Im Zeitfenster: Kunst im Berghain

„Oh, oh!“ so ächzt es und fragt es nachts vor der Pforte der heiligen Halle im Chor der Wartenden: muß der Gast in der Schlange draußen bleiben, kommt der Gast hinein? Zur kollektiven Ekstase, zu Tanz und Vergnügen, zu Schweiß und Ausschweif. Menschen in der Menge und das Berghain – ein Arkanum, ein Abaton, ein Adyton. Ein Bezirk, wo man nicht so ohne weiteres und ohne Gefahr eindringt – es sei denn, man kommt hinein und der Zerberus namens Türsteher tut’s Tor auf. Ein Gerücht, ein Mythos, was auch immer und immer sich da verbirgt: man wird es nur erfahren, wenn man dort getanzt oder einem Konzert gelauscht hat – wobei Lauschen nicht ganz das richtige Wort ist, wenn Sunn O))) dort spielen. Aber Mythen sind auch nur solange solche, sofern man an sie glaubt und geduldig wartet. Ich habe mich den Klubs meist wie Odysseus genähert: ich fuhr vorbei.

Nun aber gibt es wegen Pandemie und Ansteckung über Tröpfchen keinen Danz op de Deel, keinen Drink drinken in der Panorama-Bar und damit auch keinen Tanz im ehemaligen Heizkraftwerk, das des Ostens Arbeiterviertel einstemals warm hielt. Das Berghain hat sich fürs Überleben insofern eine Idee gesucht, nämlich die bildende Kunst – bildende Kunst dient dabei freilich als Gattungsbezeichnung in einem weiten Sinne genommen: denn im Berghain zu sehen sind Installationen, Photographien, Malerei, Plastiken, Videos, Environments, ein Architekturmodelle verschiedener prominenter Gebäude dieser Welt und ein Musik-Loop-Video. Und dazu der Ort selbst, der sich ausstellt.

Die meisten Werke sind in den letzten Monaten der Corona-Pandemie entstanden, und zwar gewirkt von 117 zeitgenössischen Künstlern, die in Berlin leben und arbeiten: eine Gruppenausstellung, die unter dem Titel „Studio Berlin“ läuft. Es gibt also einen Bezug zum Ort, was ich als Leitidee interessant finde, wenngleich ich am Ende die Umsetzung nur mäßig überzeugend fand. Denn in der Regel hat der Ort, an dem ein Künstler lange oder kurze Zeit lebt, erheblichen Einfluss auf sein Schaffen; gerade, wenn es um die Klub-Kultur geht, wenn Kunst, Tanzen, Drogen, Mädchen, Boys, wildes, tanzaffines oder musiklauschendes Leben das Schaffen der mal mehr, mal minder begabten Genies auf irgendeine Weise beeinflussen und der Bezug der Künstler zu solchen Äußerungen auch Thema der Kunst wird, weil jene Wesen dort eben ihre Nächte zuweilen verbringen. Es schreiben die Macher der Ausstellung:

„In Berlin gibt es europaweit die größte Dichte an Ateliers und Kunstwerkstätten – Künstler_innen aus aller Welt ziehen an diesen Ort, um von hier aus arbeiten zu können. Im Frühjahr 2020 trafen drastische Veränderungen ein: Unter anderem wurden geplante Ausstellungen und Kunstmessen abgesagt oder verschoben, Galerien und Museen geschlossen, größere Projektvorhaben konnten nicht realisiert werden. Das Nachtleben in Berlin wurde ebenso gänzlich stillgelegt. Aus dieser Situation heraus fanden sich Boros und das Berghain zusammen. Das Ausstellungsprojekt dient vor allem dazu, aktuelle Strömungen und Veränderungen in Kunst und Gesellschaft widerzuspiegeln und Berliner Künstler_innen einen Präsentationsort für ihr künstlerisches Schaffen zu geben.“

Das klingt zunächst wie eine gute Idee, einen Ort der Nacht zu nutzen. Man kauft für 20 Euro ein Zeitfensterticket – für Oktober bereits ausgebucht – und wird in einer kleinen Gruppe von 16 Menschen durch die Hallen geführt. White Cube statt Darkroom? Nicht ganz: denn schön grau, düster und herrlich dunkel bleibt es im Inneren des monolithisch in der Stadtlandschaft liegenden Klotzes am Wriezener Bahnhof, nahe dem Ostbahnhof. Eben jener herrliche Industriecharme. „Morgen ist die Frage“, so ragt da ein Installationsplakat des Künstlers Rirkrit Tiravanija überm Eingang hoch am Mauerwerk unterm Dach. Wer auf den Eingang zusteuert, kann es nicht übersehen.

Schon der Weg dorthin durch die kleine Straße ist ein Ereignis für sich: neben heruntergekommenen, aber auch renovierten Plattenbauten liegen Brachen, teils mit Müll gefüllt, teils an den Zäunen zu den Brachen hin abgelegt: Matratzen, Tüten, Plastik, Kleidung, an der Straße parken die Autos, Kleingewerbe, Obdachlose, die auf dem Gehsteig campen und mir zunicken, als ich beinahe über ihre Schuhe stolpere, eine Unterkunft für Flüchtlinge, auf deren tristem Hof Flüchtlingskinder spielen, lachen und in einer fremden Sprache reden, und ein Gewerbegebiet mit Hellweg-Baumarkt in Standardbauweise und etwas weiter ab ein Metro-Markt, es stoßen Welten zusammen, die freilich eine Bezeichnung eint: Nicht-Orte, um es mit dem Ethnologen Marc Augé zu schreiben. Die Nebenstraße grenzt an die Straße der Pariser Kommune und geht man die ein paar Schritte weiter nach Norden, so gelangt man zum Franz-Mehring-Platz und dem Gebäude des Neuen Deutschlands, einer Bersarin-Gedenkplakette, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem Karl-Dietz-Verlag, wo man in einer passablen Fassung neu wieder die alte MEW-Ausgabe erstehen kann, vor allem aber mit besserem Papier. Wenngleich das Umfeld nicht Thema einer Kunstkritik ist, gehört es gleichwohl fürs Betrachten und das Denken über das Betrachtete mit dazu, sozusagen als Überraschungspaket, das man, bei vorherigen oder nachträglichen Schlendern hinzu buchen kann. Es sei ein Rundgang hier unbedingt empfohlen, wenn Du, Wanderer, von außerhalb einreist, etwa von so wundervoll friedlichen Orten wie St. Eglitz.

