oder dem holpernden Drauflosdenken:

„Praxis, auf unabsehbare Zeit vertagt, ist nicht mehr die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation, sondern meist der Vorwand, unter dem Exekutiven den kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte. Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit oder stünde unmittelbar vor deren Herstellung, brach, ist sie genötigt, sich selber rücksichtslos zu kritisieren. Was einst, gegenüber dem Schein der Sinne und jeglicher nach außen gewandten Erfahrung, als das schlechthin Unnaive sich fühlte, ist seinerseits, objektiv, so naiv geworden, wie Goethe schon vor hundertfünfzig Jahren die kümmerlichen Kandidaten empfand, die subjektiv an der Spekulation sich gütlich taten. Der introvertierte Gedankenarchitekt wohnt hinter dem Mond, den die extrovertierten Techniker beschlagnahmen.“ (Adorno, Negative Dialektik)

Adorno greift in dieser Passage genau jene Wendung aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“ auf, daß allein der kritische Weg noch offen sei. Diese Kennzeichnung Kants gilt wohl in vielfache Weise. Zugleich handelt es sich implizit um eine Volte gegen Hegelsche Systemphilosophie: die Übereinstimmung von Begriff und Wirklichkeit schlug fehl. Mit Hegel freilich muß man immer noch festhalten: um so schlimmer für die Wirklichkeit.

Wieweit solche Kritik an Gesellschaft insbesondere über die Kritik der Begriffe und damit als Sprachkritik möglich ist, zeigt Marx‘ „Kritik des Gothaer Programms“. Es wird bei Marx eben nicht abstrakt negiert, was am Programm der SPD nicht gefällt oder mit subjektivem Befinden nicht übereinstimmt, sondern die sozialdemokratische Begrifflichkeit wird in dieser Schrift immanent ihrer eigenen Unzulänglichkeit überführt. Insofern diese Begrifflichkeit ihrem eigenen Begriffe nach als unwahr sich erweist, ist sie ebenso der Sache nach unwahr und damit: aufzuheben. Es werden die Begriffe daran bemessen, was sie unter sich befassen. Wie auch Karl Kraus ist Karl Marx ein (stilistisch versierter) Analytiker, der das, was sich in Sätzen auftut, der eigenen Unwahrheit überführt. Dieses Verfahren hat zum einen etwas mit jenem adaequatio-Satz in der Philosophie zu tun – im Sinne einer metaphysisch-theologisch geprägten Philosophie eines Ibn Sina läßt sich von dem Verhältnis ante rem, in re und post rem sprechen. Es nennt sich dieses Verfahren sichtend-analysierender Kritik zudem bestimmte Negation: dies sei allen jammernden Kritikerinnen und Kritikern des Klagens, die so sehr nach Alternative gieren, ins Stammbuch getextet. Es gibt nicht mehr die einfachen Lösungen, sondern es muß sich eine/r schon die Mühe machen, in dem Keller der Begriffe sich zu bewegen. Und nicht nur dort, sondern ebenso sollte im Unter- und Überbau dieser Begriffe gesichelt und geschnitten werden.

Allein: Den dialektischen Dreh, an einer Sache im Augenblick ihres Sturzes festzuhalten, können wir leider nicht auf die SPD übertragen, deren freier Fall nun seit Jahrzehnten anhält. Womöglich seit ihrer Gründung. Das kleinere Übel war im Grunde immer das Übel selbst. Allein der kritische Weg ist noch offen, und so ende ich mit  einem meiner Lieblingsstücke von F.S.K., das ich hier im Blog gelegentlich schon einmal präsentierte: Blue Yodel für Herbert Wehner:

„Und wer bei seinem Zahnarzt immer Stern und Spiegel liest, der weiß, wie teuer ist ein guter Rat!“

Sören Kierkegaard zum 200. Geburtstag samt einem kleinen Ausguckfenster hin zu Karl Marx, dessen 195. Geburtstag wir heute begehen

Die Selbstzerknirscher unterkomplexer Critical Whiteness-Diskurse, die Hypermoralisierer beständiger Selbstbefragung, jener linke Pietismus, der nicht links ist, sondern im Grunde einer rein christlichen-(fundamentalistischen) Tradition entspringt und jene protestantischen Selbstgeißeler, die nicht mehr in politischen Begriffen, sondern in rein moralischen Selbstaffektions- oder Kommunikationsdiskursen wirken: Finde den vor Gott nicht Gefälligen in mir selbst, finde den eigenen Rassisten, den Heteronormativen in mir selbst, denn wir sind erbsündenmäßig und per se schuldig („Das Erbauliche, das in dem Gedanken liegt, das wir gegen Gott immer unrecht haben.“): Alle diese dürften an diesem Tag ein wenig mitfeiern, denn Sören Kierkegaard hat heute Geburtstag. Kierkegaard – der große Selbstbefrager. Einerseits.

