Zum Tod von Jean-Luc Godard. Fragment und Lust: jene Kraft der Bilder

Einer der letzten großen Pioniere des Kinos, einer jener, die man mit Fug und Recht „Avantgarde“ nennen konnte, ist nun tot: Jean-Luc Godard. Ich habe seine Filme geschätzt und geliebt, egal ob jene „Geschichte(n) des Kinos“, ob den Gangster-und-Paris-Film „Außer Atem“ mit seiner atemlosen Kameratechnik und vor allem den heiter-kritisch-tragischen Film „Masculin-Feminin. Die Kinder von Marx und Coca Cola“ – zugleich auch ein wunderbarer Parisfilm, der das Flanieren und das Hocken in herrlichen Café uns zeigte. Godard gehörte zu den Regisseuren, die meinen Kinoblick maßgeblich prägten. „Die Verachtung“ habe ich wohl an die sieben oder acht Mal bereits gesehen: Allein wie die Kamera zum Anfang des Filmes die Haut Brigitte Bardots abfährt, ist großartiges Kino: Es war im übrigen dieses Repräsentieren, bei dem der Körper in diesem seltsam-roten, flackernden Licht nie ganz und nie im ganzen nackt zu sehen war, als eine Antwort auf den Produzenten Carlos Ponti gedacht. Er stellte als Maßgabe zur Finanzierung des Films auf, daß man die Haut der Bardot sehen müsse, wenn sie schon mitspiele. Godard löste dieses Problem auf eine ästhetische stimmige, gelungene und zugleich ansprechende Weise: Zeigen, ohne zu zeigen: es war die Haut, die Bardot war nackt, aber eben alles fragmentiert. Aber der Film ist eben auch viel mehr noch als eine Liebesgeschichte, die tragisch endet. Es ist eine kleine Geschichte des Kinos, vor allem der Produktionsbedingungen. Schön vor allem, wie Fritz Lang dort das Hölderlinwort über die Abwesenheit des Gottes spricht. Und vor allem die großartige Malaparte-Villa als Blickfang. Und natürlich und auf alle Fälle dieser wunderschöne, rote Alfa Romeo: Nomen est omen. Diese Mischung aus Ästhetischem im Sinne der Schönheit und einem Ästhetischen als Selbstreflexion des Kinos begeisterten mich bereits beim ersten Sehen, als ich irgendwie noch sehr jung war.

Allein die Musik setzte erhebliche Effekte und das Spiel mit Sprachen, Blicken, Begehren, Ästhetik und Geschichtsphilosophie und vor allem das, was wir immer auch im Kino uns wünschen: Das Begehren.

„Das Kino schafft für unseren Blick eine Welt, die auf unser Begehren zugeschnitten ist. Die Verachtung ist die Geschichte dieser Welt.“ (André Bazin in: Die Verachtung, Vorspann)

Eine Würdigung, die ich vor einigen Jahren zu Godards 88. Geburtstag schrieb, habe ich hier als Hommage ein wenig umgearbeitet

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Kino – das ist die große Täuschung der Sinne, und es ist die wunderbarste Lüge, sieht man einmal von geliebten oder begehrten Objekten ab, die wir assoziativ mit Bedeutungen aufladen – wir Fetischisten wissen, wovon wir sprechen. Bilder sagen: Es ist so. Bilder zeigen, daß es nicht so ist. Film ist ein inzwischen altes, etabliertes und nach wie vor komplexes Medium der Kunst, das wesentlich dazu beitrug, unsere Sehgewohnheiten und Wahrnehmungen aufzubrechen und sie im selben Zug auch wieder zu zementieren.

Film ist ein Medium, das nicht mehr nur im Kino seinen Ort besitzt, sondern inzwischen auch auf kleinen Bildschirmen, die wir bei uns zu Hause aufstellten. Denn es spielt eine bestimmte Sorte Film das Geld nicht mehr ein, wenn sie nur im klassischen Verleih gezeigt würde. David Lynchs skizzenhaftes Material zu „Mulholland Drive“ geriet so umfangreich und ausufernd, daß es selbst eine Fernseh-Serie wie „Twin Peaks“ übersteigt: mit immerhin 30 Folgen in zwei Staffeln. Kein Produzent ist bisher bereit gewesen, ein solches Film-Vorhaben „Mulholland Drive“ zu finanzieren, weder als Serie noch als Mehrteiler im Kino. So blieb nur eine Bilderauswahl übrig, ein Bildrest, welcher 2001 in die Lichtspielhäuser kam. Kino hat seine Tücken.

Kino ist nicht Film. Im Französischen existiert neben „film“ das wunderbare Wort „cinéma“. „Ich mache keine Filme, ich mache Kino“, so sagte Godard einmal.

Die erste Filmvorführung der Welt fand bekanntlich in der Antike in einem ungastlichen Hinterhofkino statt: in Platons Höhle. So erzählt es der Mythos, so erzählt es eine Schrift zum Staats- und Gemeinschaftswesen, die sich mit der Frage nach der Gerechtigkeit befaßt. Neorealismus? Wir nehmen Schatten wahr, wir mit der Leidenschaft wollen aber zugleich bessere beseelte Bilder, die wahren, die „richtigen“ Bilder. Wir gieren nach mehr und wir glauben zugleich. Der Aufstieg ist voller Mühe. Manche wollen die gewohnten Bilder, sie halten die Schatten fürs Wesentliche. Unerkannt, unbekannt. Und dahinter ist nichts, nichts, nichts. Nichts als das ewige Feuer: „Kalt modern und teuer“, wie Tocotronic auf ihrer LP „Schall und Wahn“ dichteten. Wie die wahre Welt zu einer Fabel wurde. Manche freilich wollen ein ganz anders Bild. Das Unerhörte wagen. Westwärts zu, Worstward ho: man kann auch in die Höhe fallen. Wie Lenz im Gebirg. Wir nehmen den für diesen Weg der Reinigung mühsamen Aufstieg in Kauf. Wir existieren inmitten von Bildern, die uns umgeben, wir existieren inmitten von Deutungsanforderungen: wie ein Bild zu lesen sei. Und wir glauben es kaum, aber der Meister solcher Bildfolgen ist nun tot. Er lebt und er lebt nicht mehr.

Die Geschichte des Films ist im selben Atemzug auch die Geschichte einer bequemen Verstumpfung. Sie erzählt von den Verschattungen und sie zeichnet uns die wunderbare Überblendung der Sinne. Gerne verheddern wir uns in der zerstreuten Rezeptionshaltung und wollen zugleich die radikale Aufklärung über die Welt – in Bild-Sequenzen, die keine Worte sind, wohl aber eine eigene Sprache, in Bild-/Tonspuren als lector in fabula arbeiten wir an den Verstrickungen. Diese Aspekte laufen in dieser Geschichte des Films wie auch in der seiner Wahrnehmung in paralleler Spur. Verzauberung und Lüge. Entgrenzte, verdichtete Wahrnehmung, Zauberbilder. Im Reich der Sinne und auf dem Gebiet der Anschauungen, für die uns noch die Begriffe fehlen, um zu kartographieren, wie auch die Konfektionsware von der Stange: sie alle tummeln sich im Reich des Bildes. Es gibt Filme, die sind sowohl für die Unterhaltung, aber genauso für den Diskurs des Theoretikers geschaffen: Chaplin und Hitchcock, Griffith und de Palma gehören etwa dazu. Dann wiederum existieren Filme, die übersteigen den kontemplativen, versunkenen Blick des Zuschauers und brechen das Auratische der Unterhaltung auf, wie seinerzeit jener Schnitt durchs Auge in Buñuels/Dalis „Ein Andalusische Hund“. Zu dieser Reihe exzeptioneller Werke gehören auch die Filme Jean-Luc Godards. Und zugleich auch nicht, wie uns sein 1960 gedrehtes Manifest „À bout de souffle“ lehrt.

Godards noch vor diesem ersten veröffentlichten Spielfilm gedrehtes Werk „Der kleine Soldat“ (ebenfalls 1960) bezeichnete er im Rückblick als faschistisch. Dies mag – auch im Rahmen des Politischen –, übertrieben erscheinen, zumal der Film für keine Seite Partei nimmt. Denn die algerische FLN und die französische Armee samt ihren Geheimdiensten standen sich in ihrer Brutalität in nichts nach. Diese strukturell so ähnliche Form der Gewalt vermerkt der Film lakonisch. Die landläufige Identifikation mit den Filmhelden allerdings fällt hier schwer. Es gibt nur kalte Charaktere. Allenfalls die Anspielungen auf Kunst, wenn von dem Protagonisten Bruno die Komponisten Bach und Beethoven oder der (freilich politische) Autor Louis Aragon genannt werden, mag als Relikt des bürgerlichen Ästhetizismus durchgehen. Im Laufe der (nicht immer glücklichen und klugen) Politisierung Godards erschien ihm dies im Rückblick womöglich als Schwäche. Das Revolutionäre bleibt in diesem Film Einsprengsel; es wird im Modus des Verweisens lediglich gestreift. Etwa wenn einer der arabischen Kombattanten in zwei kurzen Einblendungen die Schriften Maos liest. Darin gerade liegt die Stärke des Films: er nimmt nicht Partei und gerät gerade durch diese Enthaltung zur Parteinahme. Revolution im Film ohne Polit-Trara. Aber die Revolution ist am Ende eine der Bilder, eine des Sehens. Und das ist gut so.

Ästhetisch setzen „Der kleine Soldat“, vor allem aber „Außer Atem“ in der Anordnung von Montage und Mise en Scène neue Maßstäbe. Und bereits in diesem frühen Werk weist der Film auf sein eigenes Medium, wenn da in „Der kleine Soldat“ vom Protagonisten Bruno der Satz folgt: „Die Fotografie, das ist die Wahrheit. Kino, das ist die Wahrheit 24 Mal in der Sekunde.“ Einschuß der Bilder. Aber ist das die Wahrheit? Oder eben doch nur eine bestimmte Perspektivierung? Oder eben das, was der Filmkritiker André Bazin im Vorspann zu „Le Mepris“ sagt? Oder wenn in „Bande à part“ aus dem Jahr 1964 die Protagonisten durch das bürgerliche Louvre-Museum, durch den großen Saal laufen: auch das ist eine Referenz aufs Medium Bild und auf einen neuen ästhetischen Umgang mit jenen klassischen und überlieferten Bildern.

Ein ganz anderer Rhythmus, ein wilder Bildsound bestimmten mit einem Male das Genre Film, obwohl diese beiden frühen Werke Godards von der Story her klassische Sujets aufgriffen. „Der kleine Soldat“ entstammt dem Genre des Agentenfilms. Was den Plot beider Filme anbelangt, ist die primäre Quelle Hollywood: der klassische, düstere Kriminalfilm, wie in „Außer Atem“ – ohne Happy End, Film noir eben, aber technisch und in ihrer Form treiben diese beiden Filme weit über Hollywoods Standardware hinaus. Insbesondere „Außer Atem“ ist zwar eine Hommage, wie ja auch Truffaut und Wenders einer bestimmten Sorte des amerikanischen Kinos ihre Aufwartung darbrachten. Noch in der Anordnung der Szenen, wenn der Protagonist in „Außer Atem“ vor einem Bogart-Plakat sich vergleicht, an seiner Zigarette ziehend, oder wenn kurz der Schriftzug eines Filmplakates von Aldrich auftaucht, der für einen Augenblick zu lesen ist: „Gefährlich leben bis zum Schluß“, was wohl gut als Motto des Films fungieren kann, dann ist solches Verweisen Anspielung und Programm dieses Filmes. (Und auch die Lichtgestalt des Film-Noir, Jean-Pierre Melville kurz spielt mit.) Und doch verläßt „Außer Atem“ vermittels seiner Konstruktion die B-Movie-Ecke der Kriminalfilme als Konfektionsniveau. Darin kein kulturindustrielles Produkt, sondern Reflexion aufs eigene Medium.