Im Inneren des Berghains ist das Photographieren und jede Art von Bildaufzeichnung, wie auch sonst dort bei den Tanznächten, verboten. Man kann also die Objekte und Installationen fürs Familienalbum oder fürs Internet nicht ablichten. Das ist prinzipiell eine gute Idee, lebt doch einerseits der Ort selbst wie auch die Kunst von der Einmaligkeit einer Präsenz, eines Augenblicks, der nicht reproduzierbar ist, sondern einzig im Erinnern, Erzählen oder dem Schreiben darüber seinen Ort hat. Vor allem aber im Erleben selbst. Ein letzter Rest von Magie. Das Problem bei solcher Einmaligkeit des Augenblicks vor Kunst andererseits: für eine solche Intensität wäre ein gehöriges Maß an Zeit zum Verweilen nötig, auch einmal zehn Minuten vor einem Objekt zu stehen. Doch diese Zeit ist leider bei dieser geführten Rundtour nicht gegeben, denn die Führerin, die sich als Kunstvermittlerin vorstellte, drängt nach ihren Erläuterungen weiter. Wer die Kunst will und sich auf den Ort zudem noch einlassen möchte, muß dies im Sauseschritt der Zeit tun, und leider nicht einmal mit den Siebenmeilenstiefeln des Begriffs, sondern nur vermittels des Zeitfensters. Viel Zeit bleibt vor den Objekten nicht. Dazu später mehr.

Was gibt es zu sehen? Man kommt in den Eingangsbereich, dort im Wartebereich, bevor es in die Ausstellung geht, sieht man ein Bild von Norbert Bisky, es gehört, so vermute ich, zur Dauerausstellung. Da fliegt ein Mann durch den Raum, hoch oben gehängt, dass man den Kopf heben muß, zerstückelt der Mann, da auch das Gemälde fragmentiert, mithin auseinandergeschnitten ist – in satten, grellen und irgendwie auch wieder blassen Farben der DDR-Wandgemälde, so wie Bisky dies gerne malt: oft zarte oder muskelbepackte Jünglinge. Das sieht schön aus, das ist eine gute Idee für einen solchen Klub. Auch Teile sind da zu sehen, wie Weltraumschrott oder Raketen, die im Raum schwirren. Aber niemand der wartenden Besucher scheint so recht auf dieses Werk zu achten, es geht vielleicht als Deko unter, scheint mir aber, selbst als Nichtänzer und Nicht-in-Klubs-Geher, doch passend für den Ort, und zwar in dem Sinne, daß wir in einem Tanzklub uns zerstreuen, schweben und bersten: ein faszinierendes Bild, das aufs Kommende deutet und dem Besucher Versprechen macht – zumindest in effigie. Denn Tanzen tun ja nicht die Bilder, sondern nur wir selbst, wenn wir es wollen. Die entsprechenden Sätze zum Tanzen von Nietzsche und dem glatten Eis und von Marx und den Verhältnissen lasse ich beiseite. Es wäre dies, zu der Kunst, ein Extrastrang, wo wir Hedonismus, Räume, Räusche, Bewegung, Revolte und Denken in ein Gleiten bringen könnten. Irgendwo anders beim Eingang hängt noch ein Schriftzug „Love“. Warum auch immer.

Wenn die Besucher die erste Etappe der Ausstellung betreten, von der Führerin ins Reich der Kunst geleitet und mit Ansagen und Regeln versehen, dann stoßen wir Betrachter auf eine hoch und wieder hinunter und zu den Seiten und wieder nach oben schwingenden Boje. Ausladend und ein wenig gefährlich auch schwebt, schwingt und tanzt sie über den Besuchern. Es handelt sich um eine Installation Julius von Bismarcks. Die Boje ist per Funk und Sensor synchronisiert mit einer anderen, aber ähnlichen Boje, die irgendwo an der Atlantikküste verankert und vom Meer bewegt ist. So tanzt die eine Boje in ihrem Wasser-Element und die andere synchron dazu in einem luftigen Raum, in einem anderen Element. Ein schönes Bild zum Auftakt. Julius von Bismarck war Meisterschüler bei Olafur Eliasson am Institut für Raumexperimente der Universität der Künste und diesen Raum im Treppenhaus nun bespielt Bismarck. Man möchte seinen Blick gar nicht abwenden, weil ich mir gerade den Atlantik in der Bretagne vorstelle. Die Boje, so sagt die Führerin, kann Ausschläge von bis zu sechs Metern ausführen, aber alles sei mehrfach abgesichert. Gut daß Kunst keine Gefahr bereitet, denke ich mir. Aber was sollten auch die Versicherungen und die Veranstalter sagen und erst der Künstler, wenn ein Besucher von der Kunst erschlagen würde? Im Wortsinne und direkt ohne Metaphernumweg.

Allüberall im Berghain (bis auf den Darkroom), in der Panorama-Bar und ebenso in der Unisex-Toilette ist Kunst zu sehen: Cyprien Galliard hat auf dem Edelstahl der Klo-Verkleidung feine Gravuren angebracht und insofern mit dem bei seiner Tanz-Anwesenheit damals, als noch getanzt wurde, dort eh schon von ihm eingeritzten Botschaften nun eine kunstvolle Ritzung hinzugefügt, und zwar die Reproduktion eines Gemäldes en miniature, einen Ausschnitt aus Pieter Bruegels „Das Schlaraffenland“, in Englisch nett mehrdeutig betitelt „The Land of Cockaigne“. Irgendwo draußen dann Rosemarie Trockels aufblasbarer Penis ist nett, aber so originell nun auch wieder nicht, und so geht das leider bei einigen der Kunstwerke. Der Betrachter schaut und schlendert weiter. Von dem Photographen und Berghain-Türsteher Sven Marquard gibt es eine Video-Arbeit mit Blumen. Die würde ich mir gerne genauer ansehen, wie auch die Photographien der Schwarzen von einem anderen Künstler. Aber es geht schon wieder weiter zum nächsten Objekt.

Die Führerin erklärt, daß es den Machern vor allem darauf ankäme, Diversität in bezug auf Geschlecht und Herkunft zu zeigen und Werke von solchen Menschen auszustellen, die sonst nicht zu Wort kommen. Ich denke mir bei ihren Worten, dann müßte man wohl eher die Kunstgewerbesachen von Menschen, die liebevoll Zwerge bemalen, oder die Malerei der Arbeiter hier zeigen. Aber der Bitterfelder Weg ist vorbei. Leider, denke ich mir manchmal. Hier, so die Führerin vor einem Bild, wolle die Künstler_in eine nichtbinäre Sicht auf Sexualität zeigen und bleibt vor einem Bild stehen. Die binärsexuelle Gruppe nickt bedeutungsvoll. Ich habe hier eher den Eindruck, daß Parolen die Kunst ersetzt haben und ein Setting von Form- und Zugangsvorgaben an die Stelle der Qualität getreten ist. Malste queer, biste wer. Aber seiʼs drum: es paßt immerhin zum Ort und da der Ort diesen Anspruch vertritt, ist es zumindest konsequent – wobei man ja im Zeitalter des Quengelns als Kritik immer noch einen Zacken schärfer „Dekonstruieren“ und bekriteln kann, daß dies ja nur eine Maskerade sei usw. usw usf. Ein_e Hans_*In Moser findet sich immer. Jede Epoche hat ihre Macken, Parolen und ihr Marketing. Das wird sich ganz divers ändern, morgen die nächste Sau im Dorf. Auf dem Bild erkenne ich vom Diversen zwar nichts, aber wenn es die Führerin so sagt, wird es so sein. Hauptsache die Parole und die Einordnung stimmen.

