Für eine Philosophie des (gelingenden) Scheiterns

„Solange die Philosophie jedoch sich nur damit beschäftigt, ständig die Möglichkeit zu verbauen, sich erst auf die Sache des Denkens, nämlich die Wahrheit des Seins, einzulassen, steht sie gesichert außerhalb der Gefahr, jemals an der Härte ihrer Sache zu zerbrechen. Darum ist das ‚Philosophieren‘ über das Scheitern durch eine Kluft getrennt von einem scheiternden Denken. Wenn dieses einem Menschen glücken dürfte, geschähe kein Unglück. Ihm würde das einzige Geschenk, das dem Denken aus dem Sein zukommen könnte.“ (Martin Heidegger, Brief über den Humanismus)

heideggerIn manchen Aspekten scheint die Philosophie Heidegger der Adornos recht nahe, denn auch nach Adorno setzt sich geglückte Philosophie dem Scheitern aus. Doch sollte eine gewisse strukturelle Analogie zwischen einigen Motiven nicht die Differenzen verdecken, die beide unüberbrückbar voneinander trennt. Wenn Adorno von der Solidarität mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes spricht und darin zugleich für eine andere Form der Philosophie votiert, so mag man zunächst, was die Figur des Sturzes und des Scheiterns betrifft, eine gewisse Nähe zu Heidegger konstatieren. Doch ist gerade dieser Schluß der Negativen Dialektik explizit gegen Heideggers Destruktion der Metaphysik gerichtet.

Ähnlich allenfalls die Figur des Stürzens und jenes Motiv, daß Denken sich preisgeben muß. Auf die Gefahr des Scheiterns hin. Indem nämlich Philosophie versteht (oder begreift), daß sie ihren Gegenstand niemals vollständig in sich auflösen und festsetzen kann, sondern die Freiheit zum Objekt und ein Nichtgelingen sind geradezu konstitutiv und geben Bedingungen wahrhafter Philosophie ab, die aufs Ganze geht. In seinem Aufsatz „Der Essay als Form“ umkreist Adorno diese Annäherung an eine Sache, und fragt danach, in welcher Weise die Philosophie eine Sache in Sprache sagt. Der Philosophie ist ihre Darstellung nicht äußerlich – ähnlich wie beim Kunstwerk. Weshalb bei Adorno Philosophie und Kunst zwar in einem engen Verhältnis zueinander stehen, aber nicht ineinander aufgehen oder Philosophie ästhetisch würde. Vor solchen Gelüsten postmodernen Verschmelzens warnte Adorno schon 1932 zu Beginn seines Kierkegaard-Buches. Die Metapher des Scheiterns jedoch, eines solchen, das nicht pejorativ gemeint ist, kommt auch bei Adorno zum Tragen. Doch vom Inhalt her anders als bei Heidegger.

 

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Eine Formulierung „Härte der Sache“, die wie Kruppstahl martialisch aus dem Text sticht, käme Adorno nie über die Lippen, weil sich bereits an solchen Begriffen die Ideologie des Denkens niederschlägt. Ein Falsches, das sich in der Wahl der Worte verrät. Zudem steht, indem Heidegger die Härte bereits vorab konstatiert, die Bestimmung der Sache, die eigentlich doch im Offenen liegen sollte, bereits fest. Gleiches gilt von der „Wahrheit des Seins“, die Heidegger präponiert. Was solche Metaphern vom Harten betrifft, beklagte sich Adorno in diesem Sinne bereits über Hegel, als dieser in der „Wissenschaft der Logik“ sich übe die gewöhnliche Zärtlichkeit für die Dinge mokierte.

Auch Philosophen wie Marcus Steinweg greifen dieses Motiv des Scheiterns auf, wenn sie – an Nietzsche angelehnt – von einem überstürzten Denken bzw. von einer „Philosophie der Überstürzung“ sprechen. (An der Berliner Volksbühne gab es dazu eine anregende Vortragsreihe.) Bei Steinweg ist dieses Philosophieren jedoch um einen akzeleratorischen Aspekt erweitert. In der Bewegung erst geschieht unser Denken, was einerseits, wenn wir etwas überstürzen, Schnelligkeit und auch Voreiligkeit bedeutet, zugleich aber steckt in dem Begriff genauso der Sturz, der große oder der kleine Fall. Von Nietzsche kennen wir aus dem „Zarathustra“ jenen Satz, daß man alles, was fällt, stoßen solle. In diesem Sinne wird die Kluft nicht mehr überwunden, sondern es erfolgt der Sturz in den Abgrund. Auch dies ist eine Form des Scheiterns. In der Einleitung heißt es, in den Worten des Zarathustra:

„Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.

Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben.

Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist.

Ich liebe die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden.“

Doch nichts bleibt, wie es ist, gerade in dieser Rasanzzeit des Fin de Siècle. 1917, drei Jahrzehnte später schrieb Franz Kafka eine kleine Erzählung, darin der Mensch selbst zur Brücke wird. Ganz und gar unmetaphorisch. Was bei Nietzsche noch als eine Art rhetorische Strategie sich gibt – der Postromantiker Nietzsche erzeugt immer noch jene romantischen Bilderfunken, darin ganz Kind seiner Metaphysik der Zeit –, gerät bei Kafka zur beklemmenden und doch auch wieder komischen Tragödie.

„Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich. Diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm habe ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach. Kein Tourist verirrte sich zu dieser unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet. – So lag ich und wartete; ich musste warten. Ohne einzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören, Brücke zu sein.

Einmal gegen Abend war es – war es der erste, war es der tausendste, ich weiß nicht, – meine Gedanken gingen immer in einem Wirrwarr und immer in der Runde. Gegen Abend im Sommer, dunkler rauschte der Bach, da hörte ich einen Mannesschritt! Zu mir, zu mir. – Strecke dich, Brücke, setze dich in Stand, geländerloser Balken, halte den dir Anvertrauten. Die Unsicherheit seines Schrittes gleiche unmerklich aus, schwankt er aber, dann gib dich zu erkennen und wie ein Berggott schleudere ihn ans Land.

Er kam, mit der Eisenspitze seines Stockes beklopfte er mich, dann hob er mit ihr meine Rockschöße und ordnete sie auf mir. In mein buschiges Haar fuhr er mit der Spitze und ließ sie, wahrscheinlich wild umherblickend, lange drin liegen. Dann aber – gerade träumte ich ihm nach über Berg und Tal – sprang er mit beiden Füßen mir mitten auf den Leib. Ich erschauerte in wildem Schmerz, gänzlich unwissend. Wer war es? Ein Kind? Ein Traum? Ein Wegelagerer? Ein Selbstmörder? Ein Versucher? Ein Vernichter? Und ich drehte mich um, ihn zu sehen. – Brücke dreht sich um! Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich stürzte, und schon war ich zerrissen und aufgespießt von den zugespitzten Kieseln, die mich immer so friedlich aus dem rasenden Wasser angestarrt hatten.“

Solche Wendungen bezeichnet man im Griechischen etymologisch mit dem Begriff Katastrophe. Ein Subjekt, das den Augenblick seines eigenen Sturzes aufzuzeichnen vermag und noch den des eigenen Todes seismographisch registriert und sich im Sterben überlebt. Proust wünschte sich dies sehnlichst. Noch auf seinem eigenen Sterbebett ließ er sich Schreibzeug kommen, um den Tod Bergottes genauer und exakter formulieren zu können. Wir müssen uns das moderne Subjekt als einen Jäger Gracchus vorstellen. (Möglich aber ist dies alles nur in der Literatur, in den Fiktionen, in jenen wunderbaren oder dramatischen Welten, die wir im Kopf uns und für andere erzeugen. Auch darin immer nahe am Scheitern gebaut: Denn Bleiben ist nirgends dichtete Rilke in seinen Duineser Elegien.)

Der unheimlichste aller Gäste – Grenzen der Gemeinschaft (1)

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„Der Nihilismus steht vor der Tür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste? – Ausgangspunkt: es ist ein Irrtum, auf »soziale Notstände« oder »physiologische Entartungen« oder gar auf Korruption hinzuweisen als Ursache des Nihilismus. Es ist die honetteste, mitfühlendste Zeit. Not, seelische, leibliche, intellektuelle Not ist an sich durchaus nicht vermögend, Nihilismus (d. h. die radikale Ablehnung von Wert, Sinn, Wünschbarkeit) hervorzubringen. Diese Nöte erlauben immer noch ganz verschiedene Ausdeutungen. Sondern: in einer ganz bestimmten Ausdeutung, in der christlich-moralischen, steckt der Nihilismus.“ (Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente)

Solcher Nihilismus und  damit auch der unheimlichste aller Gäste freilich sind aktuell seit Jahrhunderten. Da brauchen wir uns wegen Trump keine Sorgen zu machen. Trump ist nicht der Anfang einer Bewegung, sondern lediglich eines der Resultate einer lange schon andauernden Tendenz. Das vergessen die, welche den Alarmismus predigen, allzuleicht. Das hat eine Vorgeschichte. Aber der Titel dieses Beitrags ist – zugegeben – reißerisch angelegt. Böses Clickbaiting, Freude der Nacht. Worum es mir jedoch in diesem Kontext geht, ist die seit der frühen Aufklärung (nein, im Grunde seit der sokratisch-platonischen Antike) währende „Entzauberung der Welt“, das Geschehen, was Georg Lukács in seiner Theorie des Romans die „transzendentale Obdachlosigkeit“ nannte. Die philosphische Größe Nietzsches liegt vor allem darin, diese „Dialektik der Aufklärung“ auf den Begriff bzw. in eine fragmentarische Anordnung gebracht zu haben. Daß uns die Entzauberung der Welt auch als menschliche Wesen entzaubert. Und so treibt das die Wünsche aus und gebiert neue:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Dies dichtete Novalis im „Heinrich von Ofterdingen“ – jener literaturkritischen Antwort auf Goethes „Wilhelm Meister“. Die Rätselworte, die eine falsche Welt aufzulösen vermögen. Eine nette fette Fiktion der lyrisch gestimmten Einbildungskraft? Einer Kraft zumindest bedarf es, um Falsches fortzuschaffen. Auch die Französische Revolution übrigens, auf die sowohl Schiller wie die Frühromantiker mit Schrecken reagierten, war eine solche Kraft, die ein altes Europa fortfegte. In Nietzsches Diktion jedoch ist es eine Entzauberung, die tiefer reicht, und es gesellt sich der Welt ein Gast zu, der gekommen ist, um zu bleiben.

