25 Jahre „Digital ist besser“ – die Tonspur zum Montag

Am 6. März 1995, einem Montag, erschien es: das erste Album von Tocotronic. 25 Jahre ist das inzwischen her. Gutes Album, gute Jahre, gute Zeit der 1990er, und es bieten solche Jubiläen einen Anlaß, auf jene Phase zurückzuschauen. Die damals Jungen, wie eben die Band seinerzeit, stehen inzwischen in der Mitte ihres Lebens und darüber hinaus. Jene, die damals gerade 30 wurden und zu den geburtenstarken Jahrgängen, den Babyboomern gehören, sind weit über diese Hälfte hinaus. Es gibt ihrer viele. Aber Pop hält jung, und heute hören Mittfünfziger zuweilen ähnliche Musik wie 20-Jährige.

Es gab damals kaum Internet, die Kommunikation lief anders, über Theoretiker wie Kittler oder Flusser hielt in bezug auf Technik und ihre Entwicklung einen gewisser euphorischer Ton Einzug und über die postmodernen Theorieversatzstücke, die dann auch bei Tocotronic auftauchten, ebenfalls ein gewisser euphorischer Ton, der die reine Negativität der düsteren Gesellschaftskritik zu überschreiten trachtete. Gewissermaßen, wie Foucault es schrieb, ein fröhlicher Positivismus. Für jene, die damals studierten, waren es die wunderbaren Jahre einer ästhetizistisch-bewegte Unizeit, in der Zeitschleife zwischen heideggerschem Seynsdenkens und dem in die Zukunft gelagerten Beruf geworfen, zwischen Levinasscher Alterität und der kruden Realität ausgesetzt, dazu Adornos Ästhetik, Derridas ästhetisch wie auch metaphysikkritisch zu deutende différance und in Nietzsches Rhetorik verschüttet. Die letzten Reste jenes langen Sommers der Theorie, wie Philipp  Felsch es in seinem gleichnamigen Buch für die 1990er beschrieb.

Ein Teil der Linken (bzw. das, was sich für links hielt) war so klemmärschig wie er es bis heute ist, nur man bekam das zum Glück nicht so mit. Sie blieben mit ihrem Gejammere und Gemingele unter sich und spien nicht die Welt zu. Aus den Fachschaftsratsdebatten samt den Polit-Debatten, wenn es statt Universitätspolitik um die Weltrevolution ging, verzog ich mich schnellstens. Wir tanzten in den Ruinen und träumten, wie es „Die Sterne“ sangen. Es herrschte in diesen Jahren eine seltsame Mischung zwischen Politik, Ironie als Pose und Posse, aber eben auch Ironie als kritische Haltung, um infragezustellen, Abgeklärtheit und eben auch die Frage, ob das, was ist, so bleiben wird, wie es ist. Kritik der Gesellschaft bestand im Nachdenken über Gesellschaft und in der Einsicht in die Aporien. Man lebte ja eigentlich ganz gut.

Wir lebten, und wir wären nicht auf die Idee gekommen, während unserer Urlaube das Plastik aus dem Meer zu fischen oder andauernd zu trainieren, wie man achtsam spricht. Männer hatten unten rum einen Anhang und die Weibsen unten einen Schlitz. Frauen machten und taten das, was sie wollten, statt zu quengeln. Sie waren Riot-Girrrrls oder aber Mädchen und Frau, weil sie es gerne waren; sie trugen Dessous oder Baumwollschlüpper oder sogar noch solche aus Frottee. Es gab zuweilen jene seltsam-verklemmten und oft auch ungehemmten Kommunikationsszenen zwischen Mann und Frau, zwischen Jungs und Mädchen, wie das so ist, wenn Menschen jung und vor allem, wenn sie verliebt sind „Wie wir zusammen auf dem Teppichboden sitzen“ ist eines dieser Unsicherheits- und Begehrenslieder, die das singen, was sehr junge Menschen – die wir freilich nicht mehr waren, deshalb waren das Songs, die uns eher als Erinnerungen damals ansprachen – denken und empfinden. Oder solche Jungs und Mädchen, die voller Emphase ein Date wollen, mit all dem Sehnen, was dazugehört:

Ich warte dort auf dich, weil ich dich mag
An unserem letzten Sommerferientag
Ich warte dort auf dich, weil ich dich mag
An unserem letzten Sommerferientag

Bis wir zusammen sind, bis wir
Bis wir zusammen sind, bis wir
Bis wir zusammen sind, bis wir

Drüben auf dem Hügel„: Einer der schönsten und rohesten und zugleich leidenschaftlichen Songs dieses ersten Tocotronic-Albums. Teenager-Musik voll von Erwarten und Hoffen, jene Phase, wo man noch nicht ganz erwachsen, aber auch kein Kind mehr ist, und dieses Denken des Dazwischen, in dem sich solche Teenager eine eigene Welt bauen, hat Tocotronic sich bis hin zur vorletzten Platte, jenem Roten Album aus dem Jahr 2015 bewahrt, um es in Musik und Text zu bringen. Und auch das letzte Album „Die Unendlichkeit“ macht jenen süßen Vogel Jugend zum Thema – allerdings eher autobiographisch vom Sänger Dirk von Lowtzow her.

Ja, es gab und gibt Sexismus, ohne Frage, aber es wurde nicht jeder politisch mißliebigen Äußerung das Label Rassist oder Sexist übergepappt, um sich auf diese Art den (vermeintlich) moralischen Diskursendsieg zu sichern. Obgleich eben diese Tendenz sich in jenen Jahren bereits abzeichnete, der böse Odem Stalins, nur eben inzwischen in seiner abgeschwächten Form. Aber es gab immerhin noch nicht diese digitale Brutal-Agora, auf der jede und jeder in einem sogenannten sozialen Medium sein Gewäsch ablassen konnte. Heute reicht solches Gesinnungsschnüffeln bis in die Literaturblogs hinein, wo ein Gemeinschaftsblog sich teils in Trieftrinenbetroffenheit und andernteils in Denunziationen verstrickt und sich zudem entblödet, Literatur nicht mehr ästhetisch nach Stil, Sprache Form, sondern nach den moralinen Erfordernissen einer verletzungsfreien Sprache zu betrachten und nach diesen Kriterien Literatur zu werten, Sensitivity Reading nennt sich dies. Obgleich auch diese Tendenz in manchen Debatten aus dem universitären Muff-Milieu der 1990er bereits angelegt war. Heute aber hat das ubiquitäre Verbreitung. Digital ist manchmal nicht nur wischiwaschi, sondern auch scheiße, weil unterkomplex.

Zum Glück aber war dieser Politscheiß damals, der nur die Fronten zu klären half, nicht alles. Am Ende zählt genauso die ironische wie auch die kritische Distanz, mithin eine ästhetische Haltung, die aber zugleich nicht Ironie im Dauerfeuer betrieb. Stil kann sich abnutzen. Die Klugen damals wußten dies und tarierten ihre Mittel aus. Oder wie wir es im Sinne der literarischen Frühromantik aufnahmen und im Sinne eines Novalis es betrieben: Denken heißt immer auch, die Fixierungen aufzulösen und sich nie stillzustellen.

Tocotronics Album „Digital ist besser“ brachte diese seltsame Haltung einer Jugend zwischen Aufbruch und Abbruch gut auf den Punkt, es fing eine Stimmung der Zeit ein, angefangen mit dem herrlichen Geschrammel ihres Songs „Freiburg“, dem ersten da auf der Platte. Dieser langsame Auftakt der Gitarre, in der Tradition der großen Gitarrenbands, zu dem sich dann der leicht jammernde, leicht genervte, leicht klagende Gesang gesellte, dem eine gewisse Blassiertheit auch beigemengt war. Dandy nicht von der Jungskleidung, wohl aber durch Haltung und Stimme.

Wer freilich mit einer gewissen Ahungsqualität begabt war, konnte damals schon bemerken, daß nicht nur das Digitale, sondern auch die ästhetische Haltung des Pop doch nur bedingt besser war oder zumindest nur dann, wenn man beides zu nutzen wußte. Heute dient das Digitale leider vielfach nur dazu, daß der Quark, Unsinn und Mist, der schon immer in den Köpfen vieler Menschen durcheinanderwirbelte und dann – wenigstens nur – in Worten die Welt zuschiß, inzwischen umso ungehemmter in die Öffentlichkeit geht. Und Pop, als Aufbruch und teils auch als Revolte gedacht, war bereits im Anfang kulturindustrielle Standardisierung von Gefühlen, die sich verkaufen lassen. Das ist nicht per se schlimm, man muß es nur wissen. Mir ist inzwischen Helene Fischers „Atemlos durch die Nacht“ lieber als Blumfeldverquaste Schlager. Verheißungsvolle Utopien erweisen sich leider allzu häufig mit Marx gesprochen als die „alte Scheiße“, die sich darin perpetuiert und damit auch die Utopie anfraß. Benjamin und Adorno wußten gut, weshalb sie die Utopie mit einem Bilderverbot belegten und schwarz verhüllten. Und Adorno wußte bis in seine große Ästhetik hinein, warum er gegenüber der Verwertung von Gefühl und Ausdruck als Schema kritisch blieb und der emphatischen Kunst die Treue hielt. Pop gehörte nicht dazu.