Viele der Werke habe ich nach dem Rundgang wieder vergessen oder sie sind einfach nur banal. Sie blieben nicht haften. Das ganz und gar große Manko ist, daß man als Besucher gerade einmal 1 ½ Stunden Zeit hat. Im großen Heizkesselhaus etwa darf man sich nicht frei bewegen, sie habe das einmal versucht, so die Kunstvermittlerin, den Leuten 15 Minuten Freizeit zu lassen, aber das Experiment sei nach hinten losgegangen und die Leute waren nicht wiederzufinden – was schon aus dem Grunde nicht geht, weil zur selben Zeit mindestens vier andere Gruppen durch die Hallen geführt werden. Pflicht ist es also bei der Gruppe zu bleiben. Sich in ein Werk zu vertiefen, ist dabei ganz und gar unmöglich. Das Kollektiv oder genauer gesagt die Kunstvermittlerin gibt den Takt. Offene Kunst trifft auf ein rigides Zeitregime. Die Theorie-Heroen der sogenannten „Postmoderne“, die man in solchen Fällen von Diversität, Offenheit und rhizomartigem Verwobensein des Unterschiedlichen als Andersheit des Anderen, das leider doch auch irgendwie wieder in der Betonung des Unterschiedes dann gleich anmutet, gerne anruft, hätten bei der strengen Durchführung des Ganges durch Kunst ihre helle Kritikfreude. Von der Kontroll- zur Disziplinargesellschaft: alle in der Gruppe halten sich brav an die strengen Ansagen der Führerin – so auch ich. Lediglich ein deutlich älteres Ehepaar mit Wampe weicht ein paarmal ab, wird aber qua Kontrolle wieder zur Ordnung der Dinge gerufen und reiht sich ein. Seltsamer performativer Widerspruch: Der Offenheit der Kunst ist das Gehetztsein des Besuchers vorm Bild gegenübergestellt. Immerhin heißt es auf der Homepage des Veranstalters: „Wer sich die Ausstellung ohne einen/eine Kunstvermittler_in anschauen möchte, hat die Möglichkeit das Haus am Samstag und Sonntag zu besuchen.“ Das sollte man auch unbedingt tun, wenn man sich auf die Werke länger einlassen möchte.

Denn überhaupt, und das ist vielleicht der Sinn dieser Ausstellung und darin liegt das Interessante, erkunden wir hier einen besonderen Raum, von der Höhe der Haupthalle her eine Kathedrale fast, mit seinen Säulen und den Wänden in grauem Beton und den umgedrehten Trichtern an der Decke, die in den Raum ragen und wie riesige Saugvorrichtungen wirken. Und diese Raumbegehung und dabei sich von den Eindrücken treibenzulassen, wenn denn die Führerin nicht wäre, scheint mir das eigentliche Ziel. Eine Mischung aus Höhle, Hölle und Kathedrale. Und eben der Kunst dazu, so daß es ein Gleiten und Wandern der Blicke vom Ganzen zum Detail und wieder zu einzelnen Werken im Raum ist.

Vor allem aber kann man einen Ort begehen, der sonst nur schwer zugänglich ist, und da sind wir wieder bei der Raumkunst und bei Bismarcks Boje und auch bei einigen anderen Objekten, die bewußt den Raum bespielen, so etwa Jimmy Robert mit seinen auf Papier gebrachten menschlichen Körpern, die zerschnitten, zerknittert und auseinandergefaltet auf dem Boden auf zwei Podesten ausgebracht wurden: Tänzer, die nicht mehr tanzen, sondern dekonstruiert liegen, wenngleich man ihre wilden Bewegungen noch ahnen kann. Doch in der Weite des Saals verlieren sie sich. Der Raum und der Ort sind am Ende die eigentlichen Protagonisten und die Kunstwerke fügen sich in diesen Dark-Cube. Eine Art Festspielhaus mit Objekten, die man in Intensität aufsaugt oder liegenläßt.

Ein gutes Moment hat dieses Zeitregime aber: es zeigt sich darin, was einem von der Kunst noch im Gedächtnis haftet und was nicht, was in den Orkus durchrauscht und vergessen wird. Aber auch das ist identitätspolitisch insofern schlecht, weil auf diese Weise der Begrenzung durchs Erinnern das Bekannte und Genehme haften bleibt und das Neue, das Andere, das, was nicht sofort eingängig ist, im Vergessen untergeht. Als Idee aber ist dieses Kunst-im-Berghain-Ding gut. Die Verwertung jedoch und eben auch die Notwendigkeit, Geld einnehmen zu müssen, um diesen Ort weiter zu unterhalten, zwingen zum Zeit-Regime. Verständlich, aber als Besucher fühle ich mich gehetzt. Gerne hätte ich vor Wolfgang Tillmans Musik-Bilder-Loop verweilt: eine tranceartige Clubmusik spielt da kurz vorm Ausgang, ein wenig wehmütig, ein wenig traurig, klingt dieser Musikfluß; in seinem Gleiten und Rauschen korrespondiert dieser Abschied mit der Boje von Bismarck zum Anfang, ein wenig schwingt und schäumt die Musik wie ein Regensonntag and some of these days, dazu werden auf einem Bildschirm Photographien von Tillmans gezeigt, eine digitale Diashow sozusagen, ein Loop: auch Bilder vom Meer, von Objekten, von einer weißen Feinrippunterhose, von Ferne und Sehnsucht und all das schärft vielleicht das Bewußtsein dafür, daß schöne Dinge flüchtig sind. Vielleicht kein besonders originelles Kunstwerk, aber doch eines das zum Verweilen und Nachdenken einlädt – wenn man denn nicht die Kathedrale wieder verlassen müßte, weil sich ein Zeitfenster schließt. Katholische Kirchen sind da großzügiger. Aber die müssen sich eben auch nicht über Eintritt finanzieren.

Naturschönes und Photographie – Bamberg, Jänner

Im Hain, im Bamberger, rauschen die Wasser am Wehr. Spazieren im Abend und schauen. Die Luft ist diesig, sie trieb ins kühle Rot, im Winterlicht, hin zur Dämmerung. Wenn die Bäume ohne ihre Blätter stehen, zeichnen sich Äste und Zweige deutlich gegen den Himmel, sie ragen kahl, kalt, klar und schön in den frühen Abend des Januars. Kein Duft mehr von Herbst. Winterhauch. Deutsche Romantik, so könnte man meinen. Ja. Auf alle Fälle. Kaltromantik, wie ich sie schätze. Davon kein Bild machen, keine Photographie. Diese Szene mit Fluß, Bäumen und den im Wasser gespiegelten Häusern einer Ortschaft nur sehen. Eine Landschaft als Landschaft.