Andererseits trennen natürlich Welten jene JammererInnen moralisierenden Schwachfugs und den individualtheologischen Philosophen aus Kopenhagen. Geboren in einem Kaufmannshaushalt, religiös erzogen, wuchs Kierkegaard in Kopenhagen auf – eine Stadt, die er nur selten verlassen sollte. Er studierte Philosophie und protestantische Theologie, seine Dissertation trug den Titel: „Über den Begriff der Ironie mit ständiger Hinsicht auf Sokrates“.

Ist es eigentlich ein Zufall, daß die Schriftstellerin Aléa Torik – zusammen mit der Russin Olga – in der Kopenhagener Straße wohnt? Nein. Denn auch Kierkegaard schrieb unter Pseudonymen, erfand sich, in der Konstruktion konsequent verschiedene Schriftstellerexistenzen, trieb sein Spiel mit der Identität und der Herausgeberschaft, sei es bei dem Werk „Die Krankheit zum Tode“, das von Kierkegaard zwar herausgegeben, aber von einem Anti-Climacus verfaßt wurde (die Anti-Klimax als Gegenbewegung zur Dialektik klingt da bereits heraus), bei „Furcht und Zittern“ von Johannes de Silentio, „Der Begriff der Angst“ wiederum wurde von einem Vigilius Haufniensis verfaßt oder hinreichend komplex und verschachtelt in seinem wohl bekanntesten Buch „Entweder – Oder“: Ein Herausgeber Namens Victor Eremita gibt die Papiere des Ästhetikers (abgekürzt A) und des Ethikers heraus, der vermutlich, so der Herausgeber, Wilhelm heißt, der aber doch besser, weil der Name am Ende ungewiß bleibt, mit B abgekürzt wird. Zudem ist im Teil des Ästhetikers jenes „Tagebuch eines Verführers“ enthalten, bei dem aufgrund der Amoralität jener Aufzeichnungen sogar der leichtlebige Ästhetiker A sich der Autorenschaft verweigert, sondern vielmehr nur als Herausgeber dieses Teils sich in Szene setzt, wobei wiederum der Herausgeber Victor Eremita bemerkt, daß es sich bei dieser Geste bloß um einen alten Novelistenkniff handele, gegen den er selbe jedoch nichts einzuwenden habe. Wir sehen: Die Konstruktion von Subjektivität und Individualität in Kierkegaards Werk verläuft über den Modus von Spiel und Inszenierung doch weit komplexer als man es mit dem herkömmlichen Begriff von Individuum konnnotiert. Die Konstruktion der Pseudonymität trägt das Werk Kierkegaards. Die Wendung „jener Einzelne“, die Kierkegaard sich eigentlich auf seinem Grabstein gewünscht hätte, erweist sich in der Lektüre als doch sehr viel dialektischer und verwobener als es zunächst den Anschein hat.

Man kann Kierkegaards Denken teils als eine Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels verstehen, dessen Text er vielfach in die Kritik nahm – teils auch persiflierend: man denke nur an jene Dialektik des Entweder-Oder: Heirate und du wirst es bereuen, heirate nicht und du wirst es auch bereuen. Kaum ist diese Bewegung noch eine Dialektik zu nennen, sondern vielmehr erinnert dieser Schwebezustand zwischen Verzweiflung und Hohn an die Echternacher Springprozession sich in sich selbst verstrickender Subjektivität. Dialektik verbleibt in sich selbst als Möbiusschleife, sie steigert sich nicht mehr als Spirale auf, sondern kreiselt, verschlingert und verdreht sich. Und bereits der Beginn von „Entweder – Oder“ formuliert das Verhältnis und die Konstitutionsbedingungen von Innen und Außen und zieht diesen Gegensatz auf die Ebene des Subjekts selbst.

