Eine Lanze für die Berliner Zeitung und eine kräftige Watsche für den Tagesspiegel im Blick auf den 100. Geburtstag von Franz Fühmann

Der Dichter Franz Fühmann hatte am 15. Januar seinen 100. Geburtstag. Westberlin und die Potsdamer Straße, wo einstmals Tante Tagesspiegels Redaktion saß, mag ein wenig, wenngleich zu Schöneberg gehörend, dem fiktiven Stadtteil Altmottenburg angehören, wo man im Muff des Westmilieus nüscht mitbekam, als noch selig die Mauer stand. Aber daß einer der bedeutenden ostdeutschen Dichter im Januar ein derart rundes Jubiläum feiert, hätte auch in die verstaubteste Feuilletonstube Askanischer Platz 3 durchdringen müssen, wo inzwischen der Tagesspiegel seinen Sitz hat, und es hätte dazu eine Würdigung geben müssen. Als Verantwortlicher für den Literaturteil täte ich mich da ein bißchen schämen. Es brachte der Tagesspiegel gar nichts. Es brachte die Berliner Zeitung dankenswerter Weise zwei Artikel:

„Franz Fühmanns 100. Geburtstag: Miststücke von Büchern. Franz Fühmann war einer der wichtigsten Autoren der jungen DDR. Weitgehend unbekannt ist sein Scheitern an einem Projekt über Theodor Fontane.“

Und ein zweiter Artikel noch dazu, in der BLZ:

Briefwechsel: Franz Fühmann und Christa Wolf in ihren Briefen: Gemeinsam gegen die Dogmatiker. Ein Stück Literaturgeschichte, ein Stück Lebensgeschichte für viele Leser: „Monsieur – wir finden uns wieder“.“

[Schon der Titel dieses Bandes gefällt ausnehmend gut]

Und auch auf der Literaturseite am Sonntag im Tagesspiegel: gar nichts. Ihr seid schon rechte Schnarchnasen beim Tagesspiegel. Stattdessen findet sich auf der Titelseite am Samstag im Feuilleton: „Wollen wir Masken auch im Fernsehen?“ (hui was für ein Thema!), und am Sonntag dann „Sprühdosenduell in Belgrad“: ist zwar interessant, aber dann hätte wenigstens im Literaturteil eine Fühmann-Würdigung stehen müssen. (Und ja, Tagesspiegel: das ist die erste Anzählung, von wegen Abonnement.) Und genau aus solchem Grunde des Checkerhaften, des Schnellen und Nicht-so-derart-Westberlin-Behäbigen habe ich die Berliner Zeitung gerne gelesen: weil ich als Wessi immer neugierig auf den Osten war. Und das nicht nur, wegen der Klasseostbräute, sondern vor allem wegen der Geschichten von dort. In der BLZ standen Dinge, die man sonst nirgends las, und auch, weil ich nicht belehrt, sondern informiert werden wollte, wie das lange Zeit in dieser Zeitung üblich war: Erzählen, was ist.

Den Briefwechsel zwischen Wolf und Fühmann gibt es im Aufbau-Verlag. Gute Dichterbriefe lese ich gerne – man nehme nur die von Hölderlin, da findet sich eine ganze Poetik darin. Und was dort erzählt wird aus jenem Land, das es nicht mehr gibt, werde ich dann ja sehen.

„Monsieur, wir finden uns wieder“
Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Franz Fühmann 1968 bis 1984
224 Seiten, gebunden, 24 Euro
ISBN 978-3-351-03958-5
Aufbau-Verlag Berlin

Ich denke, dies ist ein schönes Jubiläumsbuch und das möchte ich gerne lesen. Darin auch ein Spottgedicht von Christa Wolf, zu jenen Zeiten, als der Liedermacher und Dichter Wolf Biermann im November 1976 aus der DDR ausgebürgert wurde:

„Im neblichten Monat November war’s,
die Blicke wurden trübe,
da ward eine Affaire zur Staatsaktion –
aus Furcht vor Trauer und Liebe.

Im schönen Monat Dezember war’s,
die Tage wurden kälter,
da küsste mancher manchem den Ars –
wir Kumpels werden halt älter.

Nun kömmt der frostklare Januar –
mit ihm die neuen Lieder.
Die Miserere ist vorbei.
Monsieur – wir finden uns wieder.“

Danke, Berliner Zeitung, daß Ihr an dieses Jubiläum gedacht habt. Der Titel in der FAZ immerhin „Der Eremit von Märkisch-Buchholz“ bringt einen schönen Brandenburg-Sound. Daß auch die ZEIT in der Ausgabe dieser Woche keinen Artikel brachte (den Artikel zu Fühmann und Höllerer Ende Dezember fasse ich nicht als Geburtstagsartikel auf), ist ebenfalls kein Ruhmesblatt und zeigt einmal wieder, welchen Stellenwert die Ostliteratur im Westdeutschen Feuilleton hat. Ihr seid schon arge Brunzen.

Grenzzone oder mit dem Theater tief in der Geschichtsphilosophie – 30 Jahre keine DDR

Heiner Müller
Germania 3 – Gespenster am Toten Mann

Nacht Berliner Mauer

Thälmann und Ulbricht auf Posten.

Thälmann: Das Mausoleum des deutschen Sozialismus. Hier liegt er begraben. Die Kränze sind aus Stacheldraht, der Salut wird auf die Hinterbliebenen abgefeuert. Mit Hunden gegen die eigene Bevölkerung. Das ist die rote Jagd. So haben wir uns das vorgestellt in Buchenwald und Spanien.

Ulbricht: Weißt du was Bessres.

Thälmann: Nein.

Ulbricht: Wenn du das Ohr an den Boden legst. kannst du sie schnarchen hören, unsre Menschen, Fickzellen mit Fernheizung von Rostock bis Johanngeorgenstadt, den Bildschirm vorm Schädel, den Kleinwagen vor der Tür. (Schüsse. Leuchtspur.) Wieder einer. Hoffentlich ist es nicht mein Abschnitt.

(Soldaten mit einem jungen Flüchtling.)

Ulbricht: Was hast du verlorn bei den Kapitalisten. Was sollen wir noch in euch hineinstopfen.

Flüchtling: Das nächste Mal besser.

Ulbricht: In drei Jahren vielleicht. Schafft ihn weg.

Zu jener Wende- und DDR-Literatur, die ich hier im Blog sichten wollten, gehört ganz sicher Heiner Müllers Germania 3, mehr oder weinger fertiggestellt im Jahr 1995. Absurd schon im Sinne des Iterativen, daß die Chose Deutschland bei Müller mit einer Seriennummer belegt wird, wie später dann Web 2.0. Man mag diese 3  als Werkstattbezeichnung, als eine Art Zahl in der Stückeproduktion lesen, aber diese Zählung macht eben auch etwas mit dem Begriff Germania. Finis Germaniae.

Ich sortiere diesen Textauszug in der Kategorie „Formen des gelingenden Scheiterns“. 1995 wurde das Stück von Müller komponiert oder besser geschrieben, einige Jahre nach dem Fall der Mauer. Die Posten, die Hundelaufanlagen, die Schießanlagen, die Mauer, all das war abgebaut, dazu aber bleiben, als Geschichte, die deutschen, die russischen Panzer, das Resultat von 1000 Jahren und den Millionen Toten, Wolokolamsker Chaussee, auch das hängt damit und mit jener Mauer zusammen: Germania, Berlin – Heiner Müller entwarf ein wunderbares Tableau der Geschichte für die Bühne, darin er zuspitzte. Wunderbar ist diese Anordnung von Textmaterial, weil darin Versatzstück und Zitate die deutsche Geschichte grell, gleichsam wie in Benjamins dialektischen Bildern, Geschichte als Geschichtszeichen aufblitzen lassen. Man hört noch das revolutionäre Ça ira heraus und zugleich den darin im Gesang klingenden Terror. Dem folgt deutscher Gesang und dazu eben die DDR-Gemütlichkeit jener Fickzellen mit Fernheizung. In einer dieser Häuser wohnte auch Müller, in Friedrichsfelde nahe des Tierparks.

Böse Zungen sagen, solche Art von Theater brauche die Diktatur, um sich an ihr abzuarbeiten, und Müller selbst sagte dies. Die Hoffnungen, die die Menschen mit Marx, mit der Revolution verbanden und das, was durchs System Lenin sich einschlich und in Stalin zur Entfaltung kam. Die Rede des Genossen Stalin im Stück:

„Wie soll ich
Die träge Masse Russland im Genick
Den neuen Menschen schaffen, wenn der alte
Nicht liquidiert wird. Gestern für dein Morgen.
Das Massengrab geht mit der Zukunft schwanger
Menschen aus neuem Fleisch sind was die Zeit braucht.
Ich backe sie aus ihrem Blut eignen Blut
Und kein Prometheus kommt mir in die Quere
am Felsen ist noch Platz im Kaukasus.“

Großartig dieser Monolog Stalins, darin die Tücke und der Terror des neuen Rußlands anhebt. Den Menschen das Feuer zu bringen, mag gefährlich sein, noch gefährlicher aber ist das Schmieden des Neuen Menschen. Doch im revolutionären Elan dieser Zeiten zum Beginn des 20. Jahrhunderts war dies nicht nur ein Traum der revolutionären Politik, sondern ebenso der ästhetischen Avantgarden, ob Expressionismus, Konstruktivismus oder Surrealismus. Peter Bürger beschreibt jenes Wirken der Avantgarde wie folgt:

„Die Avantgarde wendet sich gegen beides – gegen den Distributionsapparat, dem das Kunstwerk unterworfen ist, und gegen den mit dem Begriff der Autonomie beschriebenen Status der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft. Erst nachdem im Ästhetizismus die Kunst sich gänzlich aus allen lebenspraktischen Bezügen gelöst hat, kann einerseits das Ästhetische sich »rein« entfalten, wird aber andererseits die Kehrseite der Autonomie, die gesellschaftliche Folgenlosigkeit, erkennbar. Der avantgardistische Protest, dessen Ziel es ist, Kunst in Lebenspraxis zurückzuführen, enthüllt den Zusammenhang von Autonomie und Folgenlosigkeit.“

Eine Kunst, die nicht bei sich selbst bleiben will und sich in die Lebenspraxis einzubringen. Daß der Künstler als Prometheus sich sieht, ist für die Kunstgeschichte kein neues Bild. Was im bürgerlichen Zeitalter noch individualistisch auftrat, transformierte sich ins Kollektiv. Jenen Feuerbringer beschreibt Heiner Müller in seiner Prosa „Die Befreiung des Prometheus“ derart:

„Prometheus, der den Menschen den Blitz ausgeliefert, aber sie nicht gelehrt hatte, ihn gegen die Götter zu gebrauchen, weil er an den Mahlzeiten der Götter teilnahm, die mit den Menschen geteilt weniger reichlich ausgefallen wären, wurde wegen seiner Tat beziehungsweise wegen seiner Unterlassung, im Auftrag der Götter von Hephaistos dem Schmied an den Kaukasus befestigt, wo ein hundsköpfiger Adler täglich von seiner immerwachsenden Leber aß.
[…]
An den Hals des Befreiers geklammert, gab Prometheus ihm mit leiser Stimme die Richtung der Geschosse an, so daß sie den meisten ausweichen konnten. Dazwischen beteuerte er, laut gegen den Himmel schreiend, der vom Wirbel der Steine verdunkelt war, seine Unschuld an der Befreiung. Es folgte der Selbstmord der Götter. Einer nach dem andern warfen sie sich aus ihrem Himmel auf den Rücken des Herakles und zerschellten im Geröll. Prometheus arbeitete sich an den Platz auf der Schulter seines Befreiers zurück und nahm die Haltung des Siegers ein, der auf schweißnassem Gaul dem Jubel der Bevölkerung entgegenreitet.“

Vom Heute her und vom sogenannten postdramatischen Theater gelesen, das sein 20. Jubelfest begeht, mögen solche Sätze, solche Ideen, wie Müller sie in „Germania 3“ entfaltet, etwa daß Hitler, Stalin, Lenin und Trotzi an einem Tisch sitzen und ihre Monologe halten, seltsam und überhoben pathetisch anmuten – fast als realisierte da einer das, was Thomas Bernhard in seinem „Theatermacher“ als die Menschheitskomödie „Das Rad der Geschichte“ bezeichnete, darin Churchill, Hitler, Bismarck, Napoleon und noch andere große Gestalten der Historie auftreten. Eine Art Wahnsinnstheater der geschichtsphilosophischen Überhebung, das bei Bernhard – naturgemäß – als praktizierte Aufführung niemals zustande kommt, so wie es in „Die Macht der Gewohnheit“ niemals gelingen wird, gemeinsam das Forellen-Quintett zu spielen. Bei Müller gelingt es. Mal mit dem Pathos, mal mit dem Zynismus oder eben der Melancholie des Dramatikers, der aufs Scheitern und auf die Trümmer der Geschichte blickt. In diesem Sinne ist auch Müller einer dieser Benjaminschen Engel der Geschichte und auch Müller schrieb 1958 zu diesem Geschichtsengel, der bei ihm ein glückloser ist:

„Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. Eine Zeit lang sieht man noch sein Flügelschlagen, hört in das Rauschen die Steinschläge vor über hinter ihm niedergehn, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung, vereinzelt, wenn sie langsamer wird. Dann schließt sich über ihm der Augenblick: auf dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose Engel zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem. Bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt.“

Diese Agonie, dieser Stillstand wurde im Deutschland nach 1990 einerseits Realität, andererseits verbreitete sich, wie man in Müllers „Die Küste der Barbaren“ nachlesen konnte, ein neuer Schrecken. Das große epochemachende Geschichtstheater blieb nach 1990 aus.  Müller schrieb Gedichte. Die letzten kreisen um den Tod. Müller starb am 30. Dezember 1995 an Speiseröhrenkrebs. Da aber auch seine Theaterdichtung eine lyrische Komponente besaß, so kann man die Lyrik der 1990er Jahre eben doch als die Fortsetzung des Theaters mit anderen Mitteln betrachten: diesmal in Fragmentform – die Teile herausgesprengt aus dem Geschichtsganzen, eine Welt in Splittern.

Das Müller Stück übrigens funktioniert auch als gehörter Dialog, hier als Hörspiel auf Deutschlandfunk.

„[DUNKEL, GENOSSEN IST DER WELTENRAUM SEHR DUNKEL]“

So endet jenes Germania 3. Verglühte, erloschene, erkaltete Utopie. Was aber bleibt, stiftet der Dichter.

Jener 9. November 1989 – Jahrestage

Man könnte diesen Tag mit dem bekannten Gedicht Thomas Braschs vom „schönen 27. September“ einleiten – es erschien 1980, als Brasch bereits vier Jahre im Westen lebte:

Der schöne 27. September

Ich habe keine Zeitung gelesen.
Ich habe keiner Frau nachgesehn.
Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.
Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht.
Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.
Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen
und mit keinem über neue Zeiten.
Ich habe nicht über mich nachgedacht.
Ich habe keine Zeile geschrieben.
Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.

Es ist in seiner Alltäglichkeit und als Moment des Rückzugs aus jenem Alltag ein schönes, ein ruhiges, ja auch ein kontemplatives Gedicht und manchmal liefert solche Dichtung eine Art Korrektiv gegen das Überschießende wie auch gegen das Politische. Es läßt im Trubel der Zeiten einen Schritt zurücktreten. Für solchen Abstand in der (dichterischen) Reflexion kann ein solcher datierter Tag zu einem Ritual werden. Wurde es auch und war es, nämlich für Christa Wolfs Buch „Ein Tag im Jahr“. Wolf folgte im Jahr 1960 einem Aufruf der Moskauer Zeitung „Iswestija“, den 27. September zu schildern und ihn zu beschreiben, und sie setzte das bis ins Jahr 2000 als Tagebuch fort und hielt fest, was an diesem Datum geschah. Eine zwar unter schlechtem Zeichen sich inszenierende, aber zugleich doch gelungene Idee, die auf Maxim Gorki zurückgeht, der im Jahr des Stalin-Terrors 1936 und kurz vor den großen Säuberungen diesen Schreib-Tag zum Lobe des Sozialismus ins Leben rief. Unfaßbar naiv und im Grunde unverzeihlich. Und gerade unter diesem Gesichtspunkt des schreibenden und engagierten Arbeiters bekommt die Lakonie des Brasch-Gedichtes besondere Bedeutung, und so fängt Brasch die Dialektik des Datums in einer Lyrik ein, die ins Oblomowsche Nichtstun in eine Art von Verweigerung geht. Eine Art Gegen-Sozialismus zum hohen Propaganda-Ton. [Wer zur Ästhetik und ebenso zur Politik des Datums als Einschnitt und Beschneidung einen Text lesen will, der greife zu Jacques Derridas „Schibboleth“.]

Solche Daten können privat sein und sie ragen zugleich übers Private hinaus. In ihnen bündelt und pointiert sich Geschichte und ebenso privates Erleben. Fast jeder weiß, was er am 11. September tat. Dieser neunte November ist für die Deutschen solch ein Gedenktag. Kein Geschichtszeichen zwar – ausgenommen vielleicht der 9. November 1989 – aber doch vielfältig determiniert. Es müßte dieser Tag wegen dieser hohen, fast überdeterminierten Symbolik der zentrale Feiertag der Deutschen sein. Ein Datum, in dem sich unterschiedliche Ereignisse kreuzen und treffen und die miteinander in einem Bezug stehen oder zumindest geschichtlich korrespondieren und eine Linie bilden.

Am 9. November 1848 die standrechtliche Hinrichtung von Robert Blum in Wien, am 9. November 1918 im Deutschen Reich die Absetzung des deutschen Kriegskaisers und die Proklamation der Republik: eine deutsche Revolution, aber mit fatalem Ausgang, denn man vergaß, die Generäle Ludendorff und Hindenburg vor ein Gericht zu stellen, und man hätte sie vorher zwingen müssen, eigenhändig den Friedensvertrag zu unterschreiben. Am 9. November 1923 der Hitler-Ludendorff-Putsch in München und am 9. November1938 die Pogrome und der systematische Angriff auf Juden und ihre Synagogen. Damit war, fürs Volk gut sichtbar, jene Szenerie eingeläutet, auf die das Dritte Reich zulief: die Endlösung der Judenfrage. Das Ende des Zweiten Weltkrieges machte diesem Grauen ein Ende und brachte ein anderes Europa – ein in Ost und West geteiltes. Eines, das wohl hundert Jahre und mehr noch dauern mochte, so nahmen die meisten bis weit ins Jahr 1989 hinein an. Aus dieser politischen Konstellation gingen die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR, hervor – von der Springer-Presse bis in die 1980er Jahre noch in Anführungszeichen geschrieben.

Die Solidarität der West-Linken mit der DDR-Opposition war mäßig bis gleichgültig. Das einige Deutschland stand kaum auf der Agenda, denn auch nach über 40 Jahren noch galt es, die unendliche Schuld abzutragen, für die die Teilung der Preis war, inzwischen aber in den Schleifen der Gewöhnung eine abstrakte Schuld, die tatsächliches Gedenken aufs Ritual zurückbrach – wie Martin Walser das nicht zu unrecht in seiner Friedenspreisrede 1998 feststellte. Kranzabwurfstellen eben, die da wohlfeil eingerichtet wurden – wobei die symbolische Dimension solcher Akte nicht zu unterschlagen ist.

Floskeln, Phrasen und Parolen vielfach auch von links: „Hoch und nieder, vorwärts, nie wieder!“, wie 1997 in leicht-melancholischem Ton der Sammelband zu vierzig Jahre „konkret“ titelte. Nicht schlecht eigentlich und die Hoffnungen und die Kämpfe der Jahre nicht in einen Satz, sondern vielmehr in Begriffe gegossen, gemeißelt, wissend, daß jene linken Jahre vorüber sind und zugleich das bloß noch Symbolisches rezitierend. Nicht daß mir diese Position einer Deutschland-Kritik damals fern stand, ich will mich hinterher nicht widerständischer machen als ich war. Im Rückblick aber und selbst als Zeuge der Zeit hätte einem das Falsche daran aufgehen können. Daß zwei Staaten mit einer ähnlichen Kultur, der gleichen Geschichte und derselben Sprache in dieser Weise geteilt waren, erschien auch mir nicht als der normale Weg. Da stand einerseits eine widerständische Linke, die viel auf Protest und bei der DDR die Schnauze hielt – wenn man von den Grünen und einigen wenigen Ausnahmen absieht – und da stand andererseits ein festgefügter Block des kapitalistischen Lebens, der zugleich aber auch ein Rechtsstaat war.

Mir ging seit Mitte der 1980er jedoch jene Gesinnungs-Linke zunehmend am Arsch vorbei. Der Solidaritäts-Kaffee aus Nicaragua schmeckte nach Scheiße, also trank ich ihn nicht. Jacobs- und Tschibo-Kaffee waren Wirtschafts-Betrug und beruhten, so steht zu vermuten, auf der Ausbeutung der Arbeiter in den Plantagen, aber sie schmeckten wenigstens halbwegs und erweckte nicht den Eindruck, daß da zugleich neben den Bohnen der Marke „Schlechte Solidaritätsernte“ gemahlene Eicheln und deutsche Bucheckern mitverarbeitet wurden. Dennoch kam mir, 1989, als inzwischen lange schon ins Ästhetische, in die Kunst und als Praxis in die Photographie abgewanderter Zaungast von Politik diese deutsch-deutsche Grenze widersinnig vor und sie kam mir auch schon 1982, als ich im Schwarzen Block in Hamburg als Fußvolk mitlief, falsch vor – vielleicht auch, weil ich früh schon, mit 14 Jahren die Biermann-Gedichte las und seine Lieder hörte: die von der kaputten DDR, von der Hoffnung auf ein besseres Land, nicht auf bessere Zeiten zu warten, sondern zu mache, zu protestieren, und irgendwann war klar, daß die Greise bleiben, und wie Attinghausen schon in Schillers „Tell“ deklamierte: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.“

Wenn man von der Lebensqualität und den Möglichkeiten eines guten Lebens, die die Bundesrepublik immerhin bot, einmal absieht: Das Spektrum an politischen Überzeugungen in der BRD war deutlich breiter als in der rigiden DDR, wo Witze nicht nach dem Lacheffekt gemessen wurden, sondern wie viele Jahre Knast sie einbrachten. Die Höhe der Haft war auch insofern ein nicht nur qualitatives Maß für die DDR, sondern ebenso quantitativ ein wohlfeiler Tauschwert im guten marxschen Sinne, weil die Haftdauer den Preis des politischen Gefangenen im Freikauf durch die BRD bestimmte. Wenn sie auch sonst nichts von Marx begriffen: das Prinzip des Kapitalismus, wie man eine Ware teuer verkauft, verstanden sie und auch die in diese Ware Mensch investierte Arbeit durch Befragung, Folter, Schlafentzug und Sonderbehandlung sollte sich in der Höhe des Preises auszahlen. Den Mehrwert fuhren dann immerhin die Arbeiter und die Funktionäre ein. Wer sich ein Bild von dieser Art der DDR machen will, besuche in Torgau die Ausstellung zu den Jugendwerkhöfen oder die Gedenkstätte Hohenschönhausen, mithin den Stasi-Knast.

Und in den 1980er dann wußte noch der Doofste: es wird nichts sein und es wird nichts mit dieser Art des Sozialismus, der ein Volk einsperren muß, Endspiel, Warten auf Godot, das letzte Band und der letzte machtʼs Licht aus. Ökonomisch nicht mehr zu stemmen. Es gab keine Alternative, auch der Kapitalismus war es nicht. Kein Ort, nirgends, las ich damals von Christa Wolf. Das traf die Stimmung. Und dennoch verstand ich diese Menschen, die da heraus wollten oder die ein anderes Deutschland sich wünschten, ein ganz anderes sogar, oder wenn es auch nur darum ging, ein besseres Auto zu kaufen. Idiotische Wünsche vielleicht, auf äußere Bedürfnisse zu schielen. Die Frage des Gebrauchswertes, selbst dort, wo er ein versteckter Tauschwert und Symbolisierung samt Habitus bedeutet, ist nicht gering zu veranschlagen.

Solidarität in gemeinsamen Kämpfen auszubilden, ist schwierig. In Wackersdorf, in Gorleben sowie im Elsaß, im Kaiserstuhl und im Badischen im Kampf gegen Whyl, Fessenheim, Marckolsheim – schöne deutsche Ortsnamen, davon zwei in Frankreich lagen – gelang ein Bündnis ganz unterschiedlicher Kräfte gegen eine Macht. In der DDR geschah dies langsam, aber stetig. Immer schon gab es jene Dissidentenszene – im Westen prominent und bekannt geworden durch Sänger und Dichter wie Wolf Biermann oder den Physiker Robert Havemann.

Was war meine DDR? Eigentlich keine. Sie existierte für mich in Berichten und Erzählungen. Ich besuchte die DDR 1982 für einen Tag, genauer gesagt Ostberlin, ich fand es spannend dort, teils seltsam; und befremdlich, auf diese Weise innerhalb Deutschland zu reisen, schon die Transitstrecke mit dem alten Golf, den ein Freund fuhr, schien mir widersinnig und gegen die Geschichte. Viel Grau da in Ost und beim Blick vom Fernsehturm auf dem Alex und schweifend über die Stadt freute ich mich, als dann über der Stadt, im Drehrestaurant sitzend, die Dämmerung hereinbrach, daß auf Ostseite nicht Neonreklame blitzte, sondern eine Schwärze und Stille sich über die Stadt legte. Man konnte die Nacht sehen. Aber was waren Eindrücke des Beobachters. Mit der Situation und der Politik im Land hatte das alles nichts zu tun.

Wenige nur, wie etwa Teile der Grünen zeigten Solidarität mit der Opposition in der DDR. Die Solidarität galt fernen Völkern, man schweifte lieber in die Ferne. Das war bequem, das war so weit weg, daß niemand im Zweifelsfall Konsequenzen tragen mußte. Man ging auf Nicaragua-Demos, protestierte für ein freies El Salvador, prangerte – zu recht freilich! – die imperiale und aggressive US-Außen- und Wirtschaftspolitik an. Das war gut, das war richtig. Einer mußte es tun. Und wo die Konservativen schwiegen, sprach und protestierte die Linke, und weil die Konservativen zur DDR nicht schwiegen und protestierten, sprach die Linke nicht über die Repressionen dort oder man sprach darüber nur geringfügig. Solidaritätsdemos mit „Schwerter zu Pflugscharten“ und mit der Opposition der DDR gab es keine – allenfalls in kirchlichen Kreise und bei manchen Grünen sah ich damals dieses Logo, der übrigen Linken war es egal oder anderes war Thema. Immerhin aber in der Friedensbewegung der BRD vereinzelt Solidarität und offene Briefe:

„Die in Gefängnissen der DDR sitzenden Aktiven aus der Friedensbewegung haben nichts getan, was wir nicht auch tagtäglich tun … Sie wurden verhaftet, wofür wir von Ihnen gelobt werden.“ (Offener Brief an Erich Honecker, Januar 1984, unterzeichnet von Vertretern der westeuropäischen Friedensbewegung)

In Westberlin gab es 1984 einen von Frauen organisierten Protest am Checkpoint Charlie, die aus Solidarität mit den mutigen Bürgerrechtlerinnen Bärbel Bohley und Ulrike Poppe demonstrierten. Dieser Protest hielt an, bis die inhaftierten Frauen freigelassen werden.

Wesentliches zum Fall der Mauer trugen in der DDR die Kirchen bei, denn sie boten jenen einen Schutzraum, die gegen das System rebellierten. Der Satz Biermanns für die Revolution der Polen galt auch für die DDR: Besser Jesus im Herzen, als Marx im Arsch. Ebenso aber war es der Protest der Straße, samt einer kurzen aufkeimenden Hoffnung, es könnte ein anderes Deutschland geben. Diese Hoffnung war auf einer Illusion gebaut und auch mit demokratischen Mitteln, also durch freie und geheime Wahlen nicht herbeizuführen. Zu tief saß die Wut über alles das, was nur annähernd mit dem Begriff „Sozialismus“ konnotiert war. Dem konnte auch die in der DDR sich wieder etablierende und aus der Zwangskollektivierung sich befreiende Sozialdemokratie nichts entgegensetzen.

In fataler Umkehrung könnte man auch sagen, daß den Feinden einer gerechten und sozialen Gesellschaft nichts Besseres passieren konnte als der real existierende Sozialismus. In den Etagen Macht, in den Zentralen der Großkonzerne mit ihrem Shareholder-Value-Denken dürften schon lange die Sektkorken geknallt haben. Immerhin gab es bis 1989 einen – wenn auch schrecklichen, grausamen, aber in seiner Grausamkeit auch wieder gewünschten Widerpart: den real existierenden Sozialismus, der aber, wie Hermann L. Gremliza es für die BRD formulierte, eine gewisse Mäßigung bewirkte.

„Ich schätzte die Sowjetunion nicht wegen ihrer Nachteile, wie Planwirtschaft, Arbeitsplatzgarantie und festgeschriebener Einkommen, sondern wegen ihrer Vorzüge, wie Atomraketen, Panzerarmeen und riesiger Raketenkreuzer, die das einzige Mittel waren, den überbordenden Kapitalismus im Zaum zu halten und zu zivilisiertem Verhalten zu zwingen, aus reiner Angst“

Fatale Dialektik des Gesellschaftlichen. Im Kampf der Systeme siegte der Westen und mit dem Wegfall der Ostblock-Diktaturen und dem Zusammenbruch des Mutterlandes der Revolution war ein neuer Weg frei. Daß dieser Zusammenbruch einer bis in die Köpfe reichenden Diktatur sein Gutes hatte, steht außer Frage. Der 9. November 1989 brachte vielen Menschen Freiheit und zugleich einen tiefen Einschnitt in der Vita. Die Leerstellen, die entstanden und wo die Jugend, die in diesen Tagen aufwuchs, auf den Trümmern tanzte und in den Ruinen träumte und scheiterte, brachte Clemens Meyer in seinem wunderbaren Debüt- Roman in ein literarisches Bild.

Heiner Müller schreibt am 25. September 1992 in seinem in der „Frankfurter Rundschau“ erschienenen Text „Die Küste der Barbaren“:

„Ein Dokumentarfilm über Skinheads in Halle beginnt mit einer Sequenz, wo ein Junge in Bomberjacke und Springerstiefeln professionell und liebevoll nach dem Kochbuch vor der Kamera und für das Filmteam einen Napfkuchen bäckt. Sein Berufstraum war Bäcker und Konditor, und seine Chance auf eine Lehrstelle liegt im nächsten Jahrhundert. Nach dem Backen geht er uniformiert auf die Straße in der Neubauwüste Halle-Neustadt (der Städtebauer Ulbricht war stolz auf die längsten Langzeilen der Welt in diesem Viertel und in anderen Neubauvierteln, mit denen er, laut Auskunft seiner Witwe an den Architekten Henselmann während einer Mittelmeerrundfahrt mit dem Veteranendampfer VÖLKERFEUNDSCHAFT, dem deutschen Arbeiter das Flanieren beigebracht hat) und verwandelt sich im Kollektiv der anderen Arbeitslosen in ein Monster. In der Wohnung weint seine Mutter, ehemalige Lehrerin mit ehemaligem Glauben an die sozialistische Menschengemeinschaft DDR, jetzt Lohnsklavin für Neckermann irgendwo westlich der Elbe mit fünf Stunden Anfahrtsweg zur Arbeit und zurück, damit der Sohn ‚von der Straße bleibt‘

[…]

[Günter] Maschke sagte mir, aus der DDR-Revolution kann nichts werden, weil keine Leichen die Elbe hinabgeschwommen sind, von Dresden nach Hamburg. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, warum Brecht die Bauernkriege für das größte Unglück der deutschen Geschichte hielt. Sie kamen zur Unzeit, mit ihnen wurde der Reformation gut protestantisch der Reißzahn gezogen. Auch die Gewaltfreiheit der DDR-‚Revolution‘ 1989, gesteuert und gebremst von (protestantischer) Kirche und Staatssicherheit, war ein deutsches Verhängnis. Jetzt steht der Sumpf: die Unsäglichkeit der Stasidebatten, Versuch, die Kolonisierten durch die Suggestion einer Kollektivschuld niederzuhalten. Der versäumte Angriff auf die Intershops mündete in den Kotau vor der Ware. Von der Heldenstadt Leipzig zum Terror von Rostock. Die Narben schrein nach Wunden: das unterdrückte Gewaltpotential, keine Revolution/Emanzipation ohne Gewalt gegen die Unterdrücker, bricht sich Bahn im Angriff auf die Schwächeren: Asylanten und (arme) Ausländer, der Armen gegen die Ärmsten, keinem Immobilienhai, gleich welcher Nation, wird ein Haar gekrümmt. Die Reaktion auf den Wirtschaftskrieg gegen das Wohnrecht ist der Krieg gegen die Wohnungslosen. Eine Fahrt durch Mecklenburg: an jeder Tankstelle die Siegesbanner der Ölkonzerne, in jedem Dorf statt der gewohnten Schreibwaren Mc Paper & Co. Im Meer der Überfremdung ist Deutschsein die letzte Illusion von Identität, die letzte Insel. Aber was ist das: deutsch.“

Diese Frage bleibt bis heute. Sie ist Stachel und Ansporn. Müller schreibt vom grassierenden Haß aufs Fremde nach Rostock-Lichtenhagen. Auch das gehört zur Einheit dazu. So wie sie viele Aspekte hat. Schöne und weniger schöne. Und manchmal muß der Betrachter an solchen Gedenktagen, bei aller Freude über diesen geglückten Tag, daß die Mauer ohne einen Tropfen Blut fiel, dennoch Wasser in den Wein kippen. Die Dialektik der Kritik besteht darin, dieses Wort im etymologischen Sinne und in seiner Bedeutung vom Griechischen her zu lesen: krínein nämlich, was „unterscheiden“ bedeutet. Gute wie auch schlechte Aspekte zu sichten und beides perspektivisch als unterschiedliche Hinsichten einer und derselben Sache zu betrachten. Es gibt am 9. November Gründe zu feiern und es gibt Gründe zur Skepsis. Vielleicht gerät diese Bewegung des Denkens – in einem Rechtsstaat immerhin, wenn auch teils mit Tücken und Lücken, aber auch das ist als Errungenschaft nicht wenig! – zum sich vollbringenden Skeptizismus. Ohne Geschichtstelos, denn Geschichte ist ein offener Prozeß. Und dennoch wäre ohne das eschatologische und versöhnende Motiv alles Pragmatische ein Nichts. Eingedenk dessen, daß es kein richtiges Leben im falschen gibt und daß doch auch jenes Leben eines ist, das in seinem bescheidenen Horizont dennoch zu einem Teil auch ein gelingendes Leben sein kann. Der Fall der Mauer trug, trotz  mancher Tücken und mancher Verwerfungen, dazu bei, eine blutige Diktatur zum Fall zu bringen.

 

[Die beiden Photographien stammen aus dem Jahr 2014, als aus Luftballons symbolisch die Mauer nachgebaut wurde. Diese Ballons stiegen zu der Uhrzeit in den Himmel, als das Günter Schabowski jenen Worte sprach – so zumindest meine ich mich zu erinnern.]

Die Familie Brasch – 30 Jahre keine DDR (2). Die Tonspur zum Sonntag

Unbedingt sei den Leserinnen und Lesern diese Dokumentation zur Familie Brasch ans Herz gelegt. Untertitel: „Eine deutsche Geschichte“. Und eine solche deutsche (Familien)Geschichte ist es in der Tat, darin sich die verhängnisvolle Geschichte Deutschlands spiegelt: mal heiter, oft traurig. Es ist zugleich die Geschichte eines aus Nazi-Deutschland vertriebenen Juden, nämlich Horst Brasch, Vater unter anderem des Schriftstellers und Filmemachers Thomas Brasch. Horst Brasch gelangte 1939 mit den Kindertransporten nach England und konnte derart der Vernichtung durch die Deutschen entkommen. Er wollte nach der Befreiung Deutschlands durch die westlichen Alliierten und die Sowjetunion ein anderes, ein besseres Deutschland schaffen. Damit das nie mehr wiederkehrt, denn der Schoß ist fruchtbar noch – bis heute. Und daß da zum Ende des Krieges ein Land namens Deutsche Demokratische Republik aus den Trümmern von Faschismus, Judenmord und Verbrechen erwuchs: aufrechte Antifaschisten traten an, es diesmal anders zu machen. Künstler wie Alfred Döblin und Bert Brecht, Stefan Heym folgten. Aber was geglaubt und was dann am Ende realisiert wurde, ist oft zweierlei. Brecht faßte dies in einem klugen Gedicht in lehrhafte Worte:

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir ja:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

So schrieb Bert Brecht „An die Nachgeborenen“, und das, was im Gedicht, auch in den vorhergehenden Strophen, gedichtet wurde, muß man historisch im Hinterkopf behalten, wenn man die DDR und das, was da war, verstehen will. Eine Diktatur, ohne Meinungsfreiheit und bürgerliche Rechte und zugleich der Versuch, eine gerechte Gesellschaft ohne Ausbeutung zu schaffen.

Die Dokumentation (in der Mediathek leider nur noch bis zum 16.10.) erzählt die Geschichte des Vaters Horst Brasch (1922-1989), der Mutter Gerda (1921-1975), der Söhne Thomas, Klaus und Peter Brasch sowie der Tochter Marion Brasch (1961). Davon der bekannteste Sohn eben der Schriftsteller und Filmemacher Thomas ist (1945–2001). Klaus Brasch (1950-1980) kennen manche aus dem großartigen DEFA-Spielfilm „Solo Sunny“, Peter Brasch (1955-2001) dürfte wenigen nur als Schriftsteller, Dramaturg und Autor von Kinderhörspielen bekannt sein. Sein Roman „Schön hausen“, im April 2019 im Eulenspiegel Verlag wieder aufgelegt, dürfte neu zu entdecken sein – auch im Kontext der Wenderomane scheint mir dieses Buch literaturästhetisch bedeutsam.

Horst Brasch mußte die Wende nicht mehr erleben, sehr wohl aber all die Zerwürfnisse mit seinen Söhnen: als linientreuer Parteisoldat zeigte er seinen Sohn Thomas bei den Oberen an, als dieser zusammen mit Florian Havemann, Bettina Wegner und vielen anderen gegen die Einmarsch der Sowjets in die CSSR  protestierte, Flugblätter verteilte und Protestparolen an die Wand schrieb. Ebenso schickte er die Klagebriefe, die sein Sohn Thomas aus der Kadettenanstalt an den Vater schrieb, an den Ausbilder von Thomas. Funktionäre müssen funktionieren. Man wollte schließlich das bessere.

Anetta Kahane (ebenfalls ein Kind jüdisch-kommunistischer Emigranten und in den 1970er Jahren IM bei der Staatssicherheit) schrieb: „Zu den Feinden der DDR gehören in erster Linie Klaus Brasch und Thomas Brasch.“ All das im Hinterkopf geraten solche Szenen vertrackt. Einfach ist es nicht. Was tat man aus Überzeugung, was aus Opportunismus? Liest man Thomas Braschs „Vor den Vätern sterben die Söhne“ (1977 bei Wagenbach erschienen, ein Jahr nach Braschs Ausreise nach West-Berlin), so ist dies ein zutiefst kritisches Werk zwar, aber es klagt nicht die DDR im ganzen an und ist in diesem Sinne kein Dissidenten-Buch.

Lebenswege fallen unterschiedlich aus. Diese Dokumentation zeigt zwar nicht im Detail den Werdegang jedes einzelnen Familienmitglieds nach, sondern eher bestimmen skizzenhafte Konturen das Bild. Aber gerade darin, in den Skizzen dieser deutsch-deutschen Tragik zeigt sich das Wesentliche: daß da ein Staat antrat, es anders zu machen und das Rad der Geschichte anzuhalten oder wie es Wladimir Majakowski im „Linken Marsch“ dichtete:

Entrollt euren Marsch, Burschen von Bord!
Schluß mit dem Zank und Gezauder.
Still da, ihr Redner!
Du
hast das Wort,
rede, Genosse Mauser!
Brecht das Gesetz aus Adams Zeiten.
Gaul Geschichte, du hinkst …
Woll’n den Schinder zu Schanden reiten.
Links!
Links!
Links!

Dies aber konnte nicht gelingen. Nicht so. Aporie der Utopie. Und deshalb eben, weil diese sich perpetuierenden Widersprüche nicht einfach dialektisch sich auflösen lassen, sondern mit der unvermeidlichen Gewalt und dem Terror konnotiert sind, scheitert die Revolution, frißt sie ihre Kinder, und es kamen nach Prag über Nacht die Panzer. Die antifaschistischen Emigrantenkinder ahnten dies: das, was ihre Väter besser machen wollten, mißlang. Sie probten, nicht anders als jene Bürgerkinder im Westen, den Aufstand gegen ihre Eltern. Und im Kampf der Geschichte, auch gegen den Westen, fielen manchmal die Mittel der Regierenden, die antraten, die Arbeiterklasse zu vertreten, hart aus. Was aber bleibt, stiftete die Kunst der DDR: sie erzählt, sie zeigt. Spannend vor allem zu sehen, wie Kunst ästhetisch die Widersprüche in Prosa oder Bild faßte  – seien das die widerständigen Autoren wie Günter Kunert, Kunze, Huchel, Biermann, Christa Wolf zum Teil, Thomas Braschs DDR-Buch „Vor den Vätern sterben die Söhne“, die großartige Brigitte Reimann mit „Franziska Linkerhand“ oder aber Wolfgang Hilbig, aber auch Autoren, die diesem Staat  nahestanden – Hermann Kant oder der ambivalente und unbedingt lesenswerte Peter Hacks sind da zu nennen.

Die Geschichte der Familie Brasch jedoch bietet ein besonderes Drama, in dem sich Privates und Politisches auf unheilvolle Weise verquicken: Widerstand und ein neues Deutschland, doch Genosse Funktionär kann mit drei rebellischen Söhnen nicht funktionieren und so wird Horst Brasch nach jenem Thomas-Desaster des August 68 in die Parteischule nach Moskau weggelobt. Vordergründig als Auszeichnung deklariert, tatsächlich aber ist es eine Strafe. Immerhin gibt es das Hotel Lux nicht mehr, in dem deutsche Genossen auf Stalins Geheiß auf Nimmerwiedersehen verschwanden.

Es zeigt diese Dokumentation das Nicht-Ankommen jener rebellischen Funktionärskinder: wie sich Konflikte zuspitzen, wie aus jungen Menschen, die dem Projekt DDR im Grunde nicht abgeneigt waren, am Ende Abtrünnige wurde, wie eines der Kinder dem Land den Rücken kehrte und wie Thomas in Reformen keinen Sinn mehr sah. Die einzige „brave“, die es schaffte, die es überlebte und weiterlebte, ist Marion Brasch. Ihre Familiengeschichte findet sich in dem wunderbaren, großartigen Buch „Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie“ – und gerne ließen sich hier noch ein paar weitere Superlative zu diesem Buch hinzufügen.

Und es handelt diese Geschichte ebenso von jenen heißen und liebenden Herzen, die verglühten, die verblühten und im Zorn der Tage, im Strom des Alltags, in den Unverzeihlichkeiten sich zerrissen und zerstritten. Unheilbar – dabei haben wir doch nur ein einziges Leben und kein zweites, um es noch einmal zu probieren. Da geht der Riß durch Familien und Freunde. Aus Zorn und produktiver Wut wird Verbitterung und nach dem Fall der Mauer bei Thomas Brasch ein Schweigen. Ein sprachlos bleibender Vater, der auf die Fragen des Sohnes Thomas nichts zu entgegnen wußte. Ein Streit, der nie mehr zu klären ist, und vielleicht als einzige Hoffnung darin zu lesen, daß Marion Brasch aus all dem halbwegs heil herausgekommen zu sein schien und über diese Geschichte ein solch feines Buch schrieb. Mehr wäre davon zu erzählen. Eine großartige Dokumentation über eine deutsche Familie: über solche, die das bessere, das andere Deutschland wollten.

„Ab jetzt ist Ruhe“ war das Machtwort, das damals die Mutter sprach, wenn die Brasch-Kinder abends zur Schlafenszeit im Kinderzimmer noch zankten. In ihrem Epilog zum Roman, der eine Biographie ist, beschreibt Marion Brasch eine Fahrt zu den drei verschiedenen Friedhöfen, wo die Familienmitglieder verstreut liegen. Thomas Brasch auf dem berühmten, da wo all die anderen lagen: von Fichte und Hegel, über Brecht, Weigel und Heiner Müller, dann ein abgelegener Friedhof, wo Peter und Klaus gemeinsam ruhten, wie man so schön sagt, und schließlich die Fahrt zur Gedenkstätte der Sozialisten in Friedrichsfelde:

„Schließlich fuhr ich zum Friedhof, auf dem meine Eltern lagen, und als ich an ihrem Grab stand, wartete ich wieder auf einen Gedanken. Er kam. Abwesend, dachte ich. Jetzt seid ihr alle abwesend. Das ist traurig, doch es hat auch was Gutes: Ihr könnt mir nicht mehr verlorengehen, weil ich euch schon verloren habe. Ich legte die letzte Rose auf das Grab meiner Eltern. Ich habe euch lieb, sagte ich. Und ab jetzt ist Ruhe.“

 

 

Die Utopie des Augenblicks – Thomas Braschs „Vor den Vätern sterben die Söhne“

Es müßte, für eine besondere Art des Rezensierens, auch im Feuilleton eine Rubrik namens „Wiedergelesen“ eingeführt werden. Doch Literaturkritik im Feuilleton ist in der Eile des Geschäfts aufs Aktuelle getrimmt, da bleibt kaum Platz für eine wiedergängerische Lektüre. Alte Bücher sind zwar keine abgelebten, aber sie sind unwiederbringlich vergangen und haben für die tagesaktuelle Literaturkritik ihre Zeit hinter sich. Das ist oft schade, denn manches alte und manchmal auch vergessene Buch verdient es, dem Leser ans Herz gelegt zu werden. Sie sind da und ragen als Wegmarken in die Literaturlandschaft. Es lohnt sich, sie immer einmal wieder zu lesen. So auch Thomas Braschs Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne aus dem Jahr 1977. Der Titel dieses Romans wurde zum geflügelten Wort. Ein Stück Geschichte der DDR lesen wir hier, Skizzen aus dem Alltag des Arbeiter- und Bauernstaates. Da schreibt Brasch von jenem lebenswilden Robert, dem es in jenem Land hinter dem Stacheldrahtverhau mit Selbstschußanlage, NVA-Posten mit scharfer Waffe, Grenzhund und Landminen zu eng wurde.

Ja, tatsächlich – Brasch wagte den Bitterfelder Weg, er schrieb die Geschichten aus der Produktion, Geschichten von der Arbeit, Geschichten aus dem Betrieb und er erzählt vom Leben, vom Wunsch nach Leben. Aber nicht in der Weise, wie es sich die Oberen der DDR gedacht hatten und wie es genehm war: „Kumpel, greif zur Feder!“. Es ist die Geschichte einer Generation, die keinen anderen Staat als den sozialistischen gekannt hat, die Erfahrungen ihrer Väter unter Krieg und Faschismus sind ihnen fremd. Die Generation der in den 40er und 50er Jahren Geborenen. Sie kennen nur die Enge der DDR. Ja, in diesem Sinne ist diese Prosa – soll und kann man sie eigentlich einen Roman nennen? Das wäre eine interessante Frage im Sinne der Gattung – dem Geschichtszeichen 1968 verhaftet, es ist ein Buch vom Protest, und zugleich schwingt darin im Ton die neue Subjektivität der 70er Jahre mit. Ausbrechen.

Es berichten meist junge Menschen von ihren Erfahrungen: zu dritt an die Ostsee türmen, das Leben im Arbeitsbetrieb. Brasch schreibt Szenen aus dem Alltag, aber genauso fließen in diesen Erzählfluß eine Parabel und ein fingierter Mythos ein, nämlich der von Apollon und Marsyas – jener Satyr, der Apollon im Wettstreit der Künste herausfordert. Eine Generation, die sich im Protest aufreibt. American Folk Blues Festival im Friedrichstadtpalast, Männer, die Mädchen kennenlernen und daran doch irgendwie scheitern. Vor den Vätern sterben die Söhne. Wir erleben die Filmvorführung Spur der Steine und wie im Kino organisiert einige Stasis den Film stören und dann verjagt werden. Es kommt zu tumultartigen Diskussionen. Und da lernt der Erzähler dieser Episode im Kino jenen rebellischen Robert kennen. Eine Jugend, die nicht am Gängelband gehalten werden will. Lost Generation in der Überbehütung, in der Überhitzung einer neuen Zeit, die da heranbricht, und insofern ist „Erfahrungshunger“ auch eine diesergelungenen  Metaphern.

„Vielleicht hast du recht, sagte er, tatsächlich zerspringt mir der Kopf von all den Theorien, Systemen und historischen Gesetzmäßigkeiten, die ich gelernt habe. Sie wollen unseren Blick auf die angeblich großen Dinge lenken, damit wir unsere eigenen Erfahrungen nicht ernst nehmen. Wir dürfen auf die Barrikaden gehen, wenn es um Musik geht oder um Frisuren oder um Hosen. Das schadet keinem, und nach einer Weile werden wir die Tür einrennen, die sie angelehnt haben, und wir werden auf der Nase liegen. Dann werden wir von dieser leeren Gegend in unseren Herzen sprechen wollen, aber sie werden mit großer Geste auf das Leid in Indien weisen und uns Kleingeister nennen. Nichts trifft sie mehr, als wenn wir beginnen, über unsere Erfahrungen zu reden so laut, wie sie über ihre und die Leute in Indien über den Hunger. Ich hab es von dir gelernt. Du redest über nichts, was du nicht kennst.“

Im Gang der Lektüre jedoch schält sich keine zusammenhängende Story heraus. Die Erzählerstimme blendet auf verschiedene Episoden, die Erzählperspektive wechselt vom Ich-Erzähler zu erlebter Rede oder zur Erzählung in der dritten Person. Brasch erzählt in Bruchstücken eine Geschichte, die jedoch immer wieder abreißt, auf andere Fäden verweist, kurze Prosastücke, die zunächst kein Kontinuum zu bilden scheinen. Vom Zimmer des Vernehmungsoffiziers – „Bitte kommen sie mit zwecks Klärung eines Sachverhaltes“ –, in dem der Erzähler nun hockt und über Roberts Flucht befragt wird, geht es in die Welt der Produktion. Oder nachts eine Fahrt mit der S-Bahn, ein Mann und eine Frau. Zwei Körper. Das Private war auch (oder gerade) in der DDR politisch. Robert, dem diese DDR-Welt zu eng wurde. Robert, der die Flucht aus diesem engen Land nicht gelang:

„Was ich will, schrie er, diese Nabelschnur durchreißen. Die drückt mir die Kehle ab. Alles anders machen. Ohne Fabriken, ohne Autos, ohne Zensuren, ohne Stechuhren. Ohne Angst. Ohne Polizei.“

Das, was Robert und all die anderen wünschen, wovon sie heimlich träumen – das gibt es nicht. Fraglos ist jener Robert, der das herausbrüllt, ein Alter Ego des Autors, wenn man denn biographisch lesen möchte. Eine jener rebellischen Figuren, jene, die eine andere DDR wollen. Wie Brasch. Der Staat DDR hatte viel mit Braschs Schreiben zu tun. Brasch verteilte Flugblätter gegen den Einmarsch der Sowjets in die ČSSR. Prager Frühling und der Wunsch nach einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Nun aber, nachdem der Aufstand mißlang, ist das Land wieder eng. Und grau. Man sucht sich die Freiräume, wo es irgend geht.

„Wir waren eine Woche lang an der Küste von einem Ort zum anderen gefahren, um ein Zimmer zu bekommen. Ich hatte mich von einem Arzt krankschreiben lassen, und nachts lagen wir in den Strandkörben und sahen auf das Meer. Robert hatte mir erzählt, wie er exmatrikuliert worden war, und hatte zugehört, wenn ich von Grabow, Ramtur, Fastnacht, Kirsch, Rita und den anderen aus meiner Brigade gesprochen hatte.

Ich würds nicht aushalten, sagte er, jeden Tag um vier aufstehen, zwei Wochen Urlaub und vielleicht vier Wochen krank. Ich würde zum Hund werden.

Er legte sich zurück.

Das ist Leben, sagte er. So liegen, nachts, und das Meer vor dir. Die Gedanken durch den Schädel treiben lassen im Rhythmus des Bebop: sanft und kräftig. Das Klopfen in der Erde spüren und die Haut auf den Knochen. Lachst du.

Ich hör dir zu.“

Aber so ist das Leben nicht und diese Utopie des Augenblicks kann nicht halten. „Es legt sich ein Grauschleier über die Stadt, den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat“, dichtete 1980 die Band Fehlfarben. Dies paßt nicht nur für Westberlin, sondern spiegelt gut den Muff jener Sozialistenjahre wider. Jene Väter, die in guter Absicht ein besseres Deutschland schaffen wollten, gezeichnet vom Faschismus, und jene Söhne, die nichts anderes kannten als die Normenklatura und daran inzwischen erstickten. Allerdings geht diese Prosa doch weit über die DDR hinaus. Was Brasch beschreibt, ist eine Leere, die es in dieser Form genauso im Westen gibt, oder wie es die Franzosen sagen: Métro, boulot, dodo. Pendeln, arbeiten, schlafen. Auch die Revolte gegen dieses Lebensmodell – daß das Leben nicht mehr lebt – kennzeichnete den Aufbruch von 68 und schlug sich in der Literatur jener Jahre nieder und was dann in den 70er Jahren  in Ost- wie Westdeutschland unter dem Titel Neue Subjektivität firmierte, nachdem die Träume von Revolution und Revolte ausgeträumt waren. Ob dies Bernward Vespers Monumentalmonolog Die Reise war oder eben in pointierter Prosa mit einer Reise im kleinen bei Braschs Vor den Vätern sterben die Söhne.

Bei solchem Titel kann es nicht schaden, Braschs Lebensumstände zu kennen, wenngleich es für die Struktur der Prosa nur bedingt etwas hinzutut. Thomas Brasch wurde als ältester Sohn des jüdischen Emigranten Horst Brasch geboren, im englischen Exil, 19. Februar 1945 in Westow, North Yorkshire. Jener Horst Brasch, der später dann in der DDR zur Funktionärselite zählte, immerhin stellvertretender Ministers für Kultur der DDR. Als sein Sohn jene Flugblätter verteilte, zeigte ihn sein Vater bei der Obrigkeit an. Allein: Es nützte dies auch dem Vater nichts, der fortan, obwohl in tiefem Glauben an die DDR als besserem Staat, kaltgestellt wurde. Thomas Brasch hatte zwei Brüder, Klaus und Peter Brasch, der eine Schauspieler, der andere ebenso Schriftsteller, sowie die Schwester Marion. Von den vier Kindern lebt einzig Marion Brasch noch. Eine traurige, eine seltsame Familiengeschichte, aus alten Zeiten. Da gerinnen Nationalsozialismus, Flucht und Vertreibung aus Deutschland sowie das bessere Deutschland, das sich hinterm Drahtverhau verbergen mußte, zu einer dramatischen Familiengeschichte. DDR-Geschichte in nuce. Marion Brasch erzählt diese Familiengeschichte auf teils melancholische, teils amüsante Weise in ihrer ganz und gar wunderbaren Familienchronik Ab jetzt ist Ruhe. Es sei das Buch jedem ans Herz gelegt, der etwas über das Leben in der DDR und über die Familie Brasch wissen mag. Die Allüren des großen, wie auch der anderen Brüder. Alkohol und Drogen waren ihre großen Feinde. Ein großes Buch, fein erzählt.

Und wie ein Rausch in Sprache, eine moderne Collage aus Prosa-Miniaturen ist auch jenes Buch von den Söhnen geschrieben. Daß Brasch Lyrik macht, merkt man diesen Texten an. Sie erzählen nicht nur, sondern verdichten Szenen. Ein grandioses Buch, das mit Wucht in der Sprache auf den Leser eindringt, von jenem Hunger nach Erfahrung uns  erzählt, diese Sucht nach Mehr, die doch am Ende in der Aporieschleife sich verhängt. Noch heute insofern aktuell.  Wie mit einer teils verdichteten poetischen Sprache sich ein Ich in die Welt imaginiert, die es nicht gibt und doch immer nur bei sich selbst landet.

„Warum bist du nicht eine andere, das Licht hinter den Lidern. Das Fenster ist zu. Wenn ich mir den Schädel aufbrechen könnte. Ich will nichts hören. Das Brennen im Fleisch. Dieses endlose Selbstgespräch. Du und Ich. Das Trümmerfeld hinter der Stirn. Sei endlich ruhig, kein Wort mehr.“

Poesie und Prosa sind der Versuch, das Stirnwandgefängnis zu brechen. Das kann man im anderen Kontext auch außerhalb dieser Szenerie lesen,  und man kann genauso beim Blick in diese Szene dem gebrochenen Mann zusehen, der diese Sätze in seinen Gedanken ausspricht, während er nachts bei einer Frau hockt, die er in der S-Bahn halbbesoffen ansprach, ein Mann, der im Knast saß und das Leben mit einer Frau und in der Welt bereits verlernt hat. Prosa-Miniaturen, die in ihrer Anordnung die Prosa eben doch zu einem Roman machen.

Oder man kann das Zweifel- und Verzweiflungsprogramm als lyrische Verdichtung fassen, um qua Sprache eine Stimmung  zu intensivieren – ähnliche Sentenzen finden sich auch in der posthum herausgegebenen Gedichtsammlung „Die nennen das Schrei“ und auch in der seltsamen Prosa Mädchenmörder Brunke findet sich dieses Motiv des verkapselten Ichs, das nicht zum anderen zu gelangen vermag. Mauern auch im inneren. Ein Motiv, das sich zentral durch Braschs Werk zieht – Leit- und Leidmotiv in einem. Vor allem aber fällt einem an dieser Stelle ein anderer Autor ein, nämlich Georg Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod. Wir erinnern uns an die Anfangsszene, an die Schwierigkeiten der Liebe im Zeitalter der Revolution. Das Private ist politisch und jedes Ich doch nur ein vereinzeltes Ich, in seinem Solipsismus befangen:

„Ja, was man so kennen heißt. Du hast dunkle Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint und sagst immer zu mir: lieber Georg! Aber (er deutet ihr auf Stirn und Augen) da, da, was liegt hinter dem? Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren. –“

Diese Innenraumerkundungen, die doch zugleich die der Gesellschaft der DDR sind, unternimmt Braschs Prosa. In Berlin. Ein Lesebuch für Städtebewohner – und wie wir wissen, schätzte der Brasch den Brecht. Insofern verwundert die Allusion nicht:

„Spuren verwischen, dachte ich, mich ausradieren. Ich werde ihnen ein weißes Blatt vorlegen, wenn sie wiederkommen.

Ich steckte mir die Zigarette in den Mund und ging auf den S-Bahnhof zu. Er war leer wie meine Wut.“

So dachte jener Mann, nachdem er, noch in der Nacht, und im Danach, die Wohnung jener Frau verließ. Ohne daß es zu nennenswerten Höhepunkten gekommen wäre.

Thomas Brasch: Vor den Vätern sterben die Söhne, Rotbuch Verlag 2012, ISBN 9783867891813 144 Seiten, 12,00 €

Verwiesen sei auch noch auf eine Ausstellung von Uwe Behrens mit dem Titel „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin – für Thomas Brasch“. Sehenswerte Bilder, im Kulturhaus Spandau, noch bis zum 13.10.2018 zu sehen.

Bildquelle: Wikipedia, UrheberIN: Marion Brasch (= user Freitach), Genehmigung (Weiternutzung dieser Datei) CC-by-sa-2.0-de

Heinz Keßler ist tot

Ich hatte schon immer einen ästhetizistischen Fimmel, überhaupt für Uniformen und insbesondere für die Paraden der NVA. Zum ersten Mal 1982 in Ostberlin gesehen, am 6. Oktober, also einen Tag vor dem Jahrestag der Republik. Da marschierten sie auf und probten ihr Jubiläum: die Kampftruppen, die NVA-Verbände der DDR. Raketenwerfer, Panzer, Jeeps, Russenautos. Die Karl-Marx-Allee war in den Nebel gehüllt, das Musikkorps marschierte auf, spielte einen flotten Marsch, die Soldaten defilierten in ihren Uniformen. Besonders liebte ich die Marineverbände, ihre weißen Hosen, die weißen Oberteile, das blau-weiß geringelte Shirt darunter.

Schon 1975 in London war ich, als Kind noch, von den Truppenparaden der Tommys begeistert. Dudelsackpfeifer und Regimenter im Schottenrock, dazu ein wendiger kleiner Panzer. Nun also ein Aufmarsch der NVA, in den meine Begleiterin und ich hineingeraten waren. Ich stellte mir vor, sie würden durchs Brandenburger Tor ziehen. Ich wollte bleiben, aber die Freundin zog mich vom Platze, zur Friedrichstraße hin, in Richtung des Tränenpalasts. „Du mußt wieder heim! Auch bei uns gibt es Aufgaben.“ Wir witzelten, wie es wäre hier uns einzubürgern, als gute Sozialisten, was würden unsere Eltern sagen, wenn wir blieben, und was würden wir ihnen für eine Ausrede auftischen? Wir gaben das letzte Ostgeld aus, viel zu viel hatten wir in den Taschen, man wurde es nicht los. Ihre Tante hatte uns noch dazu Geld geschenkt, wir kauften und kauften und es wurde das Zahlungsmittel aus Buntmetall nicht weniger. Wir kehrten dann zum krönenden sozialistischen Abschluß in ein sozusagen Wilhelm Pieck feines Restaurant in der Friedrichstraße ein, um das letzte Geld der DDR loszuwerden. Nach West-Berlin durfte man es nicht mitnehmen. Wegwerfen wollten wir es nicht.

Diskret im Hintergrund des Salons musizierten Männer in roten Westen, schwarzen Anzughosen und weißen Hemden auf einer Hammond-Orgel und einer Art Baß-Gitarre. Wir schmausten und tranken. Hübsch war es hier, ein wenig skurril vielleicht, aber das war es in anderen Orten in West-Berlin ebenfalls. Ich stellte mir die junge Frau in einer NVA-Uniform vor und wie sie sich langsam entkleidete. Ihren Frotteeschlüpfer kannte ich bereits. Ich hätte es gerne, daß sie sich in dieser Kampfmontur auf mich setzte, während ich lag. Der vom Kellner gereichte Alkohol beflügelte meine Jungsphantasie. „Würden Sie bitte Ihre Lederjacke an unserer Garderobe abgeben?!“, fragte der Mann beim Einlaß, nicht unfreundlich oder böse, aber doch bestimmt. Ich trug unter der schwarzen Lederjacke bloß ein dünnes T-Shirt. Meinen mausgrauen Pullover, den ich liebte, hatten sie mir in jener ostszenigen Ostbar am Alex gestohlen, weil ich das Stück nachlässig auf einer Stuhllehne parkte. Und weg war er. „Hey ihr beiden, ihr seid doch aus dem Westen?“ „Woran sieht man‘s?“ fragte ich dumm. „Na woran wohl? Haben hier alle solche modischen Lederjacken?“ Nein, nicht, dachte ich. Und auch nicht so einen schönen grauen Pullover. Viel weniger mausgrau als eure Häuser hier, eher so mausgrau wie die Uniformen der NVA-Männer. Wir trafen die Männer auf dem Fernsehturm. Im Drehrestaurant, was immer die da zu suchen hatten. Am Alex hatten Vopos zuvor einen Punk im Griff abgeführt, Polizei mit ihren über die Hüften hängenden Hemden. In hellblau. Ich kannte solchen Szenen ja von den westdeutschen Demos, an denen ich mich damals noch beteiligte. „Habt ihr Lust mit uns was zu trinken? Nicht so eine FDJ-Kaschemme, sondern Szene. Punks, Jazzer, Musiker, Künstler undso.“ Ja, da gingen wir gerne mit. Wilde Melange dort. Schön rauchgeschwängert, dazu paßten meine Selbstgedrehten. Gut daß ich nicht meine Schnöselluckystrikes mithatte, die damals noch keine Modemarke waren und die es nur ohne Filter gab. Meinetwegen hatten die Männer sicherlich nicht gefragt. Sie waren ein paar Jahre älter als wir, Bärte, sie erzählten, wir erzählten von uns. Das Bier fließt, kostete wenig, einander auszugeben war selbstverständlich, alles ist günstig hier zu haben.

Als wir dann aufbrachen, fehlte der Pullover. Kalt war es. Ostberliner Luft mit Kohle und Ostoktoberherbst. Die Jazzer hatten von ihren Auftritts- und Ausreiseverboten erzählt. Der eine durfte nicht aus Ostberlin, der Hauptstadt der DDR, ausreisen, der andere nicht ins sozialistische Ausland. Eigentlich müßten wir das weitererzählen jetzt. Die Süße stupste mich. Wir passierten den Einlaßbereich, jene rote Linie, die nur dem Westbürger zu übertreten erlaubt war. „Würden Sie bitte Ihre Tasche öffnen!?“, sagte der Posten. Ich machte auf. „Packen Sie mal alles aus!“, meinte er. Es war nicht unhöflich gesprochen, sondern eine schlichte, klare Ansage. Nicht anders als die im noblen Restaurant beim Einlaß. Ich dachte an die absurde Hammondorgel. Nein, es war kein Sächsisch in seiner Stimme. Obwohl ich diesen Dialekt eigentlich schon immer gemocht hatte. Heute sächselt meine Geliebte, leicht nur, in ihrer frechen Art. „Aha, Bücher“, machte der Mann. Eine Biographie über Che Guevara und irgendein sozialistische Zeugs kam zum Vorschein. Ich dachte, der Offizier wäre stolz auf mich. War er aber nicht. Ganz im Gegenteil. Er blickte ernst und skeptisch. Kurz vor Mitternacht, das Tagesvisum war am Auslaufen. Die junge Frau war schon durch die Kontrolle und schaute fragend herüber. Ich zuckte die Schulter. Ob ich von meinem gestohlenen Pullover erzählen sollte, dachte ich. Aber instinktiv hielt ich das für keine gute Idee.

Die Situation wurde angespannt. „Sie haben hier eine russische Kamera dabei. Die haben Sie in der Deutschen Demokratischen Republik gekauft. Können Sie mir bitte die Quittung dafür zeigen?“. Natürlich besaß ich keine Quittung und schon gar nicht hatte ich die Kamera in der Deutschen Demokratischen Republik erstanden. Zumal es sie im Westen für 250 DM und in Ostberlin für 2000 Ostmark gab. Ich hatte das gute Stück, es war eine russische Zenit, noch wenige Stunden zuvor in einem Schaufenster nahe des Alex gesehen und mich über die abweichenden Preise amüsiert. Aber Luxus hat eben seinen Preis sagte ich zu der jungen Frau. Ich mochte es, wenn ihr Zopf und ihre Brüste wippten. Diese unverschämte Differenz im Wert der Ware wollte ich dem Mann schon ins Gesicht schleudern, dachte mir jedoch, daß dies eine unkluge Aktion wäre. Es könnte wohl als Opponieren aufgefaßt werden. Die Sache mit dem in der DDR Bleiben würde sich bewahrheiten, dachte ich mir. Aber auf eine Weise, wie wir es uns nicht, oder besser, wie ich es mir nicht vorgestellt hatte.

Der Grenzer wühlte tiefer in der Tasche. Da kam zu allem Überfluß noch ein dreißig Zentimeter langes Teleobjektiv zum Vorschein, das ich zwar bei solchen Reisen meist dabei, aber nie bis selten benutzt hatte. Er nahm es heraus, blickte hindurch, drehte es, stellte scharf, als ob das Teil an einer Kamera befestigt wäre und da gäbe es was zu sehen. Er nickte bestimmt und mit Vopo-Blick. Ich sah meine letzte Stunde Freiheit. „Sie sind ein deutscher Spion!“, kommt es gleich. Oh weh, oh weh. Der Sozialismus kann streng sein und weh tun. Verdammte russische Zenit, verdammtes Teleobjektiv, und jene junge Süße wird sich nie wieder im Frotteschlüpfer oder in NVA-Uniform auf Deinen Körper setzen, direkt über Deinem Gesicht. Nie mehr, oh weh. Es ist schade. Eigentlich weiß ich nicht mehr, was genau ich gedacht habe. Ich wußte nur, ich mußte trotz Alkohols nun Geistesgegenwart beweisen.

„Ach, ein Teleobjektiv also. Ja, das ist ein Dreilinser, dieses Objektiv habe ich auch. Gut für den Urlaub. Eine schöne Heimreise wünsche ich Ihnen noch.“ Es fehlte bloß, daß er noch „Genosse“ gesagt hätte. Die S-Bahn fuhr uns in den Westen, zu ihrem Auto, das beim alten Reichstag parkte und wo wir die Sitze in die Liegestellung brachten.
 
 

 
 

 
 

 
 

Wolf Biermann zum 80. Geburtstag

Es kreischt leise, dann geht es lauter, spielt ins Schrille hinüber, man könnte meinen, es sei eine sanfte Variante des Industrial Sounds. Doch für die 60er Jahre ist diese Musik zu früh dran. Um die Ecke kurvt eine Straßenbahn. Automotoren rasseln im Hintergrund. Auch den Wind meinte ich zu hören, und es dringen da die Geräusche der Stadt ins Zimmer. Was für ein Auftakt bei einer Langspielplatte, denke ich mir, als ich diese Klangcollage zum ersten Mal höre. Von der Idee ist es von Biermann genial gewesen, das Auftritts- und Produktionsverbot in der DDR, das seit Mitte der 60er Jahre herrschte, einfach zur Waffe zu machen und die Lieder in der eigenen Wohnung aufzunehmen. So konnte es jeder hören: Kein Studio, Improvisiertes, denn der Lärm von der Straße, von der Chausseestraße, war nicht draußenzuhalten. Alles Dämmen half nichts, so berichtet Biermann in seiner Autobiographie „Warte nicht auf bessere Zeiten“. Also der Straßenlärm, genialer Trick und genauso genial die Idee, diese LP einfach nach seinem Wohnort zu benennen: Chausseestraße 131. Offenheit kann in diesem Falle schützen, um nicht im Stasi-Knast gebrochen zu werden. Und dann diese laute, schreiende Stimme, der wilde Sound dieser Gitarre, als das Spiel anhob. Hingerissen, als ich diesen Song aus Protest, Lautstärke und Leidenschaft hörte. Vor allem aber jene Kritik an den Zuständen im realexistierenden Sozialismus und an denen, die da bauten:

ZUEIGNUNG
Die Ballade ist gewidmet
jenen sogenannten guten
Wirklich tief besorgten Freunden:Revolutionäre Zittrer
Die mich quälen, mürben, öden
Wenn sie mir mit leichenbittrer
Müder Klassenkämpferpose
Unsern Feind im Westen zeigen
Mit gestrichen voller Hose
Aber hier im Osten schweigen

Meine erste Begegnung mit Wolf Biermann hatte ich 1979, mit 14 Jahren. In der Bücherhalle meiner Stadt lag eine Kassette aus: „Warte nicht auf beßre Zeiten“. Der Titel sprach mich an, junger Butsche der ich war und der politisch links und Kommunismus für sich zu entdecken begann. In Deutsch lasen wir eine Zeit vorher ein Gedicht von Biermann, das von der Dialektik zwischen Natur und von Gesellschaft handelte. Das, was uns als Natur erscheint, ist eigentlich Produkt der Gesellschaft und was wir als Natur sehen, ist mit Gesellschaft besetzt. Diese Dialektik und die Verschleierungen hatte ich in der Interpretation schnell verstanden und schrieb es. Der Lehrer gab die für mich übliche Note. So griff ich mir in der Stadtbücherei diese Kassette und hörte zu. Ich mochte das Spiel der Gitarre, diese Stimme, die sich überschlug, die schrie, die sanft und dann wieder grob anhob. Und zu meiner großen Freude konnte ich pubertierender Junge damit meine Mutter ärgern, die bestürzt die Tür zum Kinderzimmer aufriß und rief, daß ich diesen Krach sofort leiser machen solle, was sei das überhaupt für ein entsetzlich schreiender Mann? Mit Chuck Berry, mit Rocken und Rollen sowie Johnny Cash konnte ich sie kaum ärgern, denn das war immer ihre Musik gewesen. Mit Biermann schon. Und nun wird der Junge auch noch ein Kommunist, so mag sich Muttern gedacht haben. Denn Kommunist mit feurigrotem Herzen war Biermann damals noch – auch nach seiner Ausbürgerung in die BRD. Glaubte ans „Paradies uff Erden“ und spottete über die „verdorbenen Greise“ in Wandlitz:

Die Finsterlinge – na grade die!
reden vom Morgenrot
vom lichten Morgenrot
Die Generäle – na grade die!
reden vom Heldentod
vom schönen Heldentod.
Aah ja…!

„So oder so, die Erde wird rot“, das behagte mir und es kam der Satz von Rosa Luxemburg dazu: „entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei.“ So dachte ich und wie alle Linken glaubten wir ans Prinzip Hoffnung.

Eigentlich gehöre ich nicht zu jenen, die auf simple Botschaften von Liedermachern hereinfallen. Songs, die dem Protest die Richtung vorschreiben, waren mit von Jugend an nicht geheuer, ich wollte nie wissen, wo die Blumen sind und wo sie geblieben waren. Vermutlich beim Schnitter, dachte ich mir. Deshalb heißt es ja Schnittblumen. Und schon gar nicht mag ich kollektive Veranstaltungen, wenn Menschen im Konzertsaal zu „We shall overcome“ selbstgefällig schunkeln – ausgerechnet bei diesem Lied, das davon lebt, bei einer Demo von Schwarzen auf der Straße gesungen zu werden. Bei Biermanns Liedern war es anders. Diese mit Brechtscher Volte geschlagenen Texte, diese Frechheit und natürlich der Umstand, daß sie in der DDR schlicht verboten waren, trugen dazu bei, daß ich mehr davon begehrte. Auch lieh ich mir das erste Biermann Quarthefe von Wagenbach „Die Drahtharfe“.

Zwar kann man diese Texte als Gedichte lesen, aber sie funktionieren eigentlich nur über die Musik – anders als die Lyrik Brechts, die auch für sich haltbar ist. Doch haben die Texte Biermanns mit den Brechtschen Gedichten oft den Ton und auch die Dialektik sowie die Tücke des Politischen gemeinsam. Hören aber muß man sie von Biermann auf der Gitarre geschlagen. Obwohl Biermann den legendären Ernst Busch kannte, verfiel er nie auf die Idee, den Barrikadentauber in irgendeiner Weise zu imitieren. Und selbst da, wo mancher eine Ähnlichkeit feststellen mag, schlägt es bei Biermanns Musik in den genialen Eigensinn um. Schreien, Kreischen, Spott für jene Greise, die sich in Wandlitz selbst einmauern, Spott für die Stasi, obwohl Biermann genau wußte, wozu das Pack fähig war. Dennoch höhnte er in der Stasi-Ballade. Dazu der harte Schlag der Gitarre. In der „Zeit“ beschreibt der Schriftsteller Andreas Maier dieses sagenhafte Gitarrenspiel, zwischen Flamenco-Anschlag, Arbeiterfaust und klassischer Gitarre. Eine lesenswerte Begegnung mit dem Liedermacher über das Spielen dieses Instruments.

Biermanns Musik unterstreicht die Texte nicht, sondern sie wirkt als Kontrapart, spielt sich gegen den Text. Sie hatte im Klang etwas Rohes, aber da waren genauso diese Zwischentöne, die mich als Jugendlicher faszinierten. Ausuferndes Spiel. Und wenn dann ein Akkordeon-Sound „Acht Argumente für die Beibehaltung des Namens Stalinallee für die Stalinallee“ spielte und den Spott über die Wendehälse der 50er Jahre herausschrie, war diese Kritik richtig. Diese Kritik am System: es galt ja bis zum Fall der Mauer, und insbesondere galt sie danach jenem grinsenden Pferdegebiß. „Es steht in Berlin eine Straße …“ „Und die Häuser stehen ewig. In Baureparatur.“ So geht maroder Sozialismus. Aber wo nichts ist, muß man mit wenig vorlieb nehmen. Biermann tat das, in seinem Land, der DDR, die seine Heimat war. Trotz Stalinismus. Gegen Faschismus. (Was freilich dort ein Lippenbekenntnis blieb, aber wengistens stand Antifaschismus, anders als in der BRD, dort auf der Agenda. Leider auch der Personenkult und Stalinismus.)

Und Henselmann kriegte Haue,
damit er die Straße baut
Und weil er sie dann gebaut hat,
hat man ihn wieder verhaut
Auch darum heißt das Ding Stalinallee,
Mensch, Junge, versteh und die Zeit ist passe!

Ist sie? Nein, bei den „verdorbenen Greisen“ wie Biermann die Normenklatura der DDR nannte, ist sie es nicht. Nie gewesen. Auch diese Lektion lernte ich als junger Linker schnell. Die DDR – das ist kein Sozialismus. Das, was dort geschah, konnte man allenfalls mit den DDR-Oppositionellen kritisch begleiten und hoffen, daß es da hinter dem Stacheldraht und eingemauert in Ost mehr solcher linker Stimmen gab. Am Ende aber brach 1990 jenes Experiment am lebenden Menschen ab. Es war gut so. Während der friedensbewegten Zeiten der 80er und beim AKW-Protest in Brokdorf zumindest wußte ich: Sowjetraketen sind keine Friedensraketen, während Nato-Raketen Kriegshetze bedeuten, wie es die DKP weißmachte, die die Friedensbewegung mit schlechtem DDR-Geld unterwandert hatte. Ebenso sind AKWs in Ost und in West die gleiche Pest. Diesen kritischen Blick lernte ich schnell. Die Lektüre von Marx tat ein übriges, um zu verstehen, daß jene Sache, die dort „in China, hinter der Mauer“ geschah, nicht der Sozialismus war, von dem die jungen Menschen träumten. Das zumindest habe ich von den Biermannplatten schnell gelernt. Trotz Traum von der Pariser Commune.

In den 80er Jahren änderte sich Biermanns Blick. Das „Paradies uff Erden“ – eine Illusion. Und auch beim zweiten Golfkrieg 1991 bezog er deutlich Stellung, viele Friedensbewegte waren irritiert, doch zu Sadam Husseins Raketen auf Israel schwiegen sie oder relativierten, wie etwa der widerliche „grüngetünchte Tartuffe“ Hans-Christian Ströbele, der meinte, „die irakischen Raketenangriffe sind die logische, fast zwingende Konsequenz der Politik Israels.“ So trennten sich bei der neudeutschen Linken, Anfang der 90er Jahre, noch einmal die Wege. Auch aus solchen Disputen um den Golfkrieg ging die Bewegung der Antideutschen hervor. Biermann votierte für die militärische Intervention:

„‚Kein Blut für Öl!‘ – heilige Einfalt! Natürlich ging es den Amerikanern auch ums Öl. Und ich sage: zum Glück! Wenn in Kuwait nicht Öl gefördert worden wäre, sondern nur die Kunst des Kamelreitens, dann hätte die Weltgemeinschaft den Dieb aus Bagdad die wertlose Beute gelassen.“

Ich nachhinein muß ich sagen: Biermann hatte recht. Wer das Völkerrecht bricht, muß mit Sanktionen rechnen. Diese aus der Hitlerzeit resultierende Logik hatte Biermann begriffen.

Von Herzen alle Gute, Wolf Biermann, zum 80. Geburtstag. Zum Schluß der Eloge aber mein Lieblingssong, es ist neben dem Barlach-Lied eines der schönsten Biermann-Stücke. Bis heute haben sich bei mir im Kopf einige dieser Songs gehalten. Wenn ich über den Hugenottenfriedhof, der eigentlich Dorotheenstädtischer Friedhof heißt – was genauso schön klingt – zu Marcuse, Brecht, Hegel, Müller und Thomas Brasch pilgere, dann summe ich diese Melodie für mich hin, manchmal schießen Textzeilen in den Kopf, ich bin glücklich, denke an die Spatzen, an meine große und unendliche Liebe im Großraum Leipzig, und die Chausseestraße 131 ist gleich um die Ecke. Doch sehen diese Straßen in der Nähe des Bundesnachrichtendienstes heute anders aus als zu DDR-Zeit mit Kohlegeruch. Der Friedhof aber bleibt:

Der Hugenottenfriedhof

Wir gehn manchmal zwanzig Minuten
Die Mittagszeit nicht zu verliern
Zum Friedhof der Hugenotten
Gleich hier ums Eck spaziern
Da duftet und zwitschert es mitten
Im Häusermeer blüht es. Und nach
Paar wohlvertrauten Schritten
Hörst du keinen Straßenkrach

Wir hakeln uns Hand in Hand ein
Und schlendern zu Brecht seinem Grab
Aus grauem Granit da, sein Grabstein
Paßt grade für Brecht nicht schlecht
Und neben ihm liegt Helene
Die große Weigel ruht aus
Von all dem Theaterspielen
Und Kochen und Waschen zu Haus

Dann freun wir uns und gehen weiter
Und denken noch beim Küssegeben:
Wie nah sind uns manche Tote, doch
Wie tot sind uns manche, die leben

Manfred Krug ist tot – „Wenn die Entlein übers Wasser sind geschwomma …“

Traurig bin ich, ich habe ihn als Schauspieler gemocht, er hatte in seinen Auftritten Charisma, er war eine Type – wenngleich ich ihn nur in wenigen Filmen und Serien sah. In seinem wohl bekanntesten Film „Spur der Steine“, der für mich immer noch großes Kino ist, aber ebenso in „Liebling Kreuzberg“, wofür Jurek Becker das Drehbuch schrieb. Da war bei Krug diese freche Klappe mit entsprechender Lässigkeit. Natürlich als Running Gag der grüne Wackelpeter, und ein wenig glaubte man sich nach jeder Folge in juristischen Dingen firm und kannte durch die Bilder ein Stückchen mehr von Berlin. Ja klar, das war Unterhaltung. Aber es war gute Unterhaltung. Ich habe das freilich erst spät begriffen, in den 80er und 90er Jahren schaute ich kaum Fernsehen. Ähnliches galt für den Hamburg Tatort. Muß man nicht viel Worte drüber verlieren: Es war gut gemacht, gut gespielt; Charly Brauer und Manfred Krug waren ein kongeniales Team. Das Singen ging irgendwann nur auf die Nerven. Beide hatten ein gutes Timing und beherzigten die Regel jedes Showstars: Wenn es am schönsten ist, aufhören. Einfach was anderes machen. Memories are made of this.

Was für eine Wucht aber war „Spur der Steine“, als wir den Film zum ersten Mal Anfang der 90er im Kino sahen. Ich mag diese Art des DDR-Kinos – Bau-auf-bau-auf –, ob nun Frank Beyer oder Heiner Caro. Erik Neutschs Roman zu verfilmen, barg einige Risiken. Literatur, die vorschreibt, wie zu denken, zu lesen, zu handeln und auch zu arbeiten sei, geht meist nach hinten los. Wie immer, wenn die gute Botschaft als Effekt billig einkalkuliert wird. Selbst wenn die Moral sozialistisch ist. Der Bitterfelder Weg mag den einen oder anderen guten Text hervorgebracht haben, aber am Ende erwiesen sich doch eher die zornigen Spaziergänger dieses Weges als die bessern Schriftsteller – allen voran die großartige Brigitte Reimann mit ihrem Roman „Franziska Linkerhand“. Ebenso eine Geschichte aus der Produktion. Aber auch Reimanns Briefe sind nicht zu verachten. Die an ihren Geliebten zum Beispiel. (Mit viel und unendlichem Dank für jenes eine Zitat, an jenem einen Tag. An die, die weiß, daß sie gemeint ist.) Was für eine schöne Leidenschaft findet sich im Briefwechsel zwischen Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann: „Wär schön gewesen!“.

Ich komme ins Schweifen, bei all den feinen Sachen, die die DDR, neben viel, sehr viel Unsäglichem, hervorbrachte. Der Western also, der ein Eastern war, wenn die Brigade zum Showdown antrat. 1966 zur Premiere in Ostberlin gab es organisierte Proteste gegen den Film. Erst 1989 konnte er gezeigt werden. Was für ein Land, in dem Filme verboten sind, weil sie die eigene ideologische Verengung übersteigen. 1977 verließ Manfred Krug im Nachhall zur Biermann-Ausbürgerung, die sich ebenfalls in einigen Tagen zum 40. Mal nähert, die DDR. Die These dürfte wohl nicht ganz falsch sein, daß mit der Ausbürgerung Biermanns die DDR ihren ersten Todesstoß erhielt. Intellektuelles Leben in einem Staat benötigt den Widerstand. Wiederworte und Widerspenstiges. Auch das kann man aus diesen Geschichten lernen.

Nein, ich bin eigentlich kein Manfred Krug-Fan. Seiner Musik konnte ich nicht viel abgewinnen. In den 90er Jahren hörte ich sie einer Frau zuliebe aus Höflichkeit. Es gewährte mir das einige Einblicke. Freilich nicht in den Jazz.

Wenn Krug Werbung machte, war es so lalala, wie bei vielen Stars, wo ich mich frage: Weshalb tun die das? Aber gut, ich bin kein Besitzer einer Telekom-Aktie – da muß ich also nicht allzu böse sein.

Zum Schluß dieser fragmentarischen Würdigung sei der Trailer aus einem ganz wunderbaren Film gegeben. Vielleicht sind diese Szenen heute nur noch Geschichte. Denn die DDR, die gibt es nicht mehr. Und auch diese Art von Produktion, wie überhaupt diese Zeit – sie sind perdü. Zum Bitterfelder Weg freilich bleibt zu sagen, daß dieser am Ende doch manchem BRD-Schriftsteller guttun würde. Wegen anhaltender Ichlastigkeit und wegen Filterblasengeworfenheit: Ab in die Produktion.

Letzte Ausfahrt Leipzig – Clemens Meyers „Als wir träumten“

Clemens Meyer wird zuweilen der Ruf eines Machos angedichtet. Klar, der Meyer ist tätowiert, und im Knast soll er schon mal gesessen haben, so als Zwischenspiel, während er in Leipzig am Literaturinstitut das Schreiben studiert, einen Galoppergaul hat er in Scheibenholz laufen: Oh und uiii, so raunt es vielsagend aus der Manege! Und ’n Ossi aus Leipzig, aus Halle (Saale) is’ er, hat sich in der Wendezeit gehauen und Dinger gedreht. So sagt man. Und nun ein Roman, der im Milieu des Milieus „Aktie rot“ spielt. Schöne Klischees. Manche brauchen diese Zuschreibungen und Vorurteile, um gepflegt ihrer Verschnarchtheit zu huldigen.

Clemens Meyers Weg zur Literatur ist ungewöhnlich. Meyer wird momentan gehypte, aber das ist das Wesen des Marktes, die Marketingmaschine eines großen Verlages, die hinter ihm steht und die er dennoch verdient hat – und zwar aufgrund seiner herausragenden, sehr genauen Prosa.

Ja: da reißt einer im Überschwang die Bierflasche hoch, schwenkt sie voll Freude in der Luft herum, springt aus der Sitzreihe auf, als er 2008 für den Erzählungsband „Die Stadt, die Lichter“ den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Zu Recht. Mir ist dieser Gestus lieber, als das literatenschwere Stock-im-Arsch-Wein-in-sich-Hineingegieße mit dem Ich-bin-ja-so-dankbar-Gesicht oder dem Kindchenschreibschema-Gesicht des Deutschen Fräuleinwunders oder der Hegemannschen Haargardine. Meyer legt los, plaudert los, aber er zieht nicht diese Show all der Literaturhackfressen aus dem bekannten und dem unbekannten Segment ab. Ebensowenig wie er die Story eines Outsiders oder des Literaturprolls inszeniert. Meyer schreibt, und darauf kommt es ihm selber an: Auf die Schrift, auf den Text, auf eine Literatur, die – teils zumindest – sehr realistisch und unverblümt darstellt, was sich in bestimmten Zonen und Milieus, auf die die Literatur nicht so häufig den Blick richtet, zuträgt. Meyer ist belesen, es bedeutet für ihn Literatur Leidenschaft und nicht Habitus und Schnörkelphrase.

Aber mich interessieren die Biographien von Schriftstellern nur marginal – so auch bei Meyer. Kleists, Prousts, Kafkas oder Becketts Texte eröffnen eine Raum, einen Horizont, geben den Blick auf eine Struktur frei, verweisen auf eine grundsätzliche Konstitution von Subjekt – auf einen Erfahrungsraum hätte ich fast geschrieben, wenn dieser Begriff nicht so sehr abgelutscht und deshalb mit Ekel-Ranz behaftet wäre –, die ganz ohne das Biographische oder banale Körperfühligkeit sich realisiert und den Fokus auf eine Geschichte lenkt, die in dieser Weise so noch nie erzählt wurde. Eine unerhörte Begebenheit: davon handelt Literatur und sie handelt davon, wie diese unerhörte Begebenheit in eine angemessene Form gebracht wird, die auf der Höhe ihrer Zeit sich befindet. Es ist dabei ganz gleichgültig und ohne Bedeutung für die Prosa, ob einer nun Hartzi, Angestellter, Knasti, Jurist, Gabelstaplerfahrer, Körperklaus, Schinderhannes oder vielfühlige/r Innerlichkeitsbekenntnisapostel:in war.

Meyers erster Roman heißt „Als wir träumten“. Er handelte von der Zeit des Aufbruchs, der Gesetzlosigkeit inmitten einer sich neu konstituierenden Zone und des freien Spiels der Kräfte als die Mauer fiel. Dieses Spiel der Kräfte ist ganz wörtlich zu verstehen, denn es flogen zwischen den rivalisierenden Gruppen die Fäuste, und es lag in dieser „Prosa der Welt“ mancher Kopf zwischen Blutfluß und Doc Martens-Stiefel im Rinnstein. Prosaische Moderne eben, um ein Bild Hegels zu gebrauchen. Der Weltgeist trägt Stiefel, der Weltgeist mag aber kein Prada. Meyer versteckte sich nicht vor der Realität, sondern er stellte sich dieser Zeit literarisch und mit einer ungeheuren Sprachgewalt: Er brachte einen rechtsfreien Raum ins Bild der Literatur, stellte die Wohnviertel und Lebenswelten aus, die weniger ansehnlich sind, verwies auf die Plätze und Ereignisse, die nicht gut ins Bild der bürgerlich-gediegenen Literatur paßten. Die Wende: das ist kein Ponyhof, und blühende Landschaften zeigten sich an diesen Orten des östlichen Leipzigs in den Landschaften des Gesichts als Veilchen und blutig geschlagene Köpfe. Leipzig – ein Ort, an dem sich die Möglichkeiten, die es aber im Grunde von Beginn an nicht mehr gab, einen Platz schaffen wollten, und es herrschte der ungebremste Wille, wild, gefährlich und ohne die verhaßten Autoritäten zu leben, die seit dem Ende der DDR sowieso abgewirtschaftet waren oder ganz einfach der Lächerlichkeit verfielen. Wer als Staatsbürgerkundelehrererin die Gesetzmäßigkeiten des wissenschaftlichen Sozialismus als Verheißung pries und ein paar Monate später im Gesellschaftskundeunterricht nahtlos die Ideen einer sozialen Marktwirtschaft verkünden durfte, der hatte ausgespielt. Wer als Volkspolizist plötzlich und übergangslos auf der Seite der FdGO stand, wirkte eher lächerlich als überzeugend, vor allem, wenn er in einem abgerumpelten Polizeiwagen namens Trabi oder Wartburg daherfuhr, der nun mit einem Westblaulicht und Westanstrich versehen war.

Und so blieb viel Raum für all die Träume und vor allem für den Möglichkeitssinn einer Existenz, die nicht mehr ins Korsett der sozialistisch verordneten Lebensform paßte, die die Jungen und Mädels gerade den Bach heruntergehen sahen und die sich mit Macht dennoch ihren Teil vom Kuchen absäbeln wollten – sei es mit Gewalt. Denn es war niemand da, der die Kontrolle ausübte. Zuweilen ein wenig vom kleinen Glück träumend: „Mark fetzte die Tortenpackung auf und stellte die Torte in die Mitte. Sie war noch gefroren, und wir brachen große Stücke aus ihr raus und aßen sie wie Eis. Wir machten auch die Schokolade auf und neues Bier. Draußen wurde es dunkel, Fred zündete ein paar Kerzen an, und wir rückten zusammen und aßen und tranken und waren glücklich.“ So endet dieser Roman. Das Glück ist klein, eisgefrorene Resterampe, wo die abgeworfenen Brocken und vom großen Tisch heruntergefallen Krümel, die Kapitalismus abwirft, zusammengeklaubt, zusammengeraubt werden. Es hängt jenes kleine und gesuchte Glück an den Kumpels – ein wenig Wärme, wenn die Jungs die Bullen abgehängt haben.

Rico, Mark, Paul und Daniel, wie die Protagonisten von „Als wir träumten“ hießen, wachsen im Leipzig der Nachwendezeit auf: nach der Kindheit im Kontext des Sozialismus kommt nahtlos der Bruch und die Jugend zwischen Boxen und Bier, Fußball, Alk und Autoklau. „Grauzone morgens“, da hat sich, was die Farbgebung und den Zustand betrifft, im Grunde im Gang der Zeit nicht viel geändert. Wozu aufstehen, wenn man genauso gut im Bett liegenbleiben kann? Zumal wenn der Kopf wehtut vom Alk. „Leipziger Premium Pils“. Daß sie von Anfang an keine Chance haben, wenn VEB fortan „Vatis ehemaliger Betrieb“ hieß, war ihnen schnell klar. Die Verheißungen des Westens, die Produkte, die die Werbung anpries und die mit einem Male die Schaufenster der heruntergewirtschafteten Geschäfte mit ihren tristgrauen Fassaden schmückte, lassen sich nun einmal nur mit Geld erwerben, und wenn keines vorhanden ist, wollen all die schönen, schimmernden, scheinenden Produkte und Marken wie Nike, Reebok und Chanel auf eine andere Weise beschafft werden.

Der schöne Schein der Waren, die Féerie des Fetischs Ware jedoch ist nicht nur käuflich zu erwerben, und wem das Flanieren in der Welt der Passagen zu wenig ist, weil die Mittel fehlen, das Mögliche wirklich werden zu lassen, der nimmt sich das, was ihr oder ihm in der Welt der Werbung als Verheißung versprochen wurde. Ins Heute gewendet: die Jugendlichen, die bei den Riots in London mitwirkten, haben genau das getan, was die Werbung von ihnen verlangt hat. Daß der Appell der Werbung an die bloßen Instinkte von Menschen freilich derart in die dionysisch-bachantische Orgie und in den Taumel umschlägt, hätten sich die gewitzten Macher des Marketings nicht träumen lassen. Ein Griff in die Auslage genügt. Wozu zahlen, wenn man es auch umsonst haben kann? Andererseits kann es keine erfolgreichere Werbekampagne für Flachbildschirme geben als jene Bilder aus London, die im Jahre 2011 um die Welt gingen. You can get what you want, so sollte der Slogan dieser neuen Kampagne für Plasmaflachbildschirme lauten: it’s not a trick, it’s a Sony.

It’s not a trick, it’s a Zonie: Wer in der Platte wohnt und nicht schnell in den Westen wegmachen konnte, weil er dafür noch zu jung oder zu unbeweglich war, dem blieb nicht viel übrig, als sich eine eigene Welt zu suchen. Diese Traumlogik der Grenzlandschaft zwischen Lok- oder Chemie-Leipzig-Fußball, Schlägereien mit Skins, offenen Räumen und unbenutzten Gebäuden, die für alle offen standen, Crashkid-Dasein, Bierkisten aus der Brauerei in Reudnitz klauen, Liebe zu jenem hübschen Mädchen, das als Schimäre (und Geistbild fast) auftaucht, als Sternchen eben, verdichtet sich in Meyers Debüt zu einem grandiosen Panorama der Wendezeit im Osten, ohne Prosakitsch, ohne Metaphernketten und Aufgeladenes: nicht mehr „33 Augenblicke des Glücks“, kein akademischer Feminismus, dem es um die quotierte Besetzung an den literarturwissenschaftlichen Seminaren geht, um am Futtertrog ihren Platz zu bekommen, keine Meriten akademischer Ich-Findung und der Selbstbespreizung Hermannscher Befindlichkeiten, oder Grünbeinsches Griechentum und Sucht nach Philosophie (ich schätze Grünbein ausgesprochen: einer der wenigen Schriftsteller, der die Anspielung ins Griechische versteht und nicht als halbbildungsbürgerliche Phrase in die Lyrik oder die Prosa einbaut) sondern es richtet sich ein Blick auf die Wirklichkeit, wie wir es von nur wenigen Schriftstellern kennen. Darin besticht Meyers Prosadebüt „Als wir träumten“. Schonungslos und ungeschminkt:

„ Als wir Kinder waren (ist man mit 15 auch noch Kind? Vielleicht waren wir es nicht mehr, als wir das erste Mal vorm Richter standen, der meist eine Frau war, oder als sie uns das erste Mal nach Hause brachten und wir am nächsten Tag zur Schule gingen, oder auch nicht, und die Abdrücke der verfluchten 8 noch an den dünnen Handgelenken hatten), als wir liebe Kinder waren, war der Mittelpunkt des Viertels für uns der große ‚Volkseigene Betrieb Duroplastspielwaren und Stempelsortiment‘, aus dem uns ein ansonsten unbedeutender Klassenkamerad, über seine Stempelkissen herstellende Mutter, Stempel und kleine Autos besorgte, weshalb er von uns keine Dresche und manchmal ein paar Groschen bekam. Der große VEB ging 1991 Pleite, und das Gebäude wurde weggerissen und die Mutter des kleinen Stempel- und Modellautoherstellers wurde nach zwanzig Jahren arbeitslos und erhängte sich auf dem Außenklo, weshalb der unbedeutende Junge von uns auch weiterhin keine Dresche und manchmal ein paar Groschen bekam. Jetzt steht dort ein Aldi, und ich könnte mir dort billig Bier oder Sphaghetti kaufen.“

Solche Sätze sind großartig, weil sie ohne fuchtelnde Prätention und ohne Geklimpere das, was ist, auf den Punkt bringen. („als wir liebe Kinder waren …“, was für eine wunderbare Sentenz und Sprachfügung) Dazugehören oder nicht dazugehören. Wir und sie und Lakonie. Die Logik der Gewalt sowie der Wunsch nach Wärme steuern die Handlungen. Hose runter, Beine breit, ficken ist ʼne Kleinigkeit. Die Geschichte einer Jugend, die nicht euphemistisch und im schwachsinnigen Jargon Coming of age sich nennt, sondern die sachlich-brutal so ist wie sie ist. Clemens Meyer steht in der Tradition von Hubert Fichte und in der von Hark Bohms Film „Nordsee ist Mordsee“. Ich hoffe allerdings innig, daß die Verfilmung dieses Buches, die gerade ansteht, nicht in den Sozialkitsch abdriftet.

Und so habe ich es nun doch noch geschafft, eine kurze Besprechung dieses wunderbaren, klaren, drastischen Romans zu liefern, den ich 2006 in einem Zuge gelesen habe. Gerade wegen der ausgesprochen schlechten Besprechung in der „Zeit“ – wie ich meine, mich zu erinnern. Es ist dieser Besprechungstext, in den Samstagmorgen eines Septemberherbsttages hineingeschrieben, ein Vorausblick und steht ganz im Zeichen von „Im Stein“. Dessen Besprechung folgt im nächsten Teil. Montagmorgen. Oderso. Noch herrlich verweht und benommen von dieser wunderbaren, kühlen, ausufernden Prosa.

Glück als Ausnahmezustand – 40 Jahre „Die Legende von Paul und Paula“

Glück und Liebe gibt es nur begrenzt. Sie verteilen sich auf wenige Augenblicke des Lebens. Es sind diese „Verzückungsspitzen des Daseins“ an bestimmte Menschen und an bestimmte Konstellationen gebunden. Jener Kairos, den der eine nutzt und der andere nicht, mag im Hinblick auf die Liebe ebenfalls hilfreich sein. Was bleibt am Ende? Die Imagination in der Kunst?

Es bricht alles zusammen. Gleich zum Anfang. Eine Explosion und die Altbauten stürzen ein. Ein Rauch steigt auf, und Stimmen murmeln im Hintergrund, Geräusche tönen leise aus der Sprengung heraus, eine riesige Baustelle tut sich auf, Wohnraum für Arbeiterinnen sowie Arbeiter im real existierenden Sozialismus, und Altes muß weichen, weil Neues folgt. Und dann, während das Haus stürzt und Trümmer rauchen, setzt diese Musik ein: ich kann die Puhdys auf den Tod nicht leiden, allein der Bandname ist bescheuert. Aber hier paßt diese Musik von Peter Gotthard komponiert, von den Puhdys musizierend dargeboten. Das Klavier, das hämmert zum Auftakt, und die Gesangstimme singt: „Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt …“ Eine verwüstete gesprengte Stadtlandschaft zeigt sich. Eines der Fenster in einem der letzten Altbauten, nähe Alex, die bald nicht mehr sind, öffnet sich, und Paul schmeißt alle jene Dinge, welche zwei Menschen in einem Leben aus Liebe und Alltag einst teilten, auf die Straße hinaus. Gegenstände fliegen, Teller klirren, Spiegel und Porzellan zerbrechen. Abbruch. Abbruch der Musik, Abbruch eines Hauses und im Hintergrund taucht aus dem Trümmerdampf der gerade erbaute Fernsehturm am Alexanderplatz auf. Die Plattenbauten kommen, die alte Stadt weicht. Paul tritt aus dem Haus, das nur noch kurze Zeit stehen wird, in den Händen jene Photographie von Liebe und Leidenschaft, die Paul und Paula in wilder, leidenschaftlicher, zärtlicher, tief-sinnlicher Umarmung und im Moment höchsten Glückes abbildet und bannt. Die Fotografie fixiert den Moment. Der Film erzählt die Geschichte dieses Moments.

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Dem Menschen sind nur wenige solche exzeptionelle Augenblicke vorbehalten. Ein Märchen, ein Traum. Aber es endet, wie alle schönen Dinge zwischen Menschen, die bis ins Extrem leidenschaftlich und mit wenig Vernunft in den Aktionen sich verhalten, tödlich und tödlich und tödlich. Ein Leben wird getilgt: Paul steht vor jenem Haus und bedeckt mit seinen Händen, fast schamhaft, jene wunderbare Photographie, die zwei Wesen in tiefer Liebe zeigt. Dann lösen sich die Hände vom Bild. Film und Photographie sind das Abbild dieser unendlichen Liebe. Eine Legende.

Es erfolgt nach dieser Szene der Schnitt, die ersten Filmbilder aus Hausschutt und Abschied, die diese Liebe von Paul und Paula einrahmen, sind vorbei, und es setzt die Rückblende ein. Die Geschichte kann ihren Lauf nehmen: Paula tritt aus der Tür ihres Hauses auf die Straße (gespielt von Angelica Domröse), ihre Bewegung, sie geschehen aus den Hüften heraus. Angelica Domröse spielt diese junge Frau auf eine intensive und anrührende Weise. Und wenn Paula im Laufe des Films Paul anschaut und wie ihr Gesicht vor Glück strahlt: diese Momente spielt Angelica Domröse mit fabelhafter Leichtigkeit. Es sind die 70er Jahre, und es herrscht in der DDR Umbruch. Und Paul (gespielt von Wilfried Glatzeder) betritt in dieser zweien Szene ebenfalls die Straße. Ach, ich brauche die Story des Films eigentlich nicht nachzuerzählen, denn es kennt ihn jede/r. Er verläuft, wie die meisten Liebesgeschichten verlaufen. Es geht wie es geht. Eine Frau lernt einen Mann kennen, ein Mann zunächst die eine Frau, aber es ist nicht der richtige Mann, nicht die richtige Frau. Die Routine des Alltags erdrückt die Regungen des Lebens. Und in jenem einen Moment glücklicher Fügung, wie sie zuweilen im Leben sich ereignen, da tritt die eine Frau, der eine Mann ins Blickfeld des je anderen Menschen. Die beiden Wesen, die füreinander bestimmt sind. Natürlich ist das Illusionstheater. Aber in dieser Szenerie der „Legende“ paßt es. Plötzlich, nach einer durchtanzten Nacht in einem Club, stehen Paul und Paula gemeinsam am Straßenrand, inmitten der Nacht, Hand in Hand harren sie, Partnertausch: da wo eben noch Paula irgend einen Mann und Paul irgend eine andere Frau aufgegabelt hatten, um wenigstens eine angenehme Nacht gemeinsam zu verbringen, da funkt es mit einem Male. Das läuft blitzschnell ab, wie sich da wahlverwandschaftsgleich die Richtigen finden. 

Für die DDR-Oberen war die Geschichte dieses Films ein Ding der Unmöglichkeit: Der Funktionär Paul – verheiratet mit einer attraktiven, aber leicht vulgären Frau, ein Kind, in guter Position und bereits eine Wohnung in der Platte ergattert – bricht aus und verläßt die geordnete Bahn: Denn das kann doch nicht alles gewesen sein – dieses Leben im Korsett. „Die Legende von Paul und Paula“ visualisiert den Versuch von (im Grunde harmlosem) Ausbruch aus dem Alltag der DDR. Er zeigt Liebeszenen, die im Grunde Kitsch pur sind und einen Betrachter wie mich aufs tiefste abstoßen müßten: Wenn Paul und Paula in einem Meer aus Blumen baden oder auf jenem Kahn auf der Spree schippern. Im Grunde sind dies die privaten Momente des Lebens, die sich nicht erzählen oder fixieren lassen, ohne daß es zum Kitsch und Klischee gerinnt. Doch in diesem Film paßt es, und zwar wesentlich wegen der Schauspieler und durch die Bilder.

„Die Legende von Paul und Paula“, von Heiner Carow: das ist und bleibt nach wie vor ein bezaubernd-poetischer Film, witzig, laut, verwegen, zärtlich, genau gefilmt. Ulrich Plenzdorf („Die neuen Leiden des jungen W.“) schrieb das Drehbuch. „Die Legende von Paul und Paula“ gehört zu jenen Filmen, die ich mir immer wieder ansehe. Nicht deshalb, weil es ein Dokument der untergegangenen DDR ist, sondern dem Film wohnt ein besonderer Reiz inne, ein Spiel und eine Leichtigkeit trägen diesen Film, denn er handelt von einer unmöglichen Liebe. Eben eine Legende. Die Illusion maskiert sich nicht, sondern zeigt sich als Illusion – als eine allerdings notwendige Illusion – wie z. B. in jener Kahnszene. Es ist ein Märchen, nein: eine Legende, die an keiner Stelle kitschig oder übertrieben wirkt, melancholisch und Leidenschaftlich wie es tiefe Liebe zwischen Zweien sein sollte. Solche Filme wie dieser sind einzig in der DDR und zu genau dieser Zeit möglich gewesen. Weder in den USA noch im Kino der BRD hätte diese wundervolle melancholische Tristesse, die zugleich lachen und traurig macht, diese Atmosphäre einer Stadt mitsamt der unendlichen Leidenschaft, gedreht werden können. Dieser Film ist auch ein Berlin-Film – ein Film über die aufregendste Stadt Deutschlands.

Liebe ist eine wunderschöne, eine traurige, eine melancholische Angelegenheit. Um diese Melancholie, diese Freude und Lust samt dem Verzweifeln schreiben oder in Bilder bringen zu können, muß sich der Mensch diesem Gefühl aussetzen. Es geht nicht anders. Auch wenn einer hinterher alle Dinge, alle Objekte zum Fenster hinausschmeißt: Vielleicht damit keine Erinnerung mehr bleibt, vielleicht auch, um neu anzufangen.

Am 29.3.1973 hatte der Film im Berliner Kino Kosmos vor einer Vielzahl an DDR-Oberen Premiere. Die Bonzen saßen am Ende des Films wie erkaltet und mit steinerstarrten Gesichtern in den Kinosesseln. Diejenigen Zuschauer aber, welche ihre Karten im nicht-reglementierten Verkauf erhielten, applaudierten geschlagene 20 Minuten. Zu recht.

„Die Legende von Paul und Paula“ ist einer der poetischsten deutschen Filme. „Die Legende von Paul und Paula“ ist einer der schönsten Liebesfilme. Er bringt ein Gefühl (als Ausbruch) und eine Zeit (als Aufbruch) auf den Punkt. „Die Legende von Paul und Paula“ ist mit einer Intensität gespielt und inszeniert, die berührt. Ich bin für Liebesfilme und für die Gefühlsvorlagen des Hollywoodkinos wenig empfänglich, ausgenommen es geht darum, die semantischen Codierungen der Filmbildsprache zu knacken. Hier aber – eben im DDR-Film –wird auf eine Weise direkt und derart intensiv angespielt, daß ich mich frage: Wie funktioniert das? Selbst all der Kitsch und die Rührungen ergeben einen konsistenten Film.

„Nicht loslassen!“, sagt Paula zu Paul in dem Moment innigster Nähe, wie zwei Menschen sich nur nahe sein können, und die unnachahmliche Mimik von Angelica Domröse zeigt, daß Paula es genau so und nicht anders meint: Daß Liebe niemals enden möge. Doch sie endet. Letal und als Verausgabung. In nur wenigen Filmen küßten sich, wenn Haut an Haut geht, zwei Menschen so schön, so leidenschaftlich und tief, wie in diesem Film.

„Wie denn? Soll ich von dem einzigen Mann, den ich liebe kein Kind haben?“ „Paula, ein drittes Kind überstehst du nicht!“ So der Arzt. „Gibt es denn keine Chance für mich, nicht die geringste?“ Der Sachzwang steht gegen die unendliche Liebe. Alles zu wagen, auch gegen die Vernunft: das mußte die Männer in Funktionärsfunktion und die Partei-Greise dieses inzwischen untergegangenen Landes tief verstört haben. Und Paula läuft in der Schlußszene mit ihrem blau-karierten Kleid, das im Wind weht, vor lauter Glück im Angesicht einer winzigen Chance mit rudernden Armen in den Schacht der U-Bahn, um zu ihrem Paul zu fahren, sie verschwindet, verschluckt, im Dunkeln. Und als das Schwarz des Schachtes als letztes Bild von Paula verbleibt, erzählt bereits die Stimme des Erzählers lakonisch aus dem Off: „Paula hat die Geburt des Kindes nicht überlebt.“ Es ist eine Legende.

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Das Glück dieser unendlichen Liebe hält als Bilderfolge bis heute durch und hält die Zuschauerinnen und Zuschauer in Bann.