Davon ab freilich, daß die literarische, die ästhetische Romantik mehr als Schauen, Schatten und Sehnen ist, daß sie keine Stimmung bezeichnet – oder wenn, nur bedingt – oder gar, daß sie, wie jüngst die „Debatte“ um Simon Strauß zeigte, böse-politisches Flüchten ins Nazi-Ästhetische der geheimen Reiche, wenn nicht gleich Vorlauf zum Rechtsradikalen sei. „Glaube und Liebe“, wie eine Schrift von Novalis heißt, mag vom Titel innerlich klingen, aber das ist von Novalis ganz und gar politisch gedacht. Heute ist es meist Liebeszauber mit Einsamkeitsmelancholie, was viele ins Bedeutungsfeld „Romantik“ hineinlesen, ein hochgeschraubter, nicht einmal unsympathischer Pathos, nur mit Romantik, mit der ästhetischen, literarischen hat solcher Budenzauber nichts zu schaffen. „Wir werden die besten einsamen Menschen aller Zeiten sein“, wie die Band Wanda sang? Das sind Surrogate der Popindustrie, auch wenn sie schön klingen. Als der Tag mit einer Rasierschnittwunde begann, wie Simon Strauß andenkt? Warum nicht? Aber meist ist es doch nur eine Rasierschaumparty auf Malle bei den jungen Leutz, zum Lenz reicht‘s nimmer. [Aber diese Straußsche Haltung ist immer noch sympathischer als Rotzlöffelinks von Belehrungstaz und Trivialrechts aus Schnellroda.]

Es schneit in die Parklandschaft, so stelle ich sie mir vor, während ich abends durch den Bamberger Hain spaziere. Der Gemahl der Schneekönigin gleitet durch den Winter, weitgereist von Tromsø, Norway. Kafka im Eis, ich liebe den Schnee, ich liebe das Verb schneien. „Es schneit“ kann man nur sagen, nicht: ich schneie, du schneist, er schneit, wir schneien. Nur: ‚Es schneit‘ ist vom Sinn her korrekt sagbar. Kein wir, kein du, kein ihr, kein ich, lauter Es. Klingt wie Eis. Nicht der Wörtersüden, den Rolf Dieter Brinkmann im Voyageurs Apt. 311 in Austin, Texas sich erschrieb und imaginierte, als wüste Dichtungsfläche, in der wilden und wunderbaren Assoziation der Bezüge, sondern Kaltnord. Norden erinnert mich an Kühe auf der Weide, an die Weite der Felder, die doch durch die Landschaftsknicks zwischen den Feldern begrenzt ist, an Regen und den Matsch auf Wiesen, an Eichen- und Mischwälder, Marschland und eine See, die an den Strand brandet, und natürlich an die Elbe bei Hamburg. Fiktion Norden.

Manchmal sehen wir, sofern wir eine Landschaft betrachten, diese Natur-Szenen, die doch Leben und keine Kunst sind, unter der Optik der Malerei, wir komponieren Gemälde hinzu, Caspar David Friedrich bietet sich – naturgemäß – an, um für den Blick einen Rahmen von Referenz zu setzen, wie wir eine Landschaft interpretieren, wenn wir sie auf uns wirken lassen. (Gingen auch Jackson Pollock oder Cy Twombly? Ad Reinhardt wäre wohl eher für die Nachtlandschaften gut. Dazu später.) Schauen durch die Augen anderer? Ebenso eignet sich dazu Carl Blechens (Post)Romantik – Natur mit Hüttenwerk als Schnittwunde. Kaltschnee im Januar, ein Frostblick.

Ist das noch Romantik der Landschaft oder schon ein neues Sehen, wenn Heinrich von Kleist in seinem Text „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ übers Betrachten dieses Bildes schreibt: „ein Anspruch den das Herz macht, und ein Abbruch, (…) den einem die Natur tut.“ Wir sehen und intensivieren die Natur durchs Medium der Malerei – und inzwischen durchs Medium der Photographie. Ich sehe die Bäume, den strömenden Fluß, das wilde Wehr, wo ich stand und sinnierte, während unter mir die Glätte des ruhigen Wassers in den Absturz des Elements überging. Zwei Modalitäten des Wassers, gestrichene, glattsanfte Fläche und schäumender Sturz. Heraklit, in Sprache, am frühen Abend, nicht zu schreiben. Eine Photographie brächte in Sekunden auf den Punkt, was ich meinte. Ich konnte es in der Sekunde nicht.

Was Kleist über das Bild von Caspar David Friedrich, jenem Mönch am Meer, schreibt, gilt nicht für die Naturbetrachtung, fürs Naturschöne, sondern explizit fürs Medium Bild: „so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.“ Aber auch hier, in der Kunst und gerade in dieser sind es die Als-ob-Konstruktionen. Wir kennen sie aus Kants Philosophie, an der Kleist fast zerbrach. Eine Reihung von Annahmen, die wir machen müssen. Allein – sind sie auch (hegelianisch) notwendig? In der Malerei sehen wir die Meeresbilder von Gerhard Richter und in der Photographie sind es die seltsamleeren, bedrückend-berückend ruhigen Bilder der See von Hiroshi Sugimoto. Eine Unendlichkeit ins Grau, in der es sich verlieren läßt. Photographien als Abstraktionen. Freilich wirken solche Bilder nur in einer bestimmten Größe und mit einem Abstand. Natur als Imago. Adorno wußte, daß die bloße Natur zugleich eine Schimäre ist, wenn sie wie Kunst behandelt wird:

„Die Anamnesis der Freiheit im Naturschönen führt irre, weil sie Freiheit im älteren Unfreien sich erhofft. Das Naturschöne ist der in die Imagination transponierte, dadurch vielleicht abgegoltene Mythos. Schön gilt allen der Gesang der Vögel; kein Fühlender, in dem etwas von europäischer Tradition überlebt, der nicht vom Laut einer Amsel nach dem Regen gerührt würde. Dennoch lauert im Gesang der Vögel das Schreckliche, weil er kein Gesang ist, sondern dem Bann gehorcht, der sie befängt.“ (Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie)

Wir sehnen und sehen dieses Fließen des Wassers und das Ragen von Bäumen im Park als Natur, weil wir Kunst geschaut haben. Wir sehen es aber genauso als diese Natur, weil wir mit unserem Inneren auf die Welt schauen. Es ist die Einbildungskraft und ihre nicht bloß kantisch-erkenntnistheoretische Spontaneität. Seltsame Korrespondenz zwischen innen und außen. Manchmal ist die Pose des Betrachters als Ästhetiker, die Inszenierung des Selbst, sozusagen, im Kontext der Natur, als ästhetisches Wesen interessanter als das Naturschöne als solches, begehrenswerter als Natur, als reines Sein und als Materie. Objekthaftes. Antithese. Von diesem Naturschönen und von seiner Macht auf unsere Vernunft ahnte Kant. Doch Adorno war der erste, der es für eine Ästhetik und damit auch für die Kunst im 20 Jahrhundert, als Korrespondenz zur arrivierten Kunst, als bloße Kunst, dann im Widerton aktivierte und in jenem Naturschönen ein Kraftzentrum ausmachte, und zwar gerade dort, wo es auf die ästhetische Erfahrung als Möglichkeit zum denkenden Widerstand ankam.