Was Kierkegaard insbesondere von seinem großen Antipoden Hegel trennte, das ist die Auffassung von Wahrheit. Das Subjekt steht zunächst außerhalb der Wahrheit, nicht anders als nach Kierkeegaard der Mensch ebenfalls einsam vor Gott steht. Diese kaum noch philosophische zu nennende Wahrheit, die sich nur innerhalb einer eigenen Existenz im Grunde noch bezeugt, läßt sich nicht in ein objektives Wissen überführen, sondern sie steht im Verhältnis zum Subjekt selbst und entfaltet sich zuallererst in diesem. Dabei verneint Kierkegaard jedoch weniger die Möglichkeit objektiver Wahrheit, sondern es geht ihm in seinem Denken vielmehr darum, diese Wahrheit mit den Möglichkeiten des Subjekts kompatibel zu machen: nur als erkannte Wahrheit ist es Wahrheit, so ließe sich diese Position erkenntnistheoretisch überspitzen. Dem Subjekt kann es dabei nur noch vermöge jenes Augenblicks, jenes kairos, jenes (undialektischen) Sprunges glücken, in der Wahrheit zu sein. Die Arbeit und die Logik des Begriffes bei Hegel, in der ja bereits ein Moment von kommunikativer Rationalität wirkt, reicht lange nicht mehr hin, weil es sich in der Diktion Kierkegaard nur noch um das trockene Prozedere einer durchrationalisieren Wissenschaft handelt.

Wahrheit aber ist für Kierkegaard existential, sie läßt sich in keine abstrakte Form des Wissens oder in (transzendentale) kommunikative Rationalität überführen – und insofern ist als einziger Vermittlungsmodus hin zum Subjekt dann die von Adorno so genannte „Konstruktion des Ästhetischen“ erforderlich. Daß – nebenbei – Habermas keine einzige Zeile zu Kierkegaard schrieb, dürfte in diesem Rahmen wenig verwundern. Kaum ein Philosoph dürfte dem Denken von Habermas fremder sein als der Text Sören Kierkegaards. Wobei sich in Kierkegaards Text dann durchaus jener Weg hin zum Ethischen zeigt, damit sich die Aporien und selbstbezüglichen Reflexionsschleifen des Ästhetikers überhaupt noch auflösen können. Kierkegaard ist in bezug auf das Ästhetische, das Ethische samt dem Sprung hin zum Religiösen vielschichtig zu lesen, und es ist nicht beim individualreligiösen Kierkegaard, der den Protestantischen Offiziellen und den Kirchenoberen ein Dorn im Auge und ein Stachel im Fleische war, stehenzubleiben.

Philosophie tritt bei Kierkegaard als Individualphilosophie auf, denn alles, was im Leben eines Subjekts von Bedeutung ist, geschieht nach Kierkegaard in der Einsamkeit und allein: Der Mensch liebt allein, hofft allein, quält sich allein und in letzter Konsequenz stirbt er allein. Dieser Bezug aufs rein Subjektive müßte im Grunde der Hegelschen Kritik purer Unmittelbarkeit und des Dies-da verfallen. Aber etwas ganz anderes geschah in der Bewegung der Philosophie: Vom Begriff geschichtlicher und gesellschaftlicher Vermittlung philosophischer Begrifflichkeiten abstrahierend, gerieten Kierkegaards Texte zum Auslöser einer philosophischen Stoßrichtung, die man unter dem Titel Existentialphilosophie zusammenfassen kann: Ob dies nun unausgesprochen bei Heidegger geschah, bei Jaspers oder Sartre. Slogans wie „Entscheidung“ und „Entschlossenheit“ machten jargonhaft Furor. Bei dem Schriftsteller Albert Camus taucht diese Dialektik von Vereinzelung und Entäußerung dann – zur Zeit der Pariser Existenzialphilosophie im Sartreumkreis – als Begriffspaar solidaire – solitaire wieder auf und ebenso liest sich der „Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde“ als ein Text, der an Kierkegaard Begrifflichkeiten anknüpft. Und Camus nennt ihn darin ja auch ganz direkt. „Kierkegaard, vielleicht der fesselndste von allen, tut wenigstens teilweise mehr als das Absurde nur zu entdecken. Er lebt es.“ (A. Camus)

In diesem Sinne exponiert Kierkegaard in seinen Texten die heraufziehende Moderne – sei es die ästhetische als auch die gesellschaftliche. Die Vereinzelung des Subjekts, sein monadologisch-monologischer Charakter gerät (scheinbar) zur Existenzform. Und es bleibt zugleich der Trug konstitutiver Subjektivität und Individualität als Motor. In solchem Denken, das sich rein aufs Subjekt kapriziert, schwingt ein großes Stück Ideologie und zugleich aber auch Wahrheit mit, und dieses Schillern macht Kierkegaard auch für die heutige Zeit noch interessant. Selbst in der „Negativen Dialektik“ Adornos ist diese Möglichkeit einer sich entfaltenden Subjektivität, die mehr ist als bloßes Allgemeines und die jenes schlechte Allgemeine tilgen möchte, herauszulesen: Den Trug der Subjektivität mit den Mitteln des Subjekts zu sprengen.