Eine Frage aber hängt im Raum: Wer wohl die anderen Gäste sein mögen – neben dem unheimlichsten. Darauf gibt Nietzsche – zunächst – keine Antwort. Viel des Unheimlichen ist.

Was die Interpretation von Nietzsche betrifft, insbesondere im Hinblick auf die bekannte, auch hier im Blog immer einmal wieder geführte Debatte zu Nietzsche und dem Faschismus, empfehle ich zur Lektüre im Online-Magazin tell einen Text von Hartmut Finkeldey aus der Rubrik „Vers für Vers 4: Von der Ästhetik zur Barbarei?“. Es ist eine Lektüre von Nietzsches Gedicht „Mitleid hin und  her“ („Vereinsamt“). Jenes bekannte Gedicht, von dem Rilke inmitten der metaphysischen Obdachlosigkeit borgte, als er dichtete „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“. Bei Nietzsche hieß es am Ende „Weh dem, der keine Heimat hat!“ Eine Kältezone, die im deutschen Herbst ihren Anfang nimmt, Nietzsche taktet auf:

Die Krähen schreiʼn
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
bald wird es schnei’n. –
wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!

In dem Text von Hartmut Finkeldey insbesondere schön verwendet ist jenes Bild aus Nietzsches „Zarathustra“ von den drei Verwandlungen des Geistes: „wie der Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.“ Eine Transformation, die noch die Hegelsche Dialektik durchstreicht, so würde ich hinzufügen. Dieser Umstand eines Umschlages macht diese Entwicklung für mich besonders spannend,  wenngleich wir mit dem Antihegelianer Foucault und dem Dialektiker Derrida wissen, daß wir nie mehr hinter Hegel zurückfallen können, weil wir insbesondere dann dem Denken Hegels nicht nur erliegen, sondern unterliegen.

Ja, Nietzsches Transformationen, seine Veredelungszucht, auf die auch dieses Gedicht deutet. Nicht als Rasse, sondern als Kultur, wie Hartmut Finkeldey betont. Dieses Konzept übt bis heute einen Reiz auf bestimmte Formen von Gemeinschaft aus: ob es die intellektuellen Herrenreiter sind, eingeschneite, eingebildete Ästhetiker (eingebildet in der Doppelbedeutung genommen), Grandhotel Abgrundler oder die kompetenten Teilnehmer am Politischen, intellektuelle Kraft, Fähigkeit zur Analyse, Diskursgemeinschaft.

Als eine Einheit stiftende Form der Gesellschaft freilich sind solche von Nietzsche gedachten Gemeinschaften nicht mehr möglich – die griechische Polis ist adé, weil es so etwas wie die Agora nicht mehr gibt. Ein Ort, wo Freie miteinander debattieren und sich durch solche Prozesse ein Gemeinwesen stiftet. Das Medium hat sich in einer Form gewandelt, daß sich von der Quantität her eine neue Qualität ergibt. Mit Habermas gesprochen entwickelt sich daraus der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“.

Nietzsche und Habermas jedoch dürften schwer zusammenzubringen sein. Denn Nietzsche will auf etwas ganz anderes hinaus. Es ist dies keine Gemeinschaft Gleichberechtigter –  gleichberechtigt zumindest in der ideologischen oder auch idealtypischen Konstruktion bürgerlichen Denkens genommen, gewissermaßen die Fiktion von Gleichheit –, wo Schwache und Starke vertreten sind: auf dem Markt nämlich, kann man böse hinzufügen. Auch Zarathustra übrigens begibt sich, wie wir wissen, von seinene Höhen, aus dem Gebirge herab auf den Markt, hört das Volk, sieht den Seiltänzer. Da wo der Mensch ein Seil ist, das sich über einen Abgrund spannt. Übergang und Untergang. Es folgt der Possenreißer. Nietzsche in der Menge. Wir begegnen beim Betrachten ebenso den „Fliegen des Marktes“, Sätze die von Heidegger stammen könnten, der sich in seiner Weise sicherlich auch als eine Art Zarathustra begriff:

„Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt; und wo der Markt beginnt, da beginnt auch der Lärm der großen Schauspieler und das Geschwirr der giftigen Fliegen.“

Nein, Nietzsche ist kein Demokrat. Gemeinschaften unterschiedlichster Art jedoch sind in der Moderne immer eingebunden in eine Gesellschaft und damit in die Dimension des Politischen.

Was aber ist jener Nihilismus, von dem Nietzsche spricht und der den Riß, die Lücke, die Kluft der Moderne hervorruft? „Gott ist tot“? Diese Erkenntnis, dieser Ausruf des „letzten Menschen“ (Nietzsche) allein reicht allerdings nicht, um zu klären, weshalb Sinn erodiert und weshalb wir von „Legitimitätsproblemen im Spätkapitalismus“ sprechen. Mich interessiert die Frage nach dieser Kluft, nach dem Riß. Es geht die These, die Deutsche Romantik wollte diese verlorene Einheit wiederherstellen. Das, was wir die Ausdifferenzierung der Moderne nennen und was im Grunde bereits bei Aristoteles angelegt ist, wenn er die Erkenntnistheorie von der Moraltheorie trennt, was sich bei Kant in den drei  Kritiken dann manifest zeigt und dann bei Habermas in einer ausdifferenzierten Vernunft sich fortsetzt. Für die Ästhetik genommen scheint so etwas wie Einheit eine (vormoderne) Fiktion, im Konzept von Martin Seel etwa : vorzuziehen in der pluren Moderne ist die „Kunst der Entzweiung“.

Vielleicht aber sollten wir – noch einmal – zu den Texten der Frühromantik (lesend) zurückkehren. Meine These geht vielmehr so, daß es dieser deutschen Romantik nicht auf die Einheit ankam – wofür auf den ersten Blick Begriffe wie Universalpoesie und Transzendentalpoesie zu zeugen scheinen –, sondern daß sich dort vielmehr ein Denken extremer Differenz ereignet, wie wir es rund 160 Jahre später bei erst wieder bei Adorno, Heidegger und Jacques Derrida wiederfinden. Um aber diesen Abschweif aufs Thema zu leiten: Es sind auch Gemeinschaften immer Differenzgebilde. Implizit und explizit stellen Gemeinschaften andauernd die Frage nach dem Unterschied, nach dem, was anders ist. Einschließungen funktionieren nur qua Ausschluß. Spannende Frage für eine Ethik der Differenz, für ein Denken der Vielheiten. Bei Nietzsche übrigens heißt das Perspektivismus.

Das Wesen des Weibes – „Geschlechterkampf. Franz von Stuck bis Frida Kahlo“ im Frankfurter Städel Museum

Im Spiel der Schleier und der Stoffe natürlich, wie Nietzsche es in seinen verschiedenen Vorreden propagierte, so steht das Weib da. Im Entzug, qua Stoff, der die Haut und jene zentralen Stellen des Körpers dem männlichen Blick und damit dem Zugriff zunächst entzieht – das Motiv jenes Jünglings vor dem Bildnis zu Sais variierend – und zugleich doch diese Haut unterm Stoff inszenierend. Aber Schleier, Tuch, Haut und Weib sind bei Nietzsche zugleich Metaphern. Nietzsche setzt neben den bekannten Wahrheitstheorien der Philosophie eine Weise von Wahrheit an, die sich herkömmlichen Bestimmungen entzieht. Die Wahrheit ist ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen:

„Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur ‚Wahrheit um jeden Preis‘, dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit – ist uns verleidet: dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief … Wir glauben nicht mehr daran, daß Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu glauben. Heute gilt es uns als eine Sache der Schicklichkeit, daß man nicht alles nackt sehn, nicht bei allem dabei sein, nicht alles verstehn und ‚wissen‘ wolle. ‚Ist es wahr, daß der liebe Gott überall zugegen ist?‘ fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: ‚aber ich finde das unanständig‘ – ein Wink für Philosophen! Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Rätsel und bunte Ungewißheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?… Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehenzubleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe! Und kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus umgesehn haben, die wir von da aus hinabgesehn haben? Sind wir nicht eben darin – Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum – Künstler?“ (F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)

Wahrheit wird nicht mehr einzig in der Tradition herkömmlicher Philosophie gefasst, etwa als Adaequatio-Theorie, sondern konstituiert sich als Entzug. Dabei kommen zu ihrer Darstellung auch literarische Mittel zum Einsatz. Wahrheit ist – qua Verkoppelung mit einem bestimmten Konzept von Weiblichkeit – eine Art „Spiel“, dass den traditionellen Wahrheitsbegriff übersteigt oder in einer neutraleren Variante: zumindest ergänzt. In diesem Sinne ist jenes Konzept einer Wahrheit als Weib auf Nietzsches frühe Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ zu beziehen: Wahrheit ist ein Metapherntrieb, die Wahrheit ein Heer von Metaphern. Insofern ist es konsequent, dass auch der Wahrheitsbegriff bei Nietzsche sich in metaphorischer Form darbietet. Wahrheit ist nicht postfaktisch, sehr wohl aber unterliegt sie den Interpretationen bzw. wie es in Nietzsches Philosophie dann heißt, den Perspektiven. (Eine Philosophie des Perspektivismus könnte sicherlich auch eine gute Erklärung für unser babylonisches Stimmengewirr der Spätmoderne liefern, für all die Formen des Widerstreits ohne Überbrückung und Konsens.)

