Ortsbestimmungen

„alles ist weniger als es ist,
alles ist mehr“
(Paul Celan)

Heute zeige ich den zweiten Teil meiner Bild-Reportage – oder wie immer man diese Serie nennen möchte – vom Hamburger Fischmarkt. Einige kluge Worte müßte ich noch wählen, um etwas vorweg zu schreiben. Wie wählen, was sagen? Derrida pflegte am Beginn eines jeden Vortrages das Spezifische des Ortes, an dem er diesen Vortrag hielt, herauszustellen und in bezug auf den Vortrag und den Ort eine Markierung im Sinne eines Einmaligen zu setzen, das zugleich in die Wiederholbarkeit eingeschrieben ist. Das Ereignishafte eines Ortes kann diese Bestimmung nur dadurch empfangen, daß jenes Ereignis in eine Struktur der Wiedergabe und der Wiederholung eingebracht ist und also medial vermittelt wird. Die reine Einmaligkeit als dieses eine Mal, dieses eine und einzige Mal, welches danach unwiederbringlich vergeht oder verglüht, was sich entzieht und endgültig verschwindet und selbst in diesem Verschwinden keinerlei Spur mehr hinterläßt, bleibt als Nichts nicht nenn- und sagbar. Es hat dieses eine Mal niemals stattgefunden. Dieser eine Augenblick. Verzückungsspitze und höchste Form der Übersteigerung. Insbesondere die Lyrik, aber ebenso die Prosa verschaffen diesem Ereignis als Fluchtpunkt einer nicht-realen Gegenwart die nötige Präsenz.

„Es kommt also dazu, daß die Gegenwart – und besonders das Bewußtsein, das Beisichsein des Bewußtseins – nicht mehr als die absolute Matrixform des Seins, sondern als eine ‚Bestimmung‘ und ein ‚Effekt‘ gesetzt wird. Bestimmung oder Effekt innerhalb eines Systems, das nicht dasjenige der Gegenwart, sondern das der différance ist, und die Opposition von Tätigkeit und Passivität ebensowenig zuläßt, wie die von Ursache und Wirkung oder von Unbestimmtheit und Bestimmtheit usw., so daß man weiterhin, um das Bewußtsein als einen Effekt oder eine Bestimmung zu bezeichnen, aus strategischen Gründen, die mehr oder weniger luzide erwogen und systematisch kalkuliert werden können, nach dem Wortschatz dessen, was man gerade abgrenzt – ent-grenzt –, verfährt“ (J. Derrida, Die différance)

 Dem einen Menschen, den ich niemals gesehen habe, ein Gesicht zu geben. Den einen Ort, zu dieser einen Zeit begehbar zu machen: Hierfür existiert der Begriff des Kairos. Jenseits jeglicher Immanenz: Und ein Ereignis dauern zu lassen, es in der Schwebe zu halten, es zu verzögern: anwesend sein und doch in der Ferne: Diese Stimme am Telefon. Ich imitierte heute, als sie anrief, einen Anrufbeantworter, sprach mit der blechernen Stimme jener Bandmaschine und fabrizierte für sie einen Ansagetext. Ihr leichtes, ihr helles Lachen daraufhin war schön. Es freut mich jedesmal, wenn ich ihre kalte Struktur sein darf, denn sie weiß mehr als ich je ahne. Es ist ein Kapitel aus der „Phänomenologie des Geistes“: Master and Servant, nein, falsch: Herrin und Knecht.

Daily Diary (98) – „Die künstlichen Paradiese“: Ghostdancer

„das, was ankommt oder auch nicht ankommen kann …“ (J. Derrida, Falschgeld, Zeit geben I)

Jede Sendung und jedes Geschick, ob im Rahmen der Brief- bzw. der Tele-Kommunikation oder aber in sonst einer Variante der Übertragung und der Medien (wozu auch die Telepathie, die Kommunikation der Empfindungen, und zwar als Emphase, wenn zwei Menschen gemeinsamen denken, sowie das Raunen der Geisterseher gehören), besitzt die Fähigkeit, ihren Empfänger zu verfehlen. Weil jene Sendung nicht zugestellt wird, weil sie irgendwo verloren geht, weil sie liegen bleibt und von einem Kanal in einen ganz anderen geleitet wird. Aber auch, weil etwas mit Bedacht ganz offensichtlich deponiert wird, um sich den Blicken gerade dadurch zu entziehen. Dies ist – im Sinne jener Poeschen Detektivgeschichte – die Theorie des entwendeten Briefes, wie sie Lacan als Facteur der Wahrheit und Derrida in je unterschiedlicher Weise lesen. Ein Brief kann sehr wohl niemals ankommen oder absolut unlesbar bleiben, so Derrida. Dagegen hilft keine hermeneutische oder dechiffrierende detektivische Erkenntnis.

Ist es in der Lesart Lacans das Spiegelverhältnis, das sich in der Lektüre spiegelnd erneuert und als eines der (verdrehten) kommunikativen Anerkennung sodann in Szene setzt? Unübersehbar zumindest bleibt der Geist Hegels: Die Lösung des entwendeten Briefes ist, laut Lacan, mit Leichtigkeit und am hellichten Tage zu lesen „und zwar nach der Formel der intersubjektiven Kommunikation, mit der wir Sie schon seit langem vertraut gemacht haben: Ihr zufolge, sagen wir, empfängt der Sender seine Botschaft vom Empfänger in umgekehrter Form wieder. Somit will ‚entwendeter‘, eben ‚unzustellbarer Brief‘ besagen, ein Brief (eine Letter) erreiche immer seinen (ihren) Bestimmungsort.“ (J. Lacan, Das Seminar über E. A. Poes „Der entwendete Brief“, in: Schriften I)

In der Abgeschiedenheit und im Pathos des Subjektphilosophen, der die Wahl und die Freiheit halluzinierte, sind es immer diese Kastanienwurzeln, die wir, in einem Park auf einer Bank sitzend, anblicken. Egal ob im Jardin du Luxemburg, mitten in Paris, zwischen den Statuen und den Bäumen, die schlank und französisch in Reihe stehen, oder im Park von Bouville. Charles Baudelaires „Die künstlichen Paradiese“ beginnen mit jenem treffenden, zutreffenden Satz:

„Der gesunde Menschenverstand sagt uns, daß die Dinge dieser Erde kein rechtes Dasein haben, und daß die wahre Wirklichkeit nur in den Träumen liegt. Um das natürliche – wie das künstliche – Glück zu verdauen, muß man zuvor den Mut haben, es hinunterzuschlucken; und diejenigen, welche das Glück vielleicht verdient hätte, sind eben jene, denen die Glückseligkeit, so wie die Sterblichen sie verstehen, stets einen Brechreiz verursacht hat.“

Auch die Dichtung ist eines dieser künstlichen Paradiese – Baudelaires Blumen des Bösen zeigen es als Wucht des Rausches in Sprache und Bild  auf das Paris des 19. Jahrhunderts, eingefroren wie eine Photographie. Ebenfalls zählt die Philosophie zu den künstlichen Paradiesen – zumindest dort, wo sie im Geiste der Romantik symphilosophisch wird. Die Töne zu entgrenzen, ohne sie in eins zu bekommen. Die Briefe und all diese Schriften auf 140 Zeichen gebracht und in ein Smartphone getippt. Die Droge wirkt aber nur noch bedingt als eine Entgrenzung. Kerouacs kulturindustriell-funktional fabrizierter Roman Unterwegs, der den Surrealismus als Warenwert imitiert, zeigt dies, und bereits aus diesem Werk heraus läßt sich der US-Reaktionär und Redneck lesen, zu dem Kerouac dann später auch wurde. Die künstlichen Paradiese und die inszenierte Unmittelbarkeit liegen, wie auch die Lust, nahe zur Welt der Waren und sind käuflich. Mise en abyme.

 
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Aleatorik, Identitätspolitik und Literatur – samt kurzem Blick zu Kafka: Wovon schreibt die Literatur?

„Der Eigenname ist bedeutungslos. Doch gibt es verschiedene Weisen, bedeutungslos zu sein.“(Jacques Derrida)

Von Nietzsche zum Beispiel wissen wir, daß er als Frau schrieb. Unter all den Schleiern und in all den Stilen, die manchmal einem Stilett gleichkamen. Wenn ich von meinem heutigen Ich herschreibe, bemerke ich an mir selber, grippal und das heißt krank auf dem Sofa liegen zu müssen. Und wenn ich diesen Satz mit meinem Eigennamen unterschriebe, wäre das dann tatsächlich mein eigener Name, mein Ich als Körper, das da beteuert, schwört und tätigt und kränkelt? Jenes eine Ich, das daliegt? Oder nicht vielmehr eine andere Instanz, die da (in meinem Namen) schreibt, die Krankheit und Identität in einen Text einwebt, in dem der Eigenname erlischt und zugleich deutlich hervortritt? Jenes einzige Mal, an jenem einzigen Ort. Einzigartig. Unbeschrieben.

Nun nähert es sich auf bald ein Jahr hin, als der Roman „Aléas Ich“ erschien. Auf dem Blog „Aboutsomething“ gibt es ein Interview mit der Schriftstellerin Aléa Torik. Dringend rate ich an, es zu lesen, denn es ist insofern instruktiv, weil dieses Gespräch noch einmal zentrale Aspekte von Literatur nennt, die unter den Bedingungen eines veränderten Identitätskonzeptes ihren Ort und ihren Rahmen haben. Diese Aspekte sind für manche/n, die auf eine konventionelle bzw. konservative Weise mit Literatur sich befassen, nur schwer vermittelbar: Daß nämlich empirisches Ich, erzählendes Ich, Autor, erzähltes Ich, Textfiguren nicht verschiedenerlei sein müssen und durch soziale Konvention getrennt, sondern einem bedingenden Diskurs unterliegen, der ein literarisches Feld erst anordnet und so etwas wie den Begriff des bürgerlichen Romans samt seinen Hierarchien und Figurenanordnungen, seinen Perspektiven und Wirklichkeitsweisen erst möglich macht; daß dieses Spiel der Identitäten, Personen, Figuren zuweilen die Grenze zur Realität überschreitet. Mit Derrida geschrieben, hängt dieser Wunsch nach Gegenwärtigkeit und Präsenz (des Subjekts) innerhalb der Literatur und außerhalb in ihren Darbietungsformen wesentlich mit einer Verdrängung der Schrift zugunsten der Stimme und der Verlautbarung sowie eines intakten, gegenwärtigen Körper-Ichs zusammen.