Die Schnitte in „Außer Atem“ – so der von Godard erfundene Jump Cut – und die Kameraführung sind exzeptionell: rasant, ungewöhnlich, neu. Der Blick ist irritiert. Die Geburt eines anderen Kinos (aus dem Geist des aufkeimenden Pop). Während des Dialogs zwischen Michel (Jean Paul Belmondo) und Patrica (Jean Seberg) bei einer Autofahrt durch Paris: die Kamera ist immer seitlich von schräg hinten auf den Hinterkopf Patricias gerichtet, ihr kurzes blondes Haar im Blick, während Michel nicht zu sehen ist. Godard schrieb in seinem lesenswerten Buch „Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos“:

„Ich erinnere mich noch sehr gut, wie dieser berühmte Schnitt zustande kam, der heute immer in Werbefilmen verwendet wird. Wir haben uns alle Einstellungen vorgenommen und systematisch das geschnitten, was wegkonnte, uns dabei aber bemüht, einen Rhythmus einzuhalten. Zum Beispiel gab es da eine Sequenz mit Belmondo und Seberg im Auto – das war gedreht: eine Einstellung auf ihn, eine auf sie, sie antworten einander. Als wir zu dieser Sequenz kamen, die gekürzt werden mußte wie alle anderen auch, haben wir mit der Cutterin Kopf oder Zahl gespielt. Wir haben uns gesagt: Statt ein Stückchen bei ihm und ein Stückchen bei ihr zu kürzen und lauter kurze Einstellungen von beiden zu machen, kürzen wir vier Minuten, indem wir entweder ihn oder sie ganz rausnehmen, und dann schneidern wir einfach eins ans andere, als ob es eine einzige Einstellung wäre. Dann haben wir gelost um Belmondo und Seberg, und Seberg ist dringeblieben.“

Der Einsatz des Lichts (keine Kunstlicht) und die unkonventionelle Kameraführung, die Arbeit mit einer Handkamera nehmen das Dogma-Manifest von 1995 vorweg. Straßen- und Innenszenen wurden weitgehend ohne künstliche Ausleuchtung gedreht. Bei den (wenigen) Nachtszenen wurde ein hochempfindlicher Film verwendet. Das alles hat es in Filmen, die für ein breiteres Publikum gedacht waren, in dieser Form bisher nicht gegeben.

Wie die Kamera auf die Darsteller gerichtet ist und sie in den Blick nimmt, etwa wenn Michel durch das Hotel schreitet, das ist göttlich wie die Citroën Déesse, welche in manchen Einstellungen (leider kurz nur) zu betrachten sind:

„In der D.S. Steckt der Anfang einer neuen Phänomenologie der Zusammenpassung, als ob man von einer Welt der verschweißten Elemente zu einer solchen von nebeneinandergesetzten Elementen überginge, die allein durch die Kraft ihrer wunderbaren Form zusammenhalten, was die Vorstellung von einer weniger schwierig zu beherrschenden Natur wecken soll.“ (Roland Barthes, Mythen des Alltags)

Man kann sich am Blick der Kamera nicht sattsehen. „Außer Atem“ ist in diesem Sinne ein Titel, der zugleich auf unsere Reaktion beim Mitfiebern in Bildern weist. Er nennt, wie es uns beim Zuschauen ergeht. Aber dieses neue Verfahren, Schnitt und Szenen in eine veränderte Anordnung zu bringen, reicht über das bloß subjektive Moment heraus und hat sein Motiv in der Logik der Sache. Es ist keine bloße Gangstergeschichte, der Plot ist im Grunde nur Aufhänger und Köder. Godard wird dieses Montage-Verfahren weiter ausbauen – und insbesondere in seinen späteren Filmen gesellen sich jene Texteinblendungen dazu, die wesentlicher Bestandteil des Films sind.

Godards Filme sind mehr als Filme, es sind, neben dem Erzählen und dem Technischen, gleichzeitig theoretische Essays: verfilmte Filmgeschichte, aber solche vor allem, die den Bereich der bloßen Wissenschaft verlassen. Bei Godard gelingt auf wunderbare Weise die Selbstreferenz des Mediums, ohne dabei in staubtrockene Theorie abzugleiten, Spannung bricht nicht ab. Immerzu telefoniert Michel, beständig ist er in Bewegung und in Unruhe, um an Geld zu kommen. „Außer Atem“ ist, zumindest im Ansatz, bereits ein solcher Film über das Filmen. Die dem ersten Anschein nach seichte Geschichte mag zunächst darüber hinwegtäuschen. Der Plot von „Außer Atem“ ist freilich trivial, eine B-Movie-Gangstergeschichte: die letzten Tage eines kleinen Ganoven, der einen Polizisten erschoß, werden uns gezeigt. Das Außerordentliche dieses Films, sein Spezielles in der Komposition der Bilder erschließt sich insbesondere, wenn man das Remake von 1983, mit Richard Gere und Valérie Kaprisky als Kontrastmittel schaut: „Atemlos“. Es handelt sich bei diesem Stück um filmischen Dreck, Popscheiße, die auf den Geschmack eines breiten Publikums zugeschnitten ist. Allerdings taugt dieses Machwerk unbedingt als Anschauungsmaterial, was in einem Remake alles schiefgehen kann. Weshalb es zuweilen jedoch ganz gut ist, sich einen schlechten Film anzuschauen. Das Gute tritt umso stärker in den Blick.

Zudem: wer „Außer Atem“ nur als einen Film noir wahrnimmt, übersieht Wesentliches. Der Film ist zwar einerseits kinotypische Unterhaltung, aber über den Aspekt der Form bereits viel mehr. Deutlicher noch und verdichteter geschieht diese Selbstreferenz des Mediums dann in „Die Verachtung“, welchen man als den wohl klassischsten seiner Filme bezeichnen kann. Modern und avanciert, aber in den Bildern zugleich ruhig – eine italienisch-antike Aura umgibt diesen Film: das Licht des Südens.

Allerdings ist „Außer Atem“ ebenso ein Film, der den Klang von Paris einfängt. Aber ist dieses Paris noch jenes Ort der langsam verbleichenden 30er Jahre-Moderne, welche sich residual in die 50er Jahre rettete, die Sartresche Subjektmoderne als filmischer Mythos? Oder aber handelt es sich bereits um den Rhythmus einer ganz anderen Moderne, einer des (Post-)Strukturalismus, der Dekonstruktion von Wörtern und Bildern, wo diese in Auflösung sich befinden? Musikalisch wäre hier sicherlich an den Jazz anzuknüpfen. Kein Ausgang aus der Höhle, aber eine Referenz an die Schatten, ohne dabei aber in die Ausweglosigkeit zu gleiten, daß es kein Licht, keine Sonne gäbe.

Wenn die Photographie die Wahrheit ist und wenn das Kino die Wahrheit 24 Mal in der Sekunde bedeutet, dann heißt das für unsere Epoche, daß die Wahrheit sich beschleunigte. Und wir müssen in dieser Schnelligkeit – heute bürgerte sich dafür philosophisch der Begriff der Akzeleration ein – eine neue Art des Auffassens angewöhnen. Auch im Blick auf die Flut der Bilder aus dem Internet, die kommen und schnell wieder vergehen. Bahn verschafft sich diese Wahrheit jedoch, das bleibt festzuhalten, in einem illusionären Medium. Die Wahrheit nistet sozusagen in den Falten des Scheins. Diese Wahrheit gerät in den weiteren Filmen Godards zunehmend komplexer und sie wird politischer. So in „Masculin – Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca Cola“.

Godard machte ein Kino, das manchmal aufdringlich war, wenn es sich zu sehr politisierte und doch fand Godard im Sinne Brechtscher Verfremdung zugleich die Distanz, so daß diese Bilder eine ganz eigene Sprache, eine eigene Poesie entwickelten. Auch in ihrer Härte.

Die Bilder des Krieges: Eine Ästhetik des Schreckens oder ästhetische Lust am Schrecklichen?

Eigentlich eher eine rhetorische Frage, mit der ich einen mehrteiligen Besprechungsessay zu drei Photo-Büchern einleite: Kann man Krieg in Photos verklären, und inwieweit beeinflussen Photographien unsere Sicht auf ihn, indem Zeitungen ästhetisch ansprechende Kriegsphotographien drucken statt der Schockbilder? Diesen Vorwurf macht David Shields in seinem Buch „War Is Beautiful“ der „New York Times“. Tim Parks diskutiert in der Besprechung zu Shields Buch die Frage nach dem schönen Schrecken der Bilder. Zu finden ist dieser Beitrag in der New York Review of Books.

nature-war-beautifulEine alte Frage zwar, doch stellt sie sich immer wieder neu. Nicht erst seit Susan Sontags Kritik an der Photographie oder in Baudrillards provokant zugespitzter These „The Gulf War Did Not Take Place“, die er 1991 über den Irak-Krieg sowie dessen mediale Vermittlung äußerte. Wir sehen nicht mehr das, was ist – als ob je ein Bild das präsentieren könnte  –, sondern medial Vermitteltes, und wie im Falle des Irak-Kriegs abstrakt-absurd anmutende, zugeschlierte  Fernsehbilder: Grüngetönte, mit Nachtsichtgeräten aufgenommen Filmszenen, die angeblich zielgenaue Einschläge von Marschflugkörpern zeigen, Photos wie in einem B-Movie-Science-Fiction oder in einem aufgemotzten, frühen Konsolenspiel. Ohne Opfer, lediglich beschädigte Gebäude und Panzer. Von den Militärs und nicht von unabhängigen Kriegsreportern gelieferte Photos. Krieg kommt plötzlich als Präzisionsarbeit daher; Kriegsbilder passieren, wie schon im Zweiten Weltkrieg die Raster der Zensur, unterliegen einer Auswahl. Schön, schockierend, aufregend im Sinne einer Empörung oder einer Art visuellen Erklärung, geschweige denn irgendwie informativ waren diese Photographien aus dem Irak nicht. Es gab keine Opfer, es gab keinen Gegner. Die Photographien wirkten kalt, leblos, technisch.

Anders als die Bilder aus Vietnam, die gerade weil sich Kriegsphotographen relativ frei bewegen konnten, perverserweise eine ungeheure Dynamik und damit zuweilen sogar Schönheit besaßen. Genau das ästhetische Moment im Photo, was Roland Barthes in seinem Text „Schockphotos“ an solchen dann noch in Galerien zur Schau gestellten Bildern monierte und was in anderer Weise Susan Sontag in ihrem Buch „Über Photographie“ ebenfalls in die Kritik nahm. Der Vietnam-Krieg war einer der letzten großen, medial ausgetragenen Konflikte, der in Sachen Bildreportage einiges zuließ, das heute unmöglich durchführbar ist. Natürlich waren auch diese Kriegsreporter innerhalb der US-Army eingebettet und auf deren Schutz angewiesen. Aber das Feld schien offener, es gab mehr Kniffe und Tricks. Anders als drei Jahrzehnte später dann in Afghanistan oder dem Irak.

U.S. President George W. Bush carries a platter of turkey and fixings as he visits U.S. troops for Thanksgiving at Baghdad International Airport, November 27, 2003. Bush secretly traveled to Baghdad and paid the surprise Thanksgiving Day visit in a bold mission to boost the morale of forces in Iraq amid mounting casualties. REUTERS/Anja Niedringhaus, Pool EL NIE/SV

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Niedringhaus, Pool
EL NIE/SV

Was zeigen uns die Zeitungen und  die Fernsehbilder vom Krieg? Was dürfen sie drucken und was nicht? In die Tageszeitungen gehören die ungeschminkten, ungeschönten Bilder hinein, nicht die unmittelbar ansprechenden, weil es um die harten Fakten geht. Dennoch besitzen auch solche eher verklärenden oder ansprechenden Photographien ihren Reiz, dienen der Information und müssen gezeigt werden. Aufgrund des Kontrafaktischen, weil sich in diesen Bildern ein Widersinn manifestiert und sogar multipliziert. Schönheit inmitten des Grausamen. Programm jeder Ästhetik. (Im zweiten Teil dieses Essays, wenn ich über Anja Niedringhausʼ Bildband „At War“ schreibe, komme ich auf den Aspekt der Schönheit im Schrecken zurück.) Wir müssen insbesondere solche Photographien zu lesen und zu betrachten lernen, die ikonographischen Charakter haben. Etwa das Bild aus dem Irakkrieg, wo George W. Bush 2003 zum Thanksgiving den Soldaten einen Truthahn mit Früchten serviert. Inszenierte Spontaneität. Das Obst jedoch ist aus Plastik, das Tablett scheint sich unter der Last zu biegen, doch der Vogel ist nicht echt und kaum zum Verzehr bestimmt. Ein bukolisches Idyll, eine symbolische Szene. Anders verhält es sich mit den Photographien, die Grausames zeigen und dennoch ihren Reiz entfalten. Trümmerlandschaften, die wie hergerichtet wirken. Tote, die fast friedlich und wie dahingestreckt schlafend auf einem Feld zu ruhen scheinen. Wir aber wissen: Diese Männer sind tot.

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Bilder von roher Gewalt, vom Schreckliche, vom Terror gibt es nicht erst, seit die Photographie zum Medium tagesaktueller Berichte wurde. Immer schon delektierten Menschen sich an Exzeß-Szenen im Modus des Ästhetischen, oder aber sie flößten ihnen unbändigen Schrecken ein, indem diese Darstellungen die Höllenszenarien und Verdammungen vor Augen führten, die ihrer sündigen Existenz harrten. In der bildenden Kunst hatte das Grausame früh seinen Ort. Ob bei Hieronymus Boschs Höllen- und Lustfahrten, die eher dem Bestiarium entsprangen, oder in der Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars, die uns einen leidenden, am Kreuz verwesenden grüngelben Leib zeigt. Blut strömt aus der klaffenden Wunden, Fleisch ist zerrissen, der Körper ausgemergelt, mehr tot bereits als lebend. (Wobei sich dieser Altar keineswegs in einer Ästhetik des Schreckens erschöpft. Die verschiedenen Öffnungsszenen des Objekts zu den unterschiedlichen Anlässen des Kirchenjahres weisen darüber hinaus.)