Andererseits darf der (männliche) Erkenntniskritiker, der zum Weibe geht, um das Weibliche zu zwingen, die Peitsche nicht vergessen. So der Rat des alten Weibleins im „Zarathustra“. Durch diese Weise metaphorischen oder verrätselten Sprechens, nähert sich der philosophische Wahrheitsbegriff einer Form von Literarizität an und unterliegt einer rhetorischen Strategie.

Erkenntnistheorie fungiert als eine Art von erkenntniskritischer Erotik und als eine Art Entzugs-Spiel also – all die Spielarten der Psychoanalyse dürfte solches freuen. Derrida etwa hat in seinem Aufsatz Sporen. Die Stile Nietzsches diese Figur des Weiblichen bei Nietzsche als eine Form des weiblichen Schreibens im Manne untersucht. Doch zurück zur Kunst, zu jenen von Nietzsche angerufenen Künstlern.

67ab3563-ab05-4d36-9e4a-050c0cc3c919Eine interessante Ausstellung ist in Frankfurt im Städel zu sehen: „Geschlechterkampf. Franz von Stuck bis Frida Kahlo“. Die Ankündigung bzw. die Kritik im „Freitag“, insbesondere die Überschrift „Männerphantasien“ weckte meine Neugier. Ich bin allerdings, anders als der Autor dieses Artikels, froh, daß jene Ausstellung keinerlei Verbindungen mit der Gegenwart herstellt. Zumal solche Bezüge schnell in den üblichen Peinlichkeitsfeminismus abrutschen. Soll doch jeder Betrachter und jede Betrachterin selber die Assoziationsketten in Bewegung setzen. Der Titel „Männerphantasien“ jedoch, frei nach Theweleit, ist treffend. Denn um genau die geht es am Ende, wenn wir uns Bilder (von Männern und auch die von Frauen) anschauen und uns Bilder machen. Bilder sind ebenfalls solche Gründe, die Grund haben, ihre Gründe nicht sehen zu lassen. Und gegen solche Bilder und gegen solche männlichen Verwesentlichungen sollten Frauen wiederum ihre eigenen Phantasien setzen. Nur in einer solchen Pluralität funktioniert die Erotik, funktionieren die Diskurse des Erotischen. Und nicht in den politisch korrekten Proklamationen.

Daß solche Gegenüberstellung in dieser Ausstellung fehlt, hält der Autor vermutlich zu recht fest. (Ich werde mich davon freilich selber überzeugen wollen, wenngleich ich eigentlich nicht gerne reise.) Ansonsten aber gilt für all diese Spielarten der Erotik zwischen Mann und Frau jener Satz aus Kleists „Penthesilea“: er gilt beim Zerfleischen, beim unendlichen Lieben, beim Kampf der Geschlechter, beim Ringen miteinander:

„Küsse, Bisse, das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, kann schon das eine für das andre greifen.“.

Für den Diskurs der Spätmoderne freilich bleibt nur die Erkenntnis der Band „Schnippo Schranke“, die jenen Satz von Kleist kongenial umformulierte:

„warum schmeckt’s, wenn ich Dich küsse,//untenrum nach Pisse?“

Die Kritik zumindest macht mich auf diese Ausstellung neugierig und so werde ich wohl demnächst nach Frankfurt reisen. Bis zum März nächsten Jahres bleibt noch Zeit.

Photographie: Städel Museum; entnommen dem „Freitag“

 

Der Gewalt verschrieben. Eine changierende Reflexion im Hinblick auf Navid Kermanis Frankfurter Rede

Verena Lueken sagt in der FAZ: „Die Glorifizierung von Sadismus zum Tode ist ein Marketingmerkmal der westlichen Kulturindustrie. Die Verwendung von ‚Snuff‘ in Kermanis todtrauriger Rede verweist auf uns.“ Luekens Text setzt mit einer Kritik der Gewaltbilder ein, die uns im Cinema geboten werden und die vom IS gleichsam geklont wurden. Aber stimmt es, daß mit den Bildern der Gegenwart, die uns Kino und Medien vorsetzen, eine neue Stufe der Eskalation zündete? Wurde in den Kulturen, nicht nur den europäischen, Gewalt nicht immer schon medial vermittelt und teils drastisch dargestellt, mit Lustkitzel aufgenommen? Glorifiziert, als natur- und mythoshaft gepriesen. Film zehrt vom Mythos und verbrät die Urszenen zum kulturindustriellen Hackbraten. Mal schlecht, mal besser.  Bis hin zu  den Bildern von 9/11, das uns als Mythos stilisiert wird. Doch diese Gewalt in Bildern ist kein Phänomen, das sich speziell in dieser gerade mal 120 Jahre alten Kunst des Films manifestiert. Allenfalls in der medialen Vermittlung, wie sich diese Bilder und Szenen verbreiten, gibt es einen quantitativen Sprung, der zu einer neuen Qualität führt.

Gewalt aber ist alt, unvordenklich und webt in allen Formationen von Gesellschaft. Man lese Aischylosʼ Orestie, Ovids Darstellung von Marsyasʼ Häutung oder Homer, wenn er Hektors Tod schildert, den Pferde zwölf Tage lang um die Mauern Trojas schleiften. Solche Szenen scheinen mir durchaus ISIS-kompatibel. Nicht von Orientalen in Toyotas, sondern von den edlen Griechen hoch zu Roß gezogen.

Das Phänomen der Gewalt wie auch die Ergötzung an solchen Darstellungen deutet auf eine tiefer sitzende Schicht im Menschen. Das Medium, das die Botschaft macht, ist unzureichend, wenn es um die Tiefendimensionen und um das Unbehagen an der Kultur geht. Nietzsche war es, der diese rohe Gewalt der Griechen in seiner frühen Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ als Grund von Subjektivität nannte – Subjektivität hier in einem weiten Sinne verstanden, da das Dasein der Griechen kaum mit unseren Kriterien von Subjekt kongruent ist. Zugleich verwies er auf das Kompensations-phänomen. Denn in der Diktion Nietzsches verdeckt gerade die Kunst diese unaufhebbare Abgrundstruktur. Mildert sie.

Ebenso ist de Sade einer jener Ahnherren, die die düstere Seite der Aufklärung in luzid-grausame Literatur brachten und den Zusammenhang von Zwang, Macht, Subjekt und Gewalt im harten Spiel der Sexualität veranschaulichten: bis hin zur Auslöschung des Subjekts, bis hin zu seiner vollständigen funktionalen Vernutzung. Gewalt ist unser Immanenzphänomen, sie mag sich gesellschaftlich je anders strukturieren, doch bleibt sie in ihren Variationen konstanter Begleiter, und sie greift zugleich in die Transzendenz aus, die in der Form des Religiösen diese Gewalt perpetuiert und aufsteigert.

Kermanis religiös motivierter Ansatz dürfte in linken Kreisen auf Unverständnis stoßen. Vielleicht ist Kermanis Beten am Ende seiner Friedenspreisrede inmitten all der Aporien naiv. Zugleich zeugt diese Haltung jedoch von einer Umgangsweise, die das bloß Politische verläßt und mit einer Geste auf eine andere Form deutet. Diese Geste hängt in ihrer Wirkung und Glaubhaftigkeit sicherlich mit der Person Kermani zusammen. Als solche und losgelöst bleibt sie leer, insofern trifft hier, wie auch in Moralfragen der performative Aspekt. Kermani begreift – dies zeigt ebenso sein neues Buch – das Religiöse als ein ästhetisches Phänomen. Dieser Zugang erscheint einem Agnostiker wie mir nicht uninteressant.

Liebe also? Nein! Kunst, Destruktion und Gewalt: Die Bilder des Kinos jedoch konterkarieren diesen Abgrund, der in Nietzsches Sicht durch die Kunst gemildert, wenn nicht verdeckt wurde, aber dennoch konstitutiv bleibt, verschieben ihn gewissermaßen. Anthropologisch. Sie legen ihn nicht offen, als Wunde gar, weil sie Drastisches und Grauenvolles zeigen, sondern sie entleeren ihn im Reigen an Gewaltbildern, im inflationären Gebrauch all der bilderhaften Narration. Machen ihn im Spektakel käuflich. Konstituieren ihn als Warenform. Die Videos des IS sind mit den Mitteln der Hollywoodästhetik gedreht und exakt auf uns zugeschnitten, sind die andere Seite der Kino- und Videoclipmedaille. Darin ist Lueken zuzustimmen. Beim Snuff-Movie wie auch in den MTV-Verheißungen ist es am Ende ganz egal, ob diese Bilder real sind und ihnen ein Faktum korrespondiert oder nicht: es zählt der Kitzel und der Mythos. Aisthetisches also. Ob es solche Snuff-Movies, solche Bilder wirklich gibt, wie vielfach gerätselt wird, oder ob es nicht vielmehr Fakes sind wie auch die MTV-Ästhetik: Kino also, Filmkunst, Unterhaltung? Eine im Grunde unsinnige Frage. Was macht es für die Grausamkeit aus, ob den Bildern als Index ein Referent, ein Objekt, eine Szene korrespondiert? Andererseits legen Bilder Zeugnis ab. Darin liegt der Unterschied zwischen Hollywood und dem IS. Das Zeugnis Hollywoods sind Verkaufszahlen. Die Ideologie bleibt dem System gleich, solange es keine commies sind.

Ich glaube, was das Politische und die Kontinuität der Gewalt betrifft, nicht an Rettung. Weder im Gebet, noch in der Hoffnung, in der Kunst und schon gar nicht in der politischen Tathandlung. Allenfalls besitzen wir Europäer das Privileg, daß wir uns im Theater der Grausamkeit die besten Plätze aussuchen können, wenn wir den letzten Tagen der Menschheit zusehen und beiwohnen. Treffen wird es am Ende auch uns. Es gibt keine anderen Bilder, es gibt keine anderen Erzählungen, wie Lueken sich erhofft, die als Korrektiv wirkten. Die Kunst mag den Snuff oder das Grauenhafte der Bilder irgendwie transformieren, auf eine Wirklichkeit anderer Ordnung deuten, noch im Exzeß ein Moment von Utopie und Andersheit mobilisieren. Aber Kunst ist keine moralische Lehranstalt, wie ich überhaupt denke, daß Moral nicht primär lehrbar ist. Wir sind der Gewalt verschrieben.