Diese Transgression der Literatur hin zum hyperbolischen, taumelnden Text mag für manche, die in den Finessen der Literatur, der Fiktionalisierungen und Maskeraden nur halb zu Hause sind, beunruhigen: Ja und diese Unruhe ist genau das, was sich ein Text, wenn er denn begehren könnte, wünscht, weil gelungene Literatur nun einmal – auch im Freudschen Sinne – viel mit dem Unheimlichen und sogar mit dem Ungeheuerlichen zu schaffen hat. Im Grunde handelt es sich bei solchen verstörten Leserinnen und Lesern um die idealen Leser:innen. Franz Kafka schrieb im Jahre 1903 an Oskar Pollak hellsichtig und ohne zu wissen, welchen „eigenen“ Text, unter seinem und in seinem Namen er einst würde schreiben müssen: „Manches Buch wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses.“

Und in jenem allzu bekannten Zitat über die Funktion des Buches an ebendiesen Jugendfreund Oskar Pollak heißt es in einem Brief vom 27. Januar 1904:

„Ich glaube, man sollte überhaupt nur noch solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber Bücher, die auf uns einwirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tode eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder gestoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ (Franz Kafka)

Drastischer, schärfer und eindringlicher als Kafka schrieb wohl keiner gegen die Vergnügungs- und Selbstbespiegelungsleser:innen an, die sich als narzißtischer Akt mit ihrem mit sich identischen Ich in allem Geschriebenen gerne wiederlesen möchten, um darin die vielbeschworenen authentischen Erfahrungen zu machen und die am liebsten wahre Sätze finden möchten, aber am Ende des Prozesses doch nur den Dunst der allgegenwärtigen Konvention produzieren. Lesen und Schreiben haben auch (aber nicht nur) etwas mit einer – freilich unwillkürlichen – mimetischen Reaktion zu tun, die aus dem Schrecken, aus dem Unheimlichen herrührt, das dem Körper gegenübertritt und ins Denken, in den Text, in die Lebenswelt einfällt: Die Mimesis ans Verhärtete, ans Fremde, ans Andere und Unheimliche. Nietzsche fand für diese Abgrundstruktur den Begriff des Dionysischen und als „Schein des Scheins“ geschieht im Text ein Akt der Potenzierung. (Weshalb eben das mißlungene Buch impotent oder unfruchtbar ist. Je nach Lage.) Das eben ist gelungene Literatur: Sie will mehr als nur erzählen oder virtuos konstruieren.

Vor allem aber kommt in diesem Interview der Umstand zur Sprache, daß unter den Bedingungen eines postkonventionellen Erzählens im Rahmen eines Hyper-Realismus ein Roman verdeckt oder offen immer nach dem Grund von Autorinnenschaft bzw. von Autorenschaft fragt. Freilich ist es in der Literatur nicht neu, daß eine Romanfigur ihrem Schöpfer gegenübersteht. Doch in dem Roman „Aléas Ich“ geschieht dies auf eine Weise, wie es so bisher in der Literatur nicht vorkam. Der Schöpfer, die Schöpferin selbst sind als Instanz fragwürdig geworden und das heißt: in Frage gestellt. Politik der Identität: Was heißt es, eine Autorin, ein Autor zu sein? (Dies muß ebenso im Hinblick auf das Spiel und die Maskeraden des Geschlechts, auf das ich wert lege, gefragt werden.)

Ebenfalls berührt dieses Interview die moralischen Fragen, die sich an ein solches Spiel zwischen Blogwelt, Lebenswelt, Geschlecht und Literatur anknüpfen und die in dem Ton des „Darf die/der das“ mit leichter Empörung vorgetragen werden. Sind das Täuschungsversuche? Aléa Torik formuliert es in diesem Interview folgendermaßen:

„Wenn man in meinem Blog einen Text liest, passiv rezipiert, oder einen Kommentar abgibt, sich aktiv einmischt, dann erreicht man nicht die authentische Autorin. Aber wo steht, in welcher Netiquette, dass man – sei es in der U-Bahn oder sei es im Netz – mit sich identisch sein müsste? Nirgends. Hintergeht man die Menschen, die potentiellen Kommentatoren eines Blogs, wenn man nicht der oder die ist, die man zu sein vorgibt? Oder hintergeht man die Menschen, wenn man ihnen vorspielt, dass man der ist, als der man sich darstellt?“

Moral aber hat in der Kunst nicht viel zu suchen. Genau dies ist vielmehr der Aspekt, auf den es in jenem Diskurs über die Identität ankommt, in Absetzung zu eben jener Moralisierung von Kunst und Ästhetik: Virtualität und verschriftlichte Inszenierung, die simuliert, daß da hinter dem Bildschirm, hinter dem Pixelbild, hinter Autor und literarischer Figur ein lebendiger Körper vor dem Leser sich befindet, sind die Weisen, in denen die Kommunikation des Internets und auch die Arbeitsweise der Literatur abläuft. Was ist Authentizität? Einer spielt den Dandy, einer macht auf schlau, eine anderer gibt sich als Kennerin des Internets oder als Feministin aus. Ist es so, ist es anders? Keiner stößt sich daran. Unbesehen nehmen wir diese Spiele für wahr. Manche Spiele sind es, andere sind inszeniert. Die Welt der Social Media ist eine gigantische Wunschmaschine. Im guten wie im schlechten. Wenn aber auf den Grund dieses Spiels vorgestoßen wird, wie es Aléa Torik mit ihrem genialen Blog – und erweitert dann in ihrem Roman – tat, indem sie nach den Modi der Authentizität fragt und diese zugleich verwischt und ins Schwimmen bringt, dann kommt bei einigen die Empörung und die Wut. Viel interessanter aber als diese Wut selber ist es, danach zu fragen, was diese Wut erzeugte und motiviert: Man muß diese Wut beim Wort nehmen.

Aléa Torik wies zudem auf den interessanten Umstand hin, daß auf Blogs, die sich hauptsächlich mit Netzliteratur bzw. mit dem Verhältnis von Literatur und Internet befassen, nichts oder kaum über diesen Roman geschrieben wurde. Wir können dieses Schweigen damit erklären, daß in der Bloggosphäre ein paar persönliche Verquickungen herrschen: Da schreibt eine, deren Literaturbegriff über Theodor Fontane nicht hinauskam und für die vermutlich selbst das Spiel der Geschwister Brontë intellektuell unverständlich erscheint, dem einen und auch dem anderen eine Mail usw. und schwups und haste-nicht-gesehen ist jemand aus der Autorenliste oder aus dem Raum der Diskussion in bestimmten Literaturblogs verschwunden. So geht das manchmal: Der Literaturbetrieb im Netz ist nicht viel anders als der offizielle, vom Feuilleton beglaubigte, in den jede/r am Ende hinein möchte. [Dies ist in der Philosophie übrigens nicht sehr viel anders.] Doch über diesen Umstand zu klagen, ist sinnlos und kontraproduktiv.

Ein Text – egal ob es sich um einen literarischen oder einen philosophischen handelt – wird von verschiedenen Bedingungen getragen: Bedingungen, über die niemand Herr ist und die von keiner Instanz kontrolliert werden können. Manche dieser Bedingungen bleiben sogar vollständig im Unlesbaren. Insofern gibt es nicht den Text als Singular, der als freischwebende Instanz, unverdorben, rein und statisch in seinen Buchstaben unter oder am ewigen Ideenhimmel hängt, wie manche/r in einem verkürzen Begriff von Derridascher Textualität annehmen. Sondern vielmehr schreibt sich jeder Text von einem Ort oder von verschiedenen Orten her, von einem Körper, von einem Ereignis, von einer Identität her, die nicht mit sich selber identisch sein muß. Diese disparaten Elemente strukturieren oder, etwas weniger emphatisch formuliert, beeinflussen den Text und entziehen sich zugleich der Lesbarkeit. Oder aber es wird in solchen Texten, wie im Falle der beiden Romane von Aléa Torik, die Frage nach der Identität Bestandteil des textuellen Spiels.

In wessen Namen signieren wir einen Text, unseren Text? Was ist der Schauplatz der Schrift? Es sind dies Fragen, die wir (über das Ereignis Freud hinaus und auch über den Begriff der empirischen Instanz des Autors als Schreibfaktum) als eine Frage der Signatur und der Inschriften stellen können.

Für alle, die sich jedoch mit Literatur, mit Theorie, mit dem Medium Internet jenseits des Twittergefasels, mit der Frage nach der Bedeutung und der Identität befassen, ist dieses Interview auf „Aboutsomething“ ungemein erhellend. Es ist klug geführt, und sehr anschaulich, aber dennoch nicht unterkomplex wird die Arbeit einer Schriftstellerin vorgeführt. Zentral bleibt – für Leserin und Autorin – die Frage: „Was ist ein Autor?“ Dies schließt auch die Frage nach dem Geschlecht mit ein.

Adorno, Heidegger, Derrida. Philosophie und Denken nach Auschwitz

Ich schrieb es mehrfach schon: Schade ist es, wenn eine ausführliche Antwort auf einen Kommentar, wenn ein Text, angeregt durch einen Kommentar, für nichts und im Nichts, im Strang der Kommentare stranguliert wird, untergeht und schwierig nur auffindbar ist. Das Privileg des Bloggers ist es, eigene Texte und Essays schreiben zu können. Anders als die Kommentatorinnen und Kommentatoren – mögen deren Beiträge zur Philosophie noch so gelungen sein. Am Ende aber, im Fluß der Lektüren und der sich verwebenden Texte gehen im Dickicht der Einträge auch die Blogbeiträge selber verloren. Ein Thema ist tot und abgelebt und wie es im Feuilletongeplauder der Tage so geht, kommt ein neues Thema, dem ich mich schreibend nähere. Doch zurück zu Heidegger. Zu einem Teil antwortet dieser Eintrag einem Kommentar von Viktor. Ja, es gibt diese Irrwege, insbesondere dort, wo sich das Engagement mit der Philosophie paart. Davon wissen einige Philosophen ein Lied zu singen. Und diese Lied hat manchmal viele Strophen.

In der Diskussion um Heidegger und den Nationalsozialismus sind, was Heideggers Biographie betrifft, die wesentlichen Punkte genannt und gesagt, darin gebe ich Viktor Recht. Abzuwarten ist, was Heidegger in jene „Schwarzen Hefte“ schrieb. Es bleibt aber im Gang der Debatten jener Aspekt der Geschichtsphilosophie als eine Art Rest übrig. Zu all dem hier im Blog über die Politik Heideggers Geschriebenen allerdings läßt sich die Perspektive erweitern, indem man in Heideggers Texte (noch einmal, als Rekurs, oder überhaupt erst) einsteigt und darin einerseits einen Aspekt der Philosophie findet, der weitergedacht werden muß und zugleich das Befremdende mitliest, wie in „Wozu Dichter?“ und ebenso in anderen Texten: solche Passagen, die in einer Sprache abgefaßt sind, die das – höflich geschrieben – rechtsaußenkonservative Moment an Heideggers Denken signalisieren. Jener Punkt, an dem Heidegger sein eigenes Denken nicht mehr verstand und in den Blick bekam. Seinsvergessen. Aber diese Lektüre des Textes von Heidegger ist Detailarbeit – im Hinblick auf die Politik Heideggers, jene „Fiktion des Politischen“ stehen die Grundzüge der Diskussion wohl fest. Was ich in Heideggers Text immer wieder lese: Wie sehr das Ontische, das Faktische in die vorgeblich ontologische Dimension hineinspielt. Diesen „Jargon“ stellte Adorno ziemlich klar heraus. Wenngleich er manches an Heideggers Philosophie dann auch wieder unter einer ganz anderen Optik wahrnahm und insofern für Heideggers philosophische Frage nichts übrig hatte. Womit wir beim Aspekt der Geschichtsphilosophie angelangt sind.

Doch dieser Gegensatz Heidegger – Adorno ist zusammenzudenken. Ohne ihn dabei in eins fallen zu lassen und die These zu vertreten, daß sie beide dasselbe sagten, aber bloß auf eine andere Weise. Entscheidend bleibt die Differenz. Trotzdem stelle ich mir die Frage, weshalb ich diese beiden Autoren lese. Und das heißt: sie zusammenzudenke, ohne daß sie in irgendeiner Weise zusammengehören.

Was nun die Subjektlosigkeit anbelangt, so scheint mir der Hinweis auf zwei so unterschiedliche Autoren wie Foucault und Luhmann richtig, denn unter Bezug auf Heidegger – bei Foucault ganz deutlich, bei Luhmann lediglich über ein strukturelles Moment – existiert in ihrer Theorie kein Subjekt als Instanz. Dieses ist entweder – grob geschrieben – Diskurseffekt und damit selber in den Blick der Theorie zu nehmen, oder es ist wie bei Luhmann in der Theorie nicht existent, weil Theorien nun einmal nur von Objekten handeln und sich auf Objekte beziehen. Insofern hat, so Luhmann in einem Interview, das Subjekt darin nichts zu suchen. All diese Oppositionen unterläuft hingegen Derrida: er schreibt in die Theorie seinen eigenen Namen, seinen Eigen-Namen ein, ohne diese Inschrift aber in einer Geste narzißtischer Subjektivierung oder als transzendental-empirisches Double zu praktizieren. (Ich komme auf diese Inschrift des Namens, dieses Schreibens im eigenen Namen im Laufe meiner Derrida-Lektüre, die ich dieses Jahr anstimmen möchte, zurück.)

Nein, nach Auschwitz hin – und das bleibt die entscheidende Frage in diesem Diskurs, wobei die Äußerungen und das Verhalten Heideggers dabei lediglich einen hinzutretender Aspekt bedeuten – führte nicht das Tun oder das Schreiben einzelner. Weder Heideggers Denken, noch sein Handeln. Dazu bedurfte es mehr. Das, was sich unter der Metapher, dem Begriff, dem Ereignis und Geschen Auschwitz manifestiert, bedurfte vielfacher Faktoren. Insbesondere eine Gesellschaft, in deren Struktur der Antisemitismus vor allem in seiner eliminatorischen Variante, fest verankert ist. Snyders These in „Bloodlands“ allerdings scheint mir zu kurz zu greifen. Ich sehe ein Problem darin, inwiefern sich Tote (geopolitisch) zusammenrechnen lassen. Auschwitz beruht auf einem anderen Prinzip (obwohl: Prinzip ist nicht das richtige Wort) als Stalins Gulag. Der von Snyder ausgemachte geopolitische Todesraum verkennt den Aspekt des Antisemitismus (dies stellte die Kritik in der FR seinerzeit hersaus), er verkennt das vollkommen Irrationale dieser Vernichtung der Juden, die zugleich mit einer ungeheuren Akribie durchgeführt wurde. Sobald eine Region unter faschistischer deutscher Herrschaft gelangte, wurden Juden aus diesen Gebieten und am Ende aus fast jedem Winkel Europas zusammengetrieben. Nicht um sie irgendeinem Arbeits- oder Vernutzungszweck „zuzuführen“, sondern um sie, unter Ausbeutung ihrer Habe, zu vernichten. Nicht in einem Gulag, irgendwo in Kolyma oder anderswo, zu versklaven und diese Juden irgendwie noch als produktive Kraft wirken zu lassen, sondern um sie umzubringen. Nur das. Die geopolitische Orientierungen, die ein Geschehen auf die geschichtliche Beschaffenheit eines Raumes festmachen will, greift nicht nur zu kurz, sondern relativiert auch die Shoah auf universelles Geschehen von Mord, der irgendwie mit allem und jedem, was sich in diesem Raum ereignete, zusammenhängt. Mord an Völkern, an Ethnien, an Gruppen gab es immer. Dieses Vorgehen aber war so ganz und gar anders.

Auschwitz ist, das scheint mir zumindest ein wesentlicher Aspekt zu sein, ein Ereignis, das in mehrfacher Hinsicht ans Unaussprechliche grenzt, und zwar bereits auf der Ebene des Faktischen: Wer im Vernichtungslager war und durch die Maschinerie ging, kann darüber nicht mehr sprechen, weil sie oder er am Ende dieses Vorgangs meisten tot sind. Wer trotzdem entkam und Zeuge bleibt, dessen Blick ist entstellt und zerstört, weil solches Geschehen in keinen Erfahrungsraum mehr eingeholt werden kann. Es geschieht in der schreibenden, sprechenden Wiederholung eine Anamnesis an einen Ort, der quer zu jeglicher Rationalität liegt, anamnetisch nicht erreichbar ist und der dennoch ganz und gar rational durchorganisiert war. Es geschieht der (literarische oder dokumentarische) Versuch, das in Sprache zu bringen, was sich nicht zum Sprechen bringen läßt. Deshalb Adornos Diktum, daß nach Auschwitz keine Gedichte mehr sich schreiben lasse. (Meist wird dieser Satz nicht in seiner weitreichenden Dimension genommen, daß jegliche Diskursivierung oder Verbildlichung des Sinnlosen nur eine weitere Produktion von Sinn bedeutet, sondern in einer Banalvariante. Wie auch der Satz vom richtigen Leben im falschen.)

Zugleich aber eignet Auschwitz sich nicht, um in einer Art negativen Theologie auf die Knie zu fallen und es zu zelebrieren. Auschwitz ist der Punkt, an dem alles Reflektieren nach 1945 hängt, der Ort, wo Sache und Begriff, Denken und Gegenstand in keinen Einklang mehr zu bringen sind. Eine tragfähige Analyse liefert komprimiert und auf den Punkt gebracht Wolfgang Pohrt in seinem Text „Nationalsozialismus und KZ-System“. (Noch einmal Dank an den Nörgler für diesen Text!)

„Auch die Sache aber stellt sich für das Bewußtsein stets nur in Begriffen dar. Wo die Sache an sich selbst unbegreiflich ist, weil ihre eigene Struktur die Voraussetzung aller Erkenntnis; die ‚adaequatio rei et intellectus‘, die Übereinstimmung von Gegenstand und Einsicht prinzipiell ausschließt, dort tendiert sie dahin, sich der Darstellung und dem Bewußtsein überhaupt zu entziehen. Das Unbegreifliche ist am deutschen Faschismus aber gerade das Wesentliche. Ihn zeichnet aus, daß er von keiner Theorie mehr wirklich erreicht werden kann. Nicht einmal die Konstruktion eines strafenden Gottes – das erste Tasten wie der letzte Ausweg der Vernunft – vermag die planmäßige, fabrikmäßige Vernichtung von mindestens 6 Millionen Menschen in jenen sinnvollen Zusammenhang zu stellen, in dem der Gegenstand allein erkannt werden kann. Die Theorie setzt einerseits stets ein die Sache unter seinen eigenen, subjektiven Bestimmungen setzendes Subjekt voraus. Sie beginnt also erst jenseits der Konzentrationslager, in denen das Subjekt planmäßig vernichtet wird. Die Theorie setzt andererseits eine Sache voraus, die von den Denkbestimmungen eines auf sie reflektierenden menschlichen Subjekts nicht völlig verschieden ist: was real keiner menschlichen Logik gehorcht, kann auch kein Mensch begreifen. Vor einer Institution, in welcher die Unmenschlichkeit zum Prinzip erhoben ist, muß die Theorie daher kapitulieren.“ (W. Pohrt, Nationalsozialismus und KZ-System, in: Ausverkauf)

Insofern tangiert Auschwitz die Philosophie als Aufgabe. Und darin versagte Heidegger auf ganzer Ebene. Insbesondere in seiner Philosophie. Das Ungeheuerliche, das Heidegger in seiner Hölderlinvorlesung über dessen Gedicht „Der Isther“ anspricht, in der er auf das Chorlied in Sophokles‘ „Antigone“, sowie das Unheimliche des Menschen Bezug nimmt, werden zur ontologischen Befindlichkeit abstrakten Daseins relegiert.

Vielleicht ist es richtig, die „Beiträge zur Philosophie“, jenes zweite, nach „Sein und Zeit“ bahnbrechende Werk, wieder zu lesen. Den Heidegger der Kehre, der vom Seyn her denkt. Nur bleibt der Gedanke, daß Heidegger in seiner Metaphysikverwindung, für die er eine Sprache sucht, um an die Grenzen und über die Grenze hinaus zu gelangt, am Ende in einem luftleeren Raum verbleibt. Adornos „Negative Dialektik“ bewegt sich Lichtjahre näher an dem, was sich nicht zur Sprache bringen läßt und was dennoch dahin drängt, ausgesprochen zu werden – jenes Ungeheure, das den (Eigen-)Namen Shoah oder Alles-Verbrennung trägt. Ebenfalls der Text Derridas. Bei Heideggers Lektüre des Seins bleibt dieser Verdacht, daß da zugleich die Nebelkerzen geworfen werden. Das Da-Sein und das Seyn als strukturale (Nicht-)Struktur fallen am Ende zurück in die abstrakte Verdünnung des Unwesentlichen, des Man. Es bleibt eine Weise des Sprechens, bei der nicht mehr unterscheidbar ist, ob es sich nun um Aphasie, Dichtung, Mystik oder aber ein irres Raunen handelt. [Diese Unentscheidbarkeit wiederum macht den Text Heideggers einprägsam und interessant, wenngleich der Ton vielfach in den Jargon kippt. Dennoch: es zusammenzudenken.]

Der Text der späteren Philosophie Heideggers erinnert mich an das erste Kapitel, genauer gesagt an den Anfang von Hegels „Wissenschaft der Logik“. Im Grunde beginnt überhaut erst an diesem Punkt der Unterschiedslosigkeit, der unbestimmten Unmittelbarkeit – über Heidegger hinaus – die Philosophie. Nach Adorno kommt die Philosophie Jacques Derridas diesem Denken zwischen Metaphysik und ihrem Ende, diese Symphilosphie (freilich anders als es sich die Jenaer Romantiker dachten), die sich zwischen Dichtung und Denken bewegt, wohl am nächsten. Insbesondere sein „Schibboleth“. Und es bleibt in dieser Anordnung diese eine Frage, die Jean-François Lyotard 1980 auf dem Symposion in Cerisy-la-Salle zum Thema „Les Fins de l’homme“ als Titel eines Vortrags stellte: „Discussion, ou phraser ‚après Auschwitz‘“. Hier liegt der „Einsatz des Denkens“. In vielfacher Ausprägung als Denken des Datums, als eine Schreibweise, die die Grenze zwischen Literatur und Philosophie oder, eine Spur weihevoller geschrieben, zwischen Denken und Dichten, in einer anderen Weise schreibt, ohne dabei die Unterschiede der Gattungen einzuziehen. Aber dieser Aspekt des Grenzgängerischen zwischen Literatur und Philosophie wäre ein andermal zu thematisieren.

Was bleibt, ist die Frage: Wie nach Auschwitz sprechen, ohne simpel zu reifizieren oder ins Betroffenheitsgequatsche der evangelischen Akademien zu driften?

Unendliche Verweisung: Text auf Text

Ein Zeichen sind wir, deutungslos,
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.
(F. Hölderlin, Mnemosyne)

Ja, so sieht es aus! Wir glaubten uns (selbst-)durchsichtig und wähnten uns intakt. So ist es aber nicht. Die (Selbst-)Hermeneutik des Subjekts funktioniert nicht oder doch nur begrenzt in der Reichweite, und die Anamnese der Psychoanalyse – als jener Versuch konzipiert, des Ichs (therapeutisch) habhaft zu werden – mißlingt, weil das Begehren nach dem festen Punkt, nach der fixierten sowie still gestellten Struktur ins Leere laufen muß.

Zeichen sind – auch wenn sie unmittelbar nicht als Zeichenschrift abgefaßt sind, wie z. B, Bilder – eine Art von Schrift, die immer auch unlesbar bleiben kann; die ins Leere läuft. Ob Hölderlin diese Deutungslosigkeit (und mit diesem Mangel an Deutung korrespondierend: jene Schmerzlosigkeit) aus geschichtsphilosophischen Gründen nun beklagt oder aber als aphasisches Moment gutheißt, sei dahingestellt. Im Rahmen seines Hyperion-Romans liegt der Schluß nahe, daß es sich bei diesen Zeilen um eine Elegie handelt: Als der revolutionäre Moment versäumt ward. Es bleiben die Trümmerberge einer ins Ich gesenkten Erinnerung. Es bleibt: ein Gedicht als Bruchstück und Teil von Zeit. Hölderlins Hyperionroman-Fragmente sind mit Walter Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen zusammenzulesen.

Ein Text ist ein Text ist ein Text ist ein Text. Mehr nicht. Jeder Text löst sich von seinem Autor ab. Die Autorin, der Autor sind singulär. Ein Text ist kein singuläres Ereignis, das für sich steht, sondern er verweist auf andere Texte, mit denen er korrespondiert, von denen er sich herschrieb. Texte sind nicht an den Augenblick, den Moment gebunden, sondern sie lösen sich ab, sie koppeln sich an kein Geschlecht, der ekstatische bejahende Monolog der Molly Bloom als Kulmination des Ulysses, als Wahrheit des Odysseus, als unendliches Ja zur Lust und zur aufgehobenen Ökonomie (worin der Begriff des oikos, des Haushalts steckt), hätte ebenso von einer Frau geschrieben sein können, wie der Todesarten-Zyklus Bachmanns von einem Mann. Nietzsche schrieb als Frau und der „Zarathustra“ oder die „Fröhliche Wissenschaft“ zeigen, daß die Wahrheit in einem nicht-metaphysischen, perspektivischen Sinne weiblich ist. Die Stile und die Maskeraden Nietzsches, der nichtidentitär schrieb. Masculin – Feminin. Der weibliche Blick, der männliche Blick sind zwar einerseits den Konditionierungen und dem gesellschaftlichen Moment geschuldet. Sie fallen zugleich aber zufällig aus. Und in der Literatur besitzt dieser Blick keinerlei Bedeutung, weil er sich in ein Gefüge von Fiktionalisierungen einschreibt. Niemand weiß, wer diesen Text hier schrieb: ein Ich, ein Mann, eine Frau? Habe ich jemand anderen schreiben lassen?

Wer sich (als Subjekt) mit einem Text auseinandersetzt, diesen Text liest und dazu sich Gedanken macht, wie man umgangssprachlich so nett sagt, der webt anfangsstadiumsgleich bereits an einem Text mit, und wenn die Angelegenheit tiefer geht, dann wird in weiterer Text produziert, der sich auf einen anderen Text bezieht.

Derrida beschrieb es im Rahmen seiner Rousseau-Lektüre in der „Grammatologie“ so: Es gibt kein Draußen zum Text, was für Derrida die Abwesenheit des Referenten oder des transzendentalen Signifikats bedeutet. Die natürliche Präsenz (von Vorstellungen, von Bewußtseinsinhalten) besitzt einen phantasmagorischen Charakter. (Im Sinne einer post-analytischen Sprachphilosophisch stellt dieser Befund sicherlich keine Neuigkeit dar.) „Den Namen von Autoren und Lehrmeinungen kommt hier keinerlei substantielle Bedeutung zu. Sie indizieren weder Identitäten noch Ursachen. Man würde es sich zu leicht machen, wenn man annähme, daß ‚Descartes‘, ‚Leibniz‘, ‚Rousseau‘, ‚Hegel‘ usw. Autorennamen sind, also die Namen der Urheber von Bewegungen oder Verschiebungen, die damit bezeichnet würden.“ (J. Derrida, Grammatologie)

Im Namen eines adamitischen Namens- und Benennungszaubers klammern wir uns an die (Eigen-)Namen.

Die Wahrheit des Textes ist der Text. Es gibt freilich keinen Text an sich. Der Text ist kein Zentrum, er besitzt kein Zentrum. Er führt einen Wahrheitskern mit sich, der an eine (bestimmte) Zeit, an einen Zeitkern gebunden ist. Jeder Text unterliegt den Verschiebungen.

Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selber bearbeitet; in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.“ (Roland Barthes, Die Lust am Text)

Es gibt Leerstellen, es existiert jener „glühende Leertext“ (P. Celan), der sich selbst undurchsichtig ist, wo die Kohärenzen des Sinns aufbrechen. Und was all diese kommunikativen Momente betrifft, so zeigt sich einmal wieder, wie viel Unheil Gadamer, die Hermeneutik und Habermas angerichtet haben. Das führt dann – etwas übespitzt geschrieben – hin bis zu Textcoachs, zu Schreibseminaren und zu Kommunikationstrainern, wenn Text der Verständigung dienen sollen. Aber damit machen wir Texte bloß verfügbar. Was folgt demnächst? Der textuelle Streichelzoo? Texte zum Anfassen und Wohlfühlen? Der Text für Dich und mich, Texte für jede Jahreszeit und jeden Zustand? Im Feld der Selbstoptimierung formulieren wir es so: Ich schreibe also bin ich. Kann man alles so machen. Muß man aber nicht, wenn ein bestimmter Standard gehalten werden soll. Wer als Frau oder als Mann schreibt und sich auf eine Position kapriziert, hat von Anfang an verloren. Sich von seiner Subjektivität herzuschreiben, heißt aber von Anfang an: Alle Posten und Positionierungen durchzustreichen.

Im eigenen Namen – Franz Kafka, Jacques Derrida, Navid Kermani sowie ein Ausblick auf Nietzsche und das Weib – Poetik des Datums

Sätze aus jenen „Briefe an Felice“ stechen ins Auge: „Wollte ich mit Dein unterschreiben? Nichts wäre falscher. Nein, mein und ewig an mich gebunden, das bin ich und damit muß ich auszukommen suchen.“ Ein Ich, das Franz heißt, und so sich im Brief zeichnet: Dein Franz: die monadologische Unterschrift eines Prager Juden.

[Besser und auf die Spitze der Schreib- und Ich-Existenz gebracht als Kafka, kann man es nicht schreiben: so formulierte es die interruptive Stimme in mir.]

Aber interessanter fast als diese Zeilen Kafkas, denn wir kennen seine Texte gut und haben sie germanistisch-forschend, lesend verinnerlicht, wäre die Reaktion Felice Bauers auf diese und manch andere seiner Sätze in jenen Briefen gewesen. Einem solchen (Brief-)Text adäquat zu begegnen – denn immerhin verließ Felice Bauer Kafka nicht, was angesichts der Komplexitätsüberbordung seiner Briefschrift nicht als selbstverständlich anzusehen ist, ich wurde in meinen Briefen in der Studienzeit um weit geringere Verfehlungen verlassen – erfordert Kraft, Mut, Weisheit. Ich möchte dieses Thema, wie der Schreibmotor gebaut ist und woher diese Kraft zur Schrift stammt, nun nicht theweleitisieren, aber die Frage ist, im Sinne eines Perspektivenwechsels, nicht uninteressant. Wie sahen die Briefe Felice Bauers aus? Ob dieses leere, knochige Gesicht, das zur Schreibfläche des bedeutendsten Schriftstellers des 20. Jhds werden sollte, sich als Folie eignet und ob sich aus dieser Konstellation Schuß und Gegenschuß spinnen ließen.

Der eigene Name, der Name der anderen. F.B. Fräulein Bürstner, Frieda, F.K. oder ein jedes Namens reduzierter Buchstabe: K. als Enteignung des Namens, Franz und Josef, das Spiel mit den Namen und den Buchstaben. Ein Schreib-Prozeß, um ein wenig zu kalauern. Kabbala noch im identitären Diskurs Franz Kafkas, der auf das hermetisch abgeriegelte Ich ausgelegt ist. Schöner, treffender (in mehrfacher Bedeutung) und tiefer gelangte der Solipsismus nicht zur Literatur. Allenfalls Beckett dampfte dieses Identitär-Destruierte auf jenes richtige Maß ein, das als Stimme oder als choreographierte Bewegung wie in Quadrat I und II verharrt – jene „objektlose Innerlichkeit“, die Adorno in seinem immer noch lesenswerten Essay zu Kafka diesem Juden aus Prag in Korrespondenz mit dem Text Kierkegaards zuschrieb. Aber es gibt in der Literatur oder auch: in der Philosophie ebenso andere Unterschriften als die Kafkas in jenem erschütternden Brief vom 11.11.1912 an Felice Bauer. Die Frage Derridas etwa: Wie kann ich in meinem eigenen Namen, mit meinem Namen unterzeichnen? Was ist, sprachphilosophisch-dekonstruktiv gelesen, der eigene Name und was bedeutet Eigentum? Als Theorie und Literatur einer Sendung als Form von Kommunikation, die sich jenseits gelingender, Habermasscher Diskursmodelle und Hegelscher Anerkennungsverhältnisse konfiguriert, um sich als Asche auszulöschen und als Schrift durchzustreichen: Was bedeutet ein Name, ein Eigenname, worauf verweist er? Wie können sich Ziffern, Buchstaben und Daten als Orte von Signaturen mit einem Namen, der nichts als Text ist, bewahren und wie bleiben sie lesbar? Anders als Kafka und doch in derselben Weise von Textualisierung schreibt es Derrida in „Die Postkarte“, indem er an seinen Eigennamen, mit dem er jene eröffnende Postkarte unterzeichnet, einen asteriskusgekennzeichneten Zusatz anknüpft. Ist ein Name, der sich mit einer Fußnote versieht, um sich zu beglaubigen und zugleich zu entziehen, noch eine Name? In unseren Notationssystemen sicherlich nicht:

„Ich bedaure, daß Du nicht sonderlich meiner Unterschrift traust, unter dem Vorwand, daß wir mehrere seien. Das ist wahr, aber ich sage das nicht, um mich zu augmentieren um irgendeine zusätzliche Autorität. Noch weniger, um zu beunruhigen, ich weiß, was das kostet. Du hast recht, wir sind ohne Zweifel mehrere und ich bin nicht so allein, wie ich es bisweilen sage, wenn die Wehklage darüber sich mir entringt oder wenn ich mich wieder abmühe, Dich zu verführen“ (J. Derrida. Die Postkarte)

Immerhin: das Dialogische und Instanzen des Anderen, die bei Kafka Gespenster bleiben oder im monadologischen Abschluß schlicht ausgeschieden werden zugunsten eines komplexen Systems von Literatur, dieses Andere ist als Anrede und Gegenüber bei Derrida in einer bestimmten Form präsent: Präsenz in Abwesenheit und vice versa. Derrida probiert die Formen der Telekommunikation. Auf welche Weise läßt sich Nähe auch aus der Ferne erzeugen? Wie übermitteln sich Texte und Botschaften? Wie stellt sich eine unendliche Nähe in der Schrift, im Akt des Schreibens ein? Actio in distans, jener Zauber, den bereits Nietzsche in „Die fröhliche Wissenschaft“ als Reiz und eben auch: als Form weiblichen Schreibens festhielt.

„Jedoch! Jedoch! Mein edler Schwärmer, es gibt auch auf den schönsten Segelschiffe so viel Geräusch und Lärm, und leider so viel kleinen erbärmlichen Lärm! Der Zauber und die mächtigste Wirkung der Frauen ist, um die Sprache der Philosophen zu reden, eine Wirkung in die Ferne, eine actio in distans: dazu gehört aber, zuerst und vor allem – Distanz!“ (F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)

Diese Logik von Denk- und Schreibexistenz läßt sich sicherlich gut auch auf den Text Kafkas applizieren.

Die Bedingung der Möglichkeit von Schrift ist die Ferne, Schrift ist die radikale Abwesenheit, die zugleich den Anschein einer Präsenz erzeugt und im selben Moment wieder sich distanziert.

„Wir haben uns noch nie gesehen. Geschrieben bloß.“ (J. Derrida. Die Postkarte, S. 86)

Es ist die Frage nach der Selbstbezeichnung, der Selbstreferenz, nach dem Selbst, dem Subjekt, die Derrida in „Die Postkarte“ stellt. Derrida durchstreicht den Begriff des Subjekts als Einheit und arbeitet in einer paradoxen Bewegung zugleich mit dieser Kategorie. Aber es ist den Begriffen, den Bezeichnungen und den Namen nicht mehr rein zu trauen. Dies ist seit über 100 Jahren das Signum der Moderne – nicht nur der ästhetischen. Zerrüttung als Chance. Navid Kermani zum Beispiel umschreibt in seinem Projekt „Dein Name“, das den Namen oder die Bezeichnung Roman trägt, seinen eigenen Namen in vielfacher Weise. Die Identität gestaltet sich bei Kermanis Ich-Positionierung vielfach. In seiner Frankfurter Poetikvorlesung: „Über den Zufall“ schreibt Kermani: „Im Augenblick heißt der Roman, den ich schreibe, Das Leben seines Großvaters. Gemeint ist damit der Großvater des Sohns, Vaters, Manns, Liebhabers, Freundes, Romanschreibers, Berichterstatters, Orientialisten, der Nummer zehn oder von Navid Kermani.“ Die Umschrift eines deutsch-iranischen Moslems, Ich ist viele, so viele wie Tätigkeiten ausgeübt werden. Unsere Wahrnehmung von Ich und Selbstheit hängt am Referenzsystem Wie läßt sich ein Ich, ein Leben eine Berichterstattung der Tage und dem, was am Ende bleibt, in den Text bringen? Menschen vergehen und sterben. Navid Kermani inszeniert sie im Text. „Dein Name“ ist ein Totenbuch und es schreibt sich in Leben und Alltag ein. Es bleiben die Texte. Obwohl auch dies nicht gesagt ist.

***

Im Merve Verlag erschien im Jahre 2000 ein Buch mit diesem ganz und gar wundervollen Titel: „Nietzsche- Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht.“ Darin gibt es einen Text von Jacques Derrida sowie einen weiteren von Friedrich Kittler.

Eine Theorie der Unterschrift. Benennung und die Namensgebung ist neben dem Schöpferischen zugleich ein Akt der Gewalt. Die adamitische Namensgebung bedeutet Herrschaft. Gegenzulesen wäre hier mit Walter Benjamins Sprachmagie und seiner Theorie des Namens. Die Kunst des Übersetzens. „Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen“: „Die Theorie des Eigennamens ist die Theorie von der Grenze der endlichen gegen die unendliche Sprache. Von allen Wesen ist der Mensch das einzige, das seinesgleichen selbst benennt, wie es denn das einzige ist, das Gott nicht benannt hat.“ Schöpfung durch Sprache.

Ich verabschiede mich von meinen Leserinnen und Lesern bis Sonntag, um dann in bewährter Weise wieder die Produktion von Texten aufzunehmen.

Auferstehung (2) – „To Leave, with Love“ (Erika M. Anderson)

Das Gesetz der Zeit zu brechen …

Es schrieb der emeritierte Professor für Geschichte und Literatur des frühen Christentums in Göttingen, Gerd Lüdemann, in der der Berliner Zeitung vom 6.4.2012:

„Die in Jerusalem auf den Namen Jesu erfolgende Taufe, die dem Schutz vor bösen Mächten diente, wurde in Damaskus zu einem mystischen Akt in das göttliche Wesen Christus Jesus hinein. Die dabei ausgesprochene programmatische Formel – ‚Hier ist weder Jude noch Heide, weder Sklave noch Freier, weder männlich noch weiblich; denn ihr alle seid eins in Christus Jesus‘ – spiegelt antike Utopien von der einen Menschheit wider.

Die Aussagen zu den drei Gruppen von Menschen, welche die Taufe empfangen, sind im damaligen gesellschaftlichen Kontext revolutionär. Sie proklamieren das Ende der Sklaverei, reißen Schranken zwischen Juden und Nichtjuden nieder und heben die sozialen, gesellschaftlich bedingten Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf. Wahrscheinlich haben die Christen in Damaskus ihre große Vision sogar in die Tat umgesetzt.

Aufbegehrende Frauen musste in Gottesdiensten Schleier tragen

Indes ergaben sich für Paulus daraus, dass ‚in Christus Jesus‘ die Unterschiede zwischen Mann und Frau, Sklave und Freier aufgehoben sind, keine Konsequenzen für die Stellung von Frauen oder Sklaven in Gemeinde und Gesellschaft. Unter Hinweis auf den Konsens mit den anderen Gemeinden Gottes zwang Paulus später in Korinth aufbegehrende Frauen, im Gottesdienst einen Schleier zu tragen; die Sklaven wies er an, die Freiheit auch dann nicht zu suchen, wenn sich dazu eine Möglichkeit ergebe. Einzig die Gleichstellung von Juden und Heiden setzte Paulus in seinen Gemeinden durch.

So gab Paulus, der ehemalige Verfolger und berühmteste Schüler der Gemeinde von Damaskus, deren emanzipatorischen Ideale preis; er machte langfristig nicht nur Frauenunterdrückung, sondern auch Sklaverei in Christentum und Gesellschaft hoffähig. Die große Vision der Christen von Damaskus aber ist geblieben.“

Die Figur des Paulus, seine Gesetzeslehre sowie die Paulinische Gnadentheologie sind umstritten. War Paulus der, welcher Jesus am ehesten verstand und in die Schriftform brachte oder handelte es sich um einen Scharlatan, der die praktizierte und gesprochen dargebrachte „Lehre“ Jesu als Herrschaftsinstrument verfälscht in die Auslegung transformierte? Der Anfang des 1. Römerbriefes lautet in der lateinischen Übersetzung des Hieronymus: „Paulus servus Jesu Christi, vocatus apostolus, segregatus evangelium Dei“ (Röm 1,1) „Paulus Sklave des Jesus Messias, berufen zum Apostel, ausgesondert für das Evangelium Gottes.“ (Vgl. G. Agamben, Die Zeit die bleibt, S. 17)

Am Jesus, der zum Messias wurde, ist insbesondere die Figur des Opfers, jenes bedingungslosen Opfers interessant. Daß kein anderer Mensch mehr, daß kein Tier mehr und kein Nichts geopfert werden müssen, weil ein Wesen seine Entäußerung zum letzten Opfer brachte, um künftig auf jedes weitere Opfer zu verzichten. Dies ist die zentrale christliche Lesart, welche allerdings in der Folge bloßes Bekenntnis blieb und als gestanzte Phrase ihren Nachhall fand. Es ist diese Bewegung von Einheit und Differenz zugleich eine der vielfach variierten Figuren europäischer Philosophie: nämlich die Entäußerung als Entzweiung und Differenzbildung, was zugleich bedeuten kann, daß jener als unteilbar angenommene Ursprung eben doch einer gleichsam „ursprünglichen“ Differenzstruktur unterliegt, so daß sich im Sinne Derridas von einer ursprünglichen Spaltung sprechen läßt. Urbild ist nicht die Einheit. Und noch der Begriff des Urbilds trägt dieses Moment der Einheit in sich und müßte im Grunde anders heißen. Mit Derrida gedacht, erscheint das Urbild als eine Spur. Sinnbildlich stellt sich diese Figur der Entäußerung sowie der vermittelten Rückkehr zum Ursprung am Odysseus dar, der als ein anderer in Ithaka wieder ankam und der dann in seinen Transformationen im Grunde die Gestalt für jenen klassischen Bildungsroman etwa im Sinne  „Wilhelm Meisters“  abgab. Die etwas andere Perspektivierung dieser Entäußerung lesen wir in jenem genialen exalktiert-sexuellen Monolog der Molly Bloom am Ende des „Ulysses“

Diese Perspektive, daß kein Opfer mehr sei, gibt auch jenen Impuls der Philosophie Adornos: Der Verzicht auf das Opfer, indem die Logik und die Spirale der Gewalt gebrochen wird. Das Verstömen in Natur, wie es in seinem Essay zu Goethes  „Iphigenie“  heißt. Vor ihm formulierte dies in anderer Weise Nietzsche im „Zarathustra“: den Geist der Rache zu überwinden.

„Daß die Zeit nicht zurückläuft, das ist sein Ingrimm; ‚das, was war‘ – so heißt der Stein, den er nicht wälzen kann.

Und so wälzt er Steine aus Ingrimm und Unmut und übt Rache an dem, was nicht gleich ihm Grimm und Unmut fühlt.

Also wurde der Wille, der Befreier, ein Wehetäter: und an allem, was leiden kann, nimmt er Rache dafür, daß er nicht zurück kann.

Dies, ja dies allein ist Rache selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ‚Es war‘.

Wahrlich, eine große Narrheit wohnt in unserm Willen; und zum Fluche wurde es allem Menschlichen, daß diese Narrheit Geist lernte!

Der Geist der Rache: meine Freunde, das war bisher der Menschen bestes Nachdenken; und wo Leid war, da sollte immer Strafe sein.

‚Strafe‘ nämlich, so heißt sich die Rache selber: mit einem Lügenwort heuchelt sie sich ein gutes Gewissen.

Und weil im Wollenden selber Leid ist, darob, daß er nicht zurück wollen kann – also sollte Wollen selber und alles Leben – Strafe sein!“
(F. Nietzsche, Von der Erlösung, in: Also sprach Zarathustra)

Dieses Statement impliziert eine (andere) Philosophie der (anderen) Zeit, und insofern geschieht bereits an dieser Stelle im „Zarathustra“, von seiner Erzählstruktur her, die Ankündigung jenes Motivs von der Wiederkehr des Immergleichen – jenes schwersten Gedankens. Es gilt, das Gesetz der Zeit zu brechen.

Dies wäre die soteriologische Perspektive, die beiden Texten innewohnt – auch im Text des Pfarrerssohnes Nietzsche, wobei über den Perspektivismus, welcher seinen Text trägt, zugleich bei jedem Dreh und bei jeder Wendung eine andere Sicht sich ergibt. Alles könnte auch ganz anders sein. Nimmt man jedoch den „Zarathustra“ als solchen, so deutet dieser Text auf ein explizit theologisches Moment: die Verkündung des Todes Gottes erzeugt eine neue Religion der Diesseitigkeit, und Zarathustra tritt eben doch als ein Religionsstifter auf. Der Text selbst zeigt dies auf performative Weise, indem er die Sprache Luthers einerseits fast mimetisch einkreist und sie zugleich als hohen Ton parodiert.

Das Messianische Ereignis, es ist dies zum einen die Auferstehung, aber zum anderen, in der Perspektive des Judentums, daß der Messias erst kommt. Dies setzt, so steht zu vermuten, eine andere Ordnung und eine andere Zeit voraus. Wird die Gerechtigkeit oder aber das Recht in jener eschatologischen Perspektive außer kraft gesetzt? Es bestünde ebenso die Möglichkeit, daß lediglich eine falsch verstandene Gerechtigkeit durch dieses Ereignis suspendiert wird.

„Ermöglicht die Dekonstruktion Gerechtigkeit, ermöglicht sie einen Diskurs über die Gerechtigkeit und über die Möglichkeitsbedingungen von Gerechtigkeit?“ (J. Derrida, Gesetzeskraft) Derrida setzt sich in diesem Text unter anderem mit Benjamins legendärem Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ auseinander, der zugleich mit Carl Schmitt korrespondiert. Der Antisemit Carl Schmitt führte in einem perversen Akt der Reinwaschung ausgerechnet Walter Benjamin zu seiner Rechtfertigung nach 1945 an. Aber dies ergibt ein anderes Thema. Derrida führt in seinem Text „Gesetzeskraft“ jenes Gleiten zwischen Recht und Gerechtigkeit vor und zeigt das Moment der Unbestimmtheit auf, das konstitutiv im Begriff der Gerechtigkeit steckt:

„‚Vielleicht‘ – wenn es um (die) Gerechtigkeit geht, muß man immer ‚vielleicht‘ sagen. Die Gerechtigkeit ist der Zukunft geweiht, es gibt Gerechtigkeit nur dann, wenn sich etwas ereignen kann, was als Ereignis die Berechnungen, die Regeln, die Programme, die Vorwegnahmen usw. übersteigt. Als Erfahrung der absoluten Andersheit ist die Gerechtigkeit undarstellbar, doch darin liegt die Chance des Ereignisses und die Bedingung der Geschichte.“
(J. Derrida, Gesetzeskraft, S. 57)

Das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, jene Dialektik im Stillstand, die Einhalt gebietet, inmitten der Katastrophe.

„Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à l‘ordre du jour – welcher Tag eben der jüngste ist.“
(W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte)

Die Römerbriefe des Paulus scheinen mir, andererseits, nicht ganz uninteressant. Ich lese dazu gerade ein wenig in Giorgio Agambens „Die Zeit, die bleibt“. Er liefert eine gleichsam dekonstruktive Lesart des ersten Satzes des Römerbriefes, rehabilitiert Paulus gewissermaßen, wie auch Alain Badiou in seinem Buch zu Paulus, indem er gerade die in der Christologie aus dem Römerbrief getilgte Lesart des Messianischen in den Blick nimmt und das jüdisch-griechische Denken des Damszeners Paulus darstellt. Was mich an Agambens Text fasziniert: diese Fülle an Assoziationen und die entfalteten Bezüge.

Was im Paulinischen Text, und zwar in der sozusagen dekonstruktiven-rekonstruierenden Lesart eines Alain Badiou und Giorgio Agamben, wirkt, ist eine neue Form der Subjektivität, die als Lektüre einen Blick auf den Text erlaubt, welche eine andere Dimension desselben freilegt.

Es ist nicht die Ununterscheidbarkeit zwischen Literatur, Philosophie und Theologie, sondern das Gleiten zwischen diesen Sphären, was am Ende eine ästhetisch inspirierte Lektüre ausmacht, die Bezüge ausgräbt, welche in einer orthodoxen Lesart womöglich verborgen bleiben müßte. Jene Zeit, die bleibt und die wir geben, wenn wir lesen, um uns von jenem ganz Anderen als Flüchtigkeit des Augenblicks, als Konstellation des Denkens, als Spiel eines Kaleidoskopes affizieren zu lassen.

Adornos „Mimima Moralia“ schließen mit jener Reflexion auf das beschädigte Leben und auf welche Weise ein Modus von Erkenntnis zu gewinnen sei. Was bleibt, ist die Kraft zur Negativität:

Zum Ende. – Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an. Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Aber es ist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat. Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet um des Unbedingten willen, um so bewußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.“
(Th.W. Adorno, Minima Moralia, in: GS 4, S. 283)

Out of limits: die Rahmen des Logozentrismus, die Überwindung der Metaphysik – Lektüren Derridas (3)

I. Nach der Moderne

Innerhalb jenes Rahmens der europäischen Philosophie, den Derrida als die Epoche der Metaphysik ansetzt, also seit der Philosophie Platons, wirkt ein Zentrum, ein Punkt der Präsenz und strukturiert, ohne dabei selber in den Blick zu gelangen.

„Die Struktur oder vielmehr die Strukturalität der Struktur wurde, obgleich sie immer schon am Werk war, bis zu dem Ereignis, das ich festhalten möchte, immer wieder neutralisiert, reduziert: und zwar durch einen Gestus, der der Struktur ein Zentrum geben und sie auf einen Punkt der Präsenz, auf einen festen Ursprung beziehen wollte. Dieses Zentrum hatte nicht nur die Aufgabe, die Struktur zu orientieren, in Gleichgewicht zu bringen und zu organisieren – es läßt sich in der Tat keine unorganisierte Struktur denken –, sondern es sollte vor allem dafür Sorge tragen, daß das Organisationsprinzip der Struktur dasjenige in Grenzen hielt, was wir das Spiel der Struktur nennen können. Indem das Zentrum einer Struktur die Kohärenz des Systems orientiert und organisiert, erlaubt es das Spiel der Elemente im Inneren der Formtotalität. Und noch heute stellt eine Struktur, der jegliches Zentrum fehlt, das Undenkbare selbst dar.“ (Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen, S. 422, in: Die Schrift und die Differenz)

Das Zentrum, der Ursprung besitzen eine regelnde, leitende als auch konstituierende Funktion, bleiben als blinder Fleck jedoch gleichzeitig leer. Exemplarisch ließe sich das an Kants transzendentalem Subjekt zeigen. Dieses ist bei Kant jedoch nicht nur im Sinne der „ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption“ zu fassen, wie im § 16 der K.d.r.V. entwickelt, sondern zugleich als eigentliches Selbst, wie es an sich existiert; also ein „Grenzbegriff (…), der jeder Bestimmbarkeit durch die Erfahrung entzogen bleibt.“ (Hist. Wörterb. d. Phil. Bd. 10, Sp. 399) Gleichzeitig bleibt dieser Begriff bei Kant eigentümlich leer, es ist ein bloßer Konstitutionsbegriff: Das Selbstbewußtsein wird sich erst in der Philosophie Hegels zu einem komplexen Zentrum entfalten, so daß Form und Inhalt ihren adäquaten Ausdruck finden.

Es spielen diese Sätze Derridas möglicherweise auch auf Foucault „Die Ordnung der Dinge“ an, wo es in der einleitenden Analyse von Velázquez‘ „Las Meninas“ um eine Achse der Blicke und die Frage des Zentrums geht (beide Texte erschienen 1966), und es sind diese Sätze Derridas zugleich Passagen, die den Strukturalismus als herrschende Strömung der französischen Philosophie auf einen Punkt zusammenfassen: „das Spiel der Elemente im Inneren der Formtotalität“, was man einerseits als kreative Permutation, andererseits aber auch als mechanistisches Geklapper des Strukturalismus ansetzten kann. Mit dieser Anwesenheit und dem Zentrum ist jedoch zugleich der Gegenpart konnotiert: Die Abwesenheit, jenes nicht mehr da, der Verlust (des Zentrums), aber auch Formen der Aneignung, der Enteignung (durch die Schrift) und des Begehrens, und so kreuzen sich im Text Derridas zuweilen philosophische, literarische und psychoanalytische Bestimmungen.

In diese Opposition, gleichsam als Leerstelle, die nicht vermittelt, sondern im Modus des Aleatorischen verfährt, schiebt sich das Spiel, welches, sozusagen verborgen wirkend, dezentriert. Inspiriert ist dieses Spiel bei Derrida einerseits durch Nietzsche, auf den Derrida sich in jenem Text über den Begriff der Bejahung explizit bezieht, aber auch durch Mallarmés Gedicht „Un coup de dés …“/“Ein Würfelwurf niemals auslöschen wird den Zufall.“ Die Strategie Derridas ist es, jedes Denken von Präsenz, jede Zentrierung und Fixierung darauf hin zu lesen, wo das Zentrum überbordet, es zu überführen, indem die Lektüre zeigt, daß dieses Zentrum nicht das ist, was es zu sein vorgibt – es seines illusionären Charakters zu überführen.

„Das Spiel ist Zerreißen der Präsenz. Die Präsenz eines Elementes ist stets eine bezeichnende und stellvertretende Referenz, die in einem System von Differenzen und in der Bewegung einer Kette eingeschrieben ist. Das Spiel ist immerfort ein Spiel von Abwesenheit und Präsenz, doch will man es radikal denken, so muß es der Alternative von Präsenz und Abwesenheit vorausgehend gedacht werden. Wenn Lévy-Strauss, besser als irgendein anderer, das Spiel der Wiederholung und die Wiederholung des Spiels sichtbar werden läßt, so nimmt man bei ihm doch eine Art Ethik der Präsenz, Heimweh nach Ursprung, nach der archaischen und natürlichen Unschuld, nach einer Reinheit der Präsenz und dem Sich-selbst-Gegenwärtig-sein in der Rede wahr. (…)

Der verlorenen oder unmöglichen Präsenz des abwesenden Ursprungs zugewandt, ist diese strukturalistische Thematik der zerbrochenen Unmittelbarkeit also die traurige negative, und nostalgische, schuldige und rousseauististische Kehrseite jenes Denkens des Spiels, dessen andere Seite Nietzsches Bejahung darstellt, die fröhliche Bejahung des Spiels der Welt und der Unschuld der Zukunft, die Bejahung einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung, die einer tätigen Deutung offen ist. Diese Bejahung bestimmt demnach das Nicht-Zentrum anders denn als Verlust des Zentrums. Sie spielt, ohne sich abzusichern. Denn es gibt ein sicheres Spiel: dasjenige, das sich beschränkt auf die Substitution vorgegebener existierender und präsenter Stücke. Im absoluten Zufall liefert sich die Bejahung überdies der genetischen Unbestimmtheit aus., dem seminalen Abenteuer der Spur (l‘aventure séminale de la trace). (Derrida SuD, S. 441)

Dieses affirmative Moment findet sich – über Nietzsche – in der französischen Philosophie des sogenannten Poststrukturalismus vielfach: sei es bei Foucault („fröhlicher Positivismus“), bei Deleuze, der in seinem Nietzsche-Buch explizit gegen Hegel und die Dialektik arbeitet, bei Lyotard („Affirmative Ästhetik“) bis hin zu Derrida, der eine vorbehaltlose große, allerdings auch maliziöse Bejahung der Hegelschen Philosophie betreibt, so u.a. in seinem Text über Bataille. Diese Affirmation ist einerseits zwar als Gegenbewegung zur Dialektik bzw. zur teleologischen Konzeption Hegelscher Geschichtsphilosophie zu lesen. Aber Derrida ist reflektiert genug, dabei nicht stehenzubleiben.

Das Nietzscheianische große Lachen, assoziiert mit dem spielenden Kind des Heraklit sowie dem Dioysischen, ist zugleich eines des Schauderns, es haftet im Mythos und hat viel mit dem zu tun, was Apollon dem Marsyas antat. Derrida dürfte derjenige sein, welcher dieses so grausame Wissen am ehesten in die Reflexion nahm. Das Denken der Gewalt spielt in der Philosophie Derridas eine zentrale Rolle, freilich ohne dabei auf eine Figur wie die vom Nomos des Lagers zu rekurrieren. Der Einsatz in diesem Spiel ist hoch und freigiebig, der Ausgang offen. Diese offene Ökonomie, welche der ästhetischen Moderne geschuldet ist, steht im Gegensatz zu einer beschränkten Ökonomie, die ihren Einsatz strategisch genau plant. (Adorno und Horkheimer prägten dafür den Terminus der instrumentellen Vernunft.) Derrida stellt diese Modelle von Ökonomie – etwa im Hinblick auf Hegels Figur der Aufhebung – in seiner Bataille-Lektüre dar. Interessant wäre es, im Zusammenhang mit der Ökonomie der Gabe, die sich vorbehaltlos gibt und nichts zurückbehält, an diesen Stellen mit Baudrillards „Der symbolische Tausch und der Tod“ gegenzulesen. Aber diese Lektüre liegt zu weit zurück, um das hier leisten zu können.

II. Heideggers Moderne – Dekonstruktion

In Derridas Sicht sind die Begriffe Zentrum und Präsenz durchzustreichen, umzupolen und gegenzulesen (wofür dann der Begriff der Dekonstruktion steht), und zugleich lassen sie sich nicht ohne Umstände durchstreichen oder aufheben. Das Denken des Anderen kommt, um es analog zu Hegels Begriff des absoluten Wissens in der „Phänomenologie“ zu formulieren, nicht aus der Pistole geschossen. Von der Struktur in Derridas Text her, die dann in der Différance kulminiert, verhält es sich wie bei Heideggers durchgestrichenem Begriff vom Sein. Heidegger versucht zwar, so Derrida, in seiner Philosophie die Metaphysik und das daran gekoppelte Denken von Einheit sowie die konventionelle Vorstellung von Subjekt/Objekt zu „entwinden“. Insofern ist Heidegger – wie auch Adorno, wenngleich in einer völlig anderen Weise – bereits ein Philosoph, welcher dem Denken der „Differenz“ zuzuordnen ist. (Paradigmatisch ließen sich für die Leserinnen und Leser, welche diese Dinge auch im Rahmen der Diskussion um die Postmoderne weiterlesen möchten, hier Heideggers zwei Aufsätze aus „Identität und Differenz“ zugrunde legen. In diesem Kontext kann man das dann mit Gianni Vattimo „Das Ende der Moderne“ weiterlesen. Es findet sich bei Vattimo ein Postmoderne-Bezug, der explizit auf Nietzsche und Heidegger fußt.)

Doch auch Heideggers Metaphysikkritik bleibt im Bann des Logozentrismus stecken, so Derrida. Die „Verwindung“ der Metaphysik – als Gegenwort zur Überwindung konzipiert, das die Opposition unterlaufen soll – gestaltet sich schwierig.

„Der Logozentrismus ginge also mit der Bestimmung des Seins des Seienden als Präsenz einher. Auch im Denken Heideggers fehlt dieser Logozentrismus nicht ganz: er hält es vielleicht noch in der Epoche der Onto-Theologie, jener Philosophie der Präsenz: eben der Philosophie, gefangen. Das könnte bedeuten, daß man aus einer Epoche, deren Abschluß (clôture) umrißhaft sich bereits abzeichnen läßt, doch nicht herauszutreten vermag. Die Bewegung der Zugehörigkeit oder der Nicht-Zugehörigkeit zu einer solchen Epoche sind zu subtil, die damit verbundenen Illusionen zu verführerisch, als daß sich hier eine Entscheidung treffen ließe.“ (Derrida, Grammatologie, S. 26 f.)

Derrida betreibt hier einerseits dieselbe Bewegung, die Heidegger bereits gegenüber Nietzsches Text unternommen hat: Nietzsche Philosophie bewegt sich insofern noch innerhalb der Metaphysik, als er die Oppositionen lediglich umdreht: statt Geist(-Metaphysik) nun eine Philosophie der Leiblichkeit, die doch nur eine verdeckte Metaphysik des Körper unter umgekehrten Vorzeichen abgibt. Und auch jener „tiefste Gedanke“ der Philosophie Nietzsches (der von der ewigen Wiederkehr sowie daran gekoppelt das Konzept des Übermenschen), welchen er im „Zarathustra“ entfaltet, steckt von der Struktur und der Art des Fragens, so Heidegger, noch im Bann der Metaphysik, es ist der metaphysische Gedanke Nietzsches.

Heidegger gehört in der Lesart Derridas noch dieser Epoche zu, während Derrida andererseits im Text Nietzsches eine Struktur ausmacht, die in Zügen bereits den Gegensatz dekonstruiert bzw. subtil hintertreibt. Diese Vielfalt im Text Nietzsches, welche sich in der Vielstimmigkeit äußert und sich über über Nietzsches Stile inszeniert, entfaltet Derrida in seinem Aufsatz „Sporen. Die Stile Nietzsches“, etwa anhand der Begriffe „maskulin/feminin“, über das Spiel der Schleier, das In-Szene-Setzen der Wahrheit.

„Mit der Radikalisierung der Begriffe der Interpretation, der Perspektive, der Wertung, der Differenz … sollte Nietzsche, ohne einfach (mit Hegel und wie Heidegger es möchte) innerhalb der Metaphysik zu bleiben, entscheidend zur Befreiung des Signifikanten aus seiner Abhängigkeit, seiner Derivation gegenüber dem Logos, dem konnexen Begriff der Wahrheit oder eines wie immer verstandenen ersten Signifikats beigetragen haben.“ (Gr. S. 36)

Andererseits sieht Derrida die Grenzen und die Schwierigkeit eines solchen unmittelbaren und dadurch lediglich postulierten Überstiegs. Es gibt kein Draußen. Der Immanenzzusammenhang ist bei Derrida total. Allenfalls finden sich minimale Sprünge und die Falten, welche sich auftun und in denen textuelle Operationen, Lektüren möglich sind. Das anfangs postulierte Spiel weicht bei Derrida zunehmend der Skepsis: denn es kann in der restlosen Verausgabung alles verloren gehen. Dieses die Denkstrukturen von Philosophie und Gesellschaft konstituierende Paradigma der Einheit als Anwesenheit und erfüllte Präsenz ist nicht per ordre abzuschaffen. Insofern plädiert Derrida zunächst für eine Form von Unentscheidbarkeit und für eine gleichsam partisanenhafte Teilhabe, die subtil unterminiert. („Die Bewegung der Zugehörigkeit oder der Nicht-Zugehörigkeit zu einer solchen Epoche sind zu subtil, die damit verbundenen Illusionen zu verführerisch, als daß sich hier eine Entscheidung treffen ließe.“) Insofern ist auch für Derrida die Moderne ein unvollendetes Projekt.

Die Moderne Heideggers hingegen ist die von Adalbert Stifter, der Jargon von Feldwegen. Agrarontologie. (Freilich entbindet das nicht von seiner Philosophie. Wie ich es oft betonte: man muß Heidegger gegen Heidegger lesen, und ich hoffe, daß ich hier im Blog irgendwann zu einer Heideggerlektüre komme.)

Wogegen sich Derridas Kritik jedenfalls richtet, sind Oppositionsbildungen, welche in seiner Lesart Effekt einer bestimmten Denkstruktur, mithin Effekte dieser Metaphysik sind, und die Formen des Ausschlusses (re-)produzieren. Dem Bann ist nicht einfach zu entkommen; es bedarf der Strategien und der Praktiken. Und insofern ist der Einwand, daß es sich bei Derridas Verfahren um eine Praktik handelt, die in ihrem textuellen Vollzug an den Modus des Ästhetischen gekoppelt ist, das aber gerade in diesem Vollzug seinen Eigenwert als Ästhetisches (und in seiner Reflexionsform als Ästhetik) nicht mehr behält, sondern in den Dienst genommen wird, nicht ganz falsch. (Siehe etwa bei Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst, und Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels).

Es geschieht solcher Überstieg im Text Derridas durch die Art des Schreiben, gleichsam vermittels des Stils. Solche Umpolung der Philosophie, und wenn man will, kann man es auch Kritik der Philosophie nennen, bedeutet freilich nicht, daß diese zu einem literarischen Genre sich transformiert; vielmehr thematisiert Derrida implizit und immer wieder in neuen Anläufen die Frage nach der Grenze. „Die Postkarte“ etwa funktioniert ein wenig, wie jene Wittgensteinsche Kippfigur des Hase-Entenkopfs. In diesem ästhetischen bzw. teils literarischen Moment mag auch einer der Gründe dafür liegen, daß es bei Derrida insbesondere in jenen Texten interessant wird, wo er nicht das „Programm“ der Dekonstruktion aufzeigt, sondern wenn er etwa Nietzsche, Celan, Kant, Kafka, Marx, Freud oder Benjamin liest. Dort eben, wo das Verfahren Derridas als Text praktiziert wird und anhand eines anderen Textes sich Passagen öffnen, wo Begriffe und Figuren in Bewegung oder in eine ungewöhnliche Konstellation geraten.

„Die Dekonstruktion besteht nicht darin, von einem Begriff zu einem anderen überzugehen, sondern darin, eine begriffliche Ordnung ebenso wie die nicht-begriffliche Ordnung (Herv. v. Bersarin), an der sie sich artikuliert, umzukehren und zu verschieben.“ (Signatur Ereignis Kontext, in: Randgänge, S. 314)

Mit der Kritik des Logozentrismus, den Derrida als Metaphysik der phonetischen Schrift (bspw. der Buchstabenschrift) konzipiert, ist allerdings keine Kritik abendländischer Philosophie im Sinne von Ludwig Klages gemeint, der mit dem Begriff „logozentrisch“ eine lebensfeindliche Geistigkeit kritisiert, die „das Leben im Geiste zu binden“ versuche (zit. nach Hist. W. d. Phil., Bd. 5, Sp. 502) und die es in einem Konzept von Einheit zu überwinden gelte. Solche Ursprünglichkeiten und Einheitssubreptionen bzw. den Schein der heilen Welt kritisieren Derrida wie auch Adorno massiv. Interessant – als Nebensatz formuliert – mag dabei sein, daß sich auch Klages mit der Schrift beschäftigte, allerdings geschieht dies bei ihm in der psychologistischen Variante der Graphologie.

Sagt man Derrida zwar ein gewisses Raunen nach (wie es Habermas in „Der philosophischen Diskurs der Moderne“ formuliert), so ist dieser Modus des Schreibens aber nicht im Irrationalen oder Prärationalen gegründet wie bei Klages, sondern funktioniert als Strategie des Schreibens. Es wird bei Derrida nicht umstandslos ein Anderes als Besseres oder Rettendes supponiert, an dessen Ort es Zuflucht gäbe. Die Skepsis Derridas ist dahingehend radikal, weshalb seinen Text zuweilen ein melancholischer Ton durchzieht. Rettung und Utopie sind bei Derrida schwarz verhüllt. Und anders als bei Adorno gibt es eine Utopie womöglich nicht einmal mehr. Was bleibt sind Formen des Spiels.

Auch wenn die Waffe der Kritik, die in Derridas Text durchaus steckt, dadurch womöglich stumpf zu werden droht und man hierbei auch eine Strategie der Entschärfung sehen kann, so überzeugen mich Derridas programmatischen, generalisierenden Überlegungen, die er in der „Grammatologie“ vornimmt, eher im Hinblick auf eine ästhetische Lesart, insbesondere in bezug auf seinen Begriffes von Schrift.

Wieweit Derrida diese (Re-)Produktion des Ausschlusses ökonomisch fundiert bzw. von seiner Theorie her überhaupt fundieren kann und diese Struktur nicht nur als – sozusagen – Funktionen des Überbaus sieht, ohne dabei die materiellen Bedingungen, die Produktionsbedingungen einer Gesellschaft in den Blick zu bekommen, müßte man im Hinblick auf Derridas Begriff von Ökonomie betrachten. Derridas Begriff von Schrift macht es im Hinblick darauf selbst dem wohlwollenden Leser nicht immer ganz einfach.

„… daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei.“ ( Zur Kritik der Politischen Ökonomie, S. 8, in: MEW 13,)

Auch der Begriff der Ökonomie bei Derrida scheint mir eher am Modus des Ästhetischen orientiert zu sein und insbesondere im Zusammenhang mit Texten zu funktionieren, was jedoch nicht bedeuten muß, auf ein Zusammen- aber auch ein Gegenlesen mit dem Text von Marx, mit der Kritik der Politischer Ökonomie zu verzichten.