Im dauernden Augenblick – Marcel Proust zum 150. Geburtstag

Lange Zeit bin ich Proust ausgewichen. Als 1984 Volker Schlöndorffs Verfilmung „Eine Liebe von Swann“ in die Kinos kam, fing ich mit Prousts „Recherche“ an und brach sogleich nach den ersten 30 Seiten die Lektüre ab, denn die mäandernden Sätze trafen nicht, und Einschlafprobleme, von denen mein lesendes Ich als Schüler nichts wissen wollte, waren kaum zum Lesen angetan; sie schlugen auch im Sinne der von mir präferierten Ästhetik nicht ein. Und so schweiften meine Gedanken beim Lesen ab. Welch seltsamer Zustand im Zwischenreich wurde in dieser Dichtung da in den ersten Sätzen und Seiten beschrieben, und es tat sich eine eigentümliche Atmosphäre in dem fiktiven Ort Combray auf, wie als hörte ich ein Debussy-Stück wie „Pelléas et Mélisande“, symbolisch verhangen, flirrend die Atmosphäre, wie als läge der Duft schwerer Parfums und dichter Brokatvorhänge in der Luft und es träte sogleich die frisch erblühte Tochter der Kameliendame in die gute Stube. Es roch nach dem Interieur der Belle Époque und eine Duftigkeit strömte da im Text, die nichts mit allem bisher Gelesenen zu tun hatte: wie aus dem Reich der Lotophagen kam diese mir fremde Stimmung herüber, und mich, der ich Kafka, Jünger, Benn, Sartre, Brecht, Döblin las – der trockene Ton der Morgue, die kristalline Moderne samt den Verzückungsspitzen ästhetischer Kälte, für die die Jugend meist als empfänglich sich erweist – verstörte, und es langweilte diese in meinen Augen seltsame Atmosphäre, so wie ich auch mit der Malerei Gustave Moreaus damals wenig anfangen konnte. Ich goutiere ihn erst, als ich im Herbst 1985 in Paris vor seinen Bildern stand. Ich war damals für Proust nicht bereit. Das war die ganze Wahrheit; und wie es mit dem Buch und dem Kopf ist, wenn sie zusammenstoßen, so hat das oftmals wenig mit dem Buch und viel mit dem Kopf zu tun, der ein Buch nicht zu fassen vermag. Ein paar Jahre später fing ich noch einmal mit dem Lesen an. Nun mit einem reiferen Bewußtsein. Und es war diesmal alles ganz anders. Eine Prosa las ich da, die mich aufnahm und aufsog und die mich fortan mit ihren sieben Bänden für einige Wochen nicht mehr loslassen sollte.

Was sich in jener Proustschen Suche zuträgt, läßt sich nicht einfach in Worte oder gar in eine Inhaltsangabe fassen: zu schweifend der Text und so unterschiedliche Zonen berührend wie Natur, Gesellschaft, Wahrnehmung, Erinnern, Zeit, Liebe, Kunst sowie die Lebensformen einer bestimmten adeligen, bürgerlichen und großbürgerlichen Klasse – die kleinen Leute kamen allenfalls als Personal vor, so wie die Haushälterin Françoise; aber auch solches Fehlen von Elend – Proust ist nicht Hugo, nicht Zola – sagt etwas aus und beschreibt die Härten einer Gesellschaft. Wollte man, wenn man es denn könnte, Prousts „Recherche“ in wenige Sätze bringen, so ließe sich konstatieren, daß es die Zeit der Belle Époque bzw. des Fin de siècle ist, eine Zeit des Umbruchs und der technischen Neuerungen: vom Automobil übers Flugzeug bis zur Photographie, die, als freilich nicht mehr ganz so neues Medium, für die „Recherche“ eine zentrale Rolle spielt; und es ist zudem eine Zeit des Wandels durch den Großen Krieg, die Proust schildert; wir lesen von einer heraufziehenden Moderne und wie sich Gesellschaft und Menschen ändern. Und wir beobachten vor allem einen Ich-Erzähler beim Beobachten. Solches Herausschälen des Schriftstellers aus dem Geist des Wahrnehmens finden wir bereits an zahlreichen Stellen im ersten Teil, in „Unterwegs zu Swann“, so etwa wenn der Jugendliche beim Spazieren mit seinen Eltern in der Gegend von Combray auf sich und auf sein Beobachten blickt:

„Wieviel betrübender noch als zuvor schien es mir seit jenem Tag auf meinen Spaziergängen in die Gegend von Guermantes, daß ich keine Begabung fürs Schreiben besaß und darauf verzichten mußte, je ein berühmter Schriftsteller zu werden. Das Bedauern, das ich darüber empfand, während ich allein und abseits träumte, machte mich so niedergeschlagen, daß mein Geist, damit ich es weniger fühlte, von sich aus in einer Art von Zurückweichen vor dem Schmerz ganz und gar vermied, bei dem Gedanken an Verse, Romane oder an eine Dichterzukunft zu verweilen, mit denen ich offensichtlich aus Mangel an Talent nicht würde rechnen können.“

Wir sehen an dieser Stelle jenen Wunsch, all die Details, die der noch jugendliche Erzähler sieht, auf einen Begriff zu bringen – das freilich, was an dieser Stelle erzählt wird, ist keine präsentistische Darstellung einer Jetztzeit, sondern ein Imperfekt und wird alles von einem weit von dieser Spazierszene zurückliegenden Zeitpunkt aus reflektiert, denn einige Seiten später heißt es: „So dachte ich oft bis zum Morgen an die Zeiten von Combray zurück, an meine traurigen schlaflosen Abende, an viele Tage auch, deren Bild mir viel später erst durch den Geschmack – das ‚Aroma‘ hätte man in Combray gesagt – einer Tasse Tee wiedergeschenkt worden war, …“. Zugleich sehen wir an dieser Stelle, wo der junge Mann über seine Begabungen nachdenkt, das Unvermögen, das was geschah und was erlebt wurde, angemessen darzustellen, so daß sich der damals noch junge Mann sogar noch das Denken an Verse und Romane versagt. Doch dann der erste Bruch, wo plötzlich – unwillkürlich eben, wie bei jener bekannten Tasse Tee dann und dem Gebäck – Erinnerung und gelebte Zeit lebendig werden und im Sinne einer Plötzlichkeit sich ein Wandel zuträgt, denn im direkten Anschluss an jene oben zitierte Spazierszene heißt es:

„So nun, völlig außerhalb von jeder literarischen Absicht und ohne einen Gedanken daran, fühlte ich manchmal meine Aufmerksamkeit plötzlich gefangen von einem Dach, einem Sonnenreflex auf einem Stein, dem Geruch eines Weges, und zwar gewährten sie mir dabei ein spezielles Vergnügen, das wohl daher kam, daß sie aussahen, als hielten sie hinter dem, was ich sah, noch anderes verborgen, das sie mich zu suchen aufforderten und das ich trotz aller Bemühungen nicht zu entdecken vermochte. Da ich genau fühlte, daß es in ihnen war, blieb ich unbeweglich stehen, um sie anzuschauen, einzuatmen, um den Versuch zu machen, mit meinem Denken über das Bild oder über den Duft noch hinauszugelangen.“

Die Dinge und Szenen scheinen mehr als sie in jenem Augenblick sind. Dies aber geschieht nicht im Sinne einer metaphysischen Hinterwelt, sondern daß die Szene noch nicht genügend erfaßt wurde. So vertiefen auch wir uns beim Lesen dieser Beobachtungen wie ein Mikroskopist in noch die feinsten Details. Es ist bei Proust eine Vivisektion, es sind Wahrnehmungsintensitäten, wie wir selbst sie in den seltensten Fällen auf den Begriff bringen, und wir sehen dem Schriftsteller bzw. jenem Ich dabei zu, wie es seine Fähigkeiten ausbildet. In solchem Blick kann sich ein Ich verlieren.

Doch sollte man den Erzähler, der „ich“ sagt, trotz des Namens Marcel nicht mit dem Autor Marcel verwechseln, wie Proust in seinen Essays „Aus dem Umkreis der Recherche“ über sein eigenes Buch schreibt. Wenngleich es einige Parallelen gibt: Erzähler-Ich und Autor sind beide gleichermaßen gesundheitlich angeschlagen und hochsensibel – wie schon zum Auftakt der „Recherche“ klar wird, wenn der kleine Marcel zu Bett geschickt wird, auf den zweiten Gute-Nacht-Kuß der Mutter verzichten muß und darunter entsetzlich leidet, so daß er nicht einschlafen kann und am Ende den Eltern des Abends auf der Treppe auflauert, um jenen zweiten Kuß zu ergattern: so wird der Leser in den Kosmos eines hochsensiblen Kindes geführt. All solche Regungen werden bis in die feinste Verästelung beschrieben – weniger freilich im Sinne eines Psychologismus, sondern vielmehr phänomenologisch: wie nämlich solche Empfindsamkeit sich ausprägt und seine Wege findet.

Walter Benjamin schrieb als Lesewarnung zu Louis Aragons wunderbaren Roman „Paysan de Paris“ 1935 an seinen Freund Theodor W. Adorno, daß er aus diesem Buch „des abends im Bett nie mehr als zwei bis drei Seiten lesen konnte, weil mein Herzklopfen dann so stark wurde, daß ich das Buch aus der Hand legen mußte.“ Solche Überreizung und dass beim Lesen die Gedanken überschießen, ist verständlich und diese Vorsicht könnte auch für Proust gelten – nur hätte solches Leseverhalten den Nachteil, daß derart sorgsam gelesen ein Leben nicht mehr ausreichen würde, mit Prousts „Recherche“ zum Ende zu gelangen.

Und es würde solches Unterbrechen auch deshalb nicht gelingen, weil einen die Sätze Prousts forttragen – die Berührungspunkte freilich zu Aragons Surrealismus und seinem Mythos von Paris und dem Proustschen Paris wäre ein interessanter Aspekt. Wer dieser „Recherche“ verfällt, findet sich angesichts von Proust Sätzen im dauernden Augenblick, einer Art nunc stans, eine auf den Punkt verdichteten und auch wieder unendlich dauernde Zeit, wenn der Leser sich in die Wörter, die Sätze, die Kaskaden und Szenen vertieft, etwa wenn über Seiten eine Landschaft beschrieben wird, und er sitzt plötzlich wie ein Gefangener im Kopf eines anderen, verfolgt dessen Gedanken, dessen Wahrnehmen und Empfinden: eine Weißdornhecke, die Blumen auf den Wiesen von Combray beim Spazieren des kleinen Marcel mit den Eltern, dieses Flirren von Licht, man könnte es mit dem Impressionismus vergleichen, aber das stimmt nicht: eher ist es die Malerei von Paul Cézanne, in der die Dinge zerlegt und um ein Winziges versetzt werden, um in eine neue Ordnung zu gelangen. Ihre Perspektive wird nicht, wie im Kubismus, zertrümmert und aufgelöst, sondern vielmehr anders aufgefächert. Für dieses Neujustieren reicht Alltägliches aus, wie etwa eine Weißdornhecke oder das Belauschen eines Gesprächs. Und dieses Ausfalten und Zerlegen geschieht mit der Natur wie auch mit all den Konversationen und Menschenbeobachtungen, mit der Liebe und der Eifersucht, dem Wahn, die Geliebte zu überwachen und zu besitzen: neben all der Ruhe und Schönheit finden sich in Prousts „Recherche“ eben auch die Exzesse und der Sadismus.

Proust ist ein großartiger Beschreiber solcher Alltäglichkeiten. Der erste Teil der „Recherche“, jene Welt der Kindheit in Combray ist von solcher noch eher lieblichen Beschreibung angefüllt; das reicht bis zu den Einkäufen und der Zubereitung von Mahlzeiten durch die Köchin und Haushälterin Françoise im Haus der Tante Léonie in Combray, all die Details vom Landleben dort, ein Nachmittagsspaziergang im Wald oder eine Kutschfahrt, die Welt der Salons und Plaudereien – mal Belangloses, mal aber auch die höchste Kunst der geistvollen Unterhaltung. Und immer wieder die Natur und Parklandschaft. So heißt es von Combray und dem Gut der Swanns:

„Durch die Hecke hindurch sah man im Innern des Parks einen Weg, der mit Jasmin, Stiefmütterchen und Verbenen eingefaßt war, zwischen denen Levkojen ihre taufrischen Täschchen in einem wie altes Korduanleder duftenden und etwas vergilbten Rosa öffneten, während auf dem Kiesweg ein langer grüngestrichener Gartenschlauch in vielen Windungen sich hinzog und aus seinen Öffnungen über den Blumen, deren Duft er durchfeuchtete, den senkrecht aufgestellten, als Prisma wirkenden Fächer seiner in allen Farben spielenden Tröpfchen aufsteigen ließ.“

Der milde Glanz der Natur, ihr sommerlicher Duft, wenn der junge Erzähler durch die Flußlandschaft an der Vivonne streift, der Spaziergang mit den Eltern: all das gelangt in den Bannkreis des Erzählens. Aber solche Schönheit der Natur, der Proust – unter anderem – sein Schreiben widmet, ist nicht alles. Es gibt in der „Recherche“ ebenfalls eine Ästhetik des Verfalls. Immer wieder bricht sich solches Vergehen der Dinge und der Menschen im Lauf und durch den Lauf der Zeit seine Bahn. So in der Betrachtung von Natur bei einem Herbstspaziergang in Paris im Bois de Boulogne:

„Die Natur begann im Bois, aus dem die Idee, er sei der elysische Garten der Frau, sich verflüchtigt hatte, ihr Reich wieder aufzurichten; der wirkliche Himmel über der künstlichen Mühle war von Wolken verhangen; der Wind durchfurchte den Grand Lac mit kleinen Wellen wie jeden anderen See; mächtige Vögel durchzogen den Bois, als sei er eben ein Wald, und fielen mit schrillen Schreien auf großen Eichen ein, die unter druidischen Kronen und in dodonäischer Majestät die unwirtliche Öde des entzauberten Haines laut zu verkünden schienen und mich verstehen lehrten, welcher Widersinn darin liegt, wenn man die Bilder der Erinnerung in der Wirklichkeit sucht, wo immer der Reiz ihnen fehlen muß, der im Gedächtnis wohnt und mit den Sinnen nicht wahrgenommen werden kann. Die Wirklichkeit, die ich einst gekannt hatte, gab es nicht mehr. Es genügte, daß Madame Swann nicht mehr als immer die gleiche im gleichen Augenblick unter ihren Bäumen erschien, und schon war die Avenue eine andere geworden. Die Stätten, die wir gekannt haben, sind nicht nur der Welt des Raums zugehörig, in der wir sie uns denken, weil es bequemer für uns ist. Sie waren nur ein schmaler Ausschnitt aus den einzelnen Eindrücken, die unser Leben von damals bildeten; die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nur wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und die Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! wie die Jahre.“

Mit solch starkem Szenario endet der erste Teil der Recherche: in einem teils melancholischen, aber auch unerbittlichen Bild, das die Vergänglichkeit von Schönheit festhält. Und damit knüpft diese Passage bereits an den letzten Band der „Recherche“ an, nämlich „Die wiedergefundene Zeit“. Dort freilich erleben wir einen ganz anderen Verfall: nämlich den der Gesellschaft und der Menschen. Zugleich enthält diese Natur-Szene die Frage danach, wie wir wahrnehmen, was wir wahrnehmen und wie wir die Ausschnitte unserer Wahrnehmung gewichten – auch diese Frage nach der Perspektive wird für den letzten Teil der „Recherche“ wesentlich. Und ebenso bedeutsam bleibt die Frage, wie wir das, was wir wahrgenommen haben, festhalten und auf welche Weise wir diese Momente bewahren und aufheben können. Was einst in junger Mädchen- oder Männerblüte stand, verging. Aufhebung meint in diesem Falle jenen dialektisch-dreifaltigen Sinn, nämlich auch die Negation und daß etwas verschwindet und für immer vergeht – außer vielleicht in der Erinnerung und dann in der Literatur aufgehoben. Diejenigen Frauen, für deren Art und Wesen sich der Erzähler einst interessierte: sie sind gealtert, Akazien und Arkadien, das einst die Jugendzeit war, wandeln sich:

„Ach! In der Avenue des Acacias – in dem Myrtenhain – traf ich noch manche von ihnen an, sie waren gealtert und nur noch schreckliche Schatten dessen, was sie einstmals waren, sie irrten umher und schienen wie verzweifelt in diesen vergilischen Bosketts nach irgend etwas zu suchen. Lange schon waren sie wieder fort, als ich die verlassenen Wege noch immer vergeblich befragte. Die Sonne hatte sich versteckt.“

Bestürzende Szenen und eine Beobachtung, die auf die Natur und das Wahrnehmen selbst gerichtet ist, als Ort, das Vergehen zu bestimmten. Frei nach Freud kann man hier von einer gleichsam psychoanalytischen Technik sprechen: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten Was bleibt, sind Erinnerungen. Dennoch: dieses Vergehen läßt sich in Sprache beschreiben. Darin liegt die große Möglichkeit der Kunst. Und die Möglichkeit der Kunst liegt ebenfalls darin, jene Melancholie und Trauer um solchen Verlust ästhetisch zu bewältigen und auch diesem Vergehen so etwas wie Schönheit abzugewinnen. In diesem Sinne ist Prousts großer Roman nicht nur eine Suche und eine Frage nach Gedächtnis und Erinnerung, sondern zugleich in vielen Passagen – dies zeigt sich besonders in „Die wiedergefundene Zeit“ und den dort auf ästhetische Fragen reflektierenden zahlreichen Passagen – eine Kunstmetaphysik und zugleich auch eine Ästhetik, die sich, ganz wie es die literarische Frühromantiker in Jena um 1800 andachten, performativ, im Akt des Darstellens und Beschreibens als Ästhetik selbst vollzieht: nämlich Dichtung, die zugleich ihre eigenen Bedingungen mitdenkt. Dabei reisen wir Leser auf eine vielfältige Weise in die Welt der Kunst und damit verbunden: der verschiedenen Arten von Wahrnehmung – was bei Proust phasenweise zu synästhetischen Szenen und in die verschiedenen Kunstgattungen führt. Die drei berühmtesten Künstler des Buches sind der Maler Elstir, der Schriftsteller Bergotte und der Komponist Vinteuil, dessen Sonate für Swann, einen der Protagonisten dieses Romans, im Reich seiner seltsamen Liebe zu einer Kokotte eine wichtige Rolle spielt.

Was kann man zum Lesen von Proust raten? Sich Zeit zu nehmen und sich auf jenen mäandernden, fließenden Text einzulassen, sich darin zu versenken und von allem außen abzusehen, um in den Rhythmus der Sprache zu gelangen. Nichts anderes zu tun, als jene sieben Bände zu lesen. Am Stück, Tag für Tag, es muß ja nicht im Bett im korkverschälten Zimmer mir Räucherschalen sein. Auch deshalb sollte der Leser derart verfahren, weil diese Teile, von nichts unterbrochen, zusammengehören: ein Fluß der Zeit, eine Einheit inmitten der Vielheit der Welt, der Vielzahl der Personen und Szenen. Um diese Einheit in Vielzahl zu erfahren, bedarf es einer seltenen und wichtigen Ressource: der Muße und der Aufmerksamkeit. Proust selbst hatte ursprünglich vor, diese sieben Teile in einem einzigen Band herauszubringen. Ohne Zwischentitel und ohne Überschriften. Dies war technisch jedoch nicht möglich.

Mag es anfangs, beim ersten Lesen noch schwerfallen und mögen die Gedanken abgleiten und es schweift der Leser in die richtige Welt ab und aus der Literatur wieder heraus, so wird sich doch, wie bei Meditationsübungen, mit der Zeit und je mehr man in den Strom dieses Buches gerät, ein Gefühl von Rausch einstellen, ein Sog: daß dich der Text mit einem Male aufnimmt und du liest und liest und merkst dabei nicht einmal mehr, wie die Zeit vergeht und schon gar nicht erinnerst du dich noch daran, Leser zu sein.

Einen Schlüssel zu Proust Werk gibt es nicht. Um in diese Prosa hineinzugelangen, sollte man lediglich aufmerksam sein und etwas mitbringen, was sich Zeit nennt und wofür seinerzeit einmal der Ausdruck „Muße“ stand: wenn es seitenlang durch die Welt von Combray geht, wenn die Essensvorbereitung der Bediensteten Françoise beschrieben wird oder jene Tante Léonie, die das Haus nicht mehr verlässt, aber doch von Françoise ganz genau informiert sein will, was in Combray vor sich geht und wie es wem geht, wenn der Erzähler sich auf Wege und Verzweigungen begibt.

Diese Schweifende, sich in immer neuen Details Verlierende des Erzählers korrespondierte im Übrigen mit Prousts die Lektoren zur Verzweiflung treibenden Arbeitsweise, ins Manuskript immer noch neue und weitere Aspekte und Details einzufügen. Das eigene Sterben in seinem Bettlager im korkverschälten Zimmer, protokollierte Proust im November 1922, um es der Beschreibung vom Tod des Schriftstellers Bergotte beizufügen. In diesem Schreiben erfüllte sich ein ganzes, aber kurzes Leben. Am 10. Juli 1871 wurde Marcel Proust im feinen, noch ländlich geprägten Pariser Stadtteil Auteuil geboren – zum Ende des Deutsch-Französischen Krieges und in den Nachwehen der Pariser Kommune. Eine Zeit des Umbruchs.

 

Proust

PHOTOGRAPHIE: Bersarin, in: Musée d´Orsay (Paris 2016)

Schnüffeln am Wörthersee. Über eine bedenkliche Tendenz im Umgang mit Literatur

Um den ästhetischen Unwillen abklingen zu lassen, habe ich mich mit dem Schreiben einige Tage zurückgehalten – zumal ich die Woche über Besuch erwartete und insofern kaum Zeit bliebe, auf Blog-Kommentare zu reagieren. Nun also, etwas über eine Woche nach den Klagenfurter Lesetagen im Wettstreit um den Bachmannpreis, ein Text hier auf AISTHESIS zu einem Vorfall, der zugleich symptomatisch ist für den Ton in bestimmten Kunstdebatten und für den „Geist“ einer seltsamen Zeit, wenn man denn überhaupt in dieser Angelegenheit von Geist sprechen mag: Ästhetische Gebilde werden nicht mehr primär als Kunstwerke gesehen, sondern man mißt sie mit moralischen Kriterien. Nicht mehr die Maßgaben der Kunst sind zentrales Kriterium, sondern das Kunswerk muß politischen, moralischen oder gesellschaftlichen Geboten gehorchen. Was war passiert? In einem der Texte, die Anfang Juli in Klagenfurt gelesen wurden, benutzte ein Autor das Wort „Zigeuner“. Worauf es reflexmäßig-erwartbare Twitter-Empörung gab. In einem anderen Lese-Text kam der Name Lumumba und eine afrikanische Perspektive vor. Wie auf Knopfdruck standen Cultural Approbiation-Vorwürfe im Raum: Böser weißer Mann, der eine schwarze Perspektive einnimmt. Die übliche Twitter-Erregung einerseits, übliche Aufrege-Spielchen in einer Zeit, in der alle alles sagen und unmittelbar kundtun können – ohne jeglichen Reizschutz oder intellektuellen Abstand.

Man kann sowas als Petitesse abtun, aber doch zeigt sich in solchen Äußerungen eine problematische Tendenz: nämlich Kunst auf Reizwörter und auf moralische oder politische Verwerfungen hin abzuklopfen. Das Absurde an solchen Aktionen ist, daß beide Autoren sich vermutlich als links verstehen, und sie würden ihre Texte gerade als Kritik einer rassistischen Perspektive beschreiben.

Kriterium für diese Äußerungen des Mißfallens war dabei nicht etwa der Text selbst in seiner Struktur, geschweige, daß literaturkritische Gründe genannt werden konnten, weshalb die Konstruktion nicht funktioniert und ein Begriff wie „Zigeuner“ nicht verwendet werden dürfe, sondern wie bereits bei Eugen Gomringers Avenida-Gedicht wurde außerästhetisch nach einer Hermeneutik des Verdachts ein subjektives Gefühl dogmatisch als verbindliches Richtmaß genommen. Der erhobene Zeigefinger „Das darfst du nicht!“ oder „ein ungutes Bauchgefühl“ werden zum Maßstab für literarische Referenz, was geschrieben werden darf und was nicht.

Man könnte denken, solches Labeln von Prosa sei kunstkritisch nicht weiter relevant oder sei eine Satire auf den Betrieb, irgendwas zwischen den Romanen von Tom Wolfe, Martin Walser, Philip Roth oder Eckart Henscheid. Denn jeder wisse im Grunde um die Funktion autonomer Kunst und damit auch um den Unterschied zwischen realem Sprechen und Rollensprechen, zwischen fiktiven Texten und Sachtexten, wie etwa einem Zeitungsartikel. Darin wäre das Wort „Neger“, etwa in einer Zeitung, in der Tat unpassend und vermeidbar, sofern es sich nicht um ein Zitat handelt oder eine bestimmte Denkhaltung veranschaulicht werden soll – denn auch da ist der Gebrauch des Wortes geboten: Bildlichkeit macht anschaulich. Aber leider ist diese Haltung im Feld der Literatur bitterer Ernst – sogar von Leuten vorgebracht, die sich im Wissenschaftsbetrieb an Universitäten bewegen. Die Tabuisierung von Sprache. (Dazu auch das Culturmag, Ausgabe Juni 2018 zum Thema Tabu.) Wissenschaftler, die nach Wörtern fahnden, die ein literarischer Text nicht enthalten darf. Eine seltsame Methode der Literaturbetrachtung scheint sich zu etablieren. Der Unterschied zwischen eigentlichem und uneigentlichen Sprechen wird eingezogen. Prosa und Poesie werde unmittelbar genommen oder als Handlungsanweisung gelesen. Begriffe wie Ironie, literarische Brechung, Figurenrede sind nicht mehr auf dem Schirm oder werden zugunsten außerliterarischer Kriterien lax beseite geschoben. Die Buchstäblichkeit eines literarischen Textes bekommt einen fatalen neuen Sinn.

Auch 2016 schon in Klagenfurt zu beobachten – damals bei Astrid Sozios inzwischen als Roman erschienener Prosa Das einzige Paradies. Ein genauer und gelungener Text. Darin kommt mehrmals, wohl 20 Mal das Wort „Neger“ vor. Es ist Rollenprosa, die Protagonistin Frieda Troost, eine alte Frau, die sich in einem längst geschlossenen Hotel verbunkert hat, darin eine schwarze Frau „eindringt“ und Schutz sucht, muß genau so sprechen, wie sie spricht: sie sagt „Neger“, weil das ihre Sprache ist, weil das ihren Schrecken ausdrückt, weil das Wort „Neger“ ihr Befremden zeigt, weil das drastisch im Wort zeigt, wie Frieda Troost denkt und tickt und diese „Neger“-Iteration kann man zugleich als ein Stilmittel sehen. Eine sprachpolizeiliche Regelung nach einem willkürlichen Kanon von zu vermeidenden Reizwörtern oder moralin Ungenehmem hätte Sozios Text ästhetisch verdorben. Daß Kunst auch ein Schlag vor den Kopf sein kann: dieses Bewußtsein geht den meisten inzwischen verloren, wenngleich von vielen dieser seltsamen Leser ansonsten immer noch der Kafka-Satz von dem Buch, das eine Axt sein müsse für das gefrorene Meer in uns, beschworen wird. Was gab es nach Sozios Lesung für einen Twitterkleinsturm! Absurd waren diese Reaktionen vor allem deshalb, weil dieser Text genau die Fremdheitserfahrungen und das Aus-der-Welt-Gefallensein zweier ganz unterschiedlicher Personen beschreibt und weil diese Prosa explizit den impliziten Rassismus zum Thema machte.

Bei Rollenprosa geht das in dieser Art und nicht anders, weil solche wie Frieda Troost weder die perfekt gegenderte Sprache noch das politisch korrekte Sprechen gelernt haben. Motiviert sind solche Aussagen durch den literarischen Text, durch den Plot und die Figurenzeichnung. Daß diese simplen Voraussetzungen ästhetisch nicht mehr gewußt werden, auch bei Wissenschaftlern nicht, ist bedenklich. Daß eine alte Frau wie Frieda Troost von PoCs spricht, dürfte kaum vorstellbar sein und wäre wohl lächerlich. Ein guter Lektor striche ihr mit schwungvoller Hand und Rotstift diesen Ausdruck aus dem Text heraus – zumal Literatur nicht für das politisch korrekte Sprechen zuständig ist und auch nicht als moralische Erziehungsanstalt für Bürgersöhne und -töchter fungiert. Der Bitterfelder Weg als normatives Maß fürs Schreiben ging bereits in der DDR in die Hose. Gleiches gilt für die Vorgaben eines – angeblich – diskriminierungsfreien Schreibens. Literatur läßt sich nicht regeln, und selbst dort, wo ein Roman rassistische Stereotypen verbreitet, wie etwa Jean Raspails Das Heerlager der Heiligen ist ein Text immer noch mehr und übersteigt die Intention des Autors. Literarische Texte sind autonome Gebilde, sie ragen in ihren Tiefenschichten und in ihrer Bedeutung weit über den unmittelbar gemeinten Sinn hinaus.

Eine Kulturwissenschaftlerin schrieb in dieser Causa:

„Leute, die heute noch Essays darüber schreiben, weshalb man dieses oder jenes diskriminierende Wort (in der Literatur) verwenden darf, drücken damit aus, dass sie solche Themen und Fragen nur unter ihresgleichen besprechen möchten. Das bedeutet, dass Menschen, die durch diskriminierende Sprache ausgegrenzt und verletzt werden, Zaungäste in dieser Diskussion sind.“

Davon ab, daß sich mir die Logik einer solchen Aussage nicht erschließt, da es in öffentlichen Debatten jedem freisteht, sich zu diesem Thema äußern zu dürfen, ist es kaum ersichtlich, was solche Vorschrift sachlich motiviert. Was geschrieben werden darf und was nicht, bestimmt kaum eine einzelne Stimme oder ein moralines Kollektiv – zumal wenn es in Fragen der Ästhetik sich blind verhält. Es wird von jener Schreiberin ohne jede Begründung dogmatisch eine Hypothese in den Raum geworfen, es wird, so interpretiere ich solche Sätze, für die Gemeinde moralischer Druck aufgebaut. Mit solchem Verfahren hält eine gefährliche Tendenz Einzug, daß dogmatisch und ohne jegliches Begründen festgelegt wird, worüber debattiert werden darf und worüber nicht. Anstatt Gründe anzugeben, weshalb es problematisch ist, solche Fragen zur Diskussion zu stellen, wird per ordre du mufti vorab Sagbares und Unsagbares festgelegt. Gleiches gilt für Begriffe in literarischen Texten: Per ordre wird postuliert, was sein darf und was nicht.

All das sei Erregungsfeuerwerk und morgen wieder vergessen, so könnte man entschärfen. Aber leider haben solche „Meinungen“ im Betrieb durchaus normative Konsequenzen: Daß nämlich bestimmte Texte in Redaktionen oder Lektoraten nur noch bedingt akzeptiert werden. Tina Uebel wies in ihrem Zeit-Text „Der große Verlust. Wie die politische Korrektheit meine Arbeit als freie Schriftstellerin einschränkt“detailliert und mit Beispielen aus der Praxis auf diese Problematik hin. Uebel pointiert dieses Absurde:

„Ich hatte eine Romanidee, inspiriert von drei Menschen, die ich bewundere, einem Kameruner König mit hinreißender Chuzpe, einem äthiopischen König, den ich im dortigen Knast besuchte, und einem innigen Freund und atemberaubenden Künstler aus Kamerun. Mein Romanheld wäre schwarz gewesen, da lass ich mal besser die Finger von und schreibe stattdessen nunmehr Bücher, die von der Interaktion weißer neunundvierzigjähriger Schriftstellerinnen mit weißen neunundvierzigjährigen Schriftstellerinnen handeln. Sicher ist sicher. Die anderen Geschichten werden unerzählt bleiben.“

Uebel spitzt hier zwar zu, und ob es diesen Roman nicht dennoch geben könnte, bleibt an dieser Stelle offen. Denn soweit ist es im deutschen Verlagswesen zum Glück noch nicht, daß sich Verleger vorschreiben lassen, was sie veröffentlichen. Dennoch ist solche Sentenz bezeichnend: Denn vor allem ist mit solchen Forderungen an Literatur noch lange kein Ende in Sicht und prinzipiell sind solche Textsäuberungen einer moralischen Reinlichkeitserziehung unabschließbar. Es lassen sich immer neue Forderungen erheben, was ein Text enthalten darf und was nicht. Sind es heute Begriffe wie „Neger“ oder „Zigeuner“ oder schwarze Perspektiven, die von Weißen geschrieben werden, so läßt sich der Reigen des angeblich Unsagbaren, weil angeblich Diskriminierenden beliebig erweitert: Vom Zwerg bis zum Krüppel. Absurd wäre es, wenn nur noch Behinderte über Behinderungen schreiben dürften. Thomas Hettches wunderbarer Roman Pfaueninsel wäre kaum in dieser Art entstanden, wenn nur Kleinwüchsige über Kleinwüchsige schreiben dürften. Und irgendwann mag dann auch die Hausfrau, die intakte Familie mit Mann, Frau, Kind oder der Handwerker aus dem Roman vertrieben werden, weil sie die „heternormative maskuline Matrix“ spiegeln und gesellschaftlich Approbiertes festigen. Vielleicht darf man es aber auch schreiben, muß vorher freilich zur gesellschaftlichen Güte seine Privilegien checken. Man kann hier die absurdesten Beispiele wählen, wir lachen noch darüber, aber inzwischen hat sich eine Haltung breitgemacht, die solches Abklopfen von Texten gleichsam systematisiert. Solche „Textexegese“ nach verdächtigen Passagen ist prinzipiell unabschließbar.

Dies sind keine Petitessen und diese Dinge geschehen nicht einfach so. Inzwischen entsteht ein übles soziales Klima des vorauseilenden Verdachts. Sicher kann niemand mehr sein. Es wird bezichtig und auf absurde Weise im Text nach vermeintlich Verdächtigem gesucht – etwa bei jenem Autor in Klagenfurt, dem dann ein Facebook-Kommentator zudem Homophobie in den Text hineinlas. Dann wird das Gesuchte auf den Autor projiziert und wenn er nicht explizit rassistisch schreibt, so wird das Unterbewußte bemüht, indem, nicht anders als in der klassischen Ideologiekritik, der Entlarver vom Standpunkt des richtigen Bewußtseins aus das Gegenüber als fehlbar markiert. An Universitäten ist dieses Suchen nach rassistischen Stereotypen oder anderweitigen mißliebigen Äußerungen bereits angekommen. Ob das die Debatte um das Gomringer-Gedicht ist, einem Blog wie  Münkler-Watch, wo ein Hochschullehrer anonym überwacht wird, oder Diskussionen um Gemälde in Museen, wie Dana Schutz‘ Gemälde Open Casket, das denunziert und auf die Verbotsliste sollte.

Auch im klassischen Feuilleton finden wir diese Art von unseriösem Entstellen eines Textes schon länger: 1999 Thomas Assheuers unsachlicher Angriff auf Sloterdijk, oder 2012 Georg Diez‘ Denunziation von Christian Krachts Imperium als rassistisch: Kracht als Gatekeeper für das Völkische. Diese Art des außerliterarischen Wertens von Prosa hat inzwischen einige Methode. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern: auch im Diskurs des Politischen, wenn wir an die Anfeindungen und an die unsachliche Kritik denken, denen die Autoren des Sachbuches Mit Rechten reden ausgesetzt waren.

Dabei geht es in diesen Fragen nicht darum, Literatur gegen Kritik zu immunisieren. Ethische Fragen sind von der Literatur nicht per se ausgeschlossen. Jemandem Leid und Ausgrenzung zu ersparen, ist auf der subjektiven Ebene ein löbliches Anliegen. Nur: Literatur ist etwas anderes als Alltagspraktik, und literarisches Sprechen unterscheidet sich vom normalen Sprechen in wesentlichen Aspekten. Wer die Verstörungen nicht versteht, die die Literatur erzeugt, verfällt in die (häufig kleinbürgerliche) Haltung jener, die den Text an seinen Skandalisierungen und an Normübertretungen messen statt an seiner Sprache, seinem Gemachtsein, dem Stil, der ästhetischen Form mithin. Eine Haltung, wie sie im 19. und 20. Jahrhunderts üblich war, Kunst zunächst moralisch zu werten und bei entsprechendem Verstoß gegen geltende Konventionen zu skandalisieren. Und so gelangten Baudelaires Gedichte und Flauberts Madame Bovary auf den Index, weil sich darin Verwerfliches befand.

Freilich ist die ästhetische Autonomie ist kein Selbstzweck. Theoretiker wie Adorno wußten gut, daß sich im Kunstwerk immer beide Momente verschränken: das Werk ist fait social und autonom in einem, wie Adorno es in seiner Ästhetischen Theorie zeigt. Gesellschaftlich ist es aber gerade dadurch, indem es sich des unmittelbaren Engagement und des politischen Eingriff enthält – dazu mehr in einem möglichen zweiten Teil dieses Essays. Einen literarischen, also fiktiven Text jedoch unter der Maßgabe richtigen Sprachgebrauchs abzuklopfen, zeugt nicht vom Bewußtsein für den spezifischen Sinn der Literatur, sondern vielmehr dafür, daß Ebenen durcheinander rutschen oder wie Adorno es in anderem Zusammenhang, nämlich dem des identifikatorischen Lesens, nannte: jener „Schulfall von Banausie“. Aus persönlichen Befindlichkeiten oder moralischen Erwägungen lassen sich kaum ästhetische Kriterien ableiten – schon gar keine allgemein-verbindlichen. Der Beischlaf mit Kindern ist nicht nur verwerflich, sondern auch strafbar. Schreiben darüber, selbst in der verherrlichten Form innerhalb der Literatur bleibt aber aus guten Gründen straffrei und ist zudem per Gesetz von der Kunstfreiheit gedeckt. Ob einem Leser ein Roman wie Lolita moralisch oder vom Plot her gefällt, ist eine Sache der Präferenz. Es sagt dieses subjektive Gefallen jedoch nichts über die Qualität eines literarischen, fiktiven Textes aus.

Daß solche ästhetischen Selbstverständlichkeiten inzwischen nicht mehr selbstverständlich sind, deutet auf ein grundsätzliches Problem in der öffentlichen Rezeption von Kunst. Zunächst könnte man in einer eher unmittelbaren Lesart annehmen: Wo eine kulturalistisch-identitäre Linke politisch keine Siege einfährt und sich zu einer Minderheit qualifiziert, werden stattdessen Erfolge auf der Ebene des Symbolischen gefeiert. Der arme Neger in Afrika interessiert nur noch, als daß er Spielball für die Sprachspiele identitärer Diskurse im universitären Milieu ist, anstatt daß man nach den EU-Subventionen für die EU-Landwirte nachfragt, die das Billiggetreide exportieren, und zum Protest anspornt. Man kapriziert sich auf die symbolische Ebene, um vom Realen nicht reden zu müssen. Aber diese Anwürfe greifen andererseits viel zu kurz. Davon ab, daß sie als Argument nicht funktionieren: Von einer Sache schweigen, heißt nicht, sie zu goutieren. Das Problem in diesen Kontexten ist vielmehr, wenn Leser eindimensional auf Prosa sich fokussieren und sie moralisierend nach Reizworten abklopfen. Im Grunde nicht anders als jene Tugendwächter, die in Der Tod von Venedig schwule Verderbnis, in Anaïs Nins Tagebüchern Sexdreck und im Professor Unrat unzüchtige Disziplinlosigkeit wittern.

Wer sich solchen Texten und Ausdrücken nicht gewachsen zeigt, für den bleibt immer noch die Möglichkeit, Literatur als Religion zu nehmen und das heißt als beliebiges Glaubensbekenntnis zu setzen, in einer Zeit, wo – frei nach Bourdieu – die entsprechende Literatur den entsprechenden Lebensstil repräsentiert, oder einfach nur solche Bücher sich zu wählen, die ein Herz erwärmen, Prosa, die einem das spiegeln, was gesellschaftlich genehm ist. Man bringt sich dann zwar um die moralisch fragwürdigen Texte von Goethe, Jean Paul, Kleist, Büchner, Joyce, Kafka, Döblin, Jahnn, Malaparte, Breton, Baudelaire, Céline, de Sade oder Apollinaire, aber es muß nicht jeder alles lesen und für wen Literatur Herzensergetzung ist und Selbstbespiegeln, der kann das machen. Nur läßt sich daraus ästhetisch verbindlich nichts Normatives ableiten – davon ab, daß wir in der Kunst seit 250 Jahren die Regelpoetik verabschiedet haben. Das gilt auch für Negerwörter.

Wie man das auf der Ebene des subjektiven Befindens beurteilt, bleibt jedem selbst überlassen. Wer aber einen Autor öffentlich rügt, der sollte Gründe bringen. Ansonsten gerät dieses Unternehmen in heikles Fahrwasser und es grenzt solche Hermeneutik des Verdachts an Denunziation. Daß in einem Text ein rassistisch konnotierter Begriff vorkommt, spricht weder gegen den Text noch gegen den Autor, sondern sagt zunächst einmal etwas über die Befindlichkeiten des Lesers aus. Und damit sind wir mitten in der Rezeption und bei der Literatursoziologie, die sich über ein neues Klima verständigt und die zeigen kann, was im Verhältnis von Gesellschaft und Literatur sich verschoben hat. Die Freiheit der Kunst aber ist in einer demokratischen und liberalen Gesellschaft nicht verhandelbar. Weder von rechter noch von linker Seite.

Riskante Texte?

So forderte Burkhard Spinnen in seiner die Lesetage eröffnenden „Rede zur Literatur“. Es gab sie, und es gab auch literarisch Anspruchsvolles und erzählerisch Ausgefeiltes, was ohne die Produktion von Allgemeinplätzen auskam – insbesondere die heiter-heimtückische Prosa von Zwicky, aber auch Jan Snela, Tomer Gardi und Sascha Macht. Aber diese Texte wurden nicht prämiert. Ratlos bin ich, ich schrieb es, über die diesjährige Auswahl des Hauptpreises. Und noch ratloser, wenn ich die Elogen des Feuilletons lese. Ich sehe nicht, wie Judith von Sternburg in der BLZ meint, „wie vergnüglich und durchtrieben“ der Text sei, sondern lese eine biedere und verklemmte Prosa. Unter dem Weltganzen und einer wandernden Eiseele in Otoos Text macht es Sternburg nicht. Was ist los im Feuilleton? Wiebke Poromka in Zeit-Online:

„Hintersinnig, klug, im besten Sinne frech und witzig überraschte der Text der britisch-ghanaischen Autorin. Die 1972 geborene Aktivistin, die sich nicht nur gegen Diskriminierung und für Diversität einsetzt, ist bisher allenfalls an den Rändern des Literaturbetriebs in Erscheinung getreten.

In Herr Gröttrup setzt sich hin zeichnet Sharon Doduas Otoos mit leisem, aber nie bösem Humor das Porträt eines typisch deutschen Spießers. „Er fand bei Rot über die Ampel gehende Jugendliche, das Anglisieren des Genetivs und das Einfach-drauflos-duzen weniger gut. Wenn jemensch ihn in seiner Gegenwart als ‚Christ‘ bezeichnet hätte, hätte er ‚mit Verlaub‘ korrigiert: Er war überzeugter Protestant. Wenn jemensch ihn allerdings als ‚Cis-Mann‘ bezeichnet hätte, hätte er vor lauter Irritation bestimmt die Augen zusammengeknifffen.“

Auf Deutschlandradio Kultur heißt es dann bei Poromka weiter: Ein brillanter witziger, ein ästhetisch überraschend gemachter Text. Begründet werden diese Elogen freilich an keiner Stelle, statt dessen wird eine Passage aus Otoos Lesung vorgestellt, die das Gegenteil des gerade Behaupteten beweist. Weshalb achtet kein Kritiker der Literatur mehr auf das, was für Literatur basal ist – nämlich die Sprache, den Stil und damit zusammenhängend die Konstruktion der Handlung? Spätestens dann hätte mit diesen zitierten Sätzen doch auffallen müssen, daß sich der Text von Otoo in schlimmen Klischees verheddert. „Show, don’t tell!“, der Slogan jeder US-Schreibschule wurde sträflich mißachtet. Nein,  das stimmt so auch nicht: Otoo schuf derart aufdringliche Bilder, daß es mich als Leser verstimmt. Ich mag Texte nicht, die mir sagen wollen, wie es ist, und die Klischeefiguren als Klischee vorführen. Das funktioniert ästhetisch nicht. Ein Text als Proklamation – einmal davon abgesehen, wer wohl außer der Autorin auf die Idee kommen sollte, Herrn Gröttrup als Cis-Mann zu bezeichnen. Gröttrup ist Raketenforscher. Kein Musiker. Zwanghaft in den Text gepreßte Bedeutung und politisches Schulmeistern machen noch keine gute Literatur. Das konnte man schon an den Theaterstücken Sartres erfahren.

Mir scheint, daß hier das Feuilleton der Kulturjournalisten mit ihren Elogen eine eher politische Entscheidung mit den Mitteln der Literaturkritik abzusichern versuchte. Jedoch ohne literaturkritische Begründung. Gewonnen hat in diesem Falle nicht die Literatur. Riskante Texte? Nein, eher seicht, und um noch einmal die vielen Eiermetaphern der Kulturjournalisten zu bemühen: „Klingelingeling, hier kommt der Eiermann!“ Als Cis-Mann versteht sich.

Eine der wenigen, die die Sprache selbst und den Stil des Textes zum Anlaß einer Betrachtung nimmt, ist Sieglinde Geisel auf dem Online-Magazin tell.

 

Haarflaum in der Abfickzone. Oder: Über die Schwierigkeiten von Prosa und Lyrik

Dies ist ein Text, den ich als eine Art Blogantwort bzw. als Kommentar bei der von mir hoch geschätzten Schriftstellerin Aléa Torik schrieb. Auf die Frage, wie eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller von ihrem Schreiben leben können. Ich möchte diesen Text, da ich mir viel Mühe machte, auch hier veröffentlichen. (Quatsch, ich habe den Text in einem Zuge heruntergeschrieben. Und es hat mich keine Mühe gekostet, sondern nur ein wenig Zeit und eine Flasche Bier.)

@ Aléa Torik
Ich weiß, es ist nur ein Nebenaspekt Deines Textes, in einer Deiner Kommentarantworten stehend, wesentlich ging es Dir um konkrete Aspekte der Literatur: „Je weniger die Sprache ein Buch trägt, umso mehr Handlung braucht es“. Ich hätte besser auf diesen Titel und das, was inhaltlich darunter befaßt ist, eingehen müssen, nahm aber eine andere Stelle in einer Deiner Kommentarantworten zum Anlaß: Dort beklagtest Du die unsichere materielle Existenz der Schriftstellerin, des Schriftsteller. Was den monetären Aspekt betrifft, so sehe ich dies etwas anders, und ich möchte Dir widersprechen. Einmal abgesehen, daß mir das Klagen der Schriftsteller über ihre prekäre Daseinsweise ungemein auf die Nerven geht und mich (und vermutlich viele andere ebenso) nicht die Bohne interessiert, scheint mir diese Kritik an der Sache vorbeizugehen. Ich will das an einigen Aspekten verdeutlichen. (Eigentlich hatte ich vor, diesen Text unter dem Begriff Prekariatsszenerien zu betiteln. Aber dies schien mir denn doch zu drastisch. „Prekär“ allerdings in verschiedenen Konnotationen gemeint.)

Erstens: Mit diesem Punkt meine ich weniger Dich als jenes sich selber überschätzende Schreiberprekariat, das sich – meist in Berlin lebend – einbildet, Dichterin oder Dichter zu sein, weil irgendwie aus der der Lamäng, aus der Assoziation zwei oder drei Zeilen geschrieben wurden, irgendwann einmal die Stimmung besonders lyrisch oder prosaisch ausfiel und fürs Zwischendurch ein Text gefertigt wurde, der dann irgendwo in den Weiten des Digitalen sich verbreitete oder es sogar auf ein Blatt Papier schaffte. Karen-Köhlerisierung der Literatur. Die wir beide gleichermaßen beklagen. All die selbsternannten Dichterinnen und Dichter, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller treiben sich in Berlin zuhauf herum. Aber ebenso anderswo. Selbstermächtigungsgesetz des Literatentums. Ich, der Dichter, ich, die Dichterin. Narziß und Echo begleiten neuerdings den Dichter als Geist-Gefährten. Apollon, Dionysos und der Zug der Mänaden haben ausgedient. Allenfalls als Literaturgroupies oder Salonleseboxenluder tauchen diese Mänaden auf. Die Bakchen des Kultursalons. Die Dichterlebensdichte in Kreuzberg, Friedrichshain, dem Prenzlauer Berg und neuerdings wohl auch Lichtenberg und Pankow ist ungemein hoch. Dagegen war Friedenau in den 60er Jahren dichterisch fast dünne besiedelt. (Herta Müller lebt dort heute noch.) Ich bekomme regelmäßig Wallungen der Aggression, wenn der Ranz des Beliebigen als Dichtung hochgepimpt wird. (In Blogs kann man das ja alles machen. Gut finde ich es dennoch nicht. Es hat etwas Schales, etwas Anmaßendes, etwas Abstoßendes. All dieses Schreiben. All diese Viel-zu-vielen.) Aus der Assoziation mache ich Euch allen solche 3-Sekunden-Texte im Zwei-Sekunden-Takt:

Nach der Nacht//Und aus der Muschi der Scheidenausfluß//im Beckensaum//Genäht, gewichtet, zu leicht befunden//Haarflaum in der Abfickzone//Sekrete Diskretion.

Ich meine, das ist doch wirklich ein geiler Titel für einen Gedichtband: „Haarflaum in der Abfickzone“. Ich, der Fan der Muschibehaarung. Wie geschrieben: ich kann hier den ganzen  Abend und den Morgen und den Nachmittag assoziieren und den Tag und darüber hinaus. Aber als Dichter würde ich es nicht wagen, mich selber zu bezeichnen oder von anderen mich benennen zu lassen. Was für eine Hybris! Und damit komme ich auf den Punkt: Es gibt zu viele von Euch Schriftstellern! Reduziert Euch! (Eine der schönen Ausnahmen war Dein Blog und es ist auch summacumlaudes Blog, stellenweise auch die Beobachtungen bei Kreuzbergsüdost, ebenso Katharsis. Feine Skizzen, aus denen mehr werden kann oder könnte. Natürlich, im großen Rahmen, ebenfalls viele der Texte von Alban Nikolai Herbst in seinem Blog, wenn nur das Jammern nicht wäre. Des Dichters liebstes Kind scheint die Klage zu sein. Ganz gleich, ob Marienbader oder Berliner Elegie. Andererseits, im guten Teil der Elegie geht das Klagen, Jammern und Zähneklappern durchaus, wenn das Material bearbeitet und nicht roh hinterlassen wurde, wenn dann der Bau trägt und die Kraft des Ausdrucks wirkt: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,//Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.“ Goethe, Torquato Tasso)

Daß Dichtung einmal Ausdruck von Leiderfahrung war, objektives Leiden, Leid objektivierend in der Textweise des Subjekts: dieser Umstand scheint mittlerweile vergessen. Die Begleiter des Dichters sind Narziß und Echo.

Die Städte sind voll von Lyrik und Prosa. Gut. Und für die Performances beim Poetry Slams mag das funktionieren, wenn in gewitzter Form Sprache dargeboten wird. Ob das freilich der Dichtung insgesamt zugute kommt? Dieser Faktor der Multiplizierung, dieses Zu-Viel der schnellen Form: Das ist der Grund, weshalb ich Lyrik und Prosa-Gedicht (in vielen Fällen) für die heruntergewichsteste Form der Dichtung halte. Hausfrauengeschreibe fürs Zwischendurch. Keine Kraft und keinen Atem für die lange Form des Romans oder eben einen komplexen komponierten Gedichtband aufbringend, wie Daniela Danz das gekonnt mit Pontus tat. Es müßte ein Gesetz erlassen werden: Wer nie einen Roman schrieb, wird mit dem Verbot belegt, Lyrik zu produzieren. Vielleicht sollte man das auch für die Essays einführen. Wer nie sich einem Schreib-, Denk- und Theorieprojekt für mindestens 2 Jahre hingab, darf keine Texte verfertigen. In hora mortis – es mag der Griffel in der Sterbe-Hand verfaulen. Die Journalismusversuche samt den Buchschreibereien der Kreuzberger Medienbohème betrifft dies ebenso.

Nein, mich stört weniger das Schreiben selbst, als Akt, als Tätigkeit, als Wille zur Gestaltung, sondern vielmehr das Prätentiöse. Lyrik und Prosa geraten inflationär. Nun kann man sagen: schön, daß es so viel Dichtung gibt. Ja, schön auch, daß es so viel Beliebiges gibt, dem es an diesem Willen zur Form gebricht. Dieses Phänomen scheint auch in der Photographie existent zu sein, weshalb ich immer weniger Lust verspüre, meine Photographien überhaupt noch herzuzeigen.

Punkt 2.
Du schreibst:

„es mag sein, dass wir in dem Maße, wie wir erkennen, dass man vom Schreiben nicht leben kann, auch erkennen müssen, dass es eben kein Beruf, sondern ein Hobby ist. Ich kann mir als Beruf nichts Schöneres vorstellen, aber als Hobby interessiert mich das Schreiben nicht. Wenn man nicht fürs Schreiben lebt, dann kommen dabei in der Regel Hobbytexte heraus (bei den großen fiktionalen Formen; bei Bloggern und Journalisten gelten da andere Gesetze). Ich will Texte von Berufsschriftstellern lesen, die sich mit ihrer gesamten Existenz für den Text verbürgen. Und solche Texte will ich auch schreiben. Wenn das nicht geht, dann muss ich mich anderweitig orientieren.“

Wohl wahr und richtig: Schreiben (und überhaupt das Machen von Kunst) ist kein Hobby, es ist Leidenschaft, wildes irres Tun und Treiben, ein Delirieren, ein Zwang, ein Muß und hohe Kunst der Komposition. Insofern trifft der Begriff des Tonsetzers, als der jener Adrian Leverkühn im „Doktor Faustus“ bezeichnet wird, den Umstand dieser Arbeit der Kunst sehr genau. Es ist ein Setzen, vorsichtiger Satz, kühner Satz, vorpreschender Satz, und es klingt die Arbeit des Schriftsetzers darin an. Guter alter Bleisatz, Detailarbeit, wenn nach den  passenden Lettern gefischt wird. Aber, und hier kommt die große Einschränkung, es bietet die Kunst eben keine Gewähr dafür, daß es Geld gibt. Schön wäre eine Gesellschaft, in der jeder nach seinen Bedürfnissen tätig sein könnte. (Insofern stellt die Bezahlungsfrage für Schriftsteller:innen, jenseits allen Egoismus oder auch des rein Pragmatischen, von irgend etwas leben zu müssen, zugleich die Systemfrage. Ich schreibe das in einer Klammer, obgleich diese Klammer Zentrales berührt: Wie wir nämlich leben wollen.)

Auch ich mag keine Hobby-Texte lesen, schreiben braucht Zeit; in den Blogs, die Literatur machen, lesen wir immer wieder, wohin und zu welcher Art von Text das Hobbyschreiben führt, wenn im Ton der Empfindsamkeit getrötet oder geflötet wird.

Die Schriftstellerin Ulla Hahn riet jungen Autorinnen und Autoren, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Ich halte das für einen guten Hinweis. Denn es ist doch so: Der Betrieb ist voll. Alle drängt es zu den Töpfen, zu den gut oder den weniger gut bezahlten Vorträgen, den Schreibstellen in den Feuilletonredaktion, denn vom Verkauf seiner Bücher kann (so vermute ich) kaum einer der Schriftsteller leben. Es bleibt also nur die eiserne Disziplin, um seine Leidenschaft, dieses ungeheure Begehren, neben der Erwerbarbeit zentral zu machen. Schreiben erledigt sich nicht nebenbei. Wer aber dieses ungeheure Wagnis eingeht, einen Roman zu komponieren, der benötigt eines der kostbarsten Dinge, die es auf dieser Welt gibt: Zeit. Das heißt vermutlich auch: ich muß mich von vielem, das ablenkt, freischaufeln. Freundinnen und Freunde reduzieren. Tätigkeiten einschränken. Eine Lösung für dieses Dilemma weiß ich nicht. Falsch wäre es auf alle Fälle, wenn eine der begabtesten Schriftstellerinnen ihr Schreiben aufgibt. Nebenwege gehen vielleicht? Wie machte es Franz Kafka, der zeitlebens seine Arbeit im verhaßten Büro verfluchte? Ihn rettete die Krankheit. Ihm schadeten die Frauen. Nein, nicht ganz. Sie waren der Anlaß zum Schreiben, der unendliche Fluchtreflex. Orpheus schlachtet Eurydike, und er beschreibt dieses leere hagere Gesicht, das er im September des Jahres 1912, bei Brod an einem Tisch sitzend, betrachtete, das Blasse, Magere. Er modelliert und skizziert aus diesem Gesicht heraus den größten Roman des 20. Jahrhunderts. (Aber auch dies ist nur eine Mutmaßung, kein Biographienpositivismus, sondern selber ein Stück dieses ungeheuren Textes Kafka, den der Blogbetreiber fortzuschreiben gewillt ist.) Durchstreichung eines Gesichtes, ein Text, der sich fragmentiert und selber auslöscht, denn das Wesen eines Textes ist es, wieder verschwinden und sich ins Nichts versetzen zu können. Die Illusion der textuellen Dauerpräsenz und Omnipotenz durchzustreichen. Ginge es nach Kafka, wäre sein Literaturnachlaß verbrannt worden. (Undenkbar, absolut undenkbar für einen heutigen Dichter.) Schreibglück fand Kafka erst kurz vor seinem Tode, zusammen mit Dora Diamant. Auch eine der vergessenen Frauen. Aufhören ist für die, die der Literatur etwas hinzugefügt haben, keine Option. Das sollten besser andere machen.

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Kunst ist nicht für alle da. Dies sollte durchaus nicht ihr unfreiwilliges Schicksal sein, sondern formbewußt ihrem Entstehungsgrund eingegeben. (Botho Strauß)

Das kann man als elitäres Denken lesen. Immer beliebt, solch ein Vorwurf, von der demokratischen Volks- oder Kunstgemeinschaft geäußert, sobald jemand mehr einfordert als das gesellschaftlich Approbierte und sobald Kunst mehr als bloßes Entertainment ist, sondern als Arbeit sich erweist – eine lustvolle freilich. Vielmehr geht es diesem Denken um eine Kunst, die sich dem bloß Assoziativen, dem Zufälligen oder dem banalen Abfassen von dem, was gerade durch den Kopf wirbelt oder was der Alltagsfall ist, entzieht: Kunst ist Konstruktion und Bewußtsein von Form, und eine Literatur, die mehr als ein Aufschreibsystem der Gegebenheiten ist, reflektiert unter den Bedingungen der Moderne ihren Entstehungsgrund als Text mit, diesen dabei im selben Zug versinnlichend. Literatur – das ist Sinn(lichkeit) und Form. Und zugleich zerstört sie im idealen Fall die Sinnbezüge, um eine Welt nach ganz eigenem Maße zu schaffen. Dazu reicht es als Reflexionsreferenz freilich nicht aus, ein wenig im Aischylos, im Sophokles („Viel des Ungeheuren ist …“), im Homer, im Ovid, im Shakespeare, Proust oder anderswo zu wildern, die zweiseitengelesen im Buchschrank stauben, um des Grundes ansichtig zu werden oder dem, was unterschwellig wirkt und pulsiert wie unterirdisch der Vulkan, der selten nur ausbricht, aber dennoch die Erde in den Hitzestrom setzt. (Aber, aber: nichts gegen die gekonnte, verspielte Referenz und die Kunst als autopoietisches System, Literatur als Kritik der Literatur, wie es bereits F. Schlegel im Sinne einer Transzendentalpoesie entwarf, sofern solche Literatur nicht nur Effektmarke ist, um Belesenheit anzutäuschen. Die Grenzen sind nicht immer leicht auszumachen.)

Die Arbeit der Referenz bleibt, wird sie lediglich als Spiel von Assonanz und abgehackter Assoziation des Verschiedenen betriebsam durchgeführt, bloß leer und spielt ein selbstbezügliches Spiel. (Die wäre die schlecht verstandene Postmoderne – sofern man solchen Verschlagwortungen aufsitzen möchte.)

Die griechische Antike ist in der Tat der Maschinenraum unseres europäischen Denkens; die Poetik des Aristoteles der formale Urgrund von Kunst. [Wobei wir uns Europa zugleich als jene junge Prinzessinnen-Frau vorstellen müssen, die auf dem Rücken des Zeus nach Kreta verschifft wird. Tierlieb-fromm das Striegel-Fell fassend, auffahrend, Stierhoden, Stierraub, übers schäumende Meer die Lustfahrt, durch Tag und Nacht gleitend, die doch bloß die Lust des Mannes ist, als Raubzug bewerkstelligt. Dem die weibliche Verweigerung folgt. Auch dies ist als Mythos mitzulesen. Europa ist eine Frau, die sich dem Götterbegehren auf ihre Art wiedersetzte. Denn die Liebe, die Liebe, die höret nimmer auf. Allerdings läßt sie sich ebensowenig zwingen. Geraubte Küsse gibt es nur im Kino.] Wenngleich diese Poetik des Stagiriten in ihrer Sprache nüchtern und ohne ästhetisches Zierrat auftrat, teils dunkel zwar, dennoch analytisch und die Strukturen sichtend, wollte sie eine Bestimmung liefern, die dem platonischen Moment von Dichtung als göttlicher Inspiration des Dichters, wie Platon es im Dialog „Ion“ entwickelte, die Arbeit der Form entgegenstelle. Ganz und gar gegen den Musenkult gerichtet. Die erste Ästhetik, die nicht, mythologisch noch verhaftet, dem Ingenium des Dichters das Wort redete. Autorin oder Autor beseelt von einem ganz anderen her.

Inwiefern sind wir noch fähig, diesen Grund konsistent zu realisieren, in Sprache zu fassen und zu verstehen? Vom Begreifen einmal ganz abgesehen, wobei die meisten in diesem Verb nicht mehr das Substantiv Begriff (als Sprachform und als com-prehendere) lesen, sondern das Betatschen von Dingen. Sensorismus und Taktilität der Kunst als Erlebnisraum. Der Seinsgrund von Kunst stellt sich den Beliebigkeiten des Einfalls entgegen wie auch dem umstandslosen Zugriff. Wobei der Einfall, der als Assoziation oder Inspiration zugleich mit dem Moment des Nicht-Handhabbaren in Verbindung steht, in der Arbeit des Denkens immer in eine Form gebracht werden muß, wenn er sich denn realisieren möchte und nicht als bloße Geste oder als assoziativer Einfall, wie ihn allenfalls die Psychoanalyse noch zu deuten vermag, in den Raum der Lektüre gestellt wird. Absichtsvolle Inszenierung des Absichtslosen. Etwas, das wie natürlich und anmutig in sich selbst wirkt und das dennoch durch und durch poiesis, Gemachtes, in der Konstruktion Erzeugtes ist – das ist der Zauber der gelungenen Kunst. Wandlungsmoment und Transmission. (Insofern ist der Grund der Kunst zugleich ein magischer.)

Die Literatur ist demgegenüber vielfach blind geworden, und das Internet, jener Ort da alles sofort verfügbar ist, nährt leider eine Ubiquität des Schreibens, die jegliches Schreiben leer werden läßt und es in den Quasselton preßt. Keiner, der nicht ein Gedicht oder eine Prosa-Miniatur schreiben kann, die klingen, wie ein Gedicht oder eine Prosa-Miniatur klingen sollen. Doch es bleiben Textsimulationen, die Anmut und jenes absichtsvoll Absichtslose antäuschen. Aber es bleibt als Effekt durchsichtig. Wie in den 70er- und 80er Jahren Malen-nach-Zahlen bei Kindern hoher Beliebtheit sich erfreute, so gibt es heute ein gleichförmiges Schreiben, das nach Schablonen funktioniert. Literaturmarkt und Internet sind die zwei verschiedenen Ausdrücke derselben Form.

So vieles schwingt und tönt, und das liest sich wie zwischen literarischem Katzenkalender und Tieftauchversuchen von Tauchamateuren, die am Ende der Fahrt jedoch als Blasenblubbern sich erweisen. Unendliche Fahrt und Rausch erweisen sich lediglich als Surrogat.

Andererseits ist unsere postmoderne Moderne plural verfaßt. Neben dem streng gebauten Text eines Celan oder eines Grünbein steht der lyrisch-assoziative Ton eines R.D. Brinkmann oder Brasch, die freilich auch anders können. „Die Maßgaben der Kunst“ erweisen sich als brüchig. Das ist gut, wenn es darum geht, nicht mehr nach Regelpoetik und Formenkanon zu schreiben – was ebenso für die Literaturkritik (als eine Form der Kunst) gilt.

Vielleicht aber fraß sich dieses „Anything goes“, das als Slogan einer vulgären Postmoderne, die den Beliebigkeiten frönte – eines so gut oder schlecht wie das andere und jeder ein Künstler (was naturgemäß Humbug ist) –, tief ins Gemüt, und vielleicht sind ebenso der ästhetischen Kritik die Maßstäbe abhanden gekommen. Es lassen sich gegen oder für ein Gedicht von Benn, Bachmann, Brasch, Celan, Rühmkorf oder Grünbein so viele gute wie schlechte Gründe finden. (All das gegenwärtige Textschreiben von renommierten Autoren/Autorinnen oder auch von solchen, die nur das Internet als Publikationsort sich erwählten, ganz zu schweigen.) Daß der formale Aufbau eines Gedichts stimmen sollte, ist schon lange kein Kriterium mehr dafür, ob es glückte oder nicht. Wir haben die Gewichtung vom Werk weg und hin auf die ästhetische Erfahrung gelegt. Diese Verlagerung koppelt sich an das Geschmacksurteil, dessen objektiver Grund zunehmend uneinsichtig wurde. So bleibt es subjektiv und der Unterschied zwischen dem literarischen Katzenkalender und einem Brecht, Brasch oder Mayröcker ist ins Belieben gestellt – je nach Präferenz. Selbst die Sprache erweist sich selten noch als Kriterium. Wobei freilich – andererseits – die Kunst des ästhetischen Disputs nicht gering zu setzen ist, denn nur aus den kontroversen Diskussionen, sofern sie denn klug, geistreich, produktiv und mit Argumenten geführt werden, schält sich eine vielschichtige Interpretation von Text heraus, nicht im Unisono der Kritikerstimmen. Dennoch. Die „Maßstäbe“, sofern man diesen Begriff überhaupt wählen mag, sind im Rahmen der ästhetischen Kritik so brüchig geworden, wie auch die Kunst der Spätmoderne es ist.

Aber wir Dichter imitieren die fremden Töne, borgen vom Anderen. Kunst ist Mimesis. Kunst ist Bewußtsein von Form. Genau beobachtete Bilder, die nicht als Bild belassen und nicht eingängig gemacht werden, Kunst ist der Gegen-Ton, in Zeiten wie diesen sicherlich eher die hermetische Verweigerung und strikte Komposition von Texten, statt des Karen-Köhlerischen oder Hegemannschen Herangeschmeißes, wo es nicht einmal mehr an die Antike reicht, sondern auf dem Flachland dümpelt und die bedeutungserzeugenden Symbole und Szenen bewußt marktgängig und aufs Publikum geschielt, initiiert werden.

Hic Rhodus, hic saltus. Oder von welchen Romanen werden wir sprechen,

wenn wir in zehn oder zwanzig oder in dreißig Jahren über die Literatur der BRD uns unterhalten und uns an das Jahr 2014 oder den Beginn dieses Jahrhunderts erinnern? Werden Namen von Autoren aus dieser Zeit genannt, die herausragten, so wie wir von der Literatur der 60er, 70er, 80er Jahre des letzten Jahrhunderts sprachen? Wie von Bölls „Billard um halb zehn“ oder seinen Erzählungen, die den Krieg als unsere eigene Geschichte in den kalten protokollarischen Blick brachte, ebenso bei Alfred Andersch, der moralisch ausschmückender verfuhr, Johnsons „Jahrestage“ (ein Ereignis, von der Konstruktion her und im Bau der Geschichte), Arno Schmidts „Aus dem Leben eines Fauns“ (was für eine eigenwillige Sprache und Fluchtreflex in der Expression), Grass‘ „Blechtrommel“ (überbordend in seiner Form und Sprache und die Geschichte Deutschlands kongenial barock spiegelnd), Max Frisches Subjektverwischungen wie im „Gantenbein“ oder im „Stiller“ (Fragen übers Ich als Auftrag des Schreibens, in immer neuen Wendungen), Botho Strauß‘ „Paare Passanten“ (ach, diese Auswegs- und Belanglosigkeit bürgerlicher Subjektivität, die schon lange keine mehr ist), Peter Handkes Subjektivierungs- und Zertrümmerungsweisen samt Ding-Ontologie und den Versuchen, diesen einen Moment ins dichterische Wort zu bannen (auch als Pop-Literatur – damals zumindest), Thomas Bernhards Ironie des Scheiterns und Weitermachens in der Existenz als Geistesmensch, Martin Walsers „Ehen in Philippsburg“ (das Bürgerlich-Kleinbürgerliche als Maß der Existenz und als Wille zum Verharren in Bigotterie bis zur Explosion), Peter Weiss‘ „Die Ästhetik des Widerstand“ (eine Literatur als Revolte und Aufruhr gegen den Stein der Geschichte) und selbst Siegfried Lenz‘ „Deutschstunde“ wird in einer Weise bleiben, wie ich es mir von all den Hegemanns; Hermanns oder Kehlmanns nicht werde vorstellen können. Von der DDR-Literatur mit ihrem ganz anderen Weg des Schreibens mal ganz zu schweigen: so die großartige Brigitte Reimann oder Christoph Heins „Drachenblut“.

Werden wir uns an Größen wie Rothmann, Hettche, Torik, Schulze, Meyer, Herbst, Schalansky, die sich mittlerweile mehr aufs Machen von wunderbaren Büchern und herrlichen Buch-Inhalten verlegte, wie etwa diese großartige Natur-Reihe bei Matthes & Seitz, in dreißig Jahren noch erinnern? Wer schreibt unsere Literaturgeschichten dieses beginnenden Jahrhunderts? Wird darin Esther Kinskys eigentümlich daseinsverlorener Roman „Am Fluß“ enthalten sein? Schalansky luzid-klare und brutale Prosa vom „Hals der Giraffe“ als Post-DDR-traumatisches Schulszenario? Wir vergessen viel. Kann sich noch jemand an Christoph Ransmayrs ungeheuren Ovid- und Verwandlungsroman „Die letzte Welt“ erinnern? Was für ein Buch im Jahre 1988! (Namen sind Beispiele)

Wir haben im Gegenwärtigen viel zu viel Literatur. Das ist gut. Wir haben ebenfalls viel zu viel schlechte und belanglose Literatur. Die angestrebte Demokratisierung der Produktionsprozesse im Literaturbetrieb führte (teils) zum Mittelmaß. All die Stipendien und Preis, die Fördergelder, Stadtschreiberposten und staatlich vergebenen Mittel, all die Schreibschulen haben satt gemacht. Träge. [Literaturarbeiter in die Produktion, müßte die Parole lauten. Und zwar in die der Formung von Texten.] Dazu ein Markt, der konformes Schreiben fördert und fordert. Viele Verlage dienen sich dem an. Nicht nur das: sie sind dieser Markt. (Heute im Hörspiel zu Mitternacht aus der Reihe: Sachzwang und Struktur.)

Dennoch. Es gibt diese immer wieder gelungenen Texte. Nur sind sie sehr viel schwieriger auszumachen als noch in den 50er, 60er oder 70er Jahren, als es 40 oder 50 Schriftsteller gab – jeder Handke, jeder Johnson, jeder Walser, jeder Grass ein Ereignis – und als die Lage übersichtlicher war. (Und genau um diese Diversifikation geht es: Wie noch den Überblick wahren, sofern „Übersicht“ und „Überlick“ überhaupt noch die für die Situation angemessenen Begriff sind? Wie eine Epoche in Gedanken und in der Reflexion fassen?) Die Literaturkritik im Feuilleton ist dieser Flut von Büchern lange nicht mehr gewachsen – und kann dies aus dem genannten Grund auch gar nicht mehr sein. Eines aber muß man ihr vorhalten: Wenn wir bei den Buchkritiken darauf sehen, welche Verlage es sind, deren Autorinnen und Autoren besprochen werden, so scheint es mir, daß es sich immer wieder um dieselben Verlage handelt. Bücher aus kleinen Verlagen, Bücher aus Druckkostenzuschußverlagen oder solche, die im Rahmen von E-Book-Publishing veröffentlicht werden, fallen durchs Raster, kommen kaum vor – allenfalls ein Nischenverlag, der sich, wenn es gut läuft, mausert. Und sofern solche Autoren des Selfpublishing oder der kleinen Verlage nicht mit Literaturzeitschriften, literatursubversiven Fan-Zines oder Blogs verbunden sind und darin vorkommen, so fallen sie durch den Rost. Was bei manchen sicherlich nicht das falscheste ist.

Von der Nischenbraut Lyrik wollen wir in all diesen Rahmungen vornehm schweigen. Sie hat es noch viel schwieriger als die schöne Prosa.

Aber all das Jammern, Knirschen, Klagen nützt nichts. Genausogut könnte ich lamentieren, weshalb dieser Blog nicht in den Rang des Feuilletons aufgestiegen ist. Weil’s nicht gereicht hat mit Kraft, Charme, Beharrungsvermögen und auch einem Stück Ellenbogen dorthin zu gelangen. (Wobei: Charme besitze ich, davon legen die Frauen Zeugnis ab.) „Die große Weigerung“ könnte man diese Haltung des Verborgenen ebensogut mit jener Wendung aus Herbert Marcuses vor 50 Jahren erschienenem Buch „Der eindimensionale Mensch“ bezeichnen. Das Verweigern und Sperren klingt im Soundgarten und Diskurskorpus der Gegenwart gut und kann ein gewisses Maß an Subversion und Pop-Distinktion beanspruchen.

Doch bei all dem Lamento haben wir uns bisher nur aufs Nationale beschränkt und noch lange nicht die Literaturen der Welt berücksichtigt. Was ist mit Nigeria, Ägypten, Indonesien, das zumindest nächstes Jahr Gastland bei der Buchmesse Frankfurt sein wird? Wir können nicht alles lesen, aber wir, die wir in unseren Lektüren anderes wagen, lesen uns selektiv an den Rändern, im Zentrum und in konzentrischen Bewegungen an den Texten entlang. Von dem rumänischen Schriftsteller Mircea Cărtărescu bis hin zu dem guatemaltekischer Eduardo Halfon oder Teju Cole, der in Nigeria aufwuchs und dann in den USA lebte. Wie freilich all das Disparate der Gegenwart im Blick einer Literaturkritik und -ästhetik zu sichten ist, vermag im Moment wohl niemand gescheit auf den Punkt zu bringen. Aus dem einfachen Grunde, weil dazu Abstand erforderlich ist, der erst die nötige Reflexion antreibt. Das wußte keiner besser als Hegel, wenngleich nicht in den Bannungen und Zügen der Ästhetik, sondern vielmehr in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, wo er schrieb:

„Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit, so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. Geht seine Theorie in der Tat drüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie sein soll, so existiert sie wohl, aber nur in seinem Meinen – einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt.

Mit weniger Veränderung würde jene Redensart lauten:

Hier ist die Rose, hier tanze.

(…)

Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“

Das freilich ist Poesie und Philosophie in einem, das ist des Denkens ganzer und tiefer Sinn, wie der Trommler und Dichter Heinrich Heine so wunderbar und die Marketenderin küssend, Hegel paraphrasierend, zu besingen wußte. Schöne Zeiten. Auch für die Ästhetik. Nietzsche, der Tänzer auf glattem Eise, schuf für diese Zeit der Vielheiten ganz eigene Bilder und Texte.  Es gibt keine Unübersichtlichkeiten, sondern nur den Mangel an Reflexion, der Wuchern und Verzweigung samt der damit einhergehenden Degression als neue Prosa der Welt nicht in die Textform einer sich verschreibenden Ästhetik zu transformieren vermag. Eine emphatisch verstandene Ästhetik schreibt sich immer wieder neu als Versuch und Fragment. Aus solchen Fragmentierungs- und Konsistenzgründen eben sind Blogs die neuen Medien der Zeit. Aufsatzsammlungen, die in einem bestimmten Schreibton ihre Sache umkreisen und im Kaleidoskop, als Versuchsanordnung und in Konstellation die Sache zumindest in eine erste Gestalt bringen. Akt und Potenz. Wie dann der Flug vonstatten geht, wird sich zeigen. Wozu dann wieder Bücher notwendig sein werden. Sei es in der Literatur oder der Philosophie.

Faltungen der Zeit – Juli Zehs „Schilf“ (1)

So beginnt vom Plot her und vom Stoff ein gut gebauter Roman und erzeugt jenen Lesesog: Ein (melancholischer) Rückblick des Erzählers/der Erzählerin auf zwei in der Studienzeit innig verbundene, unzertrennliche Freunde, geniale Ausnahmestudenten der Physik, gekleidet und mit dem Habitus des Dandys, deren Welt und deren Möglichkeiten noch vor ihnen liegen, doch die Zeit bringt Menschen auseinander und erzeugt Brüche und Dellen, die Freundschaft bleibt bestehen, doch die Intensität jener wilden physikalischen Studienjahre, die leidet. Dann gehört zum anfänglichen Personenensemble eine Frau, ein Kind, und ein physikalisches Problem zur Kausalität stiftet den Auftakt sowie eine (wohl nobelpreisverdächtige) Monotheorie der Physik, welche zwei Sichtweisen auf das Universum zu einer holistischen Theorie zusammenbringt, so daß Quantentheorie und allgemeine Relativitätstheorie sich vereinigen lassen, so der Physiker Oskar: die Welt sei ein Feingespinst aus Kausalitäten. Während der verheiratete mit Frau und Kind versehene Nanotechnologieforscher Sebastian eine Mehrweltentheorie verteidigt, in der zudem die Zeit nicht chronologische, sondern in einer synchronen Faltung existiert: es müsse mehrere Universen geben.

Aber es handelt sich bei den Ereignissen in diesem Buch wohl kaum bloß um ein Spiel der Physik oder um einen Exkurs zum Zeitsinn; der Krimi deutet sich an, bereits in dem Satz, der folgt, als Sebastian seinen Freund Oskar in seiner Freiburger Familienwohnung zu sich einlädt – wie jeden ersten Freitag im Monat, als Ritual:

„‚In vier Tagen bringe ich einen Menschen um‘, sagte Sebastian. ‚Aber ich weiß noch nichts davon.‘
Das jedenfalls hätte er sagen können, ohne zu lügen. Stattdessen behauptete er:
‚Der Freiburger Sommer ist so schön wie die Menschen, die ihn genießen.‘“

Ein verlogener und verlegener Satz, Sebastian wußte das, aber er war angesichts des Freundes sowie des bevorstehenden Disputes zu den Fragen der Physik nervös.

Und etwas später folgt dann die Theorie jenes wirren Zeitmaschinenmörders: „Nach der Tötung von fünf Menschen hatte der junge Mann ausgesagt, es habe sich keineswegs um Mord, sondern um ein wissenschaftliches Experiment gehandelt. Er sei aus dem Jahre 2015 angereist, u m die Viele-Welten-Interpretation zu beweisen. Diese betrachte die Zeit nicht als fortlaufende Linie, sondern als einen ungeheuren Stapel von Universen, der sich mit jedem Augenblick vergrößere, als eine Art Zeit-Schaum aus unendlich vielen Blasen, weshalb eine Reise in die Vergangenheit keine Rückkehr in ein früheres Stadium der Menschheitsgeschichte darstelle, sondern einen Wechsel zwischen den Welten. Folglich sei es problemlos möglich in die Vergangenheit einzugreifen, ohne dadurch die Gegenwart zu ändern.“

Eine feine und interessante These. Von einem Wahnsinnigen zwar ausgesprochen, aber deshalb, so Sebastian, müsse diese These selber nicht wahnsinnig sein. Solche Konstellationen regen an, und die extremen Probleme und Fragen von Physik und Philosophie erfreuen den regen lesenden Geist. Worum es in diesem Buch geht: ich weiß es noch nicht. Aber die Spannung steigt und wenn unwahrscheinliches sich verschachtelt, so erzeugt dies meist eine Dimension, die auf Dinge pointiert und fokussiert, die den Alltag um ein winziges überschreiten.

Ein Buch läßt sich schlecht besprechen, wenn der Leser gerade am Anfang sich befindet. Und insofern werden diese und mögliche folgenden Text auch keine Bücherbesprechung, keine Rezension oder ein Essay sein, sondern ein Vorlauf hin zu einer umfassenden Juli Zeh-Lektüre, die, so ich den langen Atem des Long-distance- runners besitze und durchhalte, auf einen Besprechungs-Text zu ihrem neuesten Roman „Nullzeit“ hinausläuft. Um diesen neuesten Roman lesen zu können, muß man, so meine These, auch die anderen Romane von Juli Zeh kennen. Denn Texte verweisen auf Texte und sind miteinander verbunden. Ich fange mit „Schilf“ an und gehe dann zu „Spieltrieb“ über, was mir vom Titel sehr gut gefällt. Vielleicht noch ein oder zwei Essaybände und ihr Erstlingswerk, den darin liegen meistens alle Aspekte eines umfassenden Textes gesammelt und in Anspielung und Anklang vor – gleichsam an sich. Von diesem Punkt her entfaltet sich ein Text und so wirkt die Literatur fort.

Zuletzt sei noch ein wunderbares Zitat jenes Physikdandys Oskar gegeben, als er den Trauzeugen bei Sebastians Hochzeit macht:

„Die Hochzeitsgesellschaft sprach hinter vorgehaltener Hand über den Trauzeugen, der an den Wänden des Festsaals entlangschlich und mit seiner dunklen Gestalt persönlich für die Schatten in den Ecken verantwortlich schien. Seine Miene behauptete, sich niemals im Leben so köstlich amüsiert zu haben. Statt eines Schleiers, erzählte er den peinlich berührten Gästen, hätte Sebastian seiner Braut eine grüne Lampe aufsetzten sollen. Bei Notausgängen gehöre sich das so.“

Schöne schwarze Romantik und der bittere Biß des Zynikers, so wie es in der gebotenen Schonungslosigkeit sein muß, weil es der Blick auf die Welt ist, der paßt: Die Dinge in ihrer Bedürftigkeit zu sehen. Ein fast messianischer Blick. Der Zyniker ist der Utopist des 21. Jahrhunderts.

Rolf Dieter Brinkmann (2)

Brinkmann trifft in dem Gedichtband „Westwärts 1&2“ den Ton jener Zeit der ausklingenden 60er und insbesondere der frühen 70er Jahre, er legt einen kollektiven Strom dichterisch frei, bringt ihn in Bilder, verdichtet dieses Strömen: nämlich das Moment von Subjektivität und Empfindung als Gegenpart zur Macht der Vergesellschaftung, was später dann zu einer unendlichen, wälzenden, wühlenden Selbstbohrerei des Subjekts wurde und in die Innerlichkeiten und Innenwelten leerer Selbstbezüglichkeit sich verstieg. Objektlose Innerlichkeit. Diese neue Subjektivität in der Literatur der 70er Jahre manifestierte sich bei Handke und Brinkmann gleichermaßen und auf eine durchaus gelungene Weise, was man von dieser Literatur der neuen Subjektivität nicht immer sagen konnte: Zwei Schriftsteller des Aufbruchs, des Pop, die sich den Medien und der Musik ihrer Zeit verbunden fühlten. Transformierte sich der Text Handkes in den späten 70ern zunehmend hin zu einer artifiziellen, hochartistischen, gesteigerten Sprache und einer Ding-Ontologie, so gibt es in der Lyrik Brinkmanns, der die späten 70er nicht mehr erlebte, weil er vor ein Auto lief und starb, eine Evokation von Situationen und Momenten. Brinkmann zelebrierte den Einfall der Alltäglichkeit in die Dichtung, kurze Momente geraten in die Unendlichkeit und Banales sticht heraus. Diese Stunde der wahren Empfindsamkeit und der Empfindung des Augenblicks gibt es also nicht nur bei Peter Handke, sondern auch bei Brinkmann, aber doch anders strukturiert: lyrischer, leichter und zugleich spielerischer, manchmal freilich auch härter komponiert, wie ein Faustschlag, und cooler gestaltet:

Einen jener klassischen

schwarzen Tangos in Köln, Ende des
Monats August, da der Sommer schon

ganz verstaubt ist, kurz nach Laden
Schluß aus der offenen Tür einer

dunklen Wirtschaft, die einem
Griechen gehört, hören, ist beinahe

ein Wunder: für einen Moment eine
Überraschung, für einen Moment

Aufatmen, für einen Moment
eine Pause in dieser Straße,

die niemand liebt und atemlos
macht, beim Hindurchgehen. Ich

schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten

dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.

Brinkmann pflegt nicht den hohen Ton – anders als Handke. Die in Sprache gebannte Alltäglichkeit einer flüchtigen Szenerie und die Größe eines Momentes, einer Empfindung kommen unprätentiös ins Gedicht, blitzen auf, um wieder zu vergehen; sie erlöschen. Was bleibt, ist die Sprache. Die Assonanz von Unverbundenem bildet den Auftakt: jener schwarze Tango und irgendein griechisches Restaurant in Köln, in einer unbedeutenden Straße im Irgendwo der Stadt. Genau so, wie ich mir einen staubigen, heißen Sommertag, der sich zum Abend neigt, vorstelle: summer in the city. Es gibt nichts Schöneres als einen brütend heißen, ausgedorrten Sommerabend in einer Stadt, wenn sich kaum Menschen auf der Straße befinden, wenn die Stadt auf Abend zugeht, an einem Irgendwo-Ort einer abgelegenen Straße, und wenn die Menschen gerade woanders sind. Wie in den 70ern – Samstag am frühen Abend, 18 Uhr: beim Sportschausehen oder parallel dazu der Daktari oder Raumschiff Enterprise. Die Straßen sind leer, es geht auf das Abendbrot zu. Nur ich bin da, beobachtend. Ein herübergewehter Augenblick, fast eine Photographie, die Zeit ist stillgestellt und gleichzeitig wird der Moment gebrochen durch die Reflexion darauf, die das Gedicht eben zum Thema macht – den Vollzug, das Bannen, das Vergehen. Und insofern stellt sich in Brinkmanns Gedicht die Zeit selber dar.

Der Rhythmus des Gedichts ist vermittels des Enjambements ein harter, gebrochener. Zudem ist dieses Enjambment ein vollkommen willkürliches: der Bruch folgt nach jeweils zwei Zeilen. Es herrscht hier in diesem Brinkmann-Ton also nicht die gewöhnliche Zärtlichkeit für die Dinge und Momente (wie es an einer schönen Stelle in Hegels „Logik“ heißt) oder ein Pathos, der verklärt. Die Titel der Gedichte bilden bei Brinkmann häufig den ersten Satz des Gedichts.

Für meinen schönsten Monat in Rom wäre dieses Gedicht gelesen worden, wenn es zu diesem schönsten Monat in Rom gekommen wäre.

Hymne auf einen italienischen Platz

O Piazza Bologna in Rom! Banca Nazionale Del
Lavoro und Banco Di Santo Spirito, Pizza Mozzarella
Barbiere, Gomma Sport! Gipsi Boutique und Willi,
Tavola Calda, Esso Servizio, Fiat, Ginnastica,

Estetica, Yoga, Sauna! O Bar Tabacci und Gelati,
breite Hintern in Levi‘s Jeans, Brüste oder Titten,
alles fest, eingeklemmt, Pasticceria, Marcelleria!
O kleine Standlichter, Vini, Oli, Per Via Aerea,

Eldora Steak, Tecnotica Caruso! O Profumeria
Estivi, Chiuso Per Ferie Agosto, o Lidia Di Firenze,
Lady Wool! Cinestop! Grüner Bus! O Linie 62 und 6, das
Kleingeld! O Avanti grün! O wo? P. T. und Tee Fredo,

Visita Da Medico Ocultista, Lenti A Contatto!
O Auto Famose! Ritz Cräcker, Nuota Con Noi, o Grazie!
Tutte Nude! O Domenica, Abfälle, Plastiktüten, rosa!
Vacanze Carissime, o Nautica! Haut, Rücken, Schenkel

gebräunt, o Ölfleck, Ragazzi, Autovox, Kies! Und Oxford,
Neon, II Gatto Di Brooklyn Aspirante Detective, Melone!
Mauern! Mösen! Knoblauch! Geriebener Parmigiano! O dunkler
Minimarket Di Frutta, Istituto Pirandello, Inglese

Shenker, Rolläden! O gelbbrauner Hund! Um die Ecke
Banca Commerziale Italia, Flöhe, Luftdruckbremsen, BP
Coupons, Zoom! O Eva Moderna, Medaglioni, Tramezzini,
Bollati! Aperto! Locali Prowisori! Balkone, o Schatten

mit Öl, Blätter, Trasferita! O Ente Communale Di
Consumo, an der Wand! O eisern geschlossene Bar Ferranzi!
O Straßenstille! Guerlain, Hundeköttel, Germain Montail!
O Bar Fascista Riservata Permanente, Piano! O Soldaten,

Operette, Revolver gegen Hüften! O Super Pensione!
O Tiergestalt! O Farmacia Bologna, kaputte Hausecke,
Senso Unico! O Scusi! O Casa Bella! O Ultimo Tango
Pomodoro! O Sciopero! O Lire! O Scheiß!

Eine Hymne sieht in der Regel anders aus, klingt anders, folgt einem anderen Soundsystem, man lese Hölderlin. Diese hier ist ein Klangwerk eigener Art, das laut gelesen werden sollte, und diese Hymne evoziert Lokalkolorit, selbst wer den Piazza Bologna nicht kennt, ist durch dieses Gedicht hindurch in Italien. Eine Ansammlung von Wörtern, Namen und teils von Klischees, Dadaistisches, all diese Momente und Aspekte des Disparaten verbindet dieses Gedicht, parataktisch, ohne auf irgend eine Synthese zu zielen. Mag der herkömmliche parataktische Satz noch einen sprachlichen Zusammenhang und damit auch eine – zumindest minimale – Synthese in der Sprache stiften, eben weil er ein Satz nach der Form Subjekt, Prädikat, Objekt ist, so sind diese Parataxen aus bloßem Wortmaterial gebaut – Substantive, Eigennamen, Ausrufe. Der Zusammenhang bzw. die Synthese bildet sich in diesem Falle vielmehr über die Visualisierungen. Italien und westliche Lebensart, Sex und Attribute desselben, Mafia, Gehwege, Konsum, Werbung, der Wunsch nach einem Espresso, und genau so bewegt sich ein Spaziergänger in seiner Wahrnehmungsweise über einen Platz, auf einer Straße, durch eine Stadt, die er als Tourist besucht oder wo er einige Zeit lebt, um irgendwann wieder fort zu sein. Der Flaneur nimmt die verschiedenen Zeichen so intensiv wahr, daß sie sich einbrennen; er registriert die Welt der ausgestellten Waren, die ihn anspringen, er schaut und eröffnet um diese Zeichen und Gegenstände herum einen Raum der Assoziation, er trödelt entlang und läßt die Zeit auf sich wirken. Und manchmal, wenn es schön war, verklärt er.

1995 wollte ich mit einer Freundin, die zugleich eine große Liebe der 90er war, von der ich schwer loskam, obwohl ich eigentlich mit einer anderen Frau zusammen war, die ich – zu allem Überflusse – mit jener einen auch noch in einer schnellen Stunde betrog, eine Reise nach Italien unternehmen. Wir hätten das hübsch als Kunstgeschichtsstudiumsprojektreise getarnt, alles war besten vorbereitet; ich bin eigentlich ein sehr schlechter Lügner, doch ihretwegen log ich zuweilen, und ich hatte vorgehabt, gewissermaßen als ein Geschenk für sie, ihr dieses Gedicht auf eben jenem Platze laut zu rezitieren – keine ausgefallene Idee, aber doch eigentlich ganz romantisch – wie unsereiner so war: in diesen wunderbaren, wilden, verwegenen Jahren. Zu dieser Romreise ist es jedoch nicht mehr gekommen.

So blieb es bei jener Schulprojektreise in den 80ern, zusammen mit jener schönen Frau, deren jugendlichen Liebhaber in einem Theaterstück der gymnasialen Laienspielgruppe ich geben durfte. Am Ende wäre eine der anderen Projekt-Reisen, etwa die Fahrt in die Vogesen womöglich besser gewesen: Diese Wanderung, welche von meinem hochverehrten Lehrer für Philosophie durchgeführt wurde. Jener Lehrer, bei dem ich Hegel und Adorno lernte, dessen Reflexionsniveau ich beschloß zu erreichen. Wir hätten nach den langen oder harten Wandertouren angenehm in einem kleinen Zelt gemeinsam gelegen, statt in Rom in getrennten Jungs- und Mädchenzimmern zu schlafen; unter der gestrengen Aufsicht der Lateinerin und den laxeren Blicken meines links-liberalen Geschichtslehrers. Und wenn ich das Lied „Wildledermantelmann“ von Degenhardt hörte, dachte ich immer gleich an diesen Geschichtslehrer, der uns nicht verpetzte, als wir vollkommen verspätet und völlig trunken nach diesem torkelnden, irrenden Gang durch Rom heim ins Hotel kamen.

Andererseits fuhren bei der Vogesenwanderung meine Punkfreunde mit. Und das wäre dann wieder eine andere Geschichte geworden.

Die Intensitäten Brinkmanns, das ist wohl richtig, lassen sich im Grunde nur mit dem Moment der Subjektivität koppeln, dessen eingedenkend freilich, daß auch diese Subjektivität in ihrem Wesen ramponiert ist und zuweilen einen Vorwand für den Eskapismus liefert. Das Problem mit den Entäußerungen ist es, daß eigentlich alles zur Masche geworden ist und man den eigenen und den fremden Wörtern kaum noch trauen kann. Selbst das Transzendierende ist Schein, jedoch im Sinne des Pseudos, nicht als Emanation. Womöglich läßt sich einzig im positivistischen Dokument des „Es ist so“, in der Darstellung dessen, was der Fall ist, ausharren. Deshalb bleibt am Ende die Photographie, eine Photographie übrig, die das einfängt. Auch das, was war.