[Praktisches Interludium: Gewalt hegt man nur mit Gewalt ein, darin liegt der circulus vitiosus, den wir äonenlang befolgen und weitertreiben. Wenn aber, wie in Syrien und anderswo auch, jeglicher Maßstab abhanden gekommen ist und von Gut oder von Böse sich im Ernst nicht mehr sprechen läßt, was freilich nicht die Freund/Feind-Unterscheidung tangiert, die jede Politik trägt, dann sollten wir in diesem Falle und pragmatisch das kleinere Übel wählen. Die Übel heißen Assad und Putin, der Feind jedoch ist der politische Islam. Mit Assad bekommen wir einen halbwegs säkularen Staat geliefert. Wie islam-totalitäre Diktaturen funktionieren, können wir uns anhand des von den USA gestützten Regimes in Saudi-Arabien gut betrachten. Im Augenblick ist das westliche Eingreifen in Syrien mehr zu fürchten als das der Russen.]

Das Dasein, das Desaster als ästhetisches Phänomen wahrzunehmen, macht nicht immer Freude. Bei den schmerzhaften oder verstörend harten Szenen ist es wie in einem guten Film, der mit Schema und Spannungsbogen arbeitet. Scripted Reality. Was sind Tatsachen, was sind Bilder, was sind Fakten? Unsere Interpretationswelten gruppieren die Diskurse und Szenen. Hollywoods Kriegsbilder werden auch diesen Konflikt zu medialisieren wissen und ihm entweder eine ästhetizistische oder reißerische Note verpassen.

Man mag über Kermanis Redeabschluß spotten. Mir bleibt er fremd. (Wie auch der Spott.) Vielleicht sind, ganz gleich ob Gebet, Skepsis oder Kritik, sämtliche unserer Regungen bereits derart von der kulturindustriellen Warenstandards und von Präformierung durchdrungen, daß alles, was geäußert wird mit dem Makel behaftet ist. Das mag auch in diesem Falle zutreffen. Manchmal jedoch können Gebete Gesten sein, etwas wie ein Andenken, eine Weise des Er-Innerns, wie wir uns die wunderbare Geliebte, die in der Ferne weilt, nahe wünschen und den Geruch ihrer Haut, ihrer Haare, den Duft ihres Geschlechts imaginieren und aufsaugen. (Diese Korrespondenz zwischen arabisch-persischer Liebesmystik und körperlichem Begehren stellt Kermani in seinem Roman „Große Liebe“ her.) Vielleicht sind es solche oder ähnliche Gesten, die kurz nur, als dialektisches Bild gleichsam, aufscheinen und im Benjaminschen Sinne den Weltlauf knapp unterbrechen. Die Puppe Materialismus und der im Schachautomat verborgene häßliche Zwerg namens Theologie. Über die Dinge und die Fakten hinauslauschen. Metaphysik und Transzendenz müssen nicht im Hokuspokus münden. Sie sind genuin ästhetische Akte.

„Ein Friedenspreisträger soll nicht zum Krieg aufrufen. Doch darf er zum Gebet aufrufen. Meine Damen und Herren, ich möchte Sie um etwas Ungewöhnliches bitten – obwohl es so ungewöhnlich in einer Kirche dann auch wieder nicht ist. Ich möchte Sie bitten, zum Schluss meiner Rede nicht zu applaudieren, sondern für Pater Paolo und die zweihundert entführten Christen von Qaryatein zu beten, den Kindern, die Pater Jacques getauft, die Liebenden, die er miteinander vermählt, den Alten, denen er die Letzte Ölung versprochen hat. Und wenn Sie nicht religiös sind, dann seien Sie doch mit Ihren Wünschen bei den Entführten und auch bei Pater Jacques, der mit sich hadert, weil nur er befreit worden ist. Was sind denn Gebete anderes als Wünsche, die an Gott gerichtet sind? Ich glaube an Wünsche und dass sie mit oder ohne Gott in unserer Welt wirken. Ohne Wünsche hätte die Menschheit keinen der Steine auf den anderen gelegt, die sie in Kriegen so leichtfertig zertrümmert. Und so bitte ich Sie, meine Damen und Herren, beten Sie für Jacques Mourad, beten Sie für Paolo Dall’Oglio, beten Sie für die Christen von Qaryatein, beten Sie oder wünschen Sie sich die Befreiung aller Geiseln und die Freiheit Syriens und des Iraks. Gern können Sie sich dafür auch erheben, damit wir den Snuffvideos der Terroristen ein Bild unserer Brüderlichkeit entgegenhalten.“ (Navid Kermani in seiner Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche)

Indianerherz kennt keinen Wahrheitsschmerz. Kein Scherz! Jürgen Habermas und die transversale oder mit Nietzsches Schleiern durchwirkte Vernunft sowie ein Ausflug zu Herzdame und eine Anekdote aus Weimar

Auf „Perlentaucher“ schrieb ich einige Kommentare zu einer Debatte um Jürgen Habermas.

Einen dieser Kommentare möchte ich (an einigen Stellen überarbeitet und ergänzt) hier im Blog einstellen, weil er – häufiges Thema auch bei „Aisthesis“ – auf ein Konzept von Vernunft samt deren Kritik verweist, das sich nicht bloß im Entweder-Oder eines rationalistischen Procedere oder aber in den Ausprägungen Nietzscheianischer Überästhetisierung von Welt und im Gestus unvermittelter Subjektdestruktion verfängt Zudem lesenswert, ausgesprochen klug und witzig dort der Kommentar von Dieter Kief vom 28.8. (Leider zeigt der „Perlentaucher“  nicht Zeiten und Tage an, sondern nur „vor 15 Stunden“, „vor zwei Tagen“. Fluktuation und Fluß der Zeit – sozusagen. Panta rhei des Digitalen.)

Nur kurz und knapp: „Der philosophische Diskurs der Moderne“ von Jürgen Habermas, erschienen 1985, ist ein Buch, das lehrreich zu lesen ist und einen einerseits klugen Blick auf die Tücken und Chancen der Moderne uns eröffnet. Wieweit die Rettung der Moderne als immanente Kritik der Moderne, ohne dabei ihre Gehalte preiszugeben und zugleich aus ihrem Geist heraus, überhaupt gelingen kann, ist eine schwierig zu beantwortende Frage. Habermas‘ Rekonstruktion ist in vielen Punkten durchaus inspirierend und wer einen Blick auf den Geist jener 80er Jahre (jene Periode, wo der Begriff Zeitgeist gespenstisch auftauchte) werfen möchte , der von vernunftbetontem Denken getragen ist, der scheint in diesem Buch gut aufgehoben. Dennoch enthält dieses Buch Thesen, die falsch sind; wo Habermas in den Gefechten der 80er, als der gallische Hahn einmal wieder laut in der langsam krepierenden BRD krähte, sich vergaloppiert. Von seiner Lesart Foucaults, Batailles und Derridas angefangen, von denen Habermas so gut wie nichts verstanden hat, etwa wenn er diese als Neokonservative bezeichnete. Das mag aber jener Rebekka (Habermas) geschuldet sein, die ihm, wie er in der Widmung formulierte, „den Neostrukturalismus nähergebracht hat“. Das tat sie nicht sonderlich gut, wenn wir uns die Resultate betrachten. Wobei Derrida und Foucault alles Mögliche sind – auf alle Fälle sind sie Kritiker des modernen Subjekts –, aber eben keine Neostrukturalisten. Doch das mag Streit um des Kaisers Bart sein, wenn es darum geht, Namen in die Schubladen zu bringen: ebenso die Frage, ob Habermas Kantianer oder Hegelianer sei. (Wie damals bei einem Philosophiekongreß in Stuttgart die dümmliche Fragestellung „Kant oder Hegel?“  lautete Als ob wir in der Cafeteria einer Studi-Mensa wären.)

Zudem möchte Habermas das Projekt der Moderne dahingehend fortschreiben, daß er die vermeintlich subjektiven Aporien, in die Adornos/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ sich manövrierte (so die Sicht Habermasʼ nicht meine) zugunsten einer kommunikativ angereicherten Vernunft aufzulösen trachtete. Beide haben sich einer „hemmungslosen Vernunftskepsis“ überlassen, auf die Adorno mit Ästhetik und bestimmter Negation reagierte. Nun muß man hier Habermas freilich entgegenhalten, daß diese Aporien keine subjektiven sind, die der Adornoschen subjektiven Vernunft entsprangen oder einer irgendwie grummelnden Adornoschen Willkür geschuldet waren, sondern daß diese Widersprüche in die Vernunft, gut kantisch genommen, sich objektiv in bestimmten ökonomischen Verhältnissen gründen. Keine Theorie des kommunikativen Handelns ersetzt nun einmal die Kritik der Politischen Ökonomie sowie die negative Dialektik von Gesellschaft. (Womit wir in diesem Sinne bei der 11. Feuerbachthese sind, die Adorno gleich zum Beginn seiner „Negativen Dialektik“ aufgreift.)

Wie es im Philosophieren so ist: es erweist sich diese Bestimmung Habermasschen Philosophierens als eine Frage der Definition und der Perspektive – ohne solche Sicht im Relativismus auflösen zu wollen. Darin gerät Denken dann in einem schlechten Sinne flüssig – sprich: es liquidiert sich. Andererseits kann es Sprengkraft haben, wenn Denken sich liquidiert und damit eben: liquid wird. [Davon ab sind Liquidität und Liquidation natürlich die Themen der Moderne: Vom Geldfluß samt den Arbeitsverhältnissen bis zum „Lager als dem Nomos der Erde“, wie es bei Giorgio Agamben heißt.]