Es sei in diesem Zusammenhang einer Dialektik (oder eines Spiels) von Individuum und Gesellschaft, von Subjekt und Objekt darauf hingewiesen, daß am heutigen Tage ebenfalls Karl Marx seinen 195. Geburtstag hat. Ein interessanter Gegensatz innerhalb der Philosophie des 19. Jahrhunderts tut sich da auf: einerseits die Bestimmung von Gesellschaft und dem gesellschaftlichen Leben des Menschen über die Begriffe der (politischen) Ökonomie samt ihrer immanenten Kritik; Marx leistet – sieht man von seinen frühen Schriften einmal ab – eine Funktionsanalyse und zeigt, wie und auf welche Weise der Laden läuft und die immergleiche Scheiße sich perpetuiert und zugleich ihrem Begriffe nach doch wandelt und neue Ausprägungen annimmt. Andererseits, wie im Text Kierkegaards, eine Immanenz des Subjekts, ohne daß da erkennbar ein Außen bzw. gesellschaftliche Vermittlung noch wirkte; die Widersprüche verlagern sich ins Subjekt selbst und werden diesem angekreidet. Adorno sprach im Zusammenhang mit Kierkegaard von der „objektlosen Innerlichkeit“:

„Die Bewegung, welche sie vollzieht, aus sich heraus und in sich den ‚Sinn‘ wiederzuerlangen, bedenkt Kierkegaard mit dem Terminus Dialektik. Diese kann von Anbeginn nicht als Subjekt-Objekt-Dialektik gedacht werden, da inhaltliche Objektivität nirgendwo der Innerlichkeit kommensurabel wird. Sie trägt sich zu zwischen der Subjektivität und deren ‚Sinn‘, den sie in sich enthält, ohne in ihm aufzugehen, und der selber nicht aufgeht in der Immanenz von ‚Innerlichkeit‘. Die Verwandtschaft solcher Dialektik mit der mytischen ist Kierkegaard nicht entgangen.“ (Th. W. Adorno, Kierkegaard. Die Konstruktion des Ästhetischen)

Kierkegaards wohl bekanntestes Werk „Entweder – Oder“ endet mit folgendem Satz:

„Frage dich und und höre nicht auf zu fragen, bis du die rechte Antwort findest; denn man kann eine Sache viele Male erkannt, die Wahrheit desselben anerkannt haben, man kann eine Sache viele Male gewollt und versucht haben, und doch, erst die tiefere innere Bewegung, erst des Herzens unbeschreibliche Erregung überzeugt dich davon, daß das, was du erkannt hast, dir gehört, und daß keine Macht es dir rauben kann; denn nur die Wahrheit, die erbaut, ist Wahrheit für dich.“

Daraus ist leider die Erbauungsphilosophie samt einer Philosophie als Lebens- und Subjektoptimierungskunst geworden, die es nicht mehr vermag, vom narzißtisch-selbstverzückten Subjekt samt seinen Regungen abzusehen. „Zwischenmenschliche Beziehungen“ oder das „echte Gespräch“ halten dann fürdahin als Phrase und Jargon der Eigentlichkeit her. Im Grunde – im säkularisieren Zeitalter – ein herabgesunkener Kierkegaard, Kierkegaard zum halben Preis, weil die Bezüge zur protestantischen Theologie ausgeklammert wurden.

Was bei Kierkegaard im Rahmen ästhetischer Selbstverstrickung und in jenem „Fuchsbau der unendlich reflektierten Innerlichkeit“ als „Konstruktion des Ästhetischen“, in dem ein Subjekt sich pseudonomysiert und vervielfältigt, als eine Form des Ästhetischen noch funktioniert, gerät im Feld des Gesellschaftlichen auf die schiefe Bahn, und insofern ist Adornos Hinweis in seiner Habilitationsschrift zu Kierkegaard der richtige, mithin der dialektische Umgang, sich im Gewebe seiner Texte wie folgt zu bewegen: „ihn zu stellen gibt es kein Mittel, als ihn bei den Worten zu nehmen, die, als Fallen geplant, endlich ihn selber umschließen. Die Auswahl der Worte, deren stereotypische, nicht stets geplante Wiederkehr zeigen Gehalte an, die selbst die tiefste Absicht des dialektischen Verfahrens noch lieber verstecken als offenbaren möchte.“