Am nächsten Morgen den Geschmack von Rotwein im Mund.

Es ist Nacht, und unter mir liegt still und schön die Stadt. Gelb und orange glänzen die Lichter zum Michelsberg hinauf. Kafka im Frost, seine Briefe an Felice Bauer waren eine einzige Veranstaltung der Distanznahme, um im Schreiben Nähe zu imaginieren. Briefe sind eine Form der Kommunikation, um Nähe in Distanz zu schaffen. Man denkt an Nietzsches pathetische Formel der Zaubererei: Actio in distans, wie Nietzsche das in seinem bekannten Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft nannte. Kafka war niemals in Bamberg. Die kleinen Gassen der Stadt und ihr Fluß böten manchen Anlaß für eine Geschichte in der Manier Kafkas – zumal in die Stadt das Unheimliche E.T.A Hoffmanns darin eingewebt ist. Das Unterbewußte des 19. Jahrhunderts trifft aufs Unterbewußte des 20. Eine spannende Paarung eigentlich und ich bedauerte es, daß ich kein Schriftsteller bin, der dazu die Phantasie und die Einbildungskraft besitzt, nein, das ist falsch – beides besitze ich, ich meinte vielmehr: die Kraft zur Konstruktion.

In Bamberg ragt nachts, wenn ich trunken durch die Gässlein schlendere, ein illuminiertes Kreuz vorm Kloster Michelsberg vom Steilhang herab auf die Stadt, über den dunklen Grund der dunkle Stadt, die schläft. Zugedecktes. Schöne Frauen. Schönes Zeichen, als elektrischer Feuergrund in die Nacht gestrahlt, und mittags in der Pfarrkirche St. Martin ist Gesang, Musik dort, ein Grund katholisch zu werden.

In Bamberg trank E.T.A. Hoffmann sich an den Anfang des Endes, er pokulierte, wie er es in seinem Tagebuch notierte, wenn er zu viel aus der Brandweinflasche oder vom Punsch soff, und malte dazu dann einen oder sogar viele Pokale – je nach Trinkmenge, meist waren es viele Pokale, die er malte. Kafka trank nicht, er schrieb Distanzbriefe an Felice Bauer. Ein Brief erzeugt hinreichende Nähe und ist doch ein Medium des Abstands. Ich dachte an Poes Brief. Ich stand da vor meiner Hoteltür und stocherte im Schloß herum. Traumloser Schlaf und morgens eine Stadt, die noch im Nebelmeer lag.

Blickt endlich wieder romantisch! Oder blickt wenigstens wie romantische Dialektiker, auch wenn Hegel für die literarische Romantik und deren Ironie nichts übrig hatte, außer vielleicht für Solgers Ästhetik, die ihn inspirierte. Das Naturschöne ist ein solches Zwischending, was bei Kant noch übers Erhabene der Natur vorbehalten war, sollte bald ein Gegenstand der Kunst werden.

Parklandschaften freilich sind keine bloße Natur, sondern ein Hybrid. Ebenso das Stadtbild, wo Gräser am Wegerand auf Wiesen wuchern oder ein Fluß sich durch die Gassen schlängelt. Die Schönheit solcher Orte ist eine gebrochene.

„Mit dem Verfall der Romantik ist das Zwischenreich Kulturlandschaft verkommen bis hinab zum Reklameartikel für Orgeltagungen und neue Geborgenheit; der vorwaltende Urbanismus saugt als ideologisches Komplement auf, was dem städtischen Wesen willfahrt und doch die Stigmata der Marktgesellschaft nicht auf der Stirn trägt. Ist aber deswegen der Freude an jedem alten Mäuerchen, an jeder mittelalterlichen Häuserfamilie schlechtes Gewissen beigemischt, so überdauert sie gleichwohl die Einsicht, die sie verdächtig macht. Solange der utilitaristisch verkrüppelte Fortschritt der Oberfläche der Erde Gewalt antut, läßt die Wahrnehmung trotz aller Beweise des Gegenteils nicht vollends sich ausreden, was diesseits des Trends liege und vor ihm, sei in seiner Zurückgebliebenheit humaner und besser.“ (Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie)

Bilder gehen meist, im Akt des Photographierens, leicht von der Hand, mir zumindest, ich weiß, was ich sehe, sehe, was ich weiß, spüre, was ich ablichten will. Blatt, Weg, Baum, Borke, Gasse an einem Januarabend, auf einem Seitenweg im Hain oder in der Stadt. Kühle des Abends, der in die Nacht geht. Belichtungszeiten. Schwieriger und viel mehr Arbeit ist am Ende das Werk in der „hellen Kammer“. Eine Welt. Der Bau des Kontextes. In Text, in Bild, in Sprache gebaut. Und manchmal bleibt das alles sprachlos und unsagbar. Verwundbar und wunderbar liegen sprachlich dicht beieinander.

Ausgewählte Orte – ostwärts, Thüringen

 

 

 

Erster Ratschlag für Wien – das Café Prückel

Nie sollte man bei zu viel Hitze, das heißt also in den Monaten Juni, Juli oder im August reisen – es sei denn, es ginge nach Grönland oder Island. Oder ins ferne Tromsø.

Ich sitze am frühen Abend im herrlichen Café Prückel, schräg gegenüber vom Stadtpark, an der Ringstraße. Zu heiß, um irgend etwas zu schreiben oder um zu Geistreichem fähig zu sein. Kant und Hegel konnten nur in Königsberg und Berlin wirken, Lichtenberg schrieb und spottete in Göttingen, denke ich mir. In Neapel und Rom ist im Sommer das konzentrierte Denken, das auf den Punkt geht und zugleich verschlungen die Bezüge setzt, nicht möglich. Das Denken der Philosophie ist an ein bestimmtes Klima gebunden. Andererseits jedoch entstammt die Philosophie des Abendlandes einer mehr als heißen Region. Glutkern des Denkens: Griechenland, Mittelmeerort, wenn in der Hitze des Mittags, in der höchsten Stunde, wenn der Schatten des Wanderers am kürzesten fällt, die Flöte des Pan schallt und der Schrecken dem Wanderer, dem Schatten und all den Wesen ins Mark schießt. Abgrundgeschehen, das Nietzsche düster ahnte. Die Weisheit des Silen und die halkyonischen Tage in einem. Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Philosphie und den (geographischen) Räumen? So sinieriere ich.

Und es spielt mit einem Male, wie jeden Dienstag ab 19 Uhr eine Frau am Klavier. Es ist angenehme Salonmusik. Kitsch manchmal, Schlager, Chansons, jene Melodie aus „Frühstück bei Tiffany“, Operette, Oper abwechselnd. Ein bunter Reigen an Stücken wird geboten. Das Prückel ist ein Café, dessen Interieur im Stil der 50er Jahre gehalten ist. Sehr angenehm, sehr dezent und große Räume – eine Anordnung, die ich schätze. Für Raucher existiert ein eigens eingerichteter Bereich. Eine vorzügliche Atmosphäre, um zu lesen, zu schreiben, zu beobachten und zur Musik für einfach so die Gedanken in alle Richtungenn treiben und laufen zu lassen. Genau richtig, bei jener unerträglichen Hitze, die träge macht und in der sich die Wirkung des Grünen Veltliners unmerklich, aber im Abschluß klar wahrnehmbar steigert. Gegen Kälte kann man sich mittels Kleidung schützen. Gegen Hitze hilft nichts außer das Eis, keine Haut, die sich noch abstreifen ließe. Marsyas jedoch möchte, so denke ich mir, keiner gerne sein. Wir benötigen die Hülle und die Schicht zum Schutz. (Taktilität, Walter Benjamin.) Andererseits ist das Blödsinn. Die Antike bleibt unzugänglich, taugt allenfalls noch zur Satire und zum Scherzen. Ansonsten ist dieser Seinsbereich verschlossen und bleibt leere Bildungshuberei – allenfalls gut für ein Zitat, das dann der erlesen Belesene als eingestreutes Bröcklein wohlfeil aufnimmt. Ein vom Autor nett verstecktes Osterei, und es freuen sich alle – Autor wie Leser -, wenn das liebe Ei schließlich entdeckt wird. Bereits bei Joyce mißlingt dieser Rekurs, und was bei Thomas Mann noch leidlich funktionierte, wirkt in der wiederholten Wiederholung langweilig oder bloß abgeschmackt. Bildungshuberei derer, denen die Bildung abhanden kam, denke ich mir. Wir haben die Texte von Aristoteles, die der Vorsokratiker. Mehr nicht. Diese Botschaft bringt euch der Götterbote Herpes, um einen Witz der Lyrikerin Monika Rinck aufzugreifen. Die Moden wechseln. Ich bin ein Mensch der Herbstmonate. Oktober, November. September, sofern nicht zu warm. Ich bin ein Mensch der Kälte.  Wer aber besitzt heute dieses philologische Gespür? Die Antike ist nahe am Wahn und am Wahnsinn gebaut. Das von Hölderlin imaginierte Griechentum führte in den Irrsinn: erwies sich als Unort. Wo sind die Freunde? Bellarmin. Tot und toter oder in den Turm gesperrt, die Gesellschaft der Türmer. Nach Bordeaux – keiner weiß, was dort geschah – ging die Reise ins Andere hin. Oder hinab.

Die Luft im Café ist stickig. Nichts regt sich, kein Hauch. Schweißtreibend selbst das Saufen. Lediglich wenn der bewegliche Ventilator in meine Richtung schwenkt, weht ein laues Lüftchen herüber. Das Café Prückel könnte ebenso einer Inszenierung von Christoph Marthaler entstammen, man wird vermuten dürfen, daß die Bühnenbildnerin Anna Viebrock solche Räume vor Augen hatte, sich vielleicht sogar an diesem Ort inspirierte. Das Burgtheater ist nicht weit entfernt, ebenfalls am Ring gelegen, zwanzig Minuten Fußweg höchstens. Doch egal – müßige Spekulation.

Es gibt bei den Menschen einen bestimmten Caféhaustypus, der sitzt lange, es kommt wie unendlich vor, so sitzt der Mensch da, verharrt, und er hält sich an seinem einen Getränk fest. (Ich kann das nicht, ich bin nicht derart diszipliniert, sondern beim Trinken haltlos.) So auch hier im Prückel sitzt mir ein Mann gegenüber, durch den großen Raum gemessen wohl zehn Meter entfernt. Zunächst schrieb er etwas in sein schwarzes Notizbuch, nun schaut er vor sich hin und durch den Raum. Er beobachtet. Nicht anders als ich. Dann trägt er wieder seine Aufzeichnungen in das Heftchen ein. (Ich muß einen Scherz über die „schwarzen Hefte“ machen, geht es durch meinen Kopf. Die Antike als Seinsbereich – da ist es wieder. Der neue Heidegger schreibt ins Moleskine. Ontologie ist immer Ideologie. „Es führt kein Weg zurück“, wie ein Roman von Thomas Wolfe heißt. Er spielt in Berlin in den 30er Jahren. Ich habe drei Stück dieser Moleskine zu Hause in Berlin. Vollgeschrieben. Meine schwarzen Hefte mit den eindringenden Notizen. Penetrationen des Textes. Ich werden sie irgendwann fortwerfen, denn ich kann meine eigene Handschrift schlecht lesen. Das Entziffern des eigenen Textes ist mir zu mühselig.)

An mir vorbei schlendert eine Frau mit ihrem dunklen Pudel. Hüfthoch das Tier, den Kopf in der Nähe ihres Kleides wiegend. Da wo sie nach Frau und in der Hitze verschwitzt riecht. Ich imaginiere ihr Geschlecht und überlege kurz, ob sie meine Gedanken erraten mag. Die Frau bewegt sich an mir vorbei. Der Pudel hingegen – er schreitet. Hoheitsvoll fast. Mehr noch und eitler als sein Frauchen, den Körper beherrschend, durch den wunderbaren Raum gleitend. Meine Augen richten sich auf ihr Gesicht, dann wieder in ihre Hüftregion. Eine mitteljunge Frau in den 40ern, typisch wienerisch im Habitus und in der Art, sich zu kleiden. Mit einerseits markantem, einem sogar leicht harten, aber doch schönen und mit einem besonderen Gesicht. Nicht unelegant. Gelassen oder gelangweilt jedoch verschmähen Pudel und Frau meinen Blick.

Prenzlauer Berg (2)

Diese Serie ist eine Fortsetzung der auf Proteus Image gezeigten Bilder, und zwar meines Spaziergangs von Mitte in den Prenzlauer Berg. Es wurde ein Zwischenstop in der Buchhandlung ocelot eingelegt. Ich berichtete an dieser Stelle darüber. In der nächsten Woche geht es dann mit Teil 2 der Serie zu den Berliner Buchhandlungen weiter. Es geht tief in den Westen Berlins. Eine wunderbare Reise in die Vergangenheit, als es noch Menschen gab, die ihre kostbare, rare Lebenszeit nicht vertwitterten und verfacebookten, sondern sich in den imaginären und imaginierten Welten vergruben, nistend in einem anderen Reich, als die Bücher und die Autoren, die diese Menschen heute auf Twitter erwähnen, tatsächlich auch gelesen wurden und als Menschen nicht nur so Namen in den Raum stellten. Bevor ich aber eine ausgesprochen angenehme Buchhandlung präsentiere, liefere hier auf Aisthesis eine Besprechung von Jochen Distelmeyers Romandebüt „Otis“. Demnächst auf Ihrem Qualitätsblog.

Neukölln – Photographien

„Neukölln, du alte Hure“ so heißt ein Musikstück von Kalle Kalkowski. Und weiter im Text: „Neukölln, Niemandsland“. Dieses Stück ist ein Abgesang und zugleich eine Hymne auf Neukölln. Es beschreibt, wie es im Kiez zugeht oder teils auch: zuging: Rau und hart ist das Pflaster dort, und zwar in jeder Hinsicht. Vor noch zehn Jahren war es nicht ratsam, abends durch den Reuterkiez zu schlendern oder zu flanieren, wenn man nicht unbedingt mußte oder wer nicht die entsprechende Street Credibility besaß. Heute herrscht da eine Mischung aus szenigen Kneipen, Bars, Eckkneipen resp. Bierschwemmen, die vom Urneuköllner besucht werden, und türkischen sowie kurdischen Kulturvereinen. Alles dicht nebeneinander. Das hat durchaus seinen Reiz, birgt jedoch die Gefahr, daß ein Viertel teurer wird. Die Mietpreise Nordneuköllns, auch Kreuzkölln genannt, gehen in die Höhe. Allerdings, fatale Ironie: diejenigen, welche das beklagen und trotzdem in diese Bars oder aber, um dem zu entfliehen, in die traditionellen Eckkneipen gehen, sind lediglich die Vorreiter des Kommenden. So auch wir. Aber ich mag nichts zur Gentrifizierung schreiben und analysieren, das machen andere besser. Solange kein Ableger von Tim Mälzers „Bullerei“, keine Zweigstelle von Tim Raues Restaurant, kein Starbucks oder keine Filiale vom IndoChine dort ein Lokal eröffnen, ist es gut. Aber dies alles ist bloß eine Frage der Zeit, bis dann nach den Künstlern die ersten IT-Firmen und die Werber herziehen.

In der Nähe der Schönleinstraße am Kottbusser Damm kehrten wir bei einem Griechen ein, der zwischen den Spielsalons und den Imbissen herausstach. Das Essen war in Ordnung, der Wein schlecht (gibt es überhaupt guten griechischen Wein?) und die eine der beiden blonden Kellnerinnen war so geraten, wie ich mir eine blonde Frau vorstelle. Vor allem: lange Beine. Schon diese Reihung bedeutet in der Gleichung eine Verdinglichung vermittels des Blickes sowie des Vorstellungsvermögens. Ich habe der Kellnerin beim Bezahlen, als sie sich vorbeugte und der Kragen des T-Shirts Dinge freigab, in jenen Ausschnitt geschaut. Sowas macht man nicht. Doch ich gestehe: ich kann nicht anders, vor allem, wenn eine Frau jung und erotisch ist. Und ich sehe meine Fehler ein, um sie dann am nächsten Tag erneut zu begehen.

Demnächst werde ich – vielleicht – einen Text zum Prenzlauer Berg schreiben, um mit einigen Vorurteilen über dieses Viertel aufzuräumen und um andere Vorurteile wiederum festzuzementieren. Ich werde einen kleinen Spaziergang beschreiben, und es wird Photographien geben, so wie heute zu Neukölln: Neukölln bei Nacht.

Nordfrankreich, Belgien, Bretagne – Ausgewählt öde Orte

Der Blogger Genova schrieb in seinem Kommentar zu meinem Text „Philemon und Baucis …“ in bezug auf Nordfrankreich ein sehr wahres Wort: es handelt sich bei dieser Region um eine vollständig verkannte Landschaft, was schon wieder eine eigene Blogreihe wert wäre: „Verkannte Landschaften“, erster Teil der Serie: „Berlin-Steglitz“. Ich möchte dazu, also nicht zu Steglitz, sondern zu den Landschaften, einige erhellende Zeilen beitragen. In kenne diese Gebiet des nördlichen Frankreich zwar nur vom Durchfahren, um von Hier nach Da zu kommen, mithin handelt es sich um eine Landschaft des Transits, aber ich möchte irgendwann einmal in Nordfrankreich Urlaub machen, um Photographien zu fertigen. Nordfrankreich besitzt einen ganz eigenen Charme – dies bemerkte selbst der flüchtig dreinschauende Autofahrer oder der Zugreisende.

Tja, und dann erst Belgien. Das ist um Klassen besser. Belgien ist das Polen Frankreichs. Ich habe es geliebt, wenn ich in den 80ern im Nachtzug nach Paris durch das düstere Süd-Belgien fuhr. Kohlehalden, abgestorbene Ortschaften, die vermutlich auch bei Tage nicht anders ausschauen als bei Nacht, verfallene Industrie. Während alle im Zug schliefen, stand ich auf dem Gang, rauchte, denn das durfte man seinerzeit noch in den Zügen der Deutschen Bundesbahn, Nachfolgerin der Deutschen Reichsbahn, sah aus dem Fenster heraus in die wunderbare Nacht und ergötzte mich an jedem verfallenen Bahnhof, wo wir hielten. Gelbes, fahles Licht. Die Uhr zeigt 2, noch fünf Stunden bis Paris. Ich: alleine auf dem Gang und mein Blick in die Nacht. Ein Schluck aus der Weinflasche, ein Zug an der Zigarette und der Rauch kringelt aus dem offenen Fenster – für nichts.

2004 dann bin ich mit meiner damaligen Freundin, die eine verdammt schlechte Autokartenleserin ist, um das nur nebenbei zu erwähnen – und ich hoffe sie liest das hier mit – die also, um es zu wiederholen, eine miserable Autokartenleserin ist, auf die sich der Autofahrer nicht verlassen kann – bei der Autobahndirektion Düsseldorf-Eller kam es deshalb zu einen sehr heftigen Streit, der sich nur durch die mir innewohnende Wärme und die Deeskalationstaktik, welche ich von der Berliner Bereitschaftspolizei erlernt habe, geschlichtet werden konnte: 2004 also bin ich mit K. in die Bretagne gefahren, mit einem fünftägigen Zwischenstop in Paris, um ihr die Stadt zu zeigen, die sie mit ihren jungen 26 Jahren noch nicht kannte – ausgerechnet: jene Stadt, die ich liebe.

Da wir von Berlin bis Paris nicht in einer Tour durchfahren konnten, weil wir viel zu spät von dort aufgebrochen waren und zudem noch in Helmstedt einen familiären Halt einlegten, mußten wir uns in Belgien irgendein Quartier suchen. Als es dämmerte, fuhren wir – also konkret: ich, denn K. besitzt keinen Führerschein – von der belgischen Autobahn ab, in die nächstbeste belgische Stadt hinein. Gerne hätte ich die so schön beleuchtete belgische Autobahn, welche allerdings eine ziemliche Buckelpiste abgibt und an ein altes Automobil mit schlechter Federung einige Anforderungen stellt, auch nachts noch befahren, um in den Genuß einer Autobahnbeleuchtung zu kommen, die es in der BRD nicht gibt. Aber K. drängte mich zur Nachtruhe, also fuhr ich ab, denn die Lage war noch von Düsseldorf-Eller her ein wenig angespannt – Frauen können nicht vergessen und sind nachtragend. Ich bin es nicht so sehr, nur manchmal, nach zwei oder drei Jahren, fällt mir plötzlich etwas ein.

Es war dies ein eigenwilliger Ort, in den wir einfuhren: finstere Häuser aus grauem oder rußgeschwärztem Stein, meist windschief, unansehnlich, teils waren die Fenster mit Brettern vernagelt, teils hingen darin schmutzige, abgelebte Gardinen, die Fensterscheiben waren ungeputzt, von Staub bedeckt, auf den Gehsteigen konnten wir nicht eine Menschenseele entdecken, dabei dämmerte es erst. Wir fuhren weiter auf der einsamen Straße, die eine Hauptstraße war und wir schüttelten uns vor Entsetzen, noch nie hatten wir beide so etwas Trostloses, solche Verlorenheit und Traurigkeit gesehen, und da unsere Liebe noch frisch war, beanspruchten wir zudem eine Übernachtungsmöglichkeit, die unserer Liebe angemessen erschien. Nichts dergleichen war aber zu sehen.

Da K. den Führer Adolf Hitler imitieren konnte, was für eine Frau ungewöhnlich ist, gab sie mir Führerfahrbefehle, aus dem alten Nissan wurde ein VW-Kübelwagen der Heeresstabsgruppe Aufklärung West, und wir überlegten, weshalb die Deutschen seinerzeit 1940 bei der Ardennenoffensive derart effektiv und schnell vorrückten: Sie wollten so zügig wie irgend möglich aus Belgien herauskommen, so redeten wir uns ein.

Nachdem wir einige Zeit umherfuhren, entdeckten wir schließlich eine Herberge, aber das Wirtshaus im Spessart sah gegenüber diesem Etablissement aus, wie eine seriöse 4-Sterne-Unterkunft. Nirgends ein Mensch zu sehen. Hier werden wir am nächsten Tag als Hacksteak für die Gäste des übernächsten Tages zubereitet und anschließend serviert, sofern hier überhaupt irgendwelche fremden Menschen herkommen, sinnierten wir beide, und das harmlos aussehende Belgische Gulasch, das wir zum Abend essen würden, stammte von den Gästen, zu dem sie verarbeitet wurden und die vor uns hierher kamen, um zu nächtigen. Und in der Vortäuschung, ein stilles Nachtlager zu erhalten, fänden sie bloß ihre letzte Ruhe in unseren Mägen, um dann am nächsten Tag irgendwo in Paris ausfäkaltiert zu werden.

Über Funk eine gehörige Portion Artilleriebeschuß anfordernd sowie die Luftunterstützung einiger Junkers Ju 87, um diesen Ort in den entsprechenden Schutt und die passende Asche zu zerlegen, wendete ich auf der Stelle den VW Typ 82, und wir brausten mit durchdrehenden Reifen und die Geschwindigkeit übertretend davon. Diese Zweiter-Weltkrieg-Scherze sind natürlich in keiner Weise komisch, und wir beide bereuten das hinterher durchaus tief, aber wir hatten die Angewohnheit, zuweilen uns in einem makaberen Humor gegenseitig hochzusteigern. Wären wir durch Bastogne gereist, stiegen wir sicherlich aus dem Auto und imitierten beim Schlendern durch die Stadt die 101st Airborne Division – soviel zum Ausgleich. Ich liebe Frauen, mit denen ich zusammen unendlichen Unsinn machen kann, die albern oder verspielt sind. Treffen diese Eigenschaften bei einer Frau zu, so kann sie gerne auch über 40 Jahre sein. Aber ich schweife von meiner Reiseroute ab.

Denselben Weg, welchen wir gekommen waren, um ein stillen Nachtlager zu ergattern, ging es dann zurück in die Richtung der belgischen A 15. Und als wir den Ortsausgang passierten, sahen wir das Schild: Charleroi

Charleroi besitzt einen eigenwilligen Ruf; es gibt dort sogar, wie ich unlängst im Reiseteil der „Zeit“ las, eine geführte Tour durch diese Stadt, welche den Besuchern die unansehnlichsten und fürchterlichsten Orte zeigt. Das Fremdenverkehrsamt von Charleroi ist von dieser Art Stadtführung nicht sehr angetan, weil es um das Ansehen der Stadt fürchtet. Diese Tour würde mich aber schon interessieren, und ich bin mittlerweile der Meinung, daß Charleroi einen Aufenthalt wert ist. Da K. und ich aber zu dieser Zeit auf einem anderen Weg waren, blieb für diese eigenwillige Stadt kein Platz in unserem Herzen übrig. Zum Übernachten landeten wir dann in Mons im nächstbesten Hotel.

Mons ist das Gegenteil von Charleroi: gesellig, schön, universitär geprägt, überall laufen junge Menschen herum, was das Fahren mit dem Kübelwagen in den engen, mir unbekannten Straßen schwierig macht. Ich bin übermüdet und gereizt, fahre fast einen belgischen Fußgänger um: Das ist für Lumumba hätte ich mal rufen sollen. Egal. Endlich ein Hotel in Sicht, K. will noch weitersuchen, weil sie in keiner Hotelkette nächtigen mag, also fahren wir weiter durch die Nacht, aber ich kann irgendwann nicht mehr und muß aus dem Auto heraus. Ich bleibe mitten auf der Straße stehen und bocke. Die Laune ist beiderseits gereizt. Auch das mangelhafte Lesen von Autokarten und die Verletzungen angesichts meines Unverständnisses werden zum nächtlichen Thema. Ich glaube, drei Jahre später scheiterte unsere Beziehung daran, daß ich mir immer noch kein Navigationsgerät zulegte und Dinge erwartete, die ich nicht hätte erwarten dürfen.

Paris spare ich in meiner Beschreibung jener Reise aus, das Fahren mit dem Auto funktioniert in den Straßen von Paris erstaunlich gut, ein potentieller Parisautofahrer muß sich dort nur angewöhnen, an keine Regeln sich zu halten und in einer Weise zu fahren, wie es einem das Herz gebietet, und nachdem die Reisenden das Hotel erreicht haben, sollten sie auf das Auto besser verzichten, es in der Garage parken und die wunderbare Metro benutzen, welche Zazie niemals zu Gesicht bekam. K. widerte die Arroganz der Pariser Bevölkerung an, insbesondere die der Bediensteten, Untergebenen und der Kellner. Ich hingegen fand, daß es sich im Vergleich zu den 80er und 90er Jahren erheblich gebessert hat. So können sich große Altersunterschiede in der Liebe manchmal auswirken.

Im „La Coupole“ bediente die ältere Bedienung zuvorkommend unfreundlich, was sicherlich an meiner Wehrmachtsuniformen lag, während der jüngere Garçon durchaus kollaborierte, was leider nicht meiner Person, sondern vielmehr Ks tiefem Dekolleté geschuldet war. Bei diesem Anblick habe sogar ich es vergessen, daß ihre Künste des Autokartenlesen sehr sehr mäßig gut waren. Aber es kann bei einem Menschen nun einmal nicht alles ausgeprägt und groß sein, und Künste glänzen dafür gerne auch bei anderen Dingen.

Weiter ging die Reise dann von Paris in die Bretagne nach Ploudalmézeau. Wer meint, die Franzosen des nördlichen Frankreich seien sehