Man könnte diesen Tag mit dem bekannten Gedicht Thomas Braschs vom „schönen 27. September“ einleiten – es erschien 1980, als Brasch bereits vier Jahre im Westen lebte:
Der schöne 27. September
Ich habe keine Zeitung gelesen.
Ich habe keiner Frau nachgesehn.
Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.
Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht.
Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.
Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen
und mit keinem über neue Zeiten.
Ich habe nicht über mich nachgedacht.
Ich habe keine Zeile geschrieben.
Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.
Es ist in seiner Alltäglichkeit und als Moment des Rückzugs aus jenem Alltag ein schönes, ein ruhiges, ja auch ein kontemplatives Gedicht und manchmal liefert solche Dichtung eine Art Korrektiv gegen das Überschießende wie auch gegen das Politische. Es läßt im Trubel der Zeiten einen Schritt zurücktreten. Für solchen Abstand in der (dichterischen) Reflexion kann ein solcher datierter Tag zu einem Ritual werden. Wurde es auch und war es, nämlich für Christa Wolfs Buch „Ein Tag im Jahr“. Wolf folgte im Jahr 1960 einem Aufruf der Moskauer Zeitung „Iswestija“, den 27. September zu schildern und ihn zu beschreiben, und sie setzte das bis ins Jahr 2000 als Tagebuch fort und hielt fest, was an diesem Datum geschah. Eine zwar unter schlechtem Zeichen sich inszenierende, aber zugleich doch gelungene Idee, die auf Maxim Gorki zurückgeht, der im Jahr des Stalin-Terrors 1936 und kurz vor den großen Säuberungen diesen Schreib-Tag zum Lobe des Sozialismus ins Leben rief. Unfaßbar naiv und im Grunde unverzeihlich. Und gerade unter diesem Gesichtspunkt des schreibenden und engagierten Arbeiters bekommt die Lakonie des Brasch-Gedichtes besondere Bedeutung, und so fängt Brasch die Dialektik des Datums in einer Lyrik ein, die ins Oblomowsche Nichtstun in eine Art von Verweigerung geht. Eine Art Gegen-Sozialismus zum hohen Propaganda-Ton. [Wer zur Ästhetik und ebenso zur Politik des Datums als Einschnitt und Beschneidung einen Text lesen will, der greife zu Jacques Derridas „Schibboleth“.]
Solche Daten können privat sein und sie ragen zugleich übers Private hinaus. In ihnen bündelt und pointiert sich Geschichte und ebenso privates Erleben. Fast jeder weiß, was er am 11. September tat. Dieser neunte November ist für die Deutschen solch ein Gedenktag. Kein Geschichtszeichen zwar – ausgenommen vielleicht der 9. November 1989 – aber doch vielfältig determiniert. Es müßte dieser Tag wegen dieser hohen, fast überdeterminierten Symbolik der zentrale Feiertag der Deutschen sein. Ein Datum, in dem sich unterschiedliche Ereignisse kreuzen und treffen und die miteinander in einem Bezug stehen oder zumindest geschichtlich korrespondieren und eine Linie bilden.
Am 9. November 1848 die standrechtliche Hinrichtung von Robert Blum in Wien, am 9. November 1918 im Deutschen Reich die Absetzung des deutschen Kriegskaisers und die Proklamation der Republik: eine deutsche Revolution, aber mit fatalem Ausgang, denn man vergaß, die Generäle Ludendorff und Hindenburg vor ein Gericht zu stellen, und man hätte sie vorher zwingen müssen, eigenhändig den Friedensvertrag zu unterschreiben. Am 9. November 1923 der Hitler-Ludendorff-Putsch in München und am 9. November1938 die Pogrome und der systematische Angriff auf Juden und ihre Synagogen. Damit war, fürs Volk gut sichtbar, jene Szenerie eingeläutet, auf die das Dritte Reich zulief: die Endlösung der Judenfrage. Das Ende des Zweiten Weltkrieges machte diesem Grauen ein Ende und brachte ein anderes Europa – ein in Ost und West geteiltes. Eines, das wohl hundert Jahre und mehr noch dauern mochte, so nahmen die meisten bis weit ins Jahr 1989 hinein an. Aus dieser politischen Konstellation gingen die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR, hervor – von der Springer-Presse bis in die 1980er Jahre noch in Anführungszeichen geschrieben.
Die Solidarität der West-Linken mit der DDR-Opposition war mäßig bis gleichgültig. Das einige Deutschland stand kaum auf der Agenda, denn auch nach über 40 Jahren noch galt es, die unendliche Schuld abzutragen, für die die Teilung der Preis war, inzwischen aber in den Schleifen der Gewöhnung eine abstrakte Schuld, die tatsächliches Gedenken aufs Ritual zurückbrach – wie Martin Walser das nicht zu unrecht in seiner Friedenspreisrede 1998 feststellte. Kranzabwurfstellen eben, die da wohlfeil eingerichtet wurden – wobei die symbolische Dimension solcher Akte nicht zu unterschlagen ist.
Floskeln, Phrasen und Parolen vielfach auch von links: „Hoch und nieder, vorwärts, nie wieder!“, wie 1997 in leicht-melancholischem Ton der Sammelband zu vierzig Jahre „konkret“ titelte. Nicht schlecht eigentlich und die Hoffnungen und die Kämpfe der Jahre nicht in einen Satz, sondern vielmehr in Begriffe gegossen, gemeißelt, wissend, daß jene linken Jahre vorüber sind und zugleich das bloß noch Symbolisches rezitierend. Nicht daß mir diese Position einer Deutschland-Kritik damals fern stand, ich will mich hinterher nicht widerständischer machen als ich war. Im Rückblick aber und selbst als Zeuge der Zeit hätte einem das Falsche daran aufgehen können. Daß zwei Staaten mit einer ähnlichen Kultur, der gleichen Geschichte und derselben Sprache in dieser Weise geteilt waren, erschien auch mir nicht als der normale Weg. Da stand einerseits eine widerständische Linke, die viel auf Protest und bei der DDR die Schnauze hielt – wenn man von den Grünen und einigen wenigen Ausnahmen absieht – und da stand andererseits ein festgefügter Block des kapitalistischen Lebens, der zugleich aber auch ein Rechtsstaat war.
Mir ging seit Mitte der 1980er jedoch jene Gesinnungs-Linke zunehmend am Arsch vorbei. Der Solidaritäts-Kaffee aus Nicaragua schmeckte nach Scheiße, also trank ich ihn nicht. Jacobs- und Tschibo-Kaffee waren Wirtschafts-Betrug und beruhten, so steht zu vermuten, auf der Ausbeutung der Arbeiter in den Plantagen, aber sie schmeckten wenigstens halbwegs und erweckte nicht den Eindruck, daß da zugleich neben den Bohnen der Marke „Schlechte Solidaritätsernte“ gemahlene Eicheln und deutsche Bucheckern mitverarbeitet wurden. Dennoch kam mir, 1989, als inzwischen lange schon ins Ästhetische, in die Kunst und als Praxis in die Photographie abgewanderter Zaungast von Politik diese deutsch-deutsche Grenze widersinnig vor und sie kam mir auch schon 1982, als ich im Schwarzen Block in Hamburg als Fußvolk mitlief, falsch vor – vielleicht auch, weil ich früh schon, mit 14 Jahren die Biermann-Gedichte las und seine Lieder hörte: die von der kaputten DDR, von der Hoffnung auf ein besseres Land, nicht auf bessere Zeiten zu warten, sondern zu mache, zu protestieren, und irgendwann war klar, daß die Greise bleiben, und wie Attinghausen schon in Schillers „Tell“ deklamierte: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.“
Wenn man von der Lebensqualität und den Möglichkeiten eines guten Lebens, die die Bundesrepublik immerhin bot, einmal absieht: Das Spektrum an politischen Überzeugungen in der BRD war deutlich breiter als in der rigiden DDR, wo Witze nicht nach dem Lacheffekt gemessen wurden, sondern wie viele Jahre Knast sie einbrachten. Die Höhe der Haft war auch insofern ein nicht nur qualitatives Maß für die DDR, sondern ebenso quantitativ ein wohlfeiler Tauschwert im guten marxschen Sinne, weil die Haftdauer den Preis des politischen Gefangenen im Freikauf durch die BRD bestimmte. Wenn sie auch sonst nichts von Marx begriffen: das Prinzip des Kapitalismus, wie man eine Ware teuer verkauft, verstanden sie und auch die in diese Ware Mensch investierte Arbeit durch Befragung, Folter, Schlafentzug und Sonderbehandlung sollte sich in der Höhe des Preises auszahlen. Den Mehrwert fuhren dann immerhin die Arbeiter und die Funktionäre ein. Wer sich ein Bild von dieser Art der DDR machen will, besuche in Torgau die Ausstellung zu den Jugendwerkhöfen oder die Gedenkstätte Hohenschönhausen, mithin den Stasi-Knast.
Und in den 1980er dann wußte noch der Doofste: es wird nichts sein und es wird nichts mit dieser Art des Sozialismus, der ein Volk einsperren muß, Endspiel, Warten auf Godot, das letzte Band und der letzte machtʼs Licht aus. Ökonomisch nicht mehr zu stemmen. Es gab keine Alternative, auch der Kapitalismus war es nicht. Kein Ort, nirgends, las ich damals von Christa Wolf. Das traf die Stimmung. Und dennoch verstand ich diese Menschen, die da heraus wollten oder die ein anderes Deutschland sich wünschten, ein ganz anderes sogar, oder wenn es auch nur darum ging, ein besseres Auto zu kaufen. Idiotische Wünsche vielleicht, auf äußere Bedürfnisse zu schielen. Die Frage des Gebrauchswertes, selbst dort, wo er ein versteckter Tauschwert und Symbolisierung samt Habitus bedeutet, ist nicht gering zu veranschlagen.
Solidarität in gemeinsamen Kämpfen auszubilden, ist schwierig. In Wackersdorf, in Gorleben sowie im Elsaß, im Kaiserstuhl und im Badischen im Kampf gegen Whyl, Fessenheim, Marckolsheim – schöne deutsche Ortsnamen, davon zwei in Frankreich lagen – gelang ein Bündnis ganz unterschiedlicher Kräfte gegen eine Macht. In der DDR geschah dies langsam, aber stetig. Immer schon gab es jene Dissidentenszene – im Westen prominent und bekannt geworden durch Sänger und Dichter wie Wolf Biermann oder den Physiker Robert Havemann.
Was war meine DDR? Eigentlich keine. Sie existierte für mich in Berichten und Erzählungen. Ich besuchte die DDR 1982 für einen Tag, genauer gesagt Ostberlin, ich fand es spannend dort, teils seltsam; und befremdlich, auf diese Weise innerhalb Deutschland zu reisen, schon die Transitstrecke mit dem alten Golf, den ein Freund fuhr, schien mir widersinnig und gegen die Geschichte. Viel Grau da in Ost und beim Blick vom Fernsehturm auf dem Alex und schweifend über die Stadt freute ich mich, als dann über der Stadt, im Drehrestaurant sitzend, die Dämmerung hereinbrach, daß auf Ostseite nicht Neonreklame blitzte, sondern eine Schwärze und Stille sich über die Stadt legte. Man konnte die Nacht sehen. Aber was waren Eindrücke des Beobachters. Mit der Situation und der Politik im Land hatte das alles nichts zu tun.
Wenige nur, wie etwa Teile der Grünen zeigten Solidarität mit der Opposition in der DDR. Die Solidarität galt fernen Völkern, man schweifte lieber in die Ferne. Das war bequem, das war so weit weg, daß niemand im Zweifelsfall Konsequenzen tragen mußte. Man ging auf Nicaragua-Demos, protestierte für ein freies El Salvador, prangerte – zu recht freilich! – die imperiale und aggressive US-Außen- und Wirtschaftspolitik an. Das war gut, das war richtig. Einer mußte es tun. Und wo die Konservativen schwiegen, sprach und protestierte die Linke, und weil die Konservativen zur DDR nicht schwiegen und protestierten, sprach die Linke nicht über die Repressionen dort oder man sprach darüber nur geringfügig. Solidaritätsdemos mit „Schwerter zu Pflugscharten“ und mit der Opposition der DDR gab es keine – allenfalls in kirchlichen Kreise und bei manchen Grünen sah ich damals dieses Logo, der übrigen Linken war es egal oder anderes war Thema. Immerhin aber in der Friedensbewegung der BRD vereinzelt Solidarität und offene Briefe:
„Die in Gefängnissen der DDR sitzenden Aktiven aus der Friedensbewegung haben nichts getan, was wir nicht auch tagtäglich tun … Sie wurden verhaftet, wofür wir von Ihnen gelobt werden.“ (Offener Brief an Erich Honecker, Januar 1984, unterzeichnet von Vertretern der westeuropäischen Friedensbewegung)
In Westberlin gab es 1984 einen von Frauen organisierten Protest am Checkpoint Charlie, die aus Solidarität mit den mutigen Bürgerrechtlerinnen Bärbel Bohley und Ulrike Poppe demonstrierten. Dieser Protest hielt an, bis die inhaftierten Frauen freigelassen werden.
Wesentliches zum Fall der Mauer trugen in der DDR die Kirchen bei, denn sie boten jenen einen Schutzraum, die gegen das System rebellierten. Der Satz Biermanns für die Revolution der Polen galt auch für die DDR: Besser Jesus im Herzen, als Marx im Arsch. Ebenso aber war es der Protest der Straße, samt einer kurzen aufkeimenden Hoffnung, es könnte ein anderes Deutschland geben. Diese Hoffnung war auf einer Illusion gebaut und auch mit demokratischen Mitteln, also durch freie und geheime Wahlen nicht herbeizuführen. Zu tief saß die Wut über alles das, was nur annähernd mit dem Begriff „Sozialismus“ konnotiert war. Dem konnte auch die in der DDR sich wieder etablierende und aus der Zwangskollektivierung sich befreiende Sozialdemokratie nichts entgegensetzen.
In fataler Umkehrung könnte man auch sagen, daß den Feinden einer gerechten und sozialen Gesellschaft nichts Besseres passieren konnte als der real existierende Sozialismus. In den Etagen Macht, in den Zentralen der Großkonzerne mit ihrem Shareholder-Value-Denken dürften schon lange die Sektkorken geknallt haben. Immerhin gab es bis 1989 einen – wenn auch schrecklichen, grausamen, aber in seiner Grausamkeit auch wieder gewünschten Widerpart: den real existierenden Sozialismus, der aber, wie Hermann L. Gremliza es für die BRD formulierte, eine gewisse Mäßigung bewirkte.
„Ich schätzte die Sowjetunion nicht wegen ihrer Nachteile, wie Planwirtschaft, Arbeitsplatzgarantie und festgeschriebener Einkommen, sondern wegen ihrer Vorzüge, wie Atomraketen, Panzerarmeen und riesiger Raketenkreuzer, die das einzige Mittel waren, den überbordenden Kapitalismus im Zaum zu halten und zu zivilisiertem Verhalten zu zwingen, aus reiner Angst“
Fatale Dialektik des Gesellschaftlichen. Im Kampf der Systeme siegte der Westen und mit dem Wegfall der Ostblock-Diktaturen und dem Zusammenbruch des Mutterlandes der Revolution war ein neuer Weg frei. Daß dieser Zusammenbruch einer bis in die Köpfe reichenden Diktatur sein Gutes hatte, steht außer Frage. Der 9. November 1989 brachte vielen Menschen Freiheit und zugleich einen tiefen Einschnitt in der Vita. Die Leerstellen, die entstanden und wo die Jugend, die in diesen Tagen aufwuchs, auf den Trümmern tanzte und in den Ruinen träumte und scheiterte, brachte Clemens Meyer in seinem wunderbaren Debüt- Roman in ein literarisches Bild.
Heiner Müller schreibt am 25. September 1992 in seinem in der „Frankfurter Rundschau“ erschienenen Text „Die Küste der Barbaren“:
„Ein Dokumentarfilm über Skinheads in Halle beginnt mit einer Sequenz, wo ein Junge in Bomberjacke und Springerstiefeln professionell und liebevoll nach dem Kochbuch vor der Kamera und für das Filmteam einen Napfkuchen bäckt. Sein Berufstraum war Bäcker und Konditor, und seine Chance auf eine Lehrstelle liegt im nächsten Jahrhundert. Nach dem Backen geht er uniformiert auf die Straße in der Neubauwüste Halle-Neustadt (der Städtebauer Ulbricht war stolz auf die längsten Langzeilen der Welt in diesem Viertel und in anderen Neubauvierteln, mit denen er, laut Auskunft seiner Witwe an den Architekten Henselmann während einer Mittelmeerrundfahrt mit dem Veteranendampfer VÖLKERFEUNDSCHAFT, dem deutschen Arbeiter das Flanieren beigebracht hat) und verwandelt sich im Kollektiv der anderen Arbeitslosen in ein Monster. In der Wohnung weint seine Mutter, ehemalige Lehrerin mit ehemaligem Glauben an die sozialistische Menschengemeinschaft DDR, jetzt Lohnsklavin für Neckermann irgendwo westlich der Elbe mit fünf Stunden Anfahrtsweg zur Arbeit und zurück, damit der Sohn ‚von der Straße bleibt‘
[…]
[Günter] Maschke sagte mir, aus der DDR-Revolution kann nichts werden, weil keine Leichen die Elbe hinabgeschwommen sind, von Dresden nach Hamburg. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, warum Brecht die Bauernkriege für das größte Unglück der deutschen Geschichte hielt. Sie kamen zur Unzeit, mit ihnen wurde der Reformation gut protestantisch der Reißzahn gezogen. Auch die Gewaltfreiheit der DDR-‚Revolution‘ 1989, gesteuert und gebremst von (protestantischer) Kirche und Staatssicherheit, war ein deutsches Verhängnis. Jetzt steht der Sumpf: die Unsäglichkeit der Stasidebatten, Versuch, die Kolonisierten durch die Suggestion einer Kollektivschuld niederzuhalten. Der versäumte Angriff auf die Intershops mündete in den Kotau vor der Ware. Von der Heldenstadt Leipzig zum Terror von Rostock. Die Narben schrein nach Wunden: das unterdrückte Gewaltpotential, keine Revolution/Emanzipation ohne Gewalt gegen die Unterdrücker, bricht sich Bahn im Angriff auf die Schwächeren: Asylanten und (arme) Ausländer, der Armen gegen die Ärmsten, keinem Immobilienhai, gleich welcher Nation, wird ein Haar gekrümmt. Die Reaktion auf den Wirtschaftskrieg gegen das Wohnrecht ist der Krieg gegen die Wohnungslosen. Eine Fahrt durch Mecklenburg: an jeder Tankstelle die Siegesbanner der Ölkonzerne, in jedem Dorf statt der gewohnten Schreibwaren Mc Paper & Co. Im Meer der Überfremdung ist Deutschsein die letzte Illusion von Identität, die letzte Insel. Aber was ist das: deutsch.“
Diese Frage bleibt bis heute. Sie ist Stachel und Ansporn. Müller schreibt vom grassierenden Haß aufs Fremde nach Rostock-Lichtenhagen. Auch das gehört zur Einheit dazu. So wie sie viele Aspekte hat. Schöne und weniger schöne. Und manchmal muß der Betrachter an solchen Gedenktagen, bei aller Freude über diesen geglückten Tag, daß die Mauer ohne einen Tropfen Blut fiel, dennoch Wasser in den Wein kippen. Die Dialektik der Kritik besteht darin, dieses Wort im etymologischen Sinne und in seiner Bedeutung vom Griechischen her zu lesen: krínein nämlich, was „unterscheiden“ bedeutet. Gute wie auch schlechte Aspekte zu sichten und beides perspektivisch als unterschiedliche Hinsichten einer und derselben Sache zu betrachten. Es gibt am 9. November Gründe zu feiern und es gibt Gründe zur Skepsis. Vielleicht gerät diese Bewegung des Denkens – in einem Rechtsstaat immerhin, wenn auch teils mit Tücken und Lücken, aber auch das ist als Errungenschaft nicht wenig! – zum sich vollbringenden Skeptizismus. Ohne Geschichtstelos, denn Geschichte ist ein offener Prozeß. Und dennoch wäre ohne das eschatologische und versöhnende Motiv alles Pragmatische ein Nichts. Eingedenk dessen, daß es kein richtiges Leben im falschen gibt und daß doch auch jenes Leben eines ist, das in seinem bescheidenen Horizont dennoch zu einem Teil auch ein gelingendes Leben sein kann. Der Fall der Mauer trug, trotz mancher Tücken und mancher Verwerfungen, dazu bei, eine blutige Diktatur zum Fall zu bringen.

[Die beiden Photographien stammen aus dem Jahr 2014, als aus Luftballons symbolisch die Mauer nachgebaut wurde. Diese Ballons stiegen zu der Uhrzeit in den Himmel, als das Günter Schabowski jenen Worte sprach – so zumindest meine ich mich zu erinnern.]