Aber nicht nur in den metaphysischen und theologischen Leiddarstellungen stoßen wir auf den Schrecken. Sondern ebenso in den profanen Bildnissen begegnen wir ihm, wenn im Sinne des Realismus und als Appell ans Humane das Grauen des Krieges dokumentarisch ins Bild gebracht wurde. Drastisch in  Jacques Callots „Les misères de la guerre“ und  in Goyas „Desastres de la Guerra“. Doch spiegelt Kunst – sei sie auch dokumentierend – eine Realität wider? Das tut sie nicht einmal in ihren realistischen Varianten; noch der Realismus der bildenden Kunst ist – trivialerweise – nicht realistisch. Bilder repräsentieren nur bedingt. (Ich will die die Strategien der Repräsentation jedoch nicht umfassend in die Kritik nehmen, wie es in der Logik mancher Postmoderner der Fall ist. Es geht mir lediglich um einige einschränkende Bedingungen.) Den äußeren Bildern entsprechen innere. Bilder spiegeln unsere Sicht auf Realität, aber nicht diese selbst. Bilder und die Kunst überhaupt stellen eine Welt eigener Art ins Werk, darin liegt die Wahrheit der Kunst gegründet, die sich nicht bloß auf den Modus ästhetischer Erfahrung reduzieren läßt, und es zeigen uns jene Bilder Weisen der Wahrnehmung, die mit ästhetischer Wahrheit korrespondieren. Kunst weiß etwas, das wir noch nicht wissen – zumindest nicht diskursiv. Dieses Spiel zwischen Diskursivem und Deiktischem, zwischen Wissen und Entzug macht, insbesondere im Sinne Adornos, den Rätselcharakter des Kunstwerks aus.

Medusa

Diese Logik kompositorischer Verdichtung und Transformation des Dokumentarischen ist deutlich etwa an Théodore Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa“ zu sehen, wo ein historisches Ereignis dramatisch und dramaturgisch in einer einzigen Szene derart aufgeladen wurde, daß es auf dem Pariser Salon von 1819 einen Skandal hervorrief. Nicht mehr Könige und Helden zu Pferde, Nymphen und Götter, historische Schlachten (nun gut,  die Franzosen hatten gerade einige entscheidende verloren) oder Einschiffungen nach Kythera und galante Feste bildeten das Sujet. Sondern die Leiderfahrung derer ohne Namen und göttlichen Stammbaum. Geblieben ist lediglich der Name und der Schrecken der Medusa. Insofern kann man in diesem Kontext gut davon schreiben, daß Nomen eben Omen sei. Nämlich die gescheiterte Rettung Schiffbrüchiger von der 1816 im Atlantik gesunkenen französischen Fregatte „Méduse“. Vor der Küste Westafrikas spielte sich dank eines, so steht zu vermuten, inkompetenten Kapitäns ein Seefahrtsdrama ab. Die „Méduse“ lief auf ein Riff, an ein Freikommen war nicht zu denken. Da die Rettungsboote nicht ausreichten, baute man aus den Schiffsteilen ein großes Floß. Das weiße Personal, Handwerker, Offiziere retteten sich in die Beiboote. Für die übrigen, solche, die wir heute Underdogs nennen, blieb das karge Gefährt übrig. Söldner des afrikanischen Korps, Exhäftlinge, Nicht-Europäer; die einzige Frau dort war eine Marketenderin. Das Floß wurde an eines der Rettungsboote vertaut. Doch die im Boot kappten das Seil schließlich, so daß die Ansammlung aus Holz und Mensch ohne Steuerung über den Atlantik trieb. 147 Seelen auf engstem Raum. Die, die am Rande kauerten, mußten damit rechnen ins Meer gespült zu werden. Ein schrecklicher Überlebenskampf. Vor Hunger verspeisten sich die Schiffbrüchigen gegenseitig – der in solchen Fällen übliche Kanibalismus. Überlebenstrieb. Man erschoß 65 der Passagiere, warf Schwache ins Meer. 15 Menschen überlebten die Floßfahrt.

Als in Paris das Publikum dieses Gemälde sah, war es empört. Doch nicht die Bilder sind der Skandal, sondern das, was ihnen zugrunde liegt. Das Reale, die Geschichte, die Wirklichkeit. Das sich Entziehende, Unabbildbare.

Die Condition humaine erweist sich in den Krisen als fragil, und der Lack der Zivilisation ist ausgesprochen dünn aufgetragen. (Freud machte sich in diesen Dingen keine Illusion. Das Unbehagen an der Kultur ist zugleich das an der menschlichen Unkultur.)  In diesen Bildern des Grauens und in manchem radierten oder in Malerei ausgefahrenen „Dokument“ finden wir das, was sich mit dem Titel „Die Erschütterung der Sinne“ bezeichnen läßt, wie 2013 eine Ausstellung im Dresdener Albertinum benannt war.

Doch dieser Erschütterung unserer Wahrnehmung – sofern sie im musealen Kontext überhaupt noch möglich ist und nicht zur Behaglichkeit regredierte – wohnt zugleich jener feine ästhetizistische Lustreiz und Kitzel inne: der delightfull horror. Zumindest solange wir ins Grauen nicht involviert sind und die Möglichkeiten zu einer rein ästhetischen Haltung entwickeln, die wie beim Lukrezschen und Kantischen Konzept des Erhabenen auf einem Abstand beruht. Interessant scheint mir dieser gleitende Blick insbesondere bei der Ausstellung „Kunst aus dem Holocaust“ im Deutschen Historischen Museum. Zu sehen sind dort Grafiken, die im Geheimen von Häftlingen aus verschiedenen KZs, Arbeitslagern und Ghettos gezeichnet wurden. Scheint es nicht vermessen, diese Zeichnungen mit dem Auge des Kunstkritikers zu betrachte und nach den Regeln aZeigen, wie es war. Mit dem Kunsthistoriker Didi-Huberman geschrieben: „Bilder trotz allem“.

Oder es leisten im Feld des Abbildrealismus Kriegsphotographien den Schock- und Schönheitsmoment. Diese Art von Photographien gibt es in verschiedenen Varianten. Seien es Photos, die einen verklärten Abdruck liefern und Kriegsszenen idealisieren, wie wir sie häufig in Zeitungen und im Fernsehen vorgesetzt bekommen, was David Shields kritisierte. Bis hin zu Extrem und Drastik: Leichen und separierte Körperteile, Sterbende, auf einem Not-OP-Tisch Verblutende. Zerfetzte wie der Leib Christi am Kreuz, nur nicht gemalt, sondern hart am Limit photographierte Szenen wie wir sie in Christoph Bangerts „War Porn“ oder in Stanley Greenes „Black Passport“ uns betrachten können.

In den nächsten Teilen schreibe ich über Anja Niedringhausʼ „At War“ sowie über die Bücher von Bangert und Greene.

Copyrightnachweise
Bild 1 entnommen von The New York Review of Books:
»Ozier Muhammad/Redux
A US marine convey, north of the Euphrates, Iraq; photograph published in The New York Times on March 26, 2003, and included in War is Beautiful«
Bild 2: Reuters/Niedringhaus, aus: SpOn.
Bild 3: Bersarin, 2011, im Musée d’Unterlinden, Colmar
Bild 3: CC-Lizenz, Wikipedia.

Von Ferch nach Caputh. Oder Szenen vom Nichts und vom Wesen einer kommenden Photographie: Touring on destruction

„Nach meiner Ansicht kann man nicht behaupten,
etwas gesehen zu haben, bevor man es fotografiert hat.“
(Émile Zola. Ich gehöre durchaus zu denen, die, wenn sie
von anderen klauen oder abschreiben, was in der Blogosphäre
mehr als beliebt ist, wenigstens die Herkunft angeben: dieses
Zitat also fand ich bei der geschätzten Bloggerin Irisnebel.)

 

Landschaftsszenen

Daß die Dinge oder die Natur irgendwo einen Platz behielten, ist ein Irrtum. Die Archive des Erinnerns sind begrenzt. Die der Bilder jedoch sind unzählbar und verfließen in ihrer Ubiquität zum weißen Rauschen. Es gibt ein unwiederbringliches Verschwinden. Radikale Auslöschung. Den Archiven verfallen, um endloses Bildmaterial zu erzeugen, zu formen, zu konstruieren? Für andere, für eine mögliche Nachwelt. Für niemanden. „Nirgends eine Spur des Lebens sagt ihr, hm, daran soll’s nicht liegen, noch nicht ausgeträumt, doch gut, ausgeträumt träumen.“ (Samuel Beckett)

Ich möchte im Feld der Photographie einen darkroom erzeugen, Bilder ohne Rahmen, ohne Referenz, ohne Kontur, Ortsnamen, die als Eigennamen sich tilgen, spurlos, oder einfache Spiegelungen dessen, was sowieso ist, wie jene Szene in dem Wald, dessen lokale Lage ich wieder vergessen habe, wenn im Glas als Bild das Laub sich spiegelt, in seinem Grün, die Äste, aber doch alles in den Farben verblassend und so nur noch als Abglanz der Dinge gewirkt. Das Laub und das gespiegelte Laub und jenes Laub, das im Fluß der Zeit von September nach Oktober hin inzwischen verfärbt ist. Nicht die Dinge, die bleiben, sondern die Bilder von den Dingen zum Fetisch machen. Der Fetisch ist als Bedeutungssystem gegliedert. Zurück also in die Höhle Platons. Schatten und Kino. Photographie, vierundzwanzigmal in der Sekunde. Ja, Kino ist das Phänomen der rasanten Bilder, Akzelerationen, die im Ineinanderfließen der vereinzelten Bilder eine Geschichte erzeugen – die platonische Höhle ist ein Cinema. Adorno sah jene septième art sehr viel kritischer als alle andere Kunst. Aus jedem Kinobesuch komme man dümmer heraus, schrieb er in den Minima Moralia. Im Kontext, in dem Adorno vom autonomen Kunstwerk dachte, ist das richtig; nimmt man jedoch den Film – wie auch die Photographie, für die Adorno ebenfalls nicht viel übrig hatte – umfassender, dann trifft dieser Satz nur begrenzt zu. [Man könnte auch schreiben, Adorno verstand nicht viel vom Film, oder er war durch die Filmtheorie Kracauers präformiert.]

Nein, es geht mir nicht um die Natur, die sich ohne Menschen, ohne den Blick des Menschen ihren Platz schafft. Sondern ich möchte, daß auch die Natur verschwindet. Und ich möchte dabei zusehen dürfen. Als einziger. Welt ohne Welt, ohne Dinge, ohne Menschen. Daß ich den Film „Melancholia“ als Wunschprophetie mir beschaute und jede Szene in mich aufsog, brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen. (Der Film ist bedeutungsmäßig überdeterminiert und bricht gerade in dieser Struktur den Horizont jeglicher Konnotation.) Daß den meisten weder der Film noch dessen Intention gefiel, leuchtet mir zwar ein, bleibt mir jedoch im Gesamt unverständlich. Ich habe jede Szene dieses Films begriffen. Lars von Trier ist in allen seinen Filmen (insbesondere den letzten) visionär veranlagt. Protokolle vom Verschwinden wären anzufertigen. Fragt sich am Ende nur für wen. Vielleicht für Prosperos Bücher, darin die Szenen der Welt eintragen sind. (Von wem?) Für Nichts. Fürs nächste Mal, für den nächsten Versuch, sofern die Evolution so gnädig ist, das gleiche Spiel noch einmal hervorzubringen und den Neuen einen Blick in die Archive erlaubt.

Notizen sozusagen, für eine Theorie der ästhetischen Einbildungskraft und für meine Theorie vom Verschwinden der Welt und des Menschen. Szenen vom Nichts. Beckett, nur ohne den Humor Becketts. So etwas in der Art schwebt mir vor. Dazu, denke ich mir, muß man an die schönen Orte der Welt reisen, um sie zu entstellen. Gleichsam als destruktiver Charakter. Die ist das Wesen der Photographie als Protokollsatz, ihre Welthaltigkeit. Entstellungen und mit dem geschärften japanischen Messer die Schnitte durchs Fleisch legen.

 

Photographien vom Krieg. Drei Ausstellungen zu Krieg und Frieden in Dresden (1). Robert Capa im Kupferstichkabinett

„Die Fotografie, das ist die Wahrheit. Kino,
das ist die Wahrheit 24 Mal in der Sekunde.“
(Jean-Luc Godard, in: „Der kleine Soldat“)

Es ist die unaufhebbare Paradoxie des Krieges: Wenn der Krieg nicht zu uns kommt, bleibt er unserem Erfahrungsraum schlicht entzogen. Keine Vorstellung ragt heran, keine Schilderung kann das Grauen anschaulich zu machen. Es reichen nicht einmal die Überlieferungen aus unseren Familien, um zu verdeutlichen, was Krieg ist – sofern es diese Geschichten denn überhaupt gab und nicht geflissentlich oder aus blanker Not und Angst heraus geschwiegen wurde. (Diese Fragen enthielten zudem Aspekte, wo man mit einer Kritik des neuen Romans von Ralf Rothmann nachhebeln könnte.) So setzten sich die Traumata des Krieges bis in die zweite und dritte Generation fort. Auf eine viel schlimmere Weise noch geschah dieses Fortschreiben der Traumata über die Generationen bei denen, die den Vernichtungslagern entkamen. Und geschieht es noch, in vielen Regionen dieser Erde. Und insbesondere in Israel werden diese Traumatisierungen noch lange Thema bleiben und das kollektive Gedächtnis wie auch die Fragen nach der (individuellen, kulturellen wie auch der politischen) Identität prägen.