„Freiburg“ aber und „Drüben auf dem Hügel“ und viele dieser Songs der ersten Platte brachten die Subjektivität des Wahrnehmens, Denkens und Erkennens mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in eine neue Konstellation: Politik, ohne mit Politik dauernd zu nerven. „Ich bin alleine und ich weiß es/ Und ich find es sogar cool/ Und ihr demonstriert Verbrüderung“, wie es in „Freiburg“ heißt. Beginnend mit jener legendären, vielzitierten Zeile „Ich weiß nicht wieso ich Euch so hasse/ Fahrradfahrer dieser Stadt“, um dann diesen Haß in der letzten Strophe auf die Tanztheater dieser Stadt zu projizieren. Eine irgendwie noch pubertäre, kindliche Wut und zugleich der Geist der Rebellion aus dem Jugendzimmer und darüber hinaus, weil nun die ersten Jahre an der Universität kommen und die Lehrjahre in der Hamburger Schule beginnen. Aufbruch und Ausbruch.

Und dazu gesellt sich eine Gesellschaft im Westen, die die großen Krisen kaum kennt oder die sie von unseren Blicken weitgehend fernhält. Allenfalls damals im TV zu sehen, wenn wie im Januar 1991 plötzlich grüngetönter Krieg und Raketenschlag über die Mattscheibe flimmerte – Operation Desert Storm. Und eben auch wieder zugleich – darin lag dieser neue Modus von Politik – der ironische Ausbruch aus jenem monologisch-monadologischen Solipsismus der Ich-Existenz: „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“, wie Tocotronic auf dieser ersten Platte sangen, nein riefen und herausschrien, um zu evozieren, was eben nicht mehr so umstandslos in Pop und Gesellschaft noch möglich ist. Die Jugendbewegungen sind plural geworden und ein „1968“ als Chiffre und Geschichtszeichen, kulminierend in Woodstock und eben auch 1969 im Schrecken des Altamont Free Concerts, funktionierte nicht mehr. Funktionierte im Grunde schon damals nicht, weil es eben der partielle und nicht aufzuhebende Charakter dieser Sache ist, der nie das Ganze zu fassen vermag. Sondern Aspekt bleiben muß. Und das ist auch gut so. (Zumindest auf dieser Ebene unmittelbarer Regungen.)

Nein, die politische Haltung von Tocotronic, besonders von der Gegenwart und von den letzten zehn Jahren her, teile ich nicht. Aber ihre Platten, die Ästhetik dieser Songs, der Texte und der Musik also, sind stimmig. Pop-Musik und doch mehr als nur Pop – eben eine ästhetische wie auch kritische Haltung, zuweilen in einigen Textzeilen aufs Feld der Dichtkunst gleitend. Musik trifft nicht nur den Geist einer bestimmten Zeit, in der man als Subjekt lebte, dachte und wirkte und zugleich auch als Objekt umhergetrieben wurde, sondern ob jene Musik einen trifft und betrifft hängt auch mit einer gewissen Parallelität zwischen dem Geist jener Musik und der eigenen Gestimmtheit zusammen: Pop bringt die eigenen Bedürfnisse zum Ausdruck, es ist ein Reflexions- und Ausdrucksmedium für Gefühle und Stimmungen. Auch deshalb sind wir Fans dieser oder jener Band. Das mag trivial erscheinen, aber man sollte sich dies immer einmal wieder vor Augen führen, um die dahinter wirkenden Mechanismen wie auch den Wunsch nach Ich-Ausdruck und Ich-Gegenwart  zu verstehen.

Genauso zentral bei solchem Wahrnehmen ist jene Melancholie, die sich im Rückblick auf jene wunderbaren Jahre, als wir noch wilder und anders glühten, wie es Eva Strittmatter dichtete, zum Bewußtsein bringt. „Als wir träumten“ – Clemens Meyers wunderbarer Roman samt diesem hochgelungenen Titel bringt ein unbewußtes Bewußtsein zum Ausdruck: dabei gewesen zu sein, als Zeitgenossen, und doch wie selbstverständlich, traumwandlerisch in der Sicherheit irgendwie abwesend, nie ganz da zu sein. Eine Gegenwart, die wie selbstverständlich schien.  Anwesenheit, von der man glaubte, sie hielte – gerade in jenen jungen Jahren bis Anfang dreißig – und die doch vergeht, und dieser Verlust eben hinterläßt die Trauer. Pop singt davon und gibt jenen Jahren eine Stimme – zumindest die Musik von Tocotronic tat dies immer wieder, indem sie textlich  jene Themen und Fragen von Gegenwart und Jungsein aufgriff. Eine gegenwärtige Vergangenheit. Ohne zu verklären.

Der Sound dieser ersten Platte von 1995 und diese Texte haben insofern viel mit der Zeit zu tun, nicht nur biographisch, wie das bei fast jeder Pop-Musik der Fall ist, sondern auch als soziales Phänomen und vor allem deshalb, weil sie das bewußt-unbewußte Dokument jener Phase sind (die freilich jede und jeder dann auch wieder anders erlebte und wahrnahm): eben in jenem Jahr 1995 entstanden, und somit koppeln sich an die Musikstücke Erinnerungen an eine längst verflossene Zeit – freilich teils in einer kontingenten Verbindung. Auch diese Art von Synthese des Unverbundenen gehört zum Wesen des Pop dazu. (Auch zur Kunst sicherlich, aber dort in einer anderen Weise, weil es um Strukturen geht, die weit über die subjektiv-biographischen Gefühlswelten hinausgehen, wie sie für den Pop zentral sind.)

Doch kommen einem jene 25 Jahre im Rückblick zugleich sehr lang vor. Jenes Jahr scheint, wenn ich zurückschaue, wie aus einem anderen Leben und einer völlig anderen Zeit herüberzuwehen. Auch Pop hat seine Geschichte. „Sticky Fingers“ von den Rolling Stones erschien 1971. Etwa 25 Jahre später kam eine Band wie Tocotronic im Popgeschäft an. Auch an solchen Abständen sieht man, wie viel Wasser den Jordan floß und was alles sich in einer derart kurzen und dann auch wieder doch nicht kurzen Phase tat. Nicht nur musikalisch. Ob digital wirklich besser ist, weiß ich nicht. Das Schreiben von Texten zumindest macht es leichter. Aber auf alle Fälle war jene Platte von Tocotronic damals ein Ereignis und sie ist es heute noch. Tocotronic ist eine der wenigen Bands, die ich bis heute verfolge und höre.

 

Urbane Szenen – Wien, 6. Bezirk. Eine lyrische Vernichtung

Ich will die Nacht. Diese eine Nacht, die am Abend mit ihren Szenen und Bildern beginnt, die sich fortwirkt und ins Dunkle treibt, ohne jegliches Ereignis. Ich will die Nacht, kein Kokain, sondern die Starrheit der Dinge: Häuserwände in einem Julisommer in Wien, die von der Hitze des Tages noch ächzen, nicht dampfen oder in Verheißung glühen, sondern die beschwerlich harren, stehen und stöhnen wie unter einer Last, keine Menschen dort, nur Steine und der Dreck des Tages. Ein hingeworfenes Präservativ, Zeitungsseiten, Verwehtes, von Raumbesatz und Rantzsaum. Spuren. Abseitston, citywärts, Stephansdom, „Flucht und Himmelfahrten sind unsre Koordinaten.“ Fort von hier: Wien – Westbahnhof; die Mariahilfer Straße. All das Prosageschwätz, das bilderbeschreibend oder dichtend auftritt, ist nur enervierend, das vom Nichts oder vom Etwas handelt, von Dingheit und Wesen und Prosa-Singsang oder Parodie der Prosa, die ebenso leicht zu fertigen ist wie der hohlhohe Pathoston und der Gesinnungskitsch des blödsinnigen Prosabaus, Prosa erinnert mich merkwürdigerweise immer an Prostata und malignes Melanom. Diesem Konnex wäre nachzugehen. Wenn Rachitische beifallheischend Bedeutungssalat sinnlos ins Poesiealbum pressen, wie Mädchen Löwenzahn zierlich zwischen Buchseiten spreizen oder Dahlien zwischen ihren Schenkel drapieren und Lehrerprosa sich nachts ins Schreibheft ergießt. Ergötzlich istʼs wenig. Hinter den Fenstern noch Leben. Das ist mit Fragezeichen gesprochen – kein Leben! D-Zug Wien–St. Pölten oder die tschechischen Bäder. Salzsole, Kaltwasser aus Quellen. Ich möchte versiegen, ich möchte in einer Stadt flanieren, in der es keinen Menschen mehr gibt. Außer mir – ich bleibe, der einzige und für mich. Ich betrachte mich selber in spiegelnden Schaufensterscheiben, und aus den Auslagen greife ich mir die Dinge und Objekte, die ich besitzen möchte, um sie dann fortzuwerfen, sobald sie mich langweilen, wie der Photograph Thomas in „Blow Up“ jenen von den „Yardbirds“ erbeuteten Gitarrenhals, nachdem der Sänger die Instrumente zerschlug und als er die Trümmer einer Gitarre rotzig wie Popmusik, die morgen schon ihren Schnitt machen muß und die Rebellion als monetäre Monstranz zelebriert, ins Publikum pfefferte, daran die gerissenen Saiten noch schwangen und bitter zitterten, da alle versuchten zu greifen; der Gitarrenhals, fliegend und dann fallend, fangend, den der Photograph gegen die Meute bitter verteidigte, mit dem gerissenen Hals, mit dem er aus dem Saal rannte, immerzu stoßend und laufend, bis ihm kein Mensch mehr nachstellte, um von diesem Objekt der Begierde den Fetischteil zu kassieren, der freilich, wie der Photograph gut wußte, ohne Publikum als wertlos sich erwies. Und als jener Photograph bemerkte, daß er allein und für sich war, sowohl in dieser Welt als auch in dieser Stadt, nächtens, wirft er den Hals in einen der dreckigen Hauseingänge. Interessante Parodie auf den Fetischismus. Die unwissenden Kleinbürger, die einiges später, im Filmschnitt jedoch sogleich, diesen zerlegten Gegenstand bemerkten, den sie zwar nicht direkt für Müll hielten, aber doch als ein eigentümliches Grenzobjekt zwischen den Gattungen wahrnahmen, das für sie schwierig im Blick einzuordnen war, hoben das Ding auf, betrachteten es kopfschüttelnd und warfen es fast mit Zorn im Gesicht zurück in die alte Lage. Solche Szenen sind Teil der benjaminschen Geschichtsphilosophie. Ein kleines Stück Zusammenballung. Kein Abendnebel, keine Wallung. 6. Bezirk. Im Stadthauch ist Leere. Die unrasierte Schielemuschi an der Wand der Galerie. So sieht es aus. All der Gedichtscheiß, Geschichtsscheiß, der Gesinnungsrotz, das verlogenen Pathos des hohen und des niedren Tones. Protest ist so sinnlos wie Mitgehen. „Liebe ist kälter als der Tod“. Ich will den Film Noir. Ich hoffe, die Lage spitzt sich zu.
 

 

 

„Tocotronics“ rotes, neues Album

Der 1. Mai ist als Tag insofern bedeutsam, als ich nicht mehr in Konzerte gehe. Es sei denn, es werden dort Mahler, Beethoven oder Schönberg gespielt, und ich kann, während ich höre, gepflegt im Konzertstuhl sitzen. Gefesselter Konzertbesucher, der ich nun einmal im restbürgerlichen Habitus residual oder fragmentiert noch bin oder gerne gewesen wäre, sofern das überhaupt noch in diesem outrierten Zeitenfeld und in der verwalteten Welten möglich ist. Eine der besten Passagen Adornos aus der „Dialektik der Aufklärung“ weist auf diesen arbeitsteiligen Zustand der Deformation, der beide Parteien gleichermaßen betrifft. Kein Ort, nirgends und so bleiben einzig die den Wellen und dem Meer preisgegebene „Flaschenpost“ und die „Gesten aus Begriffen“ als Philosophie und ästhetische Theorie:

„Der Gesang der Sirenen aber ist noch nicht zur Kunst entmächtigt. Sie wissen ‚alles, was irgend geschah auf der viel ernährenden Erde‘ … Der Gedanke des Odysseus, gleich feind dem eigenen Tod und eigenen Glück, weiß darum. Er kennt nur zwei Möglichkeiten des Entrinnens. Die eine schreibt er den Gefährten vor. Er verstopft ihnen die Ohren mit Wachs, und sie müssen nach Leibeskräften rudern. Wer bestehen will, darf nicht auf die Lockung des Unwiederbringlichen hören, und er vermag es nur, indem er sie nicht zu hören vermag. Dafür hat die Gesellschaft stets gesorgt. Frisch und konzentriert müssen die Arbeitenden nach vorwärts blicken und liegenlassen, was zur Seite liegt. Den Trieb, der zur Ablenkung drängt, müssen sie verbissen in zusätzliche Anstrengung sublimieren. So werden sie praktisch. – Die andere Möglichkeit wählt Odysseus selber, der Grundherr, der die anderen für sich arbeiten läßt. Er hört, aber ohnmächtig an den Mast gebunden, und je größer die Lockung wird, um so stärker läßt er sich fesseln, so wie nachmals die Bürger auch sich selber das Glück um so hartnäckiger verweigerten, je näher es ihnen mit dem Anwachsen der eigenen Macht rückte. Das Gehörte bleibt für ihn folgenlos, nur mit dem Haupt vermag er zu winken, ihn loszubinden, aber es ist zu spät, die Gefährten, die selbst nicht hören, wissen nur von der Gefahr des Lieds, nicht von seiner Schönheit, und lassen ihn am Mast, um ihn und sich zu retten. Sie reproduzieren das Leben des Unterdrückers in eins mit dem eigenen, und jener vermag nicht mehr aus seiner gesellschaftlichen Rolle herauszutreten. Die Bande, mit denen er sich unwiderruflich an die Praxis gefesselt hat, halten zugleich die Sirenen aus der Praxis fern: ihre Lockung wird zum bloßen Gegenstand der Kontemplation neutralisiert, zur Kunst. Der Gefesselte wohnt einem Konzert bei, reglos lauschend wie später die Konzertbesucher, und sein begeisterter Ruf nach Befreiung verhallt schon als Applaus. So treten Kunstgenuß und Handarbeit im Abschied von der Vorwelt auseinander. Das Epos enthält bereits die richtige Theorie. Das Kulturgut steht zur kommandierten Arbeit in genauer Korrelation, …“ (Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung)

fee_786_587_pngIch schätze die Band „Tocotronic“ sehr, wenngleich ich mit den Stücken ihres neuen Albums, welches „das rote Album“ genannt wird, weil es von der Grundfarbe rot ist, allerdings optisch-drucktechnisch retrogradig mit einigen künstlichen Spuren des Abblätterns oder Abriebs versehen, wenig anfangen kann. Aus diesem Album gefallen mir – zumindest nach dem ersten Hören, vielleicht ändert sich das noch – nur drei Lieder wirklich gut. Von den Texten reicht es lange nicht an das letzte Album „Wie wir leben wollen“ heran. Das Subtitele, fast schon Lyrische oder zumindest doch Dichterische bleibt in „Wie wir leben wollen“ ohnegleichen, ebenfalls das Musikalische, das zwar einerseits an die letzten Alben anknüpfte, aber dennoch einen Sprung machte, und das gab es in dieser Reife bei Tocotronic bisher nicht. Ich halte „Wie wir leben wollen“ für ihre beste und am klügsten auskomponierte Platte. (Ästhetische Form ist immer ein Phänomen des Gesamtzusammenhangs, isoliert nicht die Momente.) Die frühen Alben aus den 90ern freilich – „ K.O.O.K.“  mit dem legendären Song Let there be rock bildet bei „Tocotronic“  allerdings einen Wendepunkt und in einem bestimmten Sinne knüpft das rote Album daran wieder an – sind von einem anderen Kaliber: Wie bei jeder Band, die neu kommt, herrscht der Sturm-und-Drang vor. Wilder, aufbegehrender Rock von jungen Menschen, Zwanzigjährige, die Teil einer Jugendbewegung sein möchten und doch bereits abgeklärt in ihren so jungen Jahren, wissen, daß diese epochemachende Musik und Phase längst vorüber ist.

Das Moment des Pophaften überwiegt auf dem roten Album. Es ist, so heißt es, eine Platte, die von den Teenagern handelt. Sophie Hungers (nach einem Interview aus dem „tip“ mit Dirk von Loewtzow zitierte) Bemerkung jedoch über „Die Erwachsenen“, „das Stück sei dreimal um die Ecke gedacht und trotzdem mitten ins Gesicht“, kann ich nicht nachvollziehen, die subtile Drehung dieses Stückes entging mir. Im Gegenteil, viele der Texte scheinen mir eher unidirektional aus dem Hallraum des Jugendzimmers zu stammen. Vielleicht muß man sich beim Hören dieses „roten Albums“ die Welt des Teenager-Seins wieder vergegenwärtigen. Das ist für einen mittlerweile älteren Menschen nicht unbedingt mehr leicht, es bedarf dazu der Übung, sich in den ästhetisch-literarischen Imaginationen, von den Flügeln des Phantasie getragen, in diesen Zustand zwischen Euphorie und (Hormon)Verwirrung, Umbrüchen, Zeitenwende des Privaten, Wildheit, ungestümer Emotionen und Verhaltenheit zurückzuversetzen: in jene Zeit des Liebens und Lebens, als alles an Welt noch vor einem lag und fast alles an Zielen und Wünschen möglich erschien. Omnipotenz, Schönheit des Körpers, Narzißmus und hemmungsloser Kleinmut sowie radikaler Selbstzweifel gingen die im Leben wohl einmalige Konstellation ein. Wie es nie mehr wiederkehren wird. Auf eine interessante und witzig-trickreiche Weise unternimmt diesen Versuch, diese Jahre einzuholen, übrigens der Schriftsteller Navid Kermani in seinem 2014 erschienenen Buch „Große Liebe“: Sich in die Perspektive des 15-Jährigen zu begeben, darin er den Gefühlshaushalt dieses jungen Mannes, dieses alten Kindes in den 80er Jahren, inmitten der politischen Auseinandersetzungen um Atomkraft und Nato-Doppelbeschluß, mit den Texten arabischer Mystik kontrastiert. Die erste Liebe zu einer Frau, die drei Jahre älter ist, die er in der Oberstufenecke bei den Rauchern betrachtet. Solche Liebe der Jugend ist Erleuchtung und Verblendung in einem. „Gedauert hat diese große Liebe, um die mein Gedächtnis so viel Aufhebens macht, keine Woche, gerechnet vom ersten Kuß bis zur Trennung, der Trennungsschmerz natürlich länger, in gewisser Weise bis heute, sonst würde ich nicht unsere Geschichte erzählen.“ (Navid Kermani, Große Liebe“) Das Schöne, die Melancholie und die Tücken dieser Zeit fängt Kermani wunderbar ein, und es ist ein kluger Schachzug, der von der Unmittelbarkeit des Erlebten wiederum distanziert und eine Reflexionsstufe dazwischenschaltet, wenn er die Überlegungen der arabischen und persischen Mystiker da einfließen läßt, wo der Schmerz immer noch zu treiben vermag.

Vielleicht muß ich diese Platte von „Tocotronic“ mehrmals hören, vielleicht beim Autofahren über die Weite der Landstraßen Brandenburgs, bis nach Sachsen hin, wenn ich die Felder und die Wälder beobachte, wenn ich an einem Waldweg das Auto stoppe und ich halte an, und es spielt die Musik. Vielleicht klingen dann Erinnerungsfetzen nach, als Bilder materialisiert, im Kopf des älteren Mannes. Und wie verweht ziehen die Brüche durch den Kopf. Zeichenhaften Elemente und das bildet dann ein Muster, in dem wir uns erinnern, wiederholen und durcharbeiten. „Jungfernfahrt“

„Tocotronic“ spielte am 1. Mai im SO 36 ihr sogenanntes Club-Konzert, um ihr Album vorzustellen. Mir war in der schlauchartigen Halle die Akustik zu schlecht, es taten die Ohren weh, auch gefiel mir die Auswahl der gespielten Stücke nur mäßig. Es war ein nettes, freundliches Konzert, von einer netten, freundlichen plüschophilen Band eben, die ich sehr schätze. Als ich dann wieder zu Hause und gemütlich in meinem Sessel saß, um in den Gedanken den Abend ausklingen zu lassen, war ich froh, in meiner stillen, weitläufigen, friedlichen Wohnung mich zu befinden, im komfortablen Grandhotel Abgrund. Das schöne an Kreuzberg ist, wenn man dann wieder fort ist. Nichts Schlimmeres als das Maifest. Was jedoch das Heruntergeranzte dieses Viertels betrifft: da sieht es auch zu den Zeiten, wo kein Maifest befriedet, nicht viel anders aus. Insofern paßt dann wiederum der Görlitzer Park nach Kreuzberg. Jeder Stadtteil hat, so will es mir scheinen, die Parks, die ihm gemäß sind.

Die Tonspur zum Sonntag – Tocotronic in Concert: Atlantic City oder Zabriskie Point?

Der Betreiber dieses Blogs wird seine Leserinnen und Leser am 1. Mai diesen Jahres leider nicht mit Photographien von der ungemein revolutionären 1. Mai-Demo versorgen können, wie bereits letztes Jahr und Male davor, weil er an diesem Tag beim Konzert von Tocotronic im SO 36 in besinnlicher Gestimmtheit, vom Ereignis träumend, zuschauen wird. Denn am 1. Mai kommt die neue Platte der Band heraus, und da gibt es in Berlin ein Auftaktkonzert und da gehen wir hin. Naturgemäß. Wenngleich eigentlich zu alt für diese Dinge. Die Platte heißt, passend zum Datum, aber leider doch etwas zu kokett gewählt „Rotes Album“. Aber womöglich löst sich der Titel im weiteren der Stücke in andere Richtungen hin auf. Allerdings ist das mediale Eröffnungsvideo zur Platte ungemein anregend und fein gemacht, es erinnert mich stellenweise und assoziativ an „Zabriskie Point“ von Antonioni. Faszinierend an diesen getexteten und gefilmten Sequenzen ist es, daß sie gleichermaßen sehr junge wie auch die in den 80ern und 90ern poststrukturalistisch studieren Menschen ansprechen. Bild/Text-Schere. Es gibt die Revolution nur noch im Kinderzimmer und in den Sprachfetzen. Wir Abgeklärten wissen dies und sinnen sentimental. Während die Jungen wild den Traum des Anderen und vom Ereignis träumen. „Zabriskie Point“ ist abgelebt. Es blieb ein Reigen der Bilder, ohne Tat. Keine Explosionen der Hochkomfortzone, kein Fernseher, der implodiert oder im Bilderreigen der zerstiebenden Dinge explodiert und Fetzen schleudert, keine Bilder, die zerspringen und sprengen und destruieren. Dafür eine blonde Frau mit dunklen Augenbrauen, die mein Reiz-Reaktionsschema bedient und die in Abwandlung oder Erinnerung fast so ausschaut wie die, mit der ich vor über 20 Jahren Becketts „Endspiel“ im Takt von Adorno referierte, kontemplierte. Odradek oder Žižek? Meeresgrund und Tiefenrauschen. „Wir werden das System durchschaun!“. Ereignis, Fischgrund, Fischgeruch deiner Scheideninnenwand.

In rund einem Monat, das Konzert:
Ich freue mich auf diese Ekstase//dieser wilden Abtanzphase//Im Vollzug die Photos machen//1. Mai und wilde Sachen. Na ja. Gut.

Vom Duktus her ist diese Lyrik von Tocotronic zwar assoziativ, aber die Koppelungen sind mit Sinn und Verstand gebaut. Wie immer bei dieser großartigen und klügsten deutschsprachigen Band, für die ich eigentlich zu alt bin. Ausbruch und Sandweg und im Phantasma der Bilder geht die Welt auf. Unter dem Pflaster und kein Strand. Glycerine.

„Let there be rock …“: Tocotronic in Concert

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Es gibt Rezensenten, die schreiben witzig, bildhaft, lebendig, mit Esprit, überbordend, sich verausgabend und phantasievoll – so auch der Verfasser dieser Blog-Kolumnen. Eine besondere Kunst ist es allerdings, in dieser Art und auf diese Weise ebenfalls Konzertkritiken, spezieller noch Besprechungen über Veranstaltungen populärer Musik zu produzieren. Mir selber gelingt das nicht: eigentlich kann ich so etwas nur in monotoner Reihung schreiben und das aufzählen, was der Fall ist: Die Band kommt auf die Bühne, sie begrüßt das Publikum, sagt nach dem zweiten oder dritten Song, daß jene Stadt, wo die Band gerade spielt – sei es Leipzig, Berlin, Wuppertal oder Hamburg –, die tollste Stadt mit dem wildesten und besten Publikum sei. Die Band musiziert, das Publikum tobt oder applaudiert enthusiastisch, manchmal auch andächtig. Dann spielt die Band das nächste Stück, das Publikum gerät in Ekstase. Am Schluß des Abend werden drei oder vier Stücke Zugabe rausgehauen.

Ich besuch selten Veranstaltungen, auf denen populärer Musik dargeboten wird. Es ist mir dort in der Regel zu voll, Menschen harren dicht und müffelnd vor mir. „Dicht“ kann man als Teekesselchen nehmen, und zwar im Sinne von „zu nah dran“ und als „unter dem Einfluß schädlicher Betäubungsmittel stehend“.

Fein mag es sein und es erweitert den Horizont des Musikwissens, wenn vor der Hauptband, um derentwillen der Blogbetreiber im Grunde das Konzert besuchte, eine Vorband auftritt. Manch angenehme Überraschung kann sich da von Zeit zu Zeit verbergen. Aber ich halte es dennoch für eine undankbare Aufgabe, als Vorband aufzutreten. Zumal ich selber als Zuschauer und Zuhörer sehr schnell ungeduldig werde. Auf diesem Konzert nun war zumindest die Vorband nicht so schlecht, daß ich anfing, mit den Füssen zu scharren. Aber sie war trotzdem nicht so gut, daß ich mir deren Namen merkte. Ich weiß nur noch, daß eine Frau mit kräftigen Oberarmen, auf einem dieser Oberarme war ein schmales Tattoo graviert, und ein junger Mann mit einem Jünglingsgesicht auftraten. Sie betastete einen Synthesizer, er beschlug ein Schlagzeug. Kurz kam auch Rick McPhail zu einem Gitarrenauftritt herüber. Aber die beste Vorgruppe gleicht mein Begehr nicht aus: ich will Tocotronic hören, keine Vorgruppe, ich habe mich auf deren Musik eingestellt, lasse die Stücke innerlich in mir anklingen, denke mir aus, welche Lieder aus welchen Alben sie spielen könnten. Kommt „Pure Vernunft“, bringen sie „Neue Zonen“ oder welche Stücke überhaupt von diesem neuen, tollen, wunderbaren, gut gemachten Album? Man sinniert in Vorfreude und möchte eigentlich nichts anderes als unendlich lange Tocotronic lauschen, schwelgen, reflektieren über die Brüche und Risse, die Kontinuität. Und den Wandel einer Band innerhalb einer oder zwei Stunden im Kurzdurchflug dargeboten zu bekommen. Nein, ich halte von dem Prinzip Vorgruppe nichts. Das ist, als spielte man vor dem „Rheingold“ plötzlich und unerwartet eine Klaviersonate von Brahms.

Eigentlich wollte ich gar nicht auf dieses Konzert, denn Lärm, Enge, Menschen in Vielzahl sind mein Fall nicht, aber dann ging ich doch. Ich bereute es nicht eine Sekunde. Ja: am 14.4. spielten Tocotronic zum Abschluß ihrer Tournee „20 Jahre Tocotronic“ und um ihr neues Album vorzustellen in der Columbiahalle auf. Der Umzug nach Berlin tat Tocotronic musikalisch sichtlich gut, was wir an ihrem neuen Album „Wie wir leben wollen“ hören. Berlin bietet diese Weite des Blickes, das Subtile, das Raue, das sich mit der Klarheit bindet: die Klarheit einer Struktur. Berlin schafft Veränderungen im Stil, in der Performanz, die in anderen Städten nicht möglich wären, die Enge Hamburgs haben Tocotronic mit dieser wunderbaren neuen Platte endgültig überwunden.

Und dann war es soweit: Die Band betrat die Bühne, die Band spielte auf, die Zuschauerinnen und die Zuschauer applaudierten, tosen, tobten, es war viel junges Publikum anwesend, aber auch manche(r) in meinem Alter. Diese Wesen, die Ende der 40er sind und es nie glauben wollen, treibt die Wehmut ins Konzert. Wie wir leben wollen? Nein, so wie einst in den wilden 80ern, den wilden 90ern – wir, die wir nicht unbedingt oder zumindest nicht so schnell erwachsen werden mochten –: das geht in solchem Exzeß nicht mehr. Das wilde Leben glättete sich. Tocotronic-Stücke erinnern mich an die gerauchten Zigaretten, die Lieder von Tocotronic wecken die Erinnerung an eine durchzechte, wunderschöne Nacht, mit der einen, der einzigen Frau. Dein blondes Haar im Fahrtwind. Der Geruch deiner Haut. Deine zärtliche Geste. Derrida und Foucault. Auch dies war Tocotronic. Und jenes verformte Wittgensteinzitat vom Reden und vom Schweigen – herrlich in den Zusammenhang einer Nacht in irgendeiner Bar gebracht. Liebe ist Konstrukt, Liebe ist Text. Hinausgeschrien von Dirk von Lowtzow. Unsere Philosophie, in der wir uns so unendlich wichtig nahmen, weil wir sie auch als Habitus benutzten und uns im Distanzmodus überstülpten. Zweierdistanz, während meine Finger halb-schüchtern den Saum deiner weißen Unterhose hochschoben, um dann weiter in deine Möse zu gleiten: „Herrgott nochmal, nur noch eine Stunde, nur noch ein Tag, let there be rock, verflixt nochmal.“ Das alles schoß in den Kopf in den kurzen Momenten im Dauerblitz der Stroboskope, diese Blitze, die in den Zuschauerraum stießen. Und die Erinnerungsfetzen, die mit den Lichtern sich überblendeten zum Bild.

Laut und klar der Sound. Tocotronic spielte einige Stücke der neuen Platte, aber auch viel Altes wurde dargeboten. „Freiburg“: sicher, sicher: das darf nicht fehlen: „Ich weiß nicht warum ich euch so hasse: Tanztheater dieser Welt.“ Oder „Meine Freundin und ihr Freund“ die erste Single-Ausspielung von Tocotronic. Die Band bot eine überraschende, aber doch gute Auswahl aus ihren 10 Alben.

Natürlich, immer wieder, schöne Liebeslieder: „Ich will für Dich nüchtern bleiben.“ Zu den Musikstücken lief im Hintergrund eine Video- und Bildershow. Zeichnungen, Filme, Bilder, die auf eine Leinwand projiziert wurden, untermalten die Lieder. Besonders herausragend dabei die Illustrationen. Es hätten statt der Photographien oder der Filmsequenzen am besten als Bildhintergrund den ganzen Abend über die Zeichnungen, Bilder, Skizzen von Grafik-Designern eingeblendet werden müssen. – oder noch besser – wie ich es einmal auf einer Lesung erlebte, hätte eine Illustratorin das Konzert im Live-Modus kommentierend mitzeichnen müssen, und diese Skizzen projizierte dann, im Akt ihres Entstehens, ein Apparat auf jene Leinwand. Zu Tocotronic und ihrer Musik würde es sicherlich und allemal gut passen, zumal der Schlagwerker Arne Zank immerhin in Hamburg an der Fachhochschule für Gestaltung Grafik-Design studierte.

Während Tocotronic ihre Stücke dem Publikum präsentiert, wirkte da im Hinterkopf von mir eine kurze Hoffnung: ob die Band diese beiden Stück wohl spielen wird, die mir so wichtig sind: „Nach Bahrenfeld im Bus“ und „Let there be Rock“? Ach, und es riefen sogar einige im Publikum lauthals nach dem Bahrenfeld-Stück. Wie schön, daß auch die heute jungen Menschen diesen einen Augenblick, als gedehnten Lebensmoment in die Musik gebracht, immer noch hören wollen. (Um wenigstens hin und wieder die Selbstaffektion zu betreiben und auf meinen eigenen Text zu verweisen, wo ich Bahrenfeld darbiete, sei Leserinnen und Lesern dieser Link nahegelegt.)

„Nach Bahrenfeld im Bus“ ist ein Existential trunkenheitsfeiner Verlassenheit, so denke ich mir als Konzertexkurs: Wie wir leben wollen. Zu diesem Lebensgefühl, das nur zu einer ganz bestimmten Zeit überhaupt möglich ist, spielt, schimmert, klingt dieser wundervolle Sound der 90er Jahre, scheppert die Gitarre über eine Minute lang, haut und schlägt den Takt, zusammen mit dem Schlagzeug, langsam auftakelnd: und dann diese Zeilen: „Halt mich fest, ich glaub ich brauch das jetzt. Kauf mir ein Bier. Ich trink es dann bei mir …“ Reduzierter läßt sich eine Nacht, ein letzter gemeinsamer Abend in einer Stadt, wo sich zwei Menschen trennen, nicht auf den Text-Punkt bringen und zu einer Klang-Text-Collage verdichten. Sieben Textzeilen, die in fast fünf Minuten Klang gebetet sind.

When the music plays: und wie ich auch wünschte und hoffte, doch diese beiden Lieder kamen partout nicht. Die Band verausgabte sich, rockte über Stunden und irgendwann ist, wie mit allen feinen Dingen, Schluß. Nach zwei oder drei Zugaben war das Konzert zu Ende, es wurde eine Hintergrundmusik gespielt, und zwar von Ingrid Caven „Die großen weißen Vögel“. Die Besucher verließen die Halle, was ich nicht verstand, denn dieses Lied wählte Tocotronic klug, gut und mit Bedacht, weil es zum Konzert paßte. Doch eine Gruppe Unentwegter und Eingefleischter verharrte vor der Bühne und beharrte auf Musik, applaudierte, stampfe, klatschte formschön-laut, dröhnte, rief zum Dunkel der Bühne hin. Unentwegt. Bis Gestalten sich im finsteren Bühnenhintergrund zeigten, winziges Lichtglimmen und die Band noch einmal auftrat, spielte und in den Saal schrie und wir: wir schrien, schrien und sangen mit: Let there be rock!

http://www.tocotronic.de/videothek/let-there-be-rock/

Many thanks, Tocotronic, für diesen wunderbaren Abend, für phantastische 20 Jahre Musik, die ich vom Anfang bis heute begleiten durfte, vor allem aber für dieses große Album „Wie wir leben wollen“. Was die Texte zur Musik anbelangt, so sind nur wenige Bands zwanzig Jahre lang auf der Höhe ihrer Zeit und haben das Frühlingserwachen und die Formen von Jugend auf den Musik- und Textpunkt gebracht.

Und alles was wir hassen
Seit dem ersten Tag
Wird uns niemals verlassen
Weil man es eigentlich ja mag

Weiterentwicklungen – Compendium in Furore („Denn das ist Rock ʼnʼ Roll“)

In einem der Kommentare des gestrigen Tages gebrauchte ich für die Musik des neuen Albums von Tocotronic die Wendung, die Band habe sich weiterentwickelt. Darauf intervenierte Alterbolschewik und strich den beleidigenden Charakter dieses Begriffes gegenüber Rockmusikern heraus.

Ja, es ist – durchaus mit Bedacht gewählt, denn der Schreiber dieser Zeilen kann ein gewisses Ressentiment nicht verhehlen – „weiterentwickeln“ ein Begriff, der nicht als Auszeichnung zu sehen ist. Ich schrieb das Wort „weiterentwickeln“ ganz bewußt und ehrabschneidend, um die Musikerinnen und Musiker unter meinen Leserinnen und Lesern zu provozieren, zu ärgern, gegen mich aufzustacheln.

Und natürlich als Rache: Rache für alle die Partys, wo es Musiker gegenüber dem poststrukturalistischen Dialektiker immer sehr viel leichter hatten, mit der attraktiven und zugleich hochphilosophisch gebildeten Frau, die alle Männer gleichermaßen interessant fanden, zu flirten und ins Gespräch zu kommen. Denn die hochphilosophische Frau war durchaus dem Sinnlichen zugetan. Sie war umworben, mein Platz an ihrer Seite nur dem (leider vergänglichen) Moment geschuldet. Der Musiker nahm in reiner Unmittelbarkeit einfach nur so seine Gitarre, spielte eine fröhliche, besinnliche, romantische oder unschuldige Weise und fertig war’s. Egal ob „Angie“, „Holiday in Cambodia“, „Zombie“ oder „Smells Like Teen Spirit“ – es verfing immer. Ich hingegen mußte mich sehr viel mehr bemühen und abrackern: Es reicht auf einer Party nicht aus, die neuesten Theoreme aus Frankreich oder Italien wiederzugeben und mit einem Schuß Kritischer Theorie, Hegel, Nietzsche und Ästhetik auszubauen und damit Theorie in die Polyphonie umzupolen, ganz zu schweigen davon, daß die Theorie am Ende des Abends gar praktisch würde – schnell schallte als Antwort „Ich geh mal kurz ein Bier holen, bin gleich wieder da“. Aber Da-Sein war nirgends, war Abwesenheit ohne Ankunft, Präsenz und Hoffnung. Da nütze mir der hintergesprochene Verweis auf Heidegger nicht viel: die Frau kam nicht wieder. Definitiv. Insofern mußte ich das profunde philosophische Wissen mit Witz und biographischem Einschlag samt Anekdoten paaren, um überhaupt eines Zuhör- und Flirterfolges teilhaftig zu werden. Darin lag das soteriologische Moment zielführend-anbalzender Partykommunikation gegründet. Meine Theorie des kommunikativen Handelns orientierte sich sensu originale und sensu stricto gleichermaßen gendermäßig, weshalb ich mich mit Recht und auch mit Fug als einer der ersten (männlichen) Kritisch-Theoretischen Genderphilosophen der späten 80er und der frühen 90er bezeichnen darf. (Und ab 1 bis 2 Uhr nachts gilt auf jeder Party, in den Worten Rilkes trunken in die trübe Düsternis auf dem Fahrrad beim Nachhausefahren genuschelt: „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben“)

Jedoch: Bis diese Konstruktionsleistung eminent gender-moderner und durchkomponierter Unterhaltung unter Einbezug von Kairos, Augenblick, Spiel und Zufall glückte und gelungen zustande kam, so daß gleichsam eine Art von Metanoesis in den erotischen Ausdrucksformen performativer Weiblichkeit sich einstellte : Bis dahin hatten die Musikerjungs schon zwei oder drei Stücke auf ihren rau klingenden Gitarren vorgetragen, mit schmelzender Stimme das Herz erweicht: dem folgt deutscher Gesang, wenngleich das früher noch Liedermacher und nicht Singer-Songwriter hieß. Was nützten mir da Adorno, Lederjacke, schwarzes oder weißes Hemd, cool im Mundwinkel hängende Zigarette, snobistische Äußerungen über den schlechten Geschmack des Partygebers sowie die mindere Qualität des Weins samt der Hauseinrichtungsgegenstände, was half jener an Heine und Kraus gemahnende Witz gegen ein einziges sinnlich vorgetragenes Lied? Und ich wußte fortan: der Junge mit der Gitarre – das würde ich niemals sein. Die feinen Unterschiede: das ist mehr als eine Soziologie der Herrschaft.

Nicht anders, früher, in der Schulzeit beim Sport: während die tüchtigen Jungs durch Sprint-, Sprung- oder Stufenbarrenleistungen glänzten, Kugeln stießen, Speere warfen, Diskusscheiben schleuderten, Medizinbälle stemmten und im Basketball Korbleger legten, blieb mir der Platz des böse blickenden Zuschauers übrig. Und wenn es beim Basketballspiel schalte: „Bersarin, werf den Ball endlich rüber!“, konnte ich nur kontern und rufen: „Es heißt ‚wirf‘: Imperativ, Erweiterung des Stammvokals!“ Was dazu führte, daß Sportlehrer, Gegner und eigenes Team ob dieser ungewöhnlichen Spielunterbrechung entgeistert dreinblickten. Lediglich einige der auf den Holzbänken zuschauenden Mädchen in ihren weißen, knappen Sportshorts lachten herzlich. Und darum ging es ja schließlich. Um die Mädchen, um die weißen Sportshorts und um das, was darunter war. Der Weg dahin führte über zweierlei: Sprache und Wortwitz – in einen Begriff gefaßt: Esprit. (Also, nicht als Bekleidungsmarke genommen. Popper, die tummelten sich zu dieser Zeit, als ich die Oberschule besuchte, zahlreich.)

Ich war, was den Sport anbelangte, nicht ungelenkig oder dick (im Gegenteil): ich war einfach nur unsportlich, an Sport nicht interessiert und in Musik nicht talentiert genug. Dieser Mangel läßt sich durch einen bestimmten Habitus ausgleichen, so sinnierte ich. Aber Sprache und Witz allein reichen nicht hin. Am Ende hängt es an der Person, an den Distinktionen, und das wußte bereits Karl Kraus nur zu genau: „Gute Ansichten sind wertlos. Es kommt drauf an, wer sie hat.“ Gitarrespielenkönnen mag da ein Standortvorteil sein, wobei die Musik durchaus eine Sache ist, die auch um ihrer selbst betrieben werden sollte. Nur war mir das leider nicht möglich. Und so überlegte ich mir: mach doch etwas besonders Schwieriges! Ich nahm  mir Hegels „Phänomenologie“, erwarb mir durch reichhaltiges Trinken eine gewisse Alkohol- bzw. Wein-Kompetenz, dann dachte ich mir „Ach, tu doch Adorno und Derrida mit hinzu, das verfeinert die Angelegenheit!“ Und so wurde ich der, der ich bin, glänzte auf Studentenparties mit gallig-schwarzen Bemerkungen, zitierte von Walter Benjamin die Textstellen mit dem eschatologisch-metaphysischen Einschlag, freute mich diabolisch am Verhängnis und streute Überheblichkeiten. Zu dem gitarrespielenden jungen Rivalen konnte ich dann, im Beisein von Mädchen, nonchalant, entgegnen: „Du hast Dich seit dem letzten Jahr aber gut weiterentwickelt!“ Und da nützte es dann nichts mehr, wenn der Junge mit der Gitarre und der Mundharmonika „Love my Ständer“ spielte. Im Witz des Wortes war ich schneller. Und Linda Lovelace (oder lovely dark Esther) schaute mit ihrem erratisch-erinnyschen Lächeln tief in meine blauen Augen, während ihre Finger durch ihr sommerlanges Haar spielten: Esse est percipi.

Alkohol (Alcools), Verbotsirrtum, virale Delirien. Krankenlager, Prämortem samt Arbeit der Lyrik

Ich liebe auf dem Lager, dahingestreckt, ich kann flanieren, jedoch: ich darf nichts trinken.

Dunkel öde und leer/ist das Meer.

Der Riesling ist mir verwehrt, der Whisky sowieso, des Väterchen Frosts Wodka nicht mehr mein Geselle und die weibliche Anmut und Tiefe eines Merlots bleibt mir ebenfalls verwehrt. Und jene grausame Schöne, nach der ich mich verzehre, die weilt in der Ferne: Bordeaux-Wein: „Andenken“ [„Geh aber nun und grüße/Die schöne Garonne,/Und die Gärten von Bourdeaux/Dort, wo am scharfen Ufer/Hingehet der Steg und in den Strom/Tief fällt der Bach, …“.] Ach weh, da greifen wir Reste-Romantiker des profanisierten Alltags, wir Wiedergänger abstrakter Betäubung und Bestäubung inmitten der entzauberten, in ihrem Gehäuse aus Stahl daliegenden Moderne, wir Dandys der puren und zugleich überschäumenden Vernunft zu den bewährten Gedichtbänden, um uns von Texten, von Sprache, vom großen Gelausche umzingeln zu lassen, in den Text eingehend, einfließend, sich in einer Art von Mimesis ins Text-Kunstwerk einschmiegend- anschmiegend. Denn der strukturale und emphatische Nachvollzug dessen, was in einem Kunstwerk geschieht, gelingt nur über die Preisgabe des Selbst, und zugleich ist im selben Akt das höchste Maß an Subjektivität vonnöten. Botho Strauß schrieb in seinem Roman „Paare, Passanten“: „Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer, aber es muss sein: ohne sie!“ Diese Sentenz ist, wie so vieles, was Strauß thesenartig schrieb oder nationaltumb proklamierte, falsch. Nur in einer dialektischen Konstellation gelingt es, mit dem Text in eine Korrespondenz zu treten und des Fremden im Eigenen, des Anderen gewahr zu werden, ohne es im Überschuß von Subjektivität zu annektieren oder zu erdrücken.

Und ich lese es an Ihren Augen ab, liebe Leserinnen [ich will nur noch Frauen um mich haben, die mich lesen, nicht anders als Bertrand Morane in jenem Tuffaut-Film „Der Mann, der die Frauen liebte“: er verletzt sich schwer, als er die Straße überquert, sich nach einer Frau umsehend, und vor ein Auto läuft. Der Tod trifft ihn dann im Krankenhaus. Um sein Sterbe-Bett stehend – die Frauen]: Sie wissen, zu welchem Buch ich gleich greifen werde, um Ihnen von dort heraus sämig und samtig vorzuzitieren?! Mit meinem Timbre in der Stimme? Und ich stelle es mir vor, wie Du, jene Eine, mit Deinen schmalen Fingern durch die Haarspitzen streichst und sinnlich Deine blonden Haare über die Schulter wirfst. Und Dein helles Lachen. Dein Akzent in der Stimme, der hallt im Kopf nach. Oder ist es eher ein Dialekt, kein Akzent?

Ich habe mich in der ersten Zeile, zum Anfang des Textes, als ich den Text in meinem Schreibprogramm intuitiv herunterrasselte, verschrieben: Écriture automatique, die Logik des Unbewußten setzt sich gerade im schnellen, flüchtigen Schreiben, Denken oder Handeln durch und schlägt, wie bei den Freudschen Fehlleistungen, erbarmungslos zu. Denn: Ich liege auf dem Lager, dahingestreckt, … Mehr nicht.

Et tu bois cet alcohol brŭlant comme ta vie
Ta vie que tu bois comme une eau-de-vie

Es sind die Gedichte von Guillaume Apollinaire, jenem taumelnden, schreibenden, trinkenden, imaginierenden, durch das wunderbare Paris flanierenden Dichter, seine Meditationen zur Ästhetik; der Kunsttheoretiker, der den Begriff Kubismus als Kunstkritiker zu etablieren half, der jenes Gedicht vom Pont Mirabeau schrieb, unter dem Seine und Zeit so schön, still und melancholisch dahinfließen, auf ewig und immer:

Passent les jours et passent les semaines
Ni temps passé
Ni les amours reviennent
Sous le Pont Mirabeau coule la Seine
Vienne la nuit sonne l‘heure
Les jours s‘en vont je demeure

Doch Bleiben ist nirgends, wußte andererseits schon Rilke. Eingemeißelt auf einer Bronzeplatte steht der Text in Paris da: an jener Brücke, über deren Geländer sich Paul Celan am 20. April 1970 schwang und in der Seine trieb. Tage später als Wasserleiche angespült und gefunden. [Alle diese unsichtbaren Linen, Verbindungen und Korrespondenzen.] Apollinaire schrieb erotisch-pornographische Prosa und solche in der Tradition der schwarzen Romantik. Unvergeßlich aber sein Gedichtband „Alcools“, der in deutscher Sprache nur antiquarisch verfügbar ist.

Hier im Hause, in meiner Bibliothek, an meinem Schreibtisch oder auf dem Sofa liegend (nicht liebend) erzeugt sich diese Trunkenheit lediglich durch die Arbeit der Gedanken oder wenn der Kopf wieder zu schmerzen anfängt.

Die Nähe Benns aus diesen Zeilen ist – einerseits – kaum zu überhören:

Pariser Nächte gin-betrunken
Elektrisch flammend grell und heiß
Tramways mit grünen Feuerfunken
Sie musizieren schrill im Gleis
Stolz im Maschinenwahn versunken

Im rauchgewschwängerten Café
Schreit wirbelnde Zigeunerliebe
Schrein Syphons prustend vom Buffet
Und Kellner hastend im Getriebe
Dir zu daß ich dich lieb seit je

Gut, Gottfried Benn wäre da abgeklärter und proklamierte nicht Liebe, sondern stocherte im solipsistischen Ich herum, das sich mit dem Lärm im Romanischen Café vermischt und eins wird. Diese Nicht-Deklamation kommt uns Solitären im Grandhotel Abgrund sicherlich näher als der Liebessound heißer Nächte, den wir lediglich in unserer Imago bewahren. Und mit Tocotronic abschließend, bleibt nur zu schreiben, daß die Revolte in mir sich abspielt. „Die Revolte ist in mir“:

Erfolgreiche Freunde
Geißel der Menschheit
Erfolgreiche Freunde
Pest der Existenz

Leuchte mir!
Feuer der Furcht
Und Verzagtheit
Und der Impotenz
In meinem Körper nisten die Viren
Die Ambitionen die mich vergiften
In meinem Körper die schwarzen Löcher

Ornament und Versprechen. Teilzeit- und Freizeiterotiker – plüschophil

Am 29.1. gab es im Lido ein Konzert der besten deutschsprachigen Band, nämlich von Tocotronic. Ich konnte leider aus verschiedenen Gründen nicht auf dieser Veranstaltung weilen. Wie der dort anwesende Jens Balzer berichtete, war es ein ausgesprochen gelungenes Konzert. 20 Jahre Tocotronic: dies gilt es zu feiern, denn  jedes Album ergab eine (angenehme) Überraschung, immer ein Stück weiter ging es auf dem Weg.

Schaum und Stoff
Werden zerbrechen
Was Körperpanzer
Falsch versprechen
Europas Mauern
Werden fallen
An die Anemonen
Und Korallen
Wiederholte
Differenzen
Für Asyle
Ohne Grenzen
Wir haben
Weiche Ziele
Süßliche Exile
Ornamente
Und Verbrechen:
Schaum und Stoff
Werden uns rächen
Stahl und Eisen
Werden kippen
Staub zersplittert
Marmorklippen
Wir haben
Weiche Ziele
Wir sind
Plüschophile



Wir haben
Leichte Waffen
Um Gespinste
Zu erschaffen
Mit den Pilzen
Und den Sporen
Spione
In den Rohren
Wir ordnen
Neue Zonen
Wo die Soft Boys
Wohnen

Neue Zonen

Dieses Stück ist nicht nur Musik, es ist Lyrik, und zwar gelungene. Diese Lyrik zieht Begriffe derart auseinander, daß sich aus diesen Wörtern dann ein ganz anderen Zusammenhang erzeugt. Schaum und Stoff. Und es entstehen Assonanzen, Verbindungen, Synthesen, die ein Anderes eröffnen, ohne es auszumalen, und es ist dieses Andere zugleich die Welt der Sporen und Pilze, der Anemonen und Korallen. Kalt, unbestimmt, anders. Digital ist besser, so heißt ihr erstes Album, und daraus gibt es jetze Freiburg – ein Stück das auch in einer weniger angerockten Version sogar noch gut ist:

X

X

______________

Und das war genau unser Leben: neben der Philosophie, der Kunst, der Photographie: damals, egal ob nach Bahrenfeld, nach Neukölln, nach Westend im Bus. Es gab diese jene solchen Tage – vollgesogen mit der Melancholie einer Nacht, die irgendwann dann zuende ging. Halb fünf Uhr morgens und die Dämmerung des Tages bricht an. Es ist dies eines der schönsten Lieder, wenn man noch jung ist. Ach, ich wäre gerne auf dem Konzert gewesen.

„Halt mich fest, ich glaub‘, ich brauch das jetzt. Kauf mir ein Bier, ich trinke es dann bei mir!“
X

 

Ratio et oratio: „Verschwör Dich gegen Dich …“ – Tocotronics neue (Sc)Hallplatte „Wie wir leben wollen“

Und dieses Prinzip der Sich-gegen-sich-selbst-Verschwörung, so meine ich, um auf die reine Subjektivität des Meinens und Dafürhaltens sich zu kaprizieren [ein immer wieder beliebtes Procedere], ist nicht die schlechteste Weise der Auseinandersetzung und der Diskurserzeugung. Denken entsteht erst in der Alienation, in der Negation (manchmal auch der doppelten) und nicht im om-om der Innenruhe. Die reine Identität als das Sich-selbst-gleich-sein des Subjekts mit sich selbst bleibt reine Leere. „Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts.“ (Wittgenstein, Tractatus 5.5303) Was ist das Ich? Läßt es sich überhaupt als Objekt unter Objekten behandeln? „Fragen der Philosophie“, um hier einen Musiktitel der Band F.S.K. zu zitieren. Nach Schopenhauers Willensmetaphysik geht die Erkenntnis des Selbst, das sich eben nicht als bloßes Objekt unter Objekten fassen kann, lediglich über den Leib – Individuum ist das Subjekt einzig durch seine besondere Beziehung auf den Leib. Allerdings pausiert in Schopenhauers Konzept des sich selbst anschauenden Willens der vorstellende Verstand zugunsten eines kontemplativen Zusammenfließens von Subjekt und Objekt . Die kalte Ratio setzt aus, schaltet sich ab.

„Des Schlosses Wände waren gebildet vom treibenden Schnee und Fenster und Türen von den schneidenden Winden, da waren über hundert Säle, alle wie der Schnee sie zusammentrieb, der größte erstreckte sich mehrere Meilen lang, alle beleuchtet von dem starken Nordlicht, und sie waren leer, eisig, kalt und glänzend. […] leer, groß und kalt war es in den Sälen der Schneekönigin. Die Nordlichter flammten so deutlich, daß man zählen konnte, wann sie am höchsten und wann sie am niedrigsten standen. Mitten in diesem leeren unendlichen Schneesaale war ein zugefrorener See, der war in tausend Stücke gesprungen, aber jedes Stück glich dem andern so, daß es ein ganzes Kunstwerk war; und mitten auf dem See saß die Schneekönigin, wenn sie zu Hause war, und dann sagte sie, daß sie im Spiegel des Verstandes sitze, und daß dieser der einzige und der beste in der Welt sei.
Der kleine Kay war ganz blau vor Kälte, ja fast schwarz, aber er merkte es nicht, denn sie hatte ihm das Frösteln weggeküßt, …“
Hans Christian Andersen, Die Schneekönigin

Ratio et oratio: Insofern man eine Hierarchie der Künste aufstellen möchte, ist es nach Schopenhauer die Musik, welche auf der Skala ganz oben steht; sie ist metaphernloses Ausdrucksmedium und in der Konstruktion durchgebildet in einem: „Sie steht ganz abgesondert von allen anderen. Wir erkennen in ihr nicht die Nachbildung, Wiederholung irgendeiner Idee der Wesen und der Welt …“ Sie wirkt und webt „als eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft; …“ (Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Drittes Buch)

Gestern erschien die neue Tocotronic-Platte. Das mag im trüben, kalten Januar, jenem Monat der Schneekönigin samt ihres eisigen Spiegels des Verstandes, der ein jedes Ding und jede Regung in einer Weise der Kälte und der Klarheit widerspiegelt, einen Bruchteil von Wärme erzeugen. Es handelt sich dabei freilich um die Wärme der Reflexion. „Wie wir leben wollen“ ist ein programmatischer Titel und die Sprache der Platte mannigfaltig philosophisch angereichert:

„Man sagt
Die Revolution
Werde zuletzt den Tod
Abschaffen
Abschaffen
Abschaffen“

Das nomadische Denken trägt diese Platte: die Aporie des endlichen Subjekts, aber auch die Unendlichkeit einer Utopie, welche bereits die Romantik in den unendliche Text brachte, freilich dort im frühen 19. Jhd. nicht mit dem Pathos des Revolutionären als Modus angereichert. Tocotronic spielt diese Zeilen musikalisch in einer Weise, die man sphärisch nennen kann; sanft-symphonisch entfaltend, nicht hart gerockt mit Gitarrenriffs, die klare Kante und unverzerrt sind, wie auf den früheren Platten. Mir fiel bei dieser Passage sofort „Ton Steine Scherben“ ein, und ich überlegte mir, wie diese Band diesen Text instrumentiert hätte. Wahrscheinlich härter, fordernder; nicht wie ein (indirektes) Zitat von Adorno, sondern es käme bei „Ton Steine Scherben“ eher ein Politrock-Sound in Brechtscher Direktheit heraus, (der – in die Klammer gesprochen – ja nicht nur zu verachten ist). Sanft spielen „Ton Steine Scherben“ nur dort, wo auch der Text zunächst auf Samtpfötchen daherkommt: „Ich hab geträumt, der Winter wär vorbei,/du warst hier und wir war’n frei/ und die Morgensonne schien.“

Plattenkritiken merkten diese Text/Ton-Schere insbesondere bei dieser neuen Tocotronic-Platte an: die Melodie konterkariert das Geschriebene, das Gesungene. Wo die Musik gefällig, fast einlullend strömt, da tritt der Text lakonisch oder hart-sachlich auf, konstatierend wie eine Sentenz von Foucault oder Adorno, die ubiquitäre Verdinglichung umschreibend, von der die Subjekte nicht einmal mehr etwas bemerken, weil sie, in den Kreativbranchen arbeitend, work-hard-play-hard-marktoptimiert und als Subjekte der Kreativarbeitswelt hinreichend konditioniert sind. Wo die Platte ihren kritischen Befund anbringt, da trifft sie die Situation recht genau. Da wo sie, in Deleuzeianischer Manier die Vereinigung von Wespe und Orchidee feiert oder die Utopie des Disparaten preist, dort gerät es heikel. Das funktioniert (als Text) nur bedingt. Wobei andererseits jene 99 Thesen „Wie wir leben wollen“ jegliche Bestimmung zugleich wieder durchstreichen, denn diese Thesen instrumentieren die Disparität des Paritätischen. Diese Thesen arbeiten ähnlich wie die Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf dem Operationstisch. Individuum est ineffabile läßt sich als Konsequenz festhalten. Zum großen Fest eines nichtdialektisch konzipierten Nichtidentitären und zum Pathos, wie im Rhizom-Text von Deleuze/Guattari, transformiert es sich nicht mehr. Kritik, Denken sowie die Ästhetik in ihrer musikalisch-textuellen Ausprägung bleiben als Weise von Widerstand gegen Welt übrig. Diese Kritik tritt im neuen Album anders auf als bisher, und das hat wesentlich mit der Musik selbst zu tun.

Sehr viel Hall steckt in diesem Album; der trockenen, harte Gitarrensound, den Rick McPhil spielt, wurde weitgehend herausgefiltert und wattig überlagert, so heißt es. „Entkörperlichte Musik und körperliche Texte“ kommentierte Dirk von Lowtzow dieses Verfahren in einem Interview in der Berliner Zeitung.

Zugegeben eher intuitiv gedacht, scheint mir dies neue Platte nach einem ersten Hören – unter anderem – eine (gelungene) Aufsteigerung von „Let there be rock“ zu sein, rockig entfaltete Motive der späten 90er wandeln sich zur wuchtigen Soundcloud postabgeklärter Twilight-Jünglinge und -Mädchen, deren Ambitionen durchaus auch philosophisch zu nennen sind. Zugleich entwickelt diese Musik das, was bereits auf „Schall und Wahn“ im Vordergrund stand, weiter. Texte, Text-Körper eben, in einer kaum noch hart-gitarrenrock auftretenden Musik eingeschrieben, laden sich zunehmend mit gesellschaftskritischer Bedeutung auf, und die Paarung von Musik und Text erinnert, wie in dem Stück „Vulgäre Verse“ teils sogar ans Chanson oder an das, was sich heute statt Liedermacher singer-songwriter nennt.

Diese Systemkritik bei Tocotronic gab es zwar von Beginn an in ihrer Musik, aber als Kritik an Verhältnissen und Subjektdiskursen wird sie nun subtiler, metaphernreicher, musikalisch seichter oder besser: verschlungener, aber eben auch: textlich böser. Wenngleich ich nicht jede sprachliche Wendung teile und man mit böser Zunge ebenso behaupten kann, daß hier Gesellschaftskritik und Philosophie gleichermaßen in den Text hineingepreßt werden, entwickelt sich die Musik dieser Ausnahmeband immer weiter und weiter; aus dem sowieso Guten wird ein immer Besseres. Und ich drehe das Musikabspielgerät laut auf, stülpe mir die Kopfhörer über den Ohren, lasse mich inmitten des Eispalastes in dieser Wolke von Musik treiben.

„Vulgäre Verse
Aus dem
Vulgären Leben
Um Kopf und Kragen
Muss ich mich reden
In Vulgären Versen
Aus dem
Vulgären Leben“

Eine feine, mehrbödige Referenz, die eben nicht bloß lamentiert, sondern das Unvereinbare zusammenstellt. Die Synthesis des Unverbundenen, ohne in den Formen der Einheit zu arbeiten. Mit Witz, Ironie und doppeltem Boden gepaart.

Tocotronic ist eine der besten deutschsprachigen Bands.

Vierundzwanzig Stunden – Fetisch und Photographie

Zwischen Plastikpilzen auf einem Weihnachtsmarkt, die eine Märchenhütte schmücken, den ersten Schneeflocken, die fallen und sogleich schmelzen, zwischen dem Brandenburger Tor um 15 Uhr, in Potsdam, preußischblau: zwei Blicke, eine Frau und ein Mann, in Mantel, Schal und Jacke gehüllt, zwischen einem Spaziergang in Sanssouci, einem Heißgetränk in einem Café, das sich „Franz Schubert“ nennt, zwischen der Schlegelstraße – wie passend –, wo ihr Auto parkt, sowie einer abendlichen Irrfahrt über die Landstraßen Brandenburgs, während der eigentlich ortskundige Beifahrer behauptet: ich kenne den Weg: Fahrland, Richtung Spandau, Richtung Nauen, im Grunde haben wir uns völlig verfahren; ihre Gelassenheit, während sie fährt, und meiner Freude, endlich den Berliner Ring erreicht zu haben, nachdem wir auf irgend einer Landstraße restlos in die Irre gerieten, zwischen meiner schlechten Wegbeschreibung und meinem mangelnden Talent, sich im Dunkeln zu orientieren, zwischen Coq au Vin und Nähe, zwischen Zigaretten und zwei Flaschen Riesling, zwischen morgens im Bett vorgelesenen Gedichten von Rolf Dieter Brinkmann und einem Fichtenschaumbadextrakt in meinem Badezimmer, daß uns nach Spießbürgern riechen läßt, zwischen Worten, Küssen und der Musik von Tocotronic, von Scott Walker sowie Johnny Cash, zwischen meiner Zaghaftigkeit, ihren blau-grauen Augen, ihrem blonden Haar, ihrem Mund und den Rücklichtern eines Autos: eine Zeitspanne von genau 24 Stunden, die sich in keiner Weise fixieren läßt.

Keine Photographie, keine Prosa, keine Lyrik vermag es. Alle Literatur, Philosophie und Kunst ist nichts gegen diesen einen Moment. Was Marcel Proust inspirierte, sich von der Welt korkverschält abzusetzen, um den fulminantesten Roman des 20. Jahrhunderts zu schreiben, das läßt sich anhand solcher Momente erahnen. Die Erinnerung arbeitet als Ort poetischer Vergegenwärtigung. Aber der Wunsch nach Präsenz ist ein Begehren, das an keine zeitlich-empirische Realität sich koppeln läßt, die wiederanzueignen wäre.

Eine Fahrt mit der S-Bahn nach Potsdam. Vierundzwanzig Stunden später schneit es wieder, während ich eine Nebenstraße heruntergehe. Ohne Kamera, ohne Reflexion. Ich sehe lediglich verschwommen, ohne Brille. Zwei Weingläser bleiben, die auf dem Nachtisch im Schlafzimmers stehen, und ihr Geruch auf dem Kopfkissen.

Popmusik kann vollständiger, vollkommener Kitsch sein: bis zum Äußersten. Weil alle Regungen im Grunde von Diskursen überformt sind und dennoch der Wunsch besteht, sich auszudrücken. Sobald eine Regung hin zu einer Seite aufgelöst wird, sich fixiert, sich in ein starres Bild bringt, ist diese Regung an sich bereits verloren.

„Eine Flanke gegen die Gegebenheiten …“
„Eine Flanke gegen den gesunden Menschenverstand …“

Der Kitsch all der Referenzrahmen und der Bezüge. Ob man sich nun auf die Odyssee, persische, indische, japanische Mythen und Geschichten, auf die Bibel, auf europäische Literatur oder Popmusik kapriziert und diese Dinge anzitiert, ob ein Text das große Epos als Muster ausbeutet: es bleibt sich ganz und gar gleich. Kein Text funktioniert am Ende aus sich selbst, sondern er verweist auf andere Text, es erzeugen sich aus Texten neue Texte.

Der Text der mémoire involontaire reicht nicht heran, und selbst eine Photographie oder ein Film, die jene Momente in ein Bild bannten, wären lediglich so etwas wie ein Katalysator, eine Art von technischer, analoger oder digitaler Madeleine, aber nicht die Sache selbst, ein Referent oder gar ihr Stellvertreter. Roland Barthes schreibt in „Die helle Kammer“:

„Die Realisten, zu denen ich gehöre und bereits gehörte, als ich die Behauptung aufstellte, die PHOTOGRAPHIE sei ein Bild ohne Code – obschon Codes selbstverständlich ihre Lektüre steuern –, betrachten eine Photographie keineswegs als eine ‚Kopie‘ des Wirklichen – sondern als eine Emanation des vergangenen Wirklichen: als Magie und nicht als Kunst. Die Frage, ob die Photographie analogisch oder codiert sei, hilft uns bei der Analyse nicht weiter. Wichtig ist, daß das photographische Bild eine beständige Kraft besitzt und daß die Zeugenschaft der PHOTOGRAPHIE sich nicht auf das Objekt, sondern auf die Zeit bezieht. Phänomenologisch gesehen, hat in der PHOTOGRAPHIE das Bestätigungsvermögen den Vorrang vor der Fähigkeit zur Wiedergabe.“ (R. Barthes, Die helle Kammer)

Denn der Moment läßt sich nicht wiedergeben, sondern vielmehr transformiert er sich in ein bestimmtes, aufgeladenes Objekt. Und darin sind der Fetisch und die Photographie verschwistert. Sie symbolisieren oder eher noch: sie verdichten in sich ein komplexes Geschehen.

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