Womit wir bei Nietzsches Perspektvismus angelangt sind. Dieter Kief schreibt über Nietzsche:

„Irgendwo auf diesem strahlenden Pfad in den irdischen Himmel aus lauter Glück wandelt dann auch Nietzsche und bejaht und bejaht, bis er leider den Verstand verliert. Lou-Andreas Salomé ist ihm ein Weilchen nahe und sieht, dass der Nietzschesche Höhenrausch im Kern hoffnungs- und aussichtslos ist; sie entlässt ihn mit einem Klaps in die eiskalten Sphären seines einsamen Weltverdrusses mal schreibenden Selbstgenusses. Für sein Leiden an sich selbst rächte er sich mit der Verachtung der anderen: Der wertlosen Masse der Schwachen. Wer Nietzsches forciertes Übermenschentum gut findet, kann eventuell sagen: Er konnte nicht anders, er war eben verdreht und brillant…

Zugleich könnte man in Nietzsche die auf ihren geistesheroischen Kern reduzierte Aufklärung verkörpert sehen.“

Herrliche Passage! Hätte von mir sein können. War es leider nicht. (Ich kasteie mich für solche Versäumnisse dann abends selber, indem ich einige Gläser vom schrecklichen Chardonney statt vom köstlichen Riesling mir aufzwinge. Ich habe für solche Fälle immer einige Büßerfläschchen in der Kühle: Chardonney, du Strafgericht. Ich weiß es noch wie heute, als ich vor drei Jahren in Weimar einen Vortrag über „Hölderlin, Lukács, Adorno“ hielt und eine mich begleitende Freundin und ich abends, nachdem alle Geschäfte schon geschlossen hatten und alle Lieder gesungen, auf der Suche nach etwas Brauch-, Rausch- und Trinkbarem waren. So gerieten wir an einen Weimarer Späti. Ich fragte nach Riesling, der Verkäufer empfahl mir einen der besten Chardonneys: ich würde, selbst als Skeptiker, so der findige oder eher windige Geschäftsmann, während seine jugendliche Freundin mir immer huldvoll und fast ein wenig verschmitzt zulächelte, daß es mich leicht unangenehm berührte,  mir aber dann doch auch schmeichelte, von diesem Tropfen mehr als begeistert sein. Am Ende des Trinkprozesses jedoch – nachts, nach dem Vortrag, auf der Dachterrasse der Unterkunft, als wir zwei der Flaschen geleert hatten und ich in sinnlosen Celan-Paraphrasen: Lallen-lallen-immerzu, Pallaksch Pallaksch herbrachte doch zum Glück noch nicht herausbrach – bestand die Begeisterung am nächsten Morgen in unsäglichem Kopfschmerz. Die Wahrheit des Weins ist manchmal der Schmerz.)

Man kann, unter einer bestimmten Optik, über Nietzsche lachen, und wir müssen uns Nietzsche am Ende als einen traurigen Menschen vorstellen: Bis zu dem Moment in Turin vielleicht, wo er einer geschundenen Mähre um den Hals fiel. Von da ab aber war Nietzsche kein Subjekt mehr, wie wir es in der Philosophie benötigen, um in sinnvollen oder auch in poetisch inspirierten Sätzen zu philosophieren, zu denken, zu schreiben, sondern er trat in den anderen Zustand, der eine sichtbare Produktivität nicht mehr zuließ. (Wie es im Geiste, im Innern aussah, wissen wir freilich nicht. Dies wäre wohl eine Frage, die wir ebenfalls in Korrespondenz zum Begriff des Subjekts bringen müßten.)

Als Genealoge unserer Begriffe  – wenngleich im Tone immer auch Ästhetiker – und vor Turin, in seiner montaignesches Skepsis gegen das Subjekt ist Nietzsche unnachahmlich genial. Man lese nur Nietzsches (verstreute) Texte/Aphorismen zur Wahrheit und zum Weib: Die Wahrheit ist ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen. Metaphern und Schleierspiele, Nähe und Ferne in einem. Enthüllen und verhüllen – all die Spiele eines reizvollen und wunderbaren Fetischismus: die Haut des Körpers und jener Stoff, der diese wunderbare Haut verbirgt und entzieht. Und dazu eben das Bildnis zu Sais. Es ist ein Spiel mit Schleiern und mit Segeln. (Ich schrieb hier im Blog an verschiedenen Stellen über Nietzsches Spiel mit Wahrheit und Weib. Ihn rein misogyn auszulegen, halte ich für eine verfehlte Lektüre. Übrigens geschieht dies auch in dekonstruktiv-feministischen Lesarten, die sich an Derridas Nietzsche-Lektüre orientierten, nicht. Die lesen lustvoll Nietzsche.) Diese sich bei Nietzsche verschränkenden Komponenten, dieses Überborden des Stils in seinem Text ist literarisch-ästhetisch-philosophisch nicht gering zu schätzen. Und da zeigt es sich doch wieder, wie gut es manchmal sein kann, wenn ein Philosoph wie Nietzsche die Dame seines Herzens nicht zu erringen vermag. Dennoch möchte ich mit Herrn Nietzsche nicht tauschen. Mir ist die Herzensdame näher als alle philosophische Weisheit  und Wahrheit, denn darin allein ergibt sich ein Mehr, das alle Philosophie übersteigt.

Hegel und Nietzsche: Dies ist der unhintergehbare philosophische Diskurs der Moderne. Nietzsches Texte sollte man zudem auf der Ebene des Rhetorischen lesen. [Insbesondere im „Zarathustra“, der zunächst und bei der ersten Lektüre etwas unsagbar Verklemmtes oder Schwülstiges hat (so zumindest erging es mir beim ersten Lesen im 18. Lenz meines Lebens) und der doch eine geniale Parodie des Luther ist.] Literatur und Philosophie und nicht, wie Habermas es in „Der philosophische Diskurs der Moderne“ vermutet: Philosophie als Literatur. Eine ebenso irrige Annahme, die er in jenem Buch gegenüber Derrida hegt. Um freilich den Platz des Perspektivismus angemessen zu bestimmen, halte ich, gegen die Willkür und die Beliebigkeit des Meinens, immer noch Hegel für wesentlich. Den ich dann wieder mit Nietzsche gegenlese. Denn in Nietzsche finden wir, wie bei de Sade und Schopenhauer, die schwarzen Schriftsteller des Bürgertums, wie es Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ schrieb, die jene Schattenseiten einer Aufklärung zeigen, die mit den Geistern und dem Obskurantismus zugleich jenes Geheimnisvolle, jenes Verschlierte ausschied. Ob sich in der Schwärze freilich und in ihrer Bewertung Hegel und Nietzsche einig wären, darf man bezweifeln.

Die Kritik an der Unmittelbarkeit sowie die an einem simplen Subjektivismus, der mit Freiheitsparolen operiert, die als Monstranz, ritualisiert und liberalala vor sich hingesungen werden, können wir ebenfalls sehr gut bei Hegel lernen. In der Tat.

Denn ohne Hegel UND ohne Kant
fahren Begriff und Erkenntniskritik gegen die Wand.
So lernen wir vermittelt lesen
nämlich dialektisch sind Geist und Wesen.

Wer freilich die Vernunft nicht rettet, verspottet sich selbst. Kann man machen, führt aber nicht allzuweit. Womit wir wieder bei Nietzsche wären. Vielleicht doch eine transversale Vernunft? Nietzsche UND Hegel UND Kant.

Indianerherz kennt keinen Wahrheitsschmerz.
Kein Scherz!

Literatur und Kritik: Immanenz in Säkulum – tintig, tränig, tranig

Weil ich nicht nur Alliterationen in Überschriften ungemein originell finde und meinen Text außerdem gerne bildungsbürgerlich aufsteigere und damit sogleich auch sättige, um von der Höhe aus, von meinem behaglichen Grandhotel Abgrund her und mit dem Blick des Adlers dann in die Niederungen und auf die Mühen der Ebene zu schauen, sei soviel noch angemerkt: Kritik und Krise stehen etymologisch in Verwandtschaft: crisis ist die Substantivierung von krinein (unterscheiden, trennen), worauf ebenfalls das Substantiv „Kritik“ zurückgeht. Wenn wir es in der Diktion der Kantischen Aufklärung sagen möchten, dann bleibt für die Epoche der Moderne allein der kritische Weg noch offen, wie Kant es in der „Kritik der reinen Vernunft“ formulierte: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß.“ Dieser Ansatz bestimmt zukünftig Blick und Paradigma, auch wenn Hegel diese Differenzierung von Ebene und ihrem Meta einzudämmen suchte. Schwimmen lernt man, so Hegel, nur durch den Sprung ins (hoffentlich mit Wasser gefüllte) Becken und nicht auf die Weise wie sie der Scholasticus betreibt, der am Beckenrand über die Bedingungen der Möglichkeiten des Schwimmens sinniert und im Geist oder als Trockenübung Arm- und Beinbewegungen pantomimisch vorführt. Was Hegel in seiner „Enzyklopädie“ und insbesondere in der „Phänomenologie des Geistes“ für die Erkenntnis forderte, gilt grosso modo ebenfalls für die Literaturkritik: Sich über das Erkennen zu verständigen, ist bereits eine Weise des Erkennens. Aber ist es schon Literaturkritik, über das Wesen jener Kritik zu debattieren und zu reflektieren?

[Für die Musik prägte ich irgendwann einmal den feinen Satz: Es bleibt allein der britische Weg noch offen. Da war ich gewißlich noch „New Order“-Fan oder einer von „Oasis“. Kantlesen hilft selbst beim Pop.]

Eigentlich ist es eine absurde Situation, die einer double-bind-Struktur folgt: Niemals, in keiner Epoche zuvor wurde derart viel und auf allen Kanälen über Literatur gesprochen und niemals wurde derart viel über ihren Verfall und das Zerfransen nachgedacht. Niemals wurde mehr gelesen, getextet, gedichtet, fabuliert, kritisiert und Prosa im Raum der Digitalgewitter wie auch im Analogen des Buchdrucks ausgeworfen. Das reicht vom Poesiealbum der Krankenschwester bis zum ausgefeilten Text von Profis in Prosa, von Menschen in Beruf, mit oder ohne Berufung zu Schrift und Text – sozusagen eine Variante des Bitterfelder Wegs: „Arbeiter greif zur Feder!“ – von Freizeitdichtern, die ihr Handwerk verstehen, über Künstlerdarsteller bis hin zu Romanciers und Lyrikerinnen mit ungebremster Phantasie. Niemals war der inoffizielle Literaturbetrieb derer, die nie ein Buch veröffentlichten, wie auch der offizielle Betrieb und das, was sich daran anknüpfend der Markt nennt, reichhaltiger und fetter bestückt: Ob Laie oder Profi, ob Luise Rinser – Gott sei ihrer armen Schreibseele gnädig, wenn wir den Weg des Virgil und damit auch den Dantes beschreiten, werden wir sie im Kreis der Schreibmamselhölle finden – oder Durs Grünbein, den die Adler auf Schwingen früh schon zum Olymp trugen. Unendliche Literaturproduktion: Was früher der klassische und in Prosa und Poesie nicht ganz ernst zu nehmende Druckkostenzuschuß-verlag war, bei dem jeder alles produzieren und publizieren konnte, ohne daß es gelesen wurde, das bekommt heute über Crowdfunding Auftrieb. Oder aber es existieren, kleine, doch ausgesprochen feine Verlage wie KOOKbooks von Daniela Seel. Schreiben, schreiben, immerzu. Alles da, für jeden eine Nische. Wie es Adorno bereits 1944 über die Kulturindustrie schrieb: Es wird jeder bedient, es kommt keiner zu kurz. Vom Seichten bis zum Komplexen. So ist vom Betrieb für alle gesorgt. Gute alte Alma Mater.

Einerseits ist diese Öffnung der Schreibprozesse in Literatur und ihrer Kritik eine feine Sache. Was andererseits jedoch bei solchen Demokratisierungen und der Vielfalt an Stimmen herauskommt, wenn alle alles sagen dürfen und können, sahen wir leider im Zerrbild des Negativen seinerzeit in den 90er Jahren bei den Offenen Kanälen im Fernsehen. Schlimmer geht nimmer. Schreckenszenarien des Banalen und Beliebigen. Ohne Sinn. Ohne Verstand. So blieb ob dieses Dilettantismus am Ende völlig zu recht das Publikum aus und die Angelegenheit wurde zu einer Nischensache für Nieten. Eine der wenigen guten Ausnahmen ist das sehr spezielle „Freies Sender Kombinat“ in Hamburg.

Die Rede, daß die Öffentlichkeit angesichts des Wucherns neuer Medien zunehmend verfiele, führt jedoch häufig einen konservativen Beiklang mit sich. Früher war mitnichten alles besser. Lebenswelten ändern sich. Ebenso ist die Rede vom Ende der Literatur nicht neu bzw. die meist rhetorisch gebrauchte Figur von ihrem Niedergang wird von Zeit zu Zeit und je nach Paß- und Tagesform gerne belebt. Seit dem Beginn der Moderne, die man für die Literatur mit jener „Querelle des Anciens et des Modernes“ ansetzen könnte, keimt und stößt es immer mal wieder hoch: das Unbehagen. Aber was ist jene Moderne? – ein weit gedehnter Begriff. Modern ist, was neu und anders ist als das Überkommene, ein neuer Blick, ein Stil, eine Form des Ausdrucks, die alles, was war, verändert, und es stößt dieses Neue das Überlieferte um. Doch genauso schnell ist die gegenwärtige hippe Mode und das Moderne bloß noch das Kommode und schließlich der Schnee von gestern. Insofern schließt sich an die Frage nach der Moderne die vom Avancierten an, das in sich selber und qua Struktur besteht. Oder zumindest eine Weile Bestand hat. Kunstkritik kann und sollte in diesem Feld einen Beitrag leisten, um Kunst zu verstehen, Kunst zu öffnen, Dimensionen des Werke, die verborgen liegen, in einen Essay zu bringen, zu analysieren, nicht nur sinnlich, sondern auch begrifflich erfahrbar und damit dann ebenso – für die, die es so gerne hören und fühlen wollen – spürbar zu machen. Da ist er wieder: Mein Blick vom hohen Berg ins tiefe, finstere Tal – leider nicht das der Superhexen – in die Niederungen der Empfindungsspürer, die Kunst als eine Art Appetithappen und kulinarisch begreifen. Die, die bloß Texte schlürfen und Literatur inhalieren. Das wäre eigentlich ein gutes neues Produkt für den Markt: der Literaturinhalator. Garantiert keimfrei und auch als medizinisches Produkt auf Rezept beziehbar. Es spart die Arbeit, nur ein Hauch alles, freilich ohne pneuma.

csm_anw_inhal__b57c144296Ja, die Literatur und die Kritik. Einfach ist es nicht, und das Verhältnis beider Bezirke darf nicht unbedingt als entspannt bezeichnet werden. Es ist sogar alles andere als das. Wesentlich gründet sich dieser Konflikt darin, daß es sich um ein disparitätisches und asymmetrisches Verhältnis handelt, denn es betrachtet und wertet darin einer den anderen. Zudem haben Schriftstellerin und Schriftsteller kaum Möglichkeiten, einer in ihren Augen mißlungenen Literaturkritik irgend etwas entgegenzusetzen. Sich gegen Verrisse zu wehren, gilt im Betrieb des Feuilletons als Nachtreten und wird grundsätzlich übelgenommen. Werʼs macht, muß damit rechnen, gar nicht oder selten besprochen zu werden. Oder es passiert ein veritabler Skandal, wie seinerzeit mit Martin Walsers Buch „Tod eines Kritikers“.

Auch beim Lesemarathon in Klagenfurt kann der Schriftsteller nicht viel entgegnen. Hier wären unbedingt die Regeln zu ändern. Es würde dies zudem – um im Sensations- und Steigerungsmodus der Medien zu verbleiben – die Angelegenheit aufreizen und beim Lesen und beim öffentlichen Diskutieren der Prosa dieses Format mehr auf Krawall bürsten. Und irgendeiner würde irgendwann einmal dem unsäglichen Hubert Winkels, dem Häuptling Silberlocke des Literaturbetriebs, irgend etwas Abgefeimtes und knallhart Hartes entgegenschleudern. Uns fehlt Thomas Bernhard. Uns fehlt Rolf Dieter Brinkmann. Nein, das ist falsch: die fluchenden Stimmen sind durchaus vorhanden, aber es ist alles sehr viel pluraler geworden als vor 30 Jahren. Da liegt der Hase im Pfeffer. Womit wir wieder beim Jägertopf Hubertus bzw. bei Häuptling Silberlocke wären. Oder bei Maxim Biller.

Literatur und Kritik – es bleibt dabei, es ist dieser ewige und alte Gegensatz, wie wir ihn bereits bei Schillers „Die Räuber“ in der Eröffnungsszene erfahren, wenn Karl Moor auftritt:

Moor: Der lohe Lichtfunke Prometheusʼ ist ausgebrannt, dafür nimmt man jetzt die Flamme von Bärlappenmehl – Theaterfeuer, das keine Pfeife Tabak anzündet. Da krabbeln sie nun, wie die Ratten auf der Keule des Hercules, und studieren sich das Mark aus dem Schädel, was das für ein Ding sei, das er in seinen Hoden geführt hat. Ein französischer Abbé dociert, Alexander sei ein Hasenfuß gewesen; ein schwindsüchtiger Professor hält sich bei jedem Wort ein Fläschchen Salmiakgeist vor die Nase und liest ein Collegium über die Kraft. Kerls, die in Ohnmacht fallen, wenn sie einen Buben gemacht haben, kritteln über die Taktik des Hannibals – feuchtohrige Buben fischen Phrases aus der Schlacht bei Cannä und greinen über die Siege des Scipio, weil sie sie exponieren müssen.

Spiegelberg: Das ist ja recht alexandrinisch geflennt.

 Dem Räuber Spiegelberg ist recht zu geben. Wenn die Fülle eines Lebens und des Gehaltes, das Begehren nach Intaktheit sowie Einheit, die ich nebenbei für eine Illusion halte, bereits per Deklamation eingeklagt werden müssen, dann lebt das Leben schon lange nicht mehr und etwas ist faul oder zumindest arg angefressen. Eine Kritik, die nach den Grundlagen der Kritik fragt, betreibt keine Kritik mehr, sondern sie verzehrt sich in ihrem eigenen Medium, verzettelt sich, streicht sich durch. Etabliert die Meta-Diskurse und macht sich überflüssig. Mit Nietzsche aus den „Unzeitgemäßen Betrachtungen II“ gesprochen, und das muß man um des Wohlklanges willen sich selbst oder einander laut vorlesen:

„Nirgends kommt es zu einer Wirkung, sondern immer nur wieder zu einer ‚Kritik‘; und die Kritik selbst macht wieder keine Wirkung, sondern erfährt nur wieder Kritik. (…) Die historische Bildung unserer Kritiker erlaubt gar nicht mehr, dass es zu einer Wirkung im eigentliche Verstande, nämlich zu einer Wirkung auf Leben und Handeln komme: auf die schwärzeste Schrift drücken sie sogleich ihr Löschpapier, auf die anmuthigsten Zeichnungen schmieren sie ihre dicken Pinselstriche, die als Correcturen angesehen werden sollen: da warʼs wieder einmal vorbei. Nie aber hört ihre kritische Feder auf zu fliessen, denn sie haben die Macht über sie verloren und werden mehr von ihr geführt anstatt sie zu führen.“

Du mußt Dein Kritisieren ändern! Da sind Stellen, die dich ansehen. Kritik lernen wir einzig durch: Kritisieren! Fechte mit Florett und Schwert gleichermaßen! Wie Wespe und Orchidee. Jene „Lust am Text“ hervorzutreiben und auszufahren, ohne unterkomplex wieder den üblichen Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand aufzuziehen.

„Aber Herr Bersarin, was deklamieren Sie groß in langgezogener Prosa? Sie machen all das doch bereits in ihren Kritiken und Texten!“

Metaphysische Séance des Daseins: Die Gespenster, die uns bleiben und reiten

„Es geht geisterhaft um uns zu, jeder Augenblick des Lebens will uns etwas sagen, aber wir wollen diese Geisterstimme nicht hören. Wir fürchten uns, wenn wir allein und stille sind, daß uns etwas in das Ohr geraunt werde, und so hassen wir die Stille und betäuben uns durch Geselligkeit.

 Dies alles begreifen wir, wie gesagt, dann und wann einmal und wundern uns sehr über alle die schwindelnde Angst und Hast und über den ganzen traumartigen Zustand unseres Lebens, dem vor dem Erwachen zu grauen scheint und das um so lebhafter und unruhiger träumt, je näher es diesem Erwachen ist. Aber wir fühlen zugleich, wie wir zu schwach sind, jene Augenblicke der tiefsten Einkehr lange zu ertragen und wie nicht wir die Menschen sind, nach denen die gesamte Natur sich zu ihrer Erlösung hindrängt: viel schon, daß wir überhaupt einmal ein wenig mit dem Kopfe heraustauchen und es merken, in welchem Strom wir tief versenkt sind. Und auch dies gelingt uns nicht mit eigner Kraft, dieses Auftauchen und Wachwerden für einen verschwindenden Augenblick, wir müssen gehoben werden – und wer sind die, welche uns heben?“
(F. Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher)

 Diese exzeptionellen Zustände eines anderen Tones können sich (unter anderem) im Ästhetischen finden oder aber – gleichsam als Bewegung eines Textes – wenn wir bestimmte Autoren lesen und mit einem Male alle Verblendung abspringt, der Schleier der Maya sich hebt. Die wenigsten aber tauchen heraus. Die wenigsten versenken sich in die Texte. Wer je Hegels Vorrede und seine Einleitung in die „Phänomenologie des Geistes“ las, ahnt worauf ich hinauswill.

Für Nietzsche sind es diese Momente, diese Augenblicke des Daseins, einer nach dem anderen, im Fluß der Zeit, die uns dargeboten und die beredt werden. Die meisten Menschen ertragen die Einsamkeit schlecht, geschweige, daß sie die daraus klingende  Sprache vernehmen. Doch diese Augenblicke allein reichen eben nicht aus. Es tritt etwas hinzu. Gedanken, Denken. Anderes Denken, das uns verabgründet. Auch Kunst wirkt als Abgrundstruktur, und ästhetische Theorie als Verabgrundung von Kunst. Leider geschehen diese „Verzückungsspitzen des Daseins“ vermittels der Kunst und der Texte nur selten. Das meiste hinterläßt uns schal und ist kunstgewerblich gefertigt. Aber darum geht es Nietzsche nicht einmal primär, denn es bleibt dieses Denken in der Logik des Subjekts und seiner Narzißmen und Selbstbespiegelungen verhaftet. Das Subjekt in der Diktion Nietzsches ist ein Effekt. Diskurseffekt, ein Wesen, das auf dem Rücken des Tigers durch einen Dschungel reitet, wie es in seinem Aufsatz zu Wahrheit und Lüge heißt. Dieses Bild birgt sicherlich Wahrheit in sich.

Text-Posten. Über den Fetischcharakter: In Schleier gehüllt, in Segeln und Tuch

Die Gespenster der Tele-Kommunikation. (Daß Schriftstücke und -sätze sich verlieren können, verwischen, verschlieren, vergehen oder einfach nur verschwinden.) Die Berührungen, von der Weite her, auf die Haut, die mit der Feder oder dem Skalpell geritzte Haut, die beschriebene Haut, Zauber- oder Gespensterszenen (F. Kafka), eine Kausalität, die aus der Ferne wirkt: „actio in distans“ wie Nietzsche in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ schrieb, darin der Aphorismus lautet „Die Wirkung der Weiber aus der Ferne“.

 „Dem Schiffe gleichend, welches mit seinen weißen Segeln wie ein ungeheurer Schmetterling über das dunkle Meer hinläuft! Ja! Über das Dasein hinlaufen! Das ist es! Das wäre es! – – Es scheint, der Lärm hier hat mich zum Phantasten gemacht? Aller große Lärm macht, daß wir das Glück in die Stille und Ferne setzen. Wenn ein Mann inmitten seines Lärms steht, inmitten seiner Brandung von Würfen und Entwürfen: da sieht er auch wohl stille zauberhafte Wesen an sich vorübergleiten, nach deren Glück und Zurückgezogenheit er sich sehnt – es sind die Frauen. Fast meint er, dort bei den Frauen wohne sein besseres Selbst: an diesen stillen Plätzen werde auch die lauteste Brandung zur Totenstille und das Leben selber zum Traume über das Leben. Jedoch! Jedoch! Mein edler Schwärmer, es gibt auch auf dem schönsten Segelschiffe so viel Geräusch und Lärm, und leider so viel kleinen erbärmlichen Lärm! Der Zauber und die mächtigste Wirkung der Frauen ist, um die Sprache der Philosophen zu reden, eine Wirkung in die Ferne, eine actio in distans: dazu gehört aber, zuerst und vor allem – Distanz!“ (F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)

 Über den Wassern zu gleiten, in Stille, in den Raum gesetzt, im Element, eleatisch, und das „Lied auf dem Wasser zu singen“, geschrieben von Graf Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg, vertont von Schubert. Dies wäre die Variante des Sturms und Drangs oder der deutschen Romantik, zu einer Zeit als sich die Brüche noch kaschierten (Allenfalls Hölderlin und Kleist ahnten oder wußten sogar vom Riß, der durch die Welt klafft.) Über das Dasein hinlaufen, gleitend, schwebend und die Schwerkraft aussetzend. Tänzerische Freigeisterei des protestantischen Pfarrsohnes. Jene „Verzückungsspitzen des Daseins“, die bei Nietzsche teils mit dem Dionysischen und aber in der Formung ebenso mit dem Apollinischen besetzt sind. (Dunkler Urgrund) Schleier und Segel und Tuch (voile, wie Derrida die Homophonie ausmachte): das ist: der Fetisch. Ein Stück Stoff, das zum Phantasieren und dann weiter zum Denken reizt. Hylemorphismus, der sich in unseren Phantasmen gestaltet. Phantasmagorie, Feerien und wie die Wahrheit ein Weib ist, das Gründe hat, seine Gründe nicht sehen zu lassen, so schrieb Nietzsche. Diesen Vorgang nennen wir: Verschleiern und Spiel der Schleier. Das Weibliche ist bei Nietzsche nicht bloß empirisch und auf der Ebene der Fakten zu lesen, sondern es ist Metapherntrieb. Für einen Begriff von Wahrheit, der die bloße adaequatio-Formel übersteigt. Ein Text, darin die Ausrufezeichen branden.

In den Handschriften, in den Postwürfen und in den Schüben des Denkens und Imaginierens distanziert sich im Prozeß der Zeit das Geschehen, löst sich in Schrift und Literatur auf, rinnt zum Bild oder zu kryptischen Zeilen – einem Leertext, der im Zug der Zeit unlesbar geworden sein wird. Futurum exactum.

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„Ein Brief war einzuwerfen oder zu zerreißen“
(W. Benjamin)

Aus den Tagebüchern Franz Kafkas, im Jahre 1913:

13. August. Vielleicht ist nun alles zu Ende und mein gestriger Brief der letzte. Es wäre unbedingt das Richtige. Was ich leiden werde, was sie leiden wird – es ist nicht zu vergleichen mit dem gemeinsamen Leid, das entstehen würde. Ich werde mich langsam sammeln, sie wird heiraten, es ist der einzige Ausweg unter Lebendigen. Wir zwei können nicht für uns zwei einen Weg in einen Felsen schlagen, es ist genug, daß wir ein Jahr lang daran geweint und uns abgequält haben. Sie wird es aus meinen letzten Briefen einsehn. Wenn nicht, dann werde ich sie gewiß heiraten, denn ich bin zu schwach, ihrer Meinung über unser gemeinsames Glück zu widerstehn und außerstande, etwas, was sie für möglich hält, nicht zu verwirklichen, soweit es an mir liegt.

Gestern abend auf dem Belvedere unter den Sternen.

14. August. Es ist das Gegenteil eingetroffen. Es kamen drei Briefe. Dem letzten konnte ich nicht widerstehn. Ich habe sie lieb, soweit ich dessen fähig bin, aber die Liebe liegt zum Ersticken begraben unter Angst und Selbstvorwürfen. Folgerungen aus dem ‚Urteil‘ für meinen Fall. Ich verdanke die Geschichte auf Umwegen ihr. Georg geht aber an der Braut zugrunde.

Der Coitus als Bestrafung des Glückes des Beisammenseins. Möglichst asketisch leben, asketischer als ein Junggeselle, das ist die einzige Möglichkeit für mich, die Ehe zu ertragen. Aber sie?

Und trotz allem, wären wir, ich und F., vollständig gleichberechtigt, hätten wir gleiche Aussichten und Möglichkeiten, ich würde nicht heiraten. Aber diese Sackgasse, in die ich ihr Schicksal langsam geschoben habe, macht es mir zur unausweichlichen, wenn auch durchaus nicht etwa unübersehbaren Pflicht. Irgendein geheimes Gesetz der menschlichen Beziehungen wirkt hier.

19. Dezember. Brief von F. Schöner Morgen, Wärme im Blut.

20. Dezember. Kein Brief.“

Was für Szenarien von Nähe und unendlichem Aufschub! Existenz als Literatur? Die geschriebenen Briefe, die zu einem Text werden. Oder aber eine Nähe, die lebbar sein müßte. Die Haut ineinander, und Gleiten und Ausfluß von Sekret. (Auch Wasserhaftes, dieser Stoff.)

„Gestern abend auf dem Belvedere unter den Sternen.“ Anderswo. Entgleitend.

Zeichenlose Zeichen in der gedeuteten Welt – Die Wahrheit Nietzsches oder die gezeichnete Haut

Eine Serie zu schreiben mit dem Titel „Tätowierungen“? Oberflächenphänomene und Ritzungen. Farbe unter Schmerzen. Zeichen der Erkennung und Distinktionsmerkmal. Einkerbungen, Brüche, Brechungen, Tätowierungen als Schibboleth. Hautzeichen als Anzeichen. In Turin auf dem Pflaster. Jenes gemagerte Pferd, das der Kutscher mit der Peitsche schlug, Hiebe fast auf dem blanken Knochen, bis das Tier zum Boden ging. Pittura metafisica. Animal rationale. Die unendliche Leere einer Stadt, ganz entgegen dem italienisch heiteren Himmel.

„… heute, wo wenigstens unter uns Immoralisten der Verdacht sich regt, daß gerade in dem, was nichtabsichtlich an einer Handlung ist, ihr entscheidender Wert belegen sei, und daß alle ihre Absichtlichkeit, alles, was von ihr gesehn, gewußt, ‚bewußt‘ werden kann, noch zu ihrer Oberfläche und Haut gehöre, – welche, wie jede Haut, etwas verrät, aber noch mehr verbirgt? Kurz, wir glauben, daß die Absicht nur ein Zeichen und Symptom ist, das erst der Auslegung bedarf, dazu ein Zeichen, das zu vielerlei und folglich für sich allein fast nichts bedeutet, – daß die Moral, im bisherigen Sinne, also Absichten-Moral, ein Vorurteil gewesen ist, eine Voreiligkeit, eine Vorläufigkeit vielleicht, ein Ding etwa vom Range der Astrologie und Alchymie, aber jedenfalls etwas, das überwunden werden muß. Die Überwindung der Moral, in einem gewissen Verstande sogar die Selbstüberwindung der Moral: mag das der Name für jene lange geheime Arbeit sein, welche den feinsten und redlichsten, auch den boshaftesten Gewissen von heute, als lebendigen Probiersteinen der Seele, vorbehalten blieb. –“
(Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse)

Salome1Intension der Intentionslosigkeit – gleichsam als nichtdialektische Reflexionsfigur einer vertrackten Dialektik. Die Wahrheit hat Gründe, ihre Gründe nicht sehen zu lassen, wie Nietzsche in der „Fröhlichen Wissenschaft“ schreibt, weshalb diese Art von Wahrheit eben ein Weib ist, Spiele der Schleier, Bildnis zu Sais, das Moment der Verhüllung (auch durch ein Stück Wäsche, wofür wir den Begriff „Fetischismus“ verwenden, selbst dann, wenn unter dieses Wäschestück zwei Finger gleiten und feuchtnaß wieder sich hervorkehren), und wir erinnern uns dabei mit Gewißheit an diesen bekannten Satz, den im „Zarathustra“ das alte Weib spricht, wenn einer zum Weibe geht, und was er oder sie dabei nie vergessen sollten. Aber am Ende kann keiner diese Wahrheit zwingen. Die vermeintliche Misogynie Nietzsches steht in engem Zusammenhang mit seiner Wahrheitstheorie. Wenn das Weib ein Schleierspiel ist, das Gründe besitzt, ihre Gründe nicht sehen zu lassen, wenn ein Subjekt dieses Weib mit einer Peitsche zwingen oder aber erregen muß (je nachdem: die wunderbar kluge Lou Andreas-Salomé hatte an diesem Satz und diesem Sentenziösen ihre Freude) und wenn Nietzsche das Schminken und die Kunst der Verstellung beschreibt, so weist dies auf eine Weise von Wahrheit, die nicht mehr auf den bloßen erkenntnis- oder wahrheitstheoretischen Fundus sich gründet, der in der Präsenz, in Echtheit und Anwesenheit seinen Ort besitzt. Darin entwindet sich Nietzsche jeglicher abendländischer adaequatio-Theorie. In einem bestimmten Sinne wird also auch die Wahrheit ästhetisch. Aber eben nicht in der Weise, wie die postmodernen Relativierer und die Apologeten des Bestehenden es sich gerne wünschen, die in Herrenreitermanier Nietzsche als ihren Gewährsmann ausrufen.

Nietzsches Frühschrift „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ deutet bereits auf den Metapherntrieb, der als ästhetisches Moment die Erkenntnistheorie dimensioniert. Metonymie und Metapher: Verschiebung und Verdichtung ins Bild. Der Trieb zur Metapher entwertet freilich die Erkenntnistheorie nicht, sondern bedeutet ihre Erweiterung um ein Somatisches und Begriffsfernes, das die Metapher relational in eine Anordnung bringen möchte, die zugleich der Apparition gleicht: Vom Ereignis sprechen, doch ohne es starr werden oder ontologisch in die Seyns-Sentenz gerinnen zu lassen. Wie und in welcher Weise mit dem Begriff über den Begriff hinaus zu philosophieren sei, brachte Adorno in seiner „Negativen Dialektik“ bündig auf den Punkt. Auch das schmeckt denen, die zu einfachen Sentenzen und Phrasen neigen, nicht sonders: Heute wieder auf dem Speiseplan: gefühltes Fühlen und einfache Begriffssoße mit Schuß. Dem Denken des Weiblichen, das sich nicht in blinden Bezügen vergegenständlichen läßt, wird solch banaler Speiseplan der Platitüde nicht gerecht.

Wesentlich an Nietzsches Satz scheint mir insbesondere dieses Insistieren auf der Haut zu sein. Darin schwingt ein taktiles Moment mit, das als Rezeptionsweise oder als aisthetische Möglichkeit ein halbes Jahrhundert später Walter Benjamin in seinem Kunstwerkaufsatz veranschlagte, als er von einer antiauratischen Kunst und einer Weise der Erfahrung spricht, die über die bürgerliche Welt hinaus ist. Haut ist genau diese eigensinnige Erkenntnis-Oberfläche eines Entzuges, die trotzdem auf Berührungen und Spürungen angewiesen bleibt. Es sind nicht mehr die Metaphern des Lichts oder des Gesichtssinnes, die die Aufklärung bestimmen, sondern ein taktiles Moment, das wir zunächst als ein Fühlen auf den Poren bzw. dem Gewebe der Haut ins Spiel bringen. Sowieso wird bei Nietzsche reichhaltig aus dem Körper heraus philosophiert und gedacht. Diese Haut läßt sich – insbesondere im Blick auf die Moral, aber damit sind wir zugleich nahe an der Erkenntnistheorie und an unseren Begriffen von Wahrheit, die der abendländische Diskurs gerne in seine Sphären teilte – bei Nietzsche als Schleier begreifen. Der Schleier zeigt und verbirgt in einem, aber er zeigt zugleich ganz unmittelbar etwas an. Wie der Fetisch codiert er sich als Zeichen mehrfach, spielt als intensionslose Intention. Ist Objekt der Begierde und verweist gleichzeitig auf dieses absolut abwesende Objekt: als Symbolisierung, als Verschiebung, als Metapher. Die Haut als Schleier und Wahrheitsfläche. Die Geburt der Erkenntnis aus der Epidermis. Die Haut teilt Oberflächenphänomene und die tiefer liegenden Strukturen. Sie ist Oberfläche und zugleich Grundlage des Tieferen, sie zeigt und verbirgt. In ihrer Vergänglichkeit und in den Alterungsprozessen Akzidenz, und in allem Wandel als Erhaltende und Form Wahrende Substanz in einem. Auf dieses lebensbedrohliche oder zugleich lebenserhaltende Spiel verweist Nietzsches Kritik der Moral. Häutungen sind Tötung und Geburt in einem.

Ach, wer so zu denken und zu schreiben vermag, wie Nietzsche in jenem Satz! Wie angenehm, inmitten einer lenorweichgespülten Empfindungswelt solche Passagen zu lesen: nie mehr eine Gesellschaftskritik als Betroffenheitsschwadronieren, nie mehr Texte als sekretiöser Ausfluß, und jegliche eingebleute Moral erweist sich in dieser Diktion als haltlos. Werte und all das Gefasel von deren Positivität entlarven sich unter diesem Blick als das, was sie sind: Ideologie. Aus diesem Grunde ist mit Nietzsche ebensogut Kritische Theorie zu betreiben wie mit Hegel. Zwei Wege des Denkens. Wobei in diesem Spiel Hegel – so steht zu vermuten – der vielfache Igel ist, der immer schon da und wieder woanders auftaucht. Es mag sich das brave Subjekt, das Individuum noch so sehr hetzen. Aber das wußte auch Nietzsche: Nicht „Wer spricht?“, sondern: Was? Übersetzen wir diese Begriffe ins Griechische!

Daily Diary (103) Maitage, einstmals – über die Photographie

„Es wird keinen einzigartigen Namen geben …“

„Die Musen der Künste des ‚Scheins‘ verblassten vor einer Kunst, die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen rief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren Olympier. Das Individuum, mit allen seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus. Und so war, überall dort, wo das Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet.“ (F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik)

Die Depotenzierung der Welt in der Photographie. Text und Dokument, Text und Fiktion. Jegliche Photographie ist eine Spur – und zwar in dem Konzept, wie Derrida es in seinem différance-Aufsatz vermerkte: Präsenz der Abwesenheit. Die Spur verweist auf nichts, das anwesend ist, sondern sie simuliert das Anwesen, nimmt eine Stellvertreterfunktion ein. Wie auch die Photographie. Sie streicht sich zugleich durch. Nichts bleibt.

„Es wird keinen einzigartigen Namen geben und sei es der Name des Seins. Und das muß ohne Nostalgie gedacht werden, will sagen, jenseits des Mythos von reiner Mutter- oder Vatersprache. Oder von der verlorenen Heimat des Denkens. Das muß im Gegenteil bejaht werden, wie Nietzsche die Bejahung ins Spiel bringt, als Lachen und Tanz-“ (J. Derrida, Die différance)

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