Kriegsphotographien liefern, so sagt man, Dokumente von den Kriegen. Aber was eigentlich sind Kriegsphotographien genau, wie sind sie strukturell beschaffen? Vor allem aber: Was zeigen sie uns? Was macht ein Kriegsphoto aus? Sind es die Bilder der legendären Photo-Reporter, abgedruckt in Magazinen wie „Life“, die ins kulturelle Gedächtnis sich uns einbrannten? Einerseits ja, es gibt dieses kollektive Photogedächtnis des „spektakulären“ Bildes, das sich einprägt und zur Ikone steigert. (So verkehrt sich ein Effekt fast in sein Gegenteil.) Andererseits läßt sich jedoch ebenso eine Sicht erzeugen, die aus einem photographieästhetischen und konzeptionellen Moment sich speist. Diesen Aspekt von Zeit und Bild behandelt die klug konzipierte Ausstellung „Conflict, Time, Photography“, die bis zum 26.10 im Dresdener Albertinum zu sehen ist. (Ich schreibe darüber in einem zweiten Teil.) Während uns das Kupferstichkabinett in Dresden die dokumentarischen Kriegsphotographien von Robert Capa liefert. Dort sind Aufnahmen zu sehen, die er zwischen 1943 und 1945 schoß, zeitlich gegliedert von der Landung der Alliierten auf Sizilien, der Befreiung Italiens, insbesondere die grausame Schlacht um Monte Casino, der Landung in der Normandie bis hin zum Marsch aufs Deutsche Reich. Darunter die zu Ikonen geworden Photos von der Landung in der Normandie: verschlierte, unscharfe, grobkörnige Bilder.

15_09_28_NormandieDie Geschichte dieser Photos ist bekannt: Capa landete mit der ersten Welle am Omaha Beach. Die Filme wurden im Schnelltransport nach London zum Entwickeln gebracht, und wie es im Leben manchmal geht, wenn es auf etwas ankommt, versaute diese Filme irgendwer, so daß nur ein Bruchteil des Materials übrigblieb. Diese Nachlässigkeit freilich erwies sich photographieästhetisch als das große Glück für das Nachleben dieser Bilder, denn so kam eine Unschärfe hinein, die die Dynamik und den Schrecken dieser Szenen deutlich angemessener zu spiegeln schien als die bloße realistische, glatte und scharfe Abbildung. (Zu diesen Photos schrieb auch Helmut Lethen in seinem Buch „Der Schatten des Fotografen“, ich besprach das Buch an dieser Stelle.)

Das Grauen, der Kampf, Geschosse, Granaten und der Höllenlärm, die sich in diesen Bildern ästhetisch verdichten, verdeutlichen sich jedoch zugleich über das einzelne Bild hinaus im Seriellen, wenn man sich insbesondere die übrigen Photographien der alliierten Invasion anschaut, wo die Soldaten beengt in den Landungsbooten kauern, die an die Strände herangeschwemmt werden und dann unter den Beschuß geraten, wie die Truppen gelandet sind, wie im Meeressand die überspülte Leiche liegt, die Leichensäcke auf den Landungsbooten. Leider werden im Kupferstichkabinett nur wenige dieser Bilder von der Invasion präsentiert. Gerade hier und im Zusammenhang mit der ikonographischen Situation dieser vier verwischten unscharfen Photographien, wäre eine ausführlichere Konzeption angemessen gewesen, die das Additive einer Bildstrecke mit dem Moment des ästhetischen Verdichtens konfrontiert. Ich will da nicht (sagt man im Journalismus je ‚Ich‘?) kleinlich oder museumspädagogisch konfrontativ daherkommen. Aber hier vergaben sich die Ausstellungsmacher eine große Chance, über das rein dokumentarische Moment hinauszugelangen und das in Szene zu setzen, was ich in Abwandlung von Didi-Hubermans Buch das „Nachbeben der Bilder“ nannte. (Für eine intensivere Lektüre zu der Rolle der Bilder im Krieg, sei auf W.J.T. Mitchells Bücher und insbesondere „Das Klonen und der Terror“ verwiesen. )

befa07bfc8Zumindest aber weist die Ausstellung auf das Prinzip „Zeitschrift“ hin – neben Photoausstellungen das Medium des Seriellen schlechthin und neben den Wochenschauen und dem Radio das Medium der Moderne, um von weit entfernten Schauplätzen die Nachrichten und, was für das Publikum noch wichtiger war, die Bilder ins Haus zu bekommen. Für jene Tageszeitungen und Magazine arbeiteten diese Reporter, worin ganze Serien von Kriegsphotos gezeigt wurden. Maßgeblich war hier das Magazin „Life“. Um solche Bilder von den Kriegsschauplätzen möglichst rasch zu übermitteln, war Nachrichtentechnik vonnöten. Es reichte nicht mehr aus, die Filme zu entwickeln und in die USA zu fliegen, wenn am nächsten oder noch am selben Tag Bilder in Zeitungen gedruckt werden sollten. Über sogenannte „wire prints“, also eine Art Faxübertragung von Photographien, konnten die Bilder tagesaktuell in den Zeitungen gedruckt werden. Der Preis war freilich eine schlechte Qualität der Abbildungen. Auch solche von einer Art Telefax reproduzierten Bilder können wir in der Ausstellung sehen. Doch was am Ende in den Magazinen gedruckt werden durfte, unterlag rigiden Einschränkungen. Das in den USA extra eingerichtete „Office of Censorship“ entschied, je nach Lager der Politik, streng über die Abbildungen. Insbesondere Überschrift und Bildlegende, die bestimmte Haltungen in der Bevölkerung erzeugen sollten, unterlagen der Kontrolle. Ziel war es zunächst, möglichst wenig Tote zu zeigen, um die Stimmung nicht umkippen  zu lassen.

Bilder vom Krieg sind also – trivialerweise – bereits auf der rein dokumentarischen Ebene keine objektiven Bilder vom Krieg, die es sowieso nicht gibt, sondern sie werden uns aus bestimmten Positionen und Perspektiven heraus ausgewählt und präsentiert. Ob diese Sortierung nun im Zweiten Weltkrieg die Zensurbehörden unternahmen oder aber heute der Embedded Journalist, der nicht nach gutdünken photographieren wird können, zumal er auf den Schutz der Truppe angewiesen ist, was zu einem Solidaritätseffekt führen mag. Wer also umfassend in die Thematik der Kriegsphotographie einsteigen will, muß ganze Archive sichten und durchkämmen, muß an das nicht freigegebene, nicht autorisierte Filmmaterial der Photographen gelangen. Manchmal trifft man dabei auf jene grauenvollen Zufallsfunde, die das Banale und das blanke Entsetzen des Krieges in einem einzigen Album und in absurdem Nebeneinander bereithalten: Großvaters Familienbuch von der Front und „ganz normale Männer“, die in Polen und der UdSSR Leichen häuften und fabrizierten. Aber ebenso jener von Capa photographierte Soldat, der erschossen auf einem Balkon im Leipzig liegt, aus dessen Kopf in schwarz-weiß das Blut drängt. Wenige Sekunde zuvor lebte der Mensch noch. Es ist dies das Zeitmoment der Photographie, wie es ebenfalls in einem anderen Bild von Capa anschaulich wird: Der Augenblick davor, als da noch Leben war und der Mann, den Capa im Bild festhielt, den Patronengurt ins MG nachschob – diese letzte Sekunde des Lebens, wie wir sie kürzlich ebenso im Fernsehen betrachten konnten, als eine Reporterin und ihr Kameramann bei einem  US-Sender vor laufender Kamera erschossen wurden. Die einzige und die letzte Sekunde eines Lebens, wo die Kugel eines deutschen Heckenschützen in den Kopf des Soldaten eintrat, und jenes danach, das nur noch uns Betrachter einer Photographie kennt und Raum gewährt.

capa_big_pic1Das Grauen trägt viele Gesichter. Darstellbar ist es jeweils nur vermittelt und als Konstruktion unter unseren Blicken. Das Medium Photographie ist der Ausdruck von Zeit in ihrem Stillstand. Zeit, die zur Wahrheit gerinnt. Wahrheit wiederum, die sich in der Zeit entfaltet und changiert. Wie etwa jene Capa-Photographie des sterbenden Soldaten während des Spanischen Bürgerkriegs, fallend, erschossen, im Augenblick seines Todes, jene Lichtblitzsekunde: während der Körper nach hinten fällt, hält dies die Photographie fest, ein Bild jedoch, das sich (vermutlich) als inszeniert erwies. [Wäre die Wirkung die gleiche, wenn es sich bei dem Soldaten um einen Franquisten handelte?] Ist die inszenierte Gewalt ebenfalls Gewalt und von derselben Qualität, wie das, was eine Photographie im Augenblick des Todes objektiv und ohne Inszenierung bannt? Weil sich auch in diesen nachgestellten Bildern Gewalt nur auf der Ebene der Metaphorizität entfalten kann, und zugleich als eine Repräsentation ohne Referent erweist, sofern es um das abstrakte Prinzip der Gewalt als Gewalt geht. (Jenes nackte Leben.) Andererseits ist auch der Schauspieler im Theater im Akt des Spiels Julius Cäsar oder Wallenstein. (Damit wären wir bei den Photographien von Jeff Wall, der mit genau diesen Aspekten von Wirklichkeiten des Bildes, Referenz und Inszenierung spielt.)

Doch besitzt nicht ebenso der Zufall jene für die Photographie notwendige inszenatorische Qualität? Die Photographien Capas dokumentieren dieses Grauen von Krieg in einer narrativen, manchmal freilich unidirektionalen Weise. Insofern ist es richtig, daß sich diese Ausstellung nicht auf das gesamte Werk kaprizierte, sondern eine Auswahl traf. Capas Sicht auf den Zweiten Weltkrieg. Meister einer zugleich schrecklichen Bildästhetik. Das wirft Fragen nach dem Status von Begriffen wie Anschaulichkeit auf und was es bedeutet, das Leiden anderer zu betrachten, um es im Anklang an Sontag zu schreiben. Dazu mehr im zweiten Teil. Wie und auf welche Weise wir Krieg abbilden können.

„Das Leiden anderer betrachten“ – Die toten Kinder am Strand

Gestern zeigte ich auf diesem Blog jene fünf Photographien von den toten, an Land gespülten Kindern. Ich habe über diese Bilder nachgedacht, ich schaute mir diese Photographien lange an, über Stunden, immer wieder betrachtete ich sie. Ich wollte nachvollziehen, ab wann der Punkt erreicht ist, wo ich abstumpfe oder aber ab wann ich anfange, diese Photographien in eine Art theoretische Referenz zu versetzen. (Das geschieht bei mir freilich sehr schnell. Ich versetze eigentlich alles, was ich sehe unmittelbar in eine theoretische Referenz: Menschen, Objekte, Szenen, Bilder.) Was sehe ich in den Gesichtern der Kinder? Je länger ich sie mir anschaue. (Ich will es gestehen, es klingt hart und harsch: aber ich sehe darin gar nichts, nichts als den Tod! Das Leben der Geschöpfe ist entwichen.) Indem wir von der Indexikalität einer Photographie sprechen, vom Realen und vom Referenten, distanzieren wir. Selbst wenn wir Begriffe wie „grauenhaft“ oder „entsetzlich“ attribuieren, liegt darin bereits ein Akt der Distanz und der Kompensation. Oder aber, wenn wir diese Photographien plötzlich in Kontexte bringen, sie ästhetisieren, zwar mit Drastik, aber eben doch eine andere Ebene über die Bilder legen.

Wer ist eigentlich dieses „wir“, das mit solchen  Photographien Umgang pflegt? Susan Sontag schreibt in ihrem Essay „Das Leiden anderer betrachten“:

„Wo es um das Betrachten des Leidens anderer geht, sollte man kein ‚Wir‘ als selbstverständlich voraussetzen.“

Sontag verweist bei solchen Photographien auf den jeweils möglichen und auch notwendigen Perspektivenwechsel, auf die Relativität und Relationalität der Photographie und macht diese Bezüglichkeit etwa am Nahostkonflikt deutlich, wenn in den Medien Bilder von einem israelischen Kind, das bei einem Selbstmordanschlag zerfetzt wurde, gezeigt werden und wenn Bilder von einem palästinensischen Kind gezeigt werden, das von einer Panzergranate zerfetzt wurde. „Für den Kämpfenden ist Identität alles. Und jedes Foto wartet auf eine Bildlegende, die es erklärt – oder fälscht.“

Interessante Frage – sowieso: Was, wenn es sich bei den Photographie der toten Kinder am Strand um manipulierte Bilder handelte? Digitale Manipulation. Aber wären diese Photographien nicht dennoch genauso wahr? Sie zeigen im Falle solcher Manipulation oder als digitales Compositing zwar etwas, das nicht stimmt und das es so in der Welt nicht gab. Dennoch verweisen sie auf Szenen, die es eben doch „gibt“, die so oder in anderen Weisen stattfinden, jedoch für unsere Augen, weitab vom Geschehen und den  Katastrophenorten, unsichtbar.

Retten lassen sich solche „Fälschungen“ freilich nur, wenn wir sie als solche lesen können und die Bilder in den Status eines Kunstwerkes und nicht in den des photographischen Dokuments erheben. Das Grauen fand in der Kunst früh schon seinen Ort. Wo es im Sinne des Realismus darum ging, die Schrecken des Krieges zu zeigen, geschah dies am drastischsten  wohl in Jacques Callots „Les misères de la guerre“, worin er die Schrecken des 30-jährigen Krieges ins Material ätzte, sowie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Goyas „Desastres de la Guerra“. (Wobei der Begriff des Realismus in der Kunst hochgradig aufgeladen wie auch mißverständlich ist – als spiegele Kunst eine Realität wider. Was so nicht stimmt. Sie spiegelt lediglich unsere Sicht auf die Realität.) In solchen Bildern des Grauens finden wir das, was sich mit dem Titel „Die Erschütterung der Sinne“ bezeichnen läßt, wie 2013 eine Ausstellung in Dresden benannt war.

Von einem „Wir“ läßt sich also in bezug auf Photographien nicht umstandslos sprechen. Nicht einmal bei den toten Kindern.

„Die unzähligen Gelegenheiten, bei denen man heute das Leiden anderer Menschen – aus der Distanz durch das Medium der Fotografie – betrachten kann, lassen sich auf vielerlei Weise nutzen. Fotos von einer Greueltat können gegensätzliche Reaktionen hervorrufen. Den Ruf nach Frieden. Den Schrei nach Rache. Oder einfach das dumpfe, ständig mit neuen fotografischen Informationen versorgte Bewußtsein, daß immer wieder Schreckliches geschieht.“ (S. Sontag, Das Leiden anderer betrachten)

Ich mußte bei den Bildern der Kinder zugleich an den Photographen Oliviero Toscani denken, der in den 90er Jahren mit drastischen Photographien die Benetton-Werbung auf die Plakate brachte. Bilder von Flüchtlingen, von Kandidaten, die in US-Todeszellen auf ihre Hinrichtung wartete, ein Aidskranker im Sterben, blutgetränkte Kleidung eines Soldaten, der vermutlich erschossen wurde, eine Armeehose und ein blutiges T-Shirt sind zu sehen – dazu immer wieder der Schriftzug „United Colores of Benetton “. Sicherlich – der Unterschied zwischen diesen Photographien und denen von Toscani liegt darin, daß sie für kein Produkt werben. Dennoch: die Drastik ähnelt sich in beiden Fällen. Und durch diese Drastik entsteht in uns etwas. Womöglich sogar eine Parteinahme. (Wobei ich auch hierin das Problematische, das in solchem Verhalten liegt, nicht verschweigen möchte. Vor allem deshalb problematisch, weil sich die Parteinahme ebenfalls für gegenteilige Reaktionen mobilisieren läßt und ihr die Bestimmungen des Denkens ermangeln.)

Im Blick auf eine (künstlerische) Photoarbeit bzw. eine abphotographierte Installation von Jeff Walls mit dem Titel „Dead Troops Talk (A vision after an ambush of a Red Army patrol, near Moqor, Afghanistan, winter 1986)“, das ein Kriegsszenario aus dem Afghanistan-Krieg zeigt, schreibt Sontag:

„Diese Toten interessieren sich nicht im geringsten für die Lebenden: nicht für diejenigen, die ihnen ihr Leben nahmen; nicht für Berichterstatter – und nicht für uns. Warum sollten sie unseren Blick suchen? Was hätten sie uns zu sagen? ‚Wir‘ – zu diesem ‚Wir‘ gehört jeder, der nie etwas von dem erlebt hat, was sie durchgemacht haben – verstehen sie nicht. Wir begreifen nicht. Wir können uns einfach nicht vorstellen, wie das war. Wir können uns nicht vorstellen, wie furchtbar, wie erschreckend der Krieg ist; und wie normal er wird. Können nicht verstehen und können uns nicht vorstellen.“

Die Kunst-Photographie von Krieg und Grauen weist auf einen Umstand, den photographisches Dokument wie auch inszeniertes Szenario gemeinsam haben: Unsere (Un-)Fähigkeit zu Interpretation und Imagination. Aber indem wir nicht verstehen und uns nicht vorstellen können, wie Sontag schreibt, stellen wir uns eben doch vor, was es sein könnte, das da geschieht. Photographien mindern die ansonsten unaufhebbare Distanz, versetzen uns für einen kurzen Moment an diesen anderen Ort. Und sei es nur ein Strand, irgendwo am Mittelmeer, an dem andere ansonsten ihren Urlaub verbringen. Und dennoch sind Photographien zugleich Medium der Distanz. Susan Sontags „Das Leiden anderer betrachten“ scheint mir insbesondere in solchen Zusammenhängen, wo es um die Abwägungen geht, was gezeigt und was nicht mehr gezeigt werden kann und was das Gezeigte mit uns anstellt, relevant und wichtig. Ebenso wie ihr Buch „Über Fotografie“, das eigentlich besser „Gegen Fotografie“ hätte heißen müssen. Photographien sind kein Ausweg aus Platons Höhle, weil sie zeigen, was ist und was das Wesen sei. Aber sie sind ebensowenig bloßer Schein und Trug, sondern deuten auf eine interpretierbare wie auch veränderbare Welt.

Nicht die Photographien sind das Grauen, sondern das, was sie zeigen: „Multicultural graveyard“

Solche Photographien, wie sie Khaled Barakeh auf seiner Facebook-Seite unter dem Titel „Multicultural graveyard“ einstellt, machen sprachlos, und sie eignen sich nicht wirklich gut, um daran Reflexionen oder gar Theorie anzuknüpfen. Andererseits kann und möchte ich solche Bilder nicht unkommentiert im Raume stehen lassen. Denn Photographien sind nie einfach nur Photographien. Zumal sich durchs radikale Schweigen nichts ändert und Khaled Barakeh diese Bilder sicherlich nicht deshalb einstellte, weil er Reflexion und Denken ausschalten wollte. Sondern ganz im Gegenteil. Das eine ist die emotionale Überwältigung durch das Grauen, das uns durch solche Bilder zur Anschauung gebracht wird: Direkt, einschließend in den Kopf. Das andere unsere Optionen und Reaktionen auf diese Photographien. Auf das, was wir sehen, wahrnehmen, in unsere Bezüge einordnen und was sich tagtäglich in der Welt abspielt. Was wollen wir tun? Was können wir tun?

Diese Photographien weisen auf ein Bündel an Bezügen: Zunächst bin ich und sind es viele andere schlicht schockiert, wenn ich mir diese Bilder betrachte. Tote Kinder, mit aufgerissenen Augen, von Wasser bedeckt, das sich in die Kleidung sog. Angesichts einer seit Jahren sich abspielenden Katastrophe im Mittelmeer wußten wir freilich alle, daß es diese Bilder gab und gibt, und wir wissen ebenso, daß es solche Photographien weiterhin geben wird. Und nicht nur dies, denn es sind nicht die Bilder selbst, die Photographien, sondern das, was sich real zuträgt: das, worauf die Photographie referenziert: daß da Kinder tot an einem Strand liegen, Körper, die das Meer wieder freigegeben hat und an Land spülte, ist das eigentlich Schockierende. (Ich möchte diese Photographien hier im Blog jedoch aus verschiedenen Gründen nicht zeigen. Unter dem Link kann man sie sich anschauen: das sollte genügen. Zum Betrachten der Bilder muß man jedoch bei Facebook eingeloggt sein. Im Augenblick funktioniert der Link noch nicht.)

Das Absurde oder auch Paradoxe solcher Bilder: Dieses Abgebildete, was sich jeder Bildlichkeit und jeder humanen Sprache entzieht, jeder Photographie entzieht, ist nicht abbildbar. Selbst dann nicht, wenn es unmittelbar in einem Bild sich zu bannen scheint. Andererseits reicht es eben nicht aus: Nein, nein, nein zu rufen, zu schreiben, zu schreien, zu weinen oder in anderen Arten und Weisen zu trauern und zugleich  ungemein zornig zu werden. (Diesen Zorn über das, was geschieht, sollte und müßte man zu einer produktiven Energie transformieren.)

Manche meinen, solche Photographien zu machen und vor allem zu zeigen, sei zynisch. Ich halte die Zustände, die solche Bilder produzieren und daß es überhaupt möglich ist, daß diese Bilder entstehen können, für sehr viel zynischer. Und vor allem die, die für solche Photographien sorgen und am Ende verantwortlich sind: Von den USA (die sich einen Dreck um die Flüchtlinge scheren, sondern Konflikte bewußt eskalieren lassen), über Europa, bis hin zum Iran, dem Assad-Regime, Rußland sowie den Rebellengruppen, die in dieser Region einen totalitären Religionsstaat anstreben, und vielen anderen, die in solchen Konflikten ihr Süpplein kochen – bei Waffenlieferanten und -produzenten wie Heckler & Koch angefangen. Aber was ist nun zynisch? Sind es nicht genauso die Zeitungen, die uns Photographien vorenthalten und uns geschönte Kriege zeigen? Meist bekommen wir irgendwelche Trümmerlandschaften zu sehen. Allenfalls, wenn die Partei, die dem Westen nicht genehm ist, Kriegsverbrechen begeht, zeigen die Medien von Zeit zu Zeit Bilder des Grauens. Photographien, wie sie etwa Christoph Bangert in seinem (2014 erschienenen) Buch „War Porn“ über den Krieg im Irak zeigt, sind in den Zeitungs- und Fernsehmedien kaum zu sehen. Ebensowenig Reportagestrecken wie von Stanley Greene in seinem Buch „BLACK PASSPORT. Journal eines Kriegsphotographen“ (Beide Bücher werden hier im Blog demnächst besprochen.)

Es gibt Szenen, die sind da, die geschehen, einfachso und eben doch nicht einfachso, die lassen sich nicht verdrängen und es ist gut und wichtig, daß es mutige und tapfere Photographen gibt, die sich diesem Entsetzlichen stellen und es für uns festhalten.

Andererseits bleibt mir die Skepsis: Angesichts der Flut von Bildern wage ich es zu bezweifeln, daß solche Photographien am Ende unser Bewußtsein tangieren. Die Kreise der Hölle bleiben und es werden sich neue Höllen auftun, wenn die alten vorbei sind. Und es stumpfen die Bilder sich ab. Solche Bilder zu zeigen, insbesondere in Medien, in Zeitungen, scheint mir zugleich und bei aller Notwendigkeit ein heikler Akt. Einerseits muß man es wohl, um in Europa ein Bewußtsein zu erzeugen. Andererseits werden wir Betrachtenden beim Dauerbeschuß mit solchen Szenen irgendwann diese Photographien nur noch zur Kenntnis nehmen und in unsere Normalität eingliedern. Diese doppelte Perspektive wird sich nicht aufheben lassen und wir werden mit diesem Widerspruch leben müssen. (Ob er sich aushalten läßt, wäre eine weitere Frage, der die nach der Humanität, nach der Condition humaine berührt.)

Daß Photographien als effektive Waffe gegen den Krieg fungierten und dazu beitrugen, einen solchen Krieg zu beenden, passierte im letzten Jahrhundert ein einziges Mal: nämlich beim Vietnamkrieg, wo sich unkontrolliert und geradezu viral die Photos und Fernsehszenen vom Krieg, Brand und Gemetzel bis ins Wohnzimmer ausbreiteten. Als übten und testen die USA, was Bilder vermögen und als veranstaltete jemand ein Seminar über die Macht und die Reichweite von Bildern. (Dazu vielleicht auch: Elisabeth Bronfen: Hollywoods Kriege. Geschichte einer Heimsuchung.)

Hinter solchen Bilder scheinen mir die semantischen Diskussionen, ob wir nun Flüchtlinge, Flüchtenden, Heimatvertriebene, Vertriebene, Refugees sagen sollen relativ unerheblich. Tote bleiben diese Kinder allemal und es werden noch sehr viel mehr solcher Bilder kursieren. Und was noch viel schlimmer ist: Es sind nicht die Bilder, sondern daß sich dahinter Menschenleben verbergen, Geschichten von Müttern, von Vätern, die um ihre Kinder trauern, sofern sie es denn irgendwohin schafften und überhaupt noch die Zeit zur Trauer fänden, weil der Kampf ums Überleben am Ende alle Energie auffrißt. [Eine Schande bleibt es allemal, wie manche hier in der BRD und wie Länder wie Ungarn diese Menschen empfangen.]

Die Befreiung der Wirklichkeit in den Bildern – Helmut Lethens „Der Schatten des Fotografen“

U1-Lethen_Der Schatten des Fotografen_LT.indd Jede Photographien bedeutet und zeigt uns etwas – mag sie auch noch so banal erscheinen. Aber was bildet sie ab? Die Dinge, wie sie sind? Die Objekte, die Szenen, die Menschen im Portrait oder in Bewegung, gleichsam in ihrer Wesentlichkeit, in ihrem bloßen bzw. antlitzhaften So-Sein? Dokumentiert sie wie eine Industriephotographie der Bechers ein Objekt in seiner Gegenwart, ohne den Gegenstand wie im Neuen Sehen oder in der Subjektiven Photographie in die Exzentrik zu bringen? Inszeniert sie die Szenen, wie in Jeff Walls Bildern, oder legt sie die Drastik als Voyeurismus des Photographen und als obszönes, anteilnahmsloses Spiel bloß wie die Photographien von Miron Zownir, der die Versehrten, die Outlaws, die Krüppel und die Halbwelt als Trash-Ästhetik in schwarz/weiß darbietet und damit die Betrachter seiner Bilder ebenso zum Voyeur macht? (Jene Beispiele stammen nicht aus Lethens Buch, wenngleich es ansonsten reich an Beispielen ist.) Zeigt eine Photographie das Objekt oder die Szene in ihrem So-Sein? Meistens nicht, wir mißtrauen diesem Essentialismus des Mediums.

Oder ist jede Photographie bereits kodiert und überdeterminiert von der symbolischen bzw. gesellschaftlichen Ordnung, in der sie erscheint bzw. gelesen wird und in der sie ihren (Interpretations-)Ort zugewiesen bekommt? Dies ist die zentrale Frage, die Lethen in seinem Buch „Der Schatten des Fotografen“ stellt.

Vielleicht aber zeigt uns die Photographie lediglich das Vergehen der Zeit an. Die Zeit, die vorüber floß. Zwischen jenem Augenblick, in dem Licht auf einem Trägermaterial gebannt wurde, und dem Moment, wo ein Betrachter seinen Blick auf die Photographie wirft. So mag es – zu einem Teil zumindest – für die Photographien gelten, die in die Privatalben gebannt werden.

Vielfach wurde in Anlehnung an die etwas alberne sprachphilosophische Wende der Philosophie, die Rorty als Linguistic Turn deklarierte, so als habe sich die Philosophie vor Frege und Wittgenstein nie mit Sprache beschäftigt, von einem Iconic Turn gesprochen, um die Bildwissenschaft als eine Art Metatheorie zu installieren, die sich nicht mehr nur mit den hehren Produkten der Kunstgeschichte ikonographisch, ideologiekritisch oder in einer ihrer vielen Methoden befaßt, sondern nun gerieten ebenfalls sämtliche Bildformen in den Blick der Theorie: Vom Werbeplakat, über die Photographien, den Film bis hin zum Comic, von den Bildern der Naturwissenschaften bis hin zu den kulturellen Patterns, die ebenfalls eine Form von Bildlichkeit beinhalten.

Wenn im Zusammenhang mit dem Iconic Turn unter anderem Professoren wie Gottfried Boehm, Horst Bredekamp und  Bazon Brock  mit dem Bunte- und Focus-Verleger Hubert Burda in Kumpanei gehen und wenn auf einer Internetseite über ein Kolloquium zur „Bedeutung der Bilder“ Sätze zu lesen sind wie „Die heutigen Wunderkammern sind nicht mehr die von Dresden, sondern das sind Google und Facebook“, so Dr. Burda dann scheint mir nicht nur eine unheilvolle Verquickung von Wissenschaft und Wirtschaft samt Affirmation dessen, was sowieso schon der Fall ist, am Werk, sondern es wäre der Begriff des Iconic Turn genauer zu befragen. Wenn zudem alter Wein in neue Schläuche verpackt und wie schon beim Linguistic Turn als dernier cri herausgeblasen wird, dann sollte Theorie einen gewissen Abstand wahren und kritischen Blickes sein, was da eigentlich besprochen wird.  Doch zurück zu Lethens Buch, der das Thema des Iconic Turn lediglich am Rande berührt, sich in dieser Hinsicht nicht eindeutig festlegt, wenngleich er dem Medium Bild für unsere übervisualisierte Gesellschaft große Bedeutung einräumt.

Lethen nähert sich dem Wesen der Fotografien, dem Sein der Objekte, derer die Photographie habhaft werden möchte, sowie der Wirklichkeit der Medien in der Weise eines Bildungsromans: wie es nämlich dazu kommen kann, eine Sache in genau dieser Weise in den Blick zu nehmen und zu analysieren, was „Bilder ihrem Wesen nach sind“ und wie sich das mit den eigenen Lektüren von ganz bestimmten Büchern zum Medium Photographie oder auch zum Film paart. Dabei spart Lethen seine eigenen Voraussetzungen, seine Initiationsmomente sowie das Biographische, das ihn in eine bestimmte Richtung brachte und es ihm ermöglichte, ganz spezifische Fragen zu stellen, nicht aus – unüblich selbst für die Wissenschaftsprosa, welche sich nicht an die Fachmenschen, sondern ans allgemein interessierte Publikum wendet.

Dieses Schreiben vom eigenen Herkommen – sicherlich an Roland Barthes geschult, dem Lethen einige Kapitel seines Textes widmet – befremdete zunächst, weil die meisten Leser ein Buch über die Ordnung der Photographie, über die Funktion von Bildern und Medien erwarteten. Stattdessen schildert uns Lethen zum Beginn des Buches einen April-Tag im Jahre 1952 in seiner Vaterstadt Mönchengladbach, als die Frau des Küsters auf eine eher unübliche Weise verschwand. Anhand dieses Erlebnisses illustriert Lethen, wie Erinnerung und Fakten voneinander abweichen können und wie Medien zugleich die „hautnahe Berührung mit der Wirklichkeit“ erzeugen und auf diese Weise ein ganz eigenes „Bild“ von der „Welt“ und den darin vorkommenden Sachverhalten liefern. Dabei stehen sich zwei Positionen der Deutung gegenüber: Eine essentialistische, die zuweilen als naiver Realismus bezeichnet wird, der das Medium als einen Träger sieht, der uns direkt zu den Dingen führt, und eine konstruktivistische Lesart, die die Welt als eine durch Medien vermittelte ansieht: Es existiert kein unverstellter Zugang zu den Objekten, diese sind in ihrem Sein, aber ebenso in ihrer Darstellung in eine symbolische Ordnung eingebettet.

Wenn wir von der Wirklichkeit sprechen – was immer diese sein mag und ob sie durch Medien vermittelt ist oder ob sie sich im Medium zeigt, wie sie ist: als Faktum, nackt und unverstellt –, so sollten wir dabei nicht vergessen, daß in dem Begriff „Wirklichkeit“ das Verb „wirken“ steckt. Das gilt insbesondere für die statischen Bilder. Fotografien wirken gerade aufgrund ihrer Unbeweglichkeit auf uns ein, sie brennen sich als Szene ein, ziehen die Betrachter in den Bann, sie konstituieren einen kollektiven Unterstrom, der wiederum die daran anknüpfende Wahrnehmung bestimmt, und sie werden zugleich selber von einem kollektiven Unterstrom, der als kulturelles „Bewußtsein“ fungiert, erzeugt, so wie jene Fotografien aus Abu Ghraib, die den Wahnwitz der US-Folterer zeigen. Und doch wirken diese Photographien aus dem Irak zugleich wie eine Kunstperformance, als wohne man einer ins Bild gebannten Inszenierung von Marina Abramović bei. Diese von Laien getätigten Photographien aus Abu Ghraib reichen an das Geschehen nicht einmal annähernd heran und dennoch treffen sie es exakt – vielleicht gerade deshalb, weil sie nicht mit Déformation professionnelle des Photographen getätigt wurden. Es sind eben keine Reporterbilder, sondern in einer brutalen Direktheit geschossene Schnappschußaufnahmen von Soldaten. Lethen geht in seinem Buch zwar nicht auf diese Photographien ein, sehr wohl aber auf undramtatisch-dramatische Photographien von Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg entstanden; Photographien von Wehrmachtsoldaten beim Überfall auf die UdSSR. (Dazu mehr im zweiten Teil dieser Besprechung)

Ebenfalls eingeprägt ins kollektive Bildgedächtnis haben sich jene in die Photographie gebannten fliegenden und dennoch dem Gesetz der Schwerkraft folgenden Menschen, die am 11.9. aus dem World Trade Center sprangen und jenes vor der US-Army flüchtende vietnamesische Mädchen, während im Hintergrund der Rauch der Brandbomben aufsteigt, die das Dorf in Schutt legten, jener Junge mit den erhobenen Händen im Warschauer Ghetto: diese Fotografien brannten sich ein, und es sind Geschichten, die im Medium des Bildes erzählt werden. Wirklichkeit bedeutet insofern ein Geschehen, das Codierungen unterliegt. In der Beobachtung erster Ordnung lassen sich diese Codierungen jedoch nicht in den Blick bekommen. In dieser Ordnung zeitigen sich lediglich die Wirkungen eines Bildes.

Bilder – und das sind nicht nur Photographien, sondern auch die Fetzen der Erinnerung, die Archive unserer visuellen Welten, die als Bilder abgespeichert werden – bleiben im Gedächtnis lange haften, schreibt Lethen, länger als manches Erlebnis, wie das von Liebe, Schmerz, Wut oder Trauer, und es fragt sich, was diese Bilder, die auf solch eine intensive Weise sich in uns eingraben, ihrem Wesen nach sind. Zeigen uns diese Bilder die Wirklichkeit? Lethen geht es um Bilder, die Folgen für uns haben. Die Auswahl solcher Bilder bzw. Photographien bleibt zwar einerseits subjektiv, denn jeder trägt sein eigenes imaginäres Museum in sich, andererseits sind diese Fotografien durch die Medien vermittelt und wir teilen sie im Strom des kollektiven Unterbewußten. Wenngleich sich Lethen in diesem Buch zumeist der Photographie widmet, sind diese bloß eines von vielen Trägermedien:

„Bilder, auch die der Verlassenheit, sind Nomaden, die ihre Zelte in verschiedenen Medien aufschlagen. Dieser Satz von Hans Belting begleitet mein Unternehmen. Woher die Bilder kommen, ist rätselhaft. In jedem Fall zirkulieren sie durch heißere und kühlere Zonen unserer Einbildungskraft.“

 

Im zweiten Teil dieses Textes wird es dann um Beispiele gehen, die Lethen für die Macht der Bilder und ihr Wirken anführt.

Ansicht auf Toledo – El Greco zum 400. Todestag

El_Greco_049In der roten Robe, der Kardinal. Die Brille als ein Mittel und Medium, um sichtbar zu machen, was dem bloßen menschlichen Auge verschwommen scheint. Von El Greco gemalt, als Auftrag, diesseitig und im Portrait einer Figur, Großinquisitor Kardinal Fernando Niño de Guevara.

Bilder der Macht. Kalt, modern und teuer. Das Leben der Macht in den Bildern und das Leben der Bilder als Macht und Wirkung, und es wirkt und arbeitet diese Strukturierung des Bildes intensiv in den Gemütern nach. Bilder repräsentieren nicht nur eine Person, die mit bestimmten Insignien von Macht sowie Aura ausgestattet ist, sondern sie reproduzieren zugleich jene Macht und sind insofern Multiplikatoren von Herrschaft. Die von unserer Perspektive aus gesehen autonome Kunst als Formsprache und Selbstzweck bleibt ein zweischneidiges Schwert, sobald ein Funktionszusammenhang oder ein Referenzrahmen dem Bild seinen Kontext und seinen Subtext oktroyiert. Vor dem Großinquisitor Kardinal Fernando Niño de Guevara soll selbst der spanische König Furcht gehabt haben. Es reichen die Worte und die Gesten. Diese präsentieren sich, wenn sie in der Echtzeit und im unmittelbaren Raum, der zu ordnen ist, nicht verfügbar gemacht werden können, in der medialen Vermittlung. Für die Tathandlungen mit den nötigen Instrumenten sind allein die Lakaien zuständig. Jenes Gemälde gibt nicht objektiv die Grausamkeit jenes Menschen wieder. Aber im Wissen um die Person assoziiert der Betrachter sie. Der Ruf eilt dem Bild voraus. Der Eigenname setzt die Szenerie. Und insofern macht es in der Bildgebung etwas aus, ob dort „Kardinal Fernando Niño de Guevara“ oder der „Heilige Jacobus“ getitelt wird. Repräsentation auch im Namen.

Die Lektüre zu diesem Bild ließe sich mit Hans Beltings Buch „Faces“ ergänzen. „Portrait und Maske. Das Gesicht als Repräsentation“ Ein Gesicht, das zwar kein Antlitz ist, das aber sehr wohl auf einen Status verweist. In welcher Linie steht dieses Bild, ist es noch ein Portrait oder fällt es bereits aus dem Rahmen der Portraits? Verhält es sich bereits in El Grecos „Großinquisitor“ in der Weise wie es Belting schreibt?: „Im Portrait wurde die Emanzipation des Subjekts in Zeiten höfischer Gesellschaft und kirchlicher Vormundschaft demonstriert. Gerade im Portrait der frühen Neuzeit zeichnen sich die Konflikte des Individuums mit der Gesellschaft deutlicher als in den Texten der Zeit.“ Handelt es sich hier bereits um eine Subjektivierungsweise oder tritt nicht vielmehr die Maske als medial vermittelte Repräsentation von Macht in den Vordergrund? Die frühe Neuzeit spielt vielschichtig. Im Süden anders als im flämischen Raum. Die Kälte und die brutale Gewalt dieser Macht wird nur im Kontext, im Rückentextes zum Bild sichtbar. Ohne Beschriftung und Text bzw. Kontext bleibt das Bild leer. Textlos. Freundlicher Mann in rot mit Brille. Auch Heinrich Himmler im photographischen Portrait macht den Eindruck eines aparten Bürgers in Uniform. Heinz Rühmann und Heinrich Himmler sind austauschbar.

Auf einem schwarzen Pferd und im düsteren Gewand reitet der Inquisitor in Toledo ein und sofern er gebrechlich ist, benutzt er eine Kutsche. Spanien im Jahre 1600. So stellte ich mir, früher als ich Kind war, diese Szenen vor. Jener Inquisitor, mit dem harten Blick, die richtigen Fragen stellend, bohrend, streng, unnachgiebig. Das Autodafé entfachend. Der ewige Stalinist, der ewige Antisemit, im Herzen und im Fleisch der Menschheit, er treibt die Abweichungen und die Häresie im Namen Christi oder aber bloß im Namen der reinen Lehre aus. Wenn jener Jesus, den sie den Christus nennen, noch einmal auf die Erde käme, würden die Reiter ihn einkerkern und niemals mehr das Licht der Welt erblicken lassen – so wie Dostojewski es in den „Gebrüdern Karamasow“ in seiner Erzählung vom Großinquisitor beschrieb. Es könnte ihn aus den Verliesen kein Vater retten – geschweige denn eine Mutter. Stumm verklängen seine Schreie in den düsteren Mauern, tief unter der Erde in irgend einer Burg oder einem Palast. Verhallend. Von nun an wären sie, jene schwarzen Reiter, das Weltgericht und die permanente Revolution, der Nomos der Erde als Angst und als Schrecken, den vorauseilenden Gehorsam schaffend. Die Landschaft um Toledo zumindest ist rau und zerklüftet, vom Tejo umschlängelt. Die Anfahrt auf diese Stadt, von Madrid kommend, beeindruckend.

530px-Il_Giudizio_UniversaleIm Jahre 1543 veröffentlichte Nikolaus Kopernikus sein wohl wichtigstes Buch: „De Revolutionibus Orbium Celestium libri“. Die Erde, so steht zu vermuten, liegt nicht mehr im Zentrum. Die Ordnung der Sphären war daraufhin eine andere. Erste narzißtische Kränkung, zwei bis drei weitere werden einige Jahrhunderte später noch folgen. Die Ptolemäer bäumten sich vor Entsetzen und Abscheu auf. Die Drehungen und die Phasen änderten sich und damit erhielt auch die Beschleunigung eine andere Gestalt. Aus einem Zentrum wurde das Periphere und Flüchtige, Nominalismus die neue Gestalt. Die Rhythmik der Malerei geriet zu einer anderen, die Körper verzehrten sich, die Landschaften, sofern sie überhaupt Abbild einer Landschaft waren, nahmen seltsame Formen an. Zumindest in den Werken El Grecos. Die Renaissance war an ihrem Höhepunkt und zugleich an ihrem Ende angelangt. Bereits im Spätwerk Michelangelos, das von Vasari als „Maniera Moderna“ bezeichnet wurde, ließe sich dieser Aspekt zeigen. Im Höllensturz des „Jüngsten Gerichts“ von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle überdehnte und disproportionierte sich der Körper in Harmonie zwar noch, aber diese war lange keine griechische mehr und am Ideal eines Körpers ausgerichtet, sondern die Figuren erscheinen im Ansatz bereits monströs. Überkräftigte Gestalten. Protofaschistisch fast, wenn man es überspitzte. Ganz anders dagegen der Manierismus El Grecos in seiner Dehnung, in seiner Zerrung. (Ob der Begriff des Manierismus kunstgeschichtlich haltbar ist, mag zu diskutieren sein. Aber starre Begriffegeschichte ist sowieso nur Ordnungsschema, geht aber nicht auf die Sache.)

Spanien im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert. Kurz vor der Jahrhundertwende vom 16. Jhd in eine neue Zeit hinein, die den Niedergang Spaniens bedeutete, wurde vor den Toren Madrids El Escorial erbaut. Es ein Königspalast, der beeindruckt und zugleich die Besucher abweist, im Herrera-Stil errichtet: Kühl, streng, die Renaissance eingedampft auf die bloße Form. Als ich dieses Gebäude einst sah, während eines längeren Aufenthaltes in Spanien, war ich erschüttert und begeistert zugleich. Die Renaissance in Italien ist heiter und verspielt, die Härte des Escorial spiegelt die Strenge des spanischen Hofzeremoniells wider. In diesem Umfeld trat der aus Kreta stammende Maler El Greco seinen Dienst am Spanischen Hofe an, alldieweil er in Rom nach dem Tod des Michelangelo nicht mehr wohlgelitten war, weil einige von El Grecos Schriften ans Licht kamen, die sich abfällig über Michelangelos Werk äußerten.

Die Figuren hoch aufragend, in die Länge gezogen, die Hände eigenartig verzerrt, keine der Proportionen mehr klassisch und nach dem Ideal einer Antike, wie wir sie assoziieren. El Grecos Gemälde gaben einen der Höhepunkte jener manieristischen Malerei. Nach seinem Wirken in Spanien wurde er zu einer Nebengestalt der Kunstgeschichte. Erst zum Beginn des 20. Jahrhunderts geriet El Greco wieder in den Fokus der künstlerischen Moderne , insbesondere der Expressionisten, und er wurde jenen expressiven und lebensphilosophisch hungrigen Zeitgenossen (leider) durch Julius Meier-Graefe nahegebracht, der bereits unheilvoll am Mythos van Gogh mitwirkte.

El_Greco_001Aber die Gemälde El Grecos sind weniger der Ausdruck von Individualität oder von inneren Zuständen eines Subjekts, für das wir heute den Begriff des Individuums verwenden, sondern sie codieren vielmehr die Welt des Religiösen. Es sind Auftragsarbeiten, die im Sinne der Kirche entstanden. Seine Bilder waren bereits zu seiner Zeit nicht unumstritten, doch sie fanden vor den Augen der Kirche durchaus Gefallen. Wenn es denn innere Landschaften sind, dann die des Religiösen: jener Christus im roten Gewand, im Moment vor seiner Entkleidung, deutlich von seinen Peinigern abstechend, im Rot des Gewandes. Die Hintergründe der Landschaften sind, sofern sie nicht, wie in den meisten seiner Bilder, bloß die Staffage bilden und ihnen keine eigene Dignität zukommt, in ihrem Realismus düster. Wie im „Laokoon“ oder im „Traum Philipps II“. Denn das Reich des Herrn ist nicht von dieser Welt, so doktrinierte es die Kirche in der ihr immanenten Notwendigkeit. Es ist eine Malerei des Lichts, das allerdings in einer eigenartig unnatürlichen Weise schimmert und eine Malerei der Kontraste, die nicht mehr die Form des Körpers zur Erscheinung bringen möchte, sondern, wie etwa die Auferstehung Christi im Prado, ein Spiel der Farben und der Gesten eröffnet. Die Bilderzählung ist meist dramatisch angelegt. Und dieses Drama, das damals im Religiösen seinen Grund hatte, machte sicherlich in der Krisenzeit um 1900 den großen Reiz aus: ein überbordender Realismus, der die realistische, die naturalistische Form und die Gestaltung langsam aber sicheren Schrittes verließ.

 

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Eines der letzten Bilder, die El Greco malte, ist die Ansicht auf Toledo. In der Variante „Ansicht und Plan von Toledo“ zeigt sich eine fast heitere, himmlische Stadt. Aber das Himmlische Jerusalem war meist ein Zerrbild der Utopie des Gottesreiches und eine in Stein gehauene Perversion. Der quatuor sensus scripturae, jener vierfache Schriftsinn, dividiert sich in die Dystopie. Von der Buchstäblichkeit, über das Moment des Glaubens und der Moral des Subjekts, das noch lange nicht ist, bis hin zu jenem Ort, der als Utopie und Himmlisches unaussprechlich bleibt. Geschichtsphilosophie verdampft ins Leere. Es erinnert dieses Bild von Toledo in seiner eigentümlichen Kühle, obgleich es doch in warmen Farben gehalten ist, an die stadtbaumeisterliche Miniaturwelt, die jener Sonderling Stone in Paul Austers „Die Musik des Zufalls“ errichtet: Mit dem zaghaften Lächeln, das sich am Ende als das des Sadisten entpuppt, entgegnet Stone: „‚So wäre mir die Welt am liebsten. Alles in ihr geschieht zur gleichen Zeit.‘“ In Becketts „Endspiel“ sagt Clov – anders als Stone kein Sadist – im Hinblick auf die Ordnung ihrer verbleibenden Welt und die Ordnung der wenigen Dinge: „Ich liebe die Ordnung. Sie ist mein Traum. Eine Welt, in der alles still und starr wäre und jedes Ding seinen letzten Platz hätte, unterm letzten Staub.“ Eschatologie als Utopie des letzten Menschen und des Surrogats von Subjektivität und Dingbewußtsein. Das himmlische Jerusalem und der „Traum Philipps II.“ bilden im Repräsentationsmodus der Malerei die Ordnung einer Welt, die nicht von dieser Welt ist und die sich noch als Jenseits konzipieren läßt. Angefressen ist allerdings auch diese Ordnung allemal.

Es folgt dieses Bild „Ansicht und Plan von Toledo“ einer eigentümlichen Logik der Repräsentation: jene im Vordergrund gehaltene Karte als Plan und Grundriß wird von einer (gemalten) Stadt überragt, die ebenfalls jenes Toledo ins Bild bringt und als Ideal repräsentiert. Im Vordergrund steht ein aus dem Kontext gerücktes Gebäude, das wohl ein Hospital darstellen soll. Bilder im Bild. Entspringt aus der Karte die Stadtlandschaft oder ist jene Karte eine Art von Emblem, das symbolisch oder als Konstruktionsplan sich der Realität des Dargestellten vergewissert? Die Schrift einer Karte und die Malerei eines Gebietes. Wie auch in den religiösen Gemälden stoßen in jener Landschaftsmalerei zwei Ordnungen aneinander und stehen in Konfrontation.

Ansicht auf Toledo, von Nikolai E. Bersarin im Jahre 1989
 
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Domínikos Theotokópoulos starb am 6.4.1614 in Toledo.

Außerhalb des Textes: Was hinter einem Text sei. Oder: Das Bild, das wir uns machen, als Imagination und Imago – mit einem Blick auf Roland Barthes

Die philosophische Romantik ernst nehmen und im Sinne eines Novalis oder eines Schlegel einen Strom, einen unendlichen Fluß von Bildern zu erzeugen, in dem jedes neue Bild das alte durchstreicht und in eine andere Region treibt, so wie es in Novalis „Heinrich von Ofterdingen“ oder in anderer Weise in Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ geschieht? Hier terminiert die Produktion von Bildern in jenes lehrstoffhafte Märchen innerhalb der Goethischen Novellensammlung: Unerhörte Begebenheiten.

Präsenz im Bild? Nein, es bleibt die Abwesenheit, die jedes Bild repräsentiert. Das Bild ist in dem Sinne ein Ausschnitt, weil es ausschneidet, tilgt und zugleich in einer Weise der Umschrift festhält, was nicht zu halten und in eine Präsenz zu bringen und in Anwesenheit zu bewältigen ist. Das Subjekt als Bei-sich-selbst-sein ist jener narzißtische Trug, vor dem Derrida, aber auch Lacan nicht müde wurden zu warnen. Jedes Bild ist seiner Natur nach auch ein Text-Medium, das nicht nur mit sinnlichem Wohlgefallen oder mit Abscheu betrachtet, sondern das ebenso gelesen werden will. Und zwangsläufig auch gelesen wird, wenn wir eine Photographie oder ein Gemälde oder ein Fernsehbild uns ansehen. Solche Sichtung von Bildern könnte ebenfalls heißen „Reflexionen aus dem beschädigten Leben.“

Es schrieb der Kommentator ziggev an dieser Stelle:  „Bei Woolf hast Du aber immer auch die Autorin mit im Koffer, die eben auch gewissermaßen immer den Leser am Entstehungsprozess teilhaben lassen wollte.“ Ja, das ist wohl wahr. Aber es liegt die Betonung auf: die Autorin. Und eben nicht die Person, der Mensch Virginia Woolf (wer oder was immer das sein mag), wenn es dann bei manchen Leserinnen und Lesern, die im Modus des festschreibenden Identifizierens rezipieren, so kitschig-rührselig heißt: Entdecke den Menschen hinter dem Buch. Texte werden von Menschen geschrieben. Nein, sowas – wer hätte das gedacht?! Sicherlich sind Texte keine Emanation des göttlichen Willens. Dieses Mensch-hinter-Text-Gerede jedoch ist Gesinnungskitsch schlimmster Art, mag allenfalls noch Buchhändlern bei Thalia als Neusprech dienen, um ältere Damen zum Kauf eines Buches zu überreden. Personality als Pseudos und Inszenierung dessen, was sich im Text jedoch niemals präsentieren läßt: Diesen Schmock wußte bereits Adorno zu kritisieren: „Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“ Wohl wahr. Da, wo nichts mehr ist, muß es menscheln, damit wenigsten Restwärme in die kalte Küche kommt. In der Welt des Textes haben wir Texte, keine Subjekte. Was sich hinter den Texten abspielt und was auf der Ebene der Subjektivität die Texte konstituiert, das bleibt eine ganz andere Sache. Aber der positivistische Schluß vom Subjekt aufs Werk ist einfach nur der Schulfall von Banauserie und amusisch zugleich. Kafka hat sich schließlich nirgends in ein Insekt verwandelt.

Andererseits, und deshalb ist Roland Barthes ein so interessanter Zeuge, bildet das Einzigartige des Dies-da, das, was sich Individuum nennt, zugleich die Basis für alle Reflexionen und Textschübe, die Barthes produziert. Es ist in „Die helle Kammer“ das abwesende, nicht gezeigte, nicht präsentierte, sondern nur als Verborgenes, als Umschrift und Text re-präsentierte Bild seiner Mutter, in einer einzigen Photographie, die die Gegenwart (als Vergangenheit, als immer schon vergangene) einzig vergegenwärtigen kann. Es ist in dem kleinen Bändchen „Begebenheiten. Incidents“ Barthes‘ (literarische, tagebuchartig-skizzenhaft-aufzeichnende) Reflexion aufs unmittelbare Geschehen, was Barthes Schreiben trägt. Der Text vergewissert sich, ohne in den Theorie abzugleiten, er literarisiert. (Wobei ich diese „Begebenheiten“ zugleich für ein eher schwaches Buch halte – es bleibt ein Notizbuch, das als Archiv und Gedächtnis arbeitet und versucht, den Gegensatz von Philosophie und Literatur in eine Art von Bruchstelle zu überführen:

„Ich versetze mich in die Lage jemandes, der etwas tut, und nicht mehr dessen, der über etwas spricht: ich untersuche kein Produkt, ich übernehme eine Produktion; ich hebe den Diskurs über den Diskurs auf; die Welt wendet sich mir nicht mehr in Gestalt eines Gegenstandes zu, sondern in der einer Schreibweise, das heißt einer Praxis; ich gehe zu einer anderen Art des Wissens über (zu der des AMATEURS) …“ (R. Barthes, Das Rauschen der Sprache)

Die Grenze zwischen Individuellem als Absolutem, als Nullpunkt der Referenz und vermitteltem Allgemeinen neu zu bestimmen, macht die Spannung in Barthes Text aus, sei das nun in seinem eigenwilligen Buch „Fragmente einer Sprache der Liebe“, welches Ich und Allgemeines im Diskurs der Liebe zwar nicht vermittelt, aber doch in einen eigenwillig changierenden Bezug bringt, oder in  den „Mythen des Alltags“, in denen sich interessante Passagen zur Ikonographie und zum (Schock-)Photo befinden. Diese Art von Schreiben verdichtet sich in Barthes „Tagebuch der Trauer“, das er als Notiz und Tagebuch kurz nach dem Tod seiner Mutter 1977 anfing. Teils stehen da Sätze banalster Natur, wo der Begriff der Fremdscham dem Leser fast schon einfällt. Wie weit kann eine Entblößung des Selbst gehen? Andererseits ist diese vermeintliche Unmittelbarkeit und diese Direktheit, sobald sie in eine Schrift, in einen Text transformiert wurde, keine Unmittelbarkeit mehr, sondern Text, Literatur, Allgemeines. Das Dies-da als direkter Ausdruck vermittelt sich über das Ausdrucksmedium Schrift in eine Anordnung eigener Art.

„31. Oktober
Ich will nicht darüber sprechen, weil ich fürchte, es wird Literatur daraus – oder weil ich nicht sicher bin, daß es keine wird –, auch wenn in der Tat Literatur in solchen Wahrheiten gründet.“

In der Lektüre Barthes springen einen die Textstellen an. Teils als abstoßender Schock, teils als eine unvermutete Nähe in den Schleifen der Reflexion. Und so erzeugen Texte beständig neue Texte.

Die Liebe zum Text bleibt ein Schlachtfeld. Die zu einem Menschen (manchmal) auch. Wobei Harmonie ja nicht immer nur eine Strategie zu sein braucht.
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Auf dem Blog Proteus Image wird unterdessen ein zweiter Teil der Lissabon-Serie gezeigt, die wir hier unermüdlich fortsetzen werden, bis dem Blogbetreiber entweder die Lust oder die Photographien ausgegangen sein werden. Viel Vergnügen beim Anschauen an diesem Himmelfahrtstag.

Der verhüllte Blick – Die Macht und das Leben der Bilder (5)

Es gibt Photographien, die verselbständigen sich, und sogar in der Flut der Bilder im Zeitalter des multimedialen (weißen) Rauschens bleiben solche Abbildungen zumindest eine Zeit lang im Kopf hängen. In dieses kollektive Schema fallen z.B. zahlreiche Bilder aus dem Vietnamkrieg, als die Photographie in der Illustrierte, in der Zeitung noch einen besonderen Status besaß, der auf etwas wie Welt und Außerhalb verwies: So jenes nackte, halbverbrannte Mädchen, das die Straße entlangläuft, nachdem die Armee Südvietnams ihre Familie, ihr Dorf metzelte bzw. mit Napalm niederbrannte oder als der Polizeischef von Saigon jenen Mann vor laufender Kamera erschoß: die Waffe sitzt am Kopf und Sekunden später wird ein Körper vom Leben in den Tod befördert.

Andererseits läßt das kollektive Bildgedächtnis angesichts der Flut von Photographien nach. Was es heute Wert war, betrachtet zu werden, scheint in einem Jahr lediglich für diejenigen, die sich professionell oder semi-professionell mit Bildern und Photographien beschäftigen, von Bedeutung. Wieweit diese Inflation der Bilder ihren Gehalt samt ihrer Wirkung überhaupt entschärft, wäre ein anderes Thema.

Eine solche eindringliche Photographie erhielt letztes Jahr die Auszeichnung World Press Photo 2011. Das Bild machte Samuel Aranda. Aranda ist ein spanischer Photojournalist und als freischaffender Photograph tätig; er fertigt dort seine Bilder, wo es hart zugeht. Von dieser Art Photographen gibt es auf der Welt nur sehr wenige. Aranda photographierte in den Palästinensischen Autonomiegebieten, er berichtete über Flüchtlinge, die unter schwierigsten Bedingungen von Afrika nach Europa bzw. Spanien reisten, und er begleitete die arabischen Revolutionen mit seiner Kamera. Während zahlreiche Photographen in Ägypten, Tunesien und Libyen photographierten, hielt sich Aranda in Jemen auf.

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Photo: Samuel Aranda

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Dieses dort aufgenommene Bild gewann den begehrten World Press Award 2011. Klassisch fällt die Komposition aus, fast wie inszeniert, ein Dreieck und eine Diagonale bestimmen die Anordnung, dramaturgisch perfekt ausgeleuchtet, die Hände der Frau in weißen, ein wenig schmutzigen Handschuhen, die im Kontrast zum Gewand hervorstechen und den Blick auf diese Hände lenken, die den Verletzten halten. Ein nackter, versehrter Oberkörper, unreine Haut, während der Kopf des Mannes sich auf die Schulter bettet, auf dem rechten Unterarm eine (rätselhafte) Beschriftung. Und unwillkürlich denken Betrachterin und Betrachter bei dieser Komposition an ein ganz anderes Bild, das im kollektiven Bildergedächtnis eingegraben liegt: Nämlich das Vesperbild oder als Kulmination desselben: die Pietà, als Skulptur in ihrer Vollkommenheit und einzigartigen Schönheit von Michelangelo geschaffen und im Petersdom ausgestellt.

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Quelle: Wikipedia

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Der verhüllte, verschleierte Blick und das heißt: die Abwesenheit der Augen unterstreicht einerseits die Distanz und erzeugt den Effekt der Fremdheit. Wenn – nach dem Philosophen Emanuel Lévinas – das Antlitz eine zentrale Kategorie der Ethik bedeutet, so sind das Antlitz und der Blick als Medium und Weise der Kommunikation auf dieser Photographie getilgt – zumindest für jene Frau. Andererseits sprechen die Gesten dieser Frau für sich und steigern womöglich durch die Abwesenheit des Blickes die Intensität der Photographie. Es wird sich weder um eine Krankenschwester noch um jemanden handeln, die den Verwundeten nicht kennt.

Kompositorisch ist diese Bild fast zu schön, um wahr zu sein. Zu perfekt, zu ausgefeilt. Photographien, Bilder überhaupt sind Bestandteil der Politik, mit ihnen wird Politik gemacht und sie betten sich in die Kontexte politischer Ikonographie ein, schreiben diese fort und Erzeugen als Bilder, wie es sie auf diese Weise noch nicht gab, Andockpunkte. Benutzbar sind sie für jede Seite und für jeden Anlaß, wenn die entsprechenden Bildunterschriften getätigt werden, die die Kontexte erzeugen.

Eines jener Bilder, die zum Irrtum auffordern, wenn man sie betrachtet, und die mit einer völlig falschen Bedeutung aufgeladen wurden, ist jene Photographie, die der Magnum-Photograph Thomas Höpker am 11.9.2001 machte.

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WTCPhoto: Thomas Höpker

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In diese Reihe gehören zahlreiche Photographien, so zum Beispiel fällt auch jenes Bild, das Spencer Platt nach dem Libanonkrieg 2006 im Beiruter Vorort Dahye schoß und das für Empörung sorgte, dort hinein. Es wurde zum World Press Photo 2006 gewählt.

© Spencer Platt, USA, Getty ImagesWorld Press Photo of the Year 2006

XPhoto: Spencer Platt/Getty Images

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Photographien als solche, die als geschichtliche Dokumente oder zu journalistischen Zwecken herangezogen werden, verstricken sich schneller als ihnen lieb ist, in den Streit der Auslegungen: was bedeutet das Bild, was zeigt es? Sehen wir dort tatsächlich eine dekadente Jeunesse dorée, die sich im Elend mit Eleganz und Photohandy amüsiert, lagern da vor der Skyline New Yorks hedonistische junge Menschen, die vor einstürzenden Hochhäusern einen Picknick abhalten?

Manchmal koppele ich mich von diesen Diskursen ab und betrachte rein das Gemachtsein, die Paradoxien als solche ohne den Wahrheitswert, die Anordnung der Elemente im Bild, die Schönheit oder Widerwärtigkeit von Haut, die Windung eines Körpers, selbst im Tode, das sich wölbende weiße T-Shirt einer jungen Frau. Das mag eine abstoßende Haltung sein. Aber eine Betrachterin, ein Betrachter kommen damit zuweilen einer Photographie näher als der politische und nicht mit ästhetischer Bedeutung sowie ästhetischem Gehalt aufgeladene Kontext. Selbst die fahle, unreine Haut jenes Mannes und die eigenwillige Burka der Mutter führen einen Reiz und eine Anregung mit sich. Und jene libanesischen Frauen mit ihren Dekolletés und als Kontrast zu den Schwarzhaarigen diese blonde Frau mit dem engen weißen T-Shirt, dem sinnlichen Mund und der Sonnenbrille: sie verweist auf ein Beirut jenseits islamischer Verhüllung und des ganzen religiösen Schnickschnacks. Die Feerie der Waren ist jene Welt für sich. Es gälte, neben ihrem Tauschwert auch den Gebrauchswert und die Momente reiner Lust wahrzunehmen. Manchmal ist ein teurer Anzug, eine herrliche Flasche Wein oder jener Abend mit der einen blonden Frau, die ich liebe und dich mich (hoffentlich) auch liebt, betörender als ein moralisch sauberes Gewissen. Sag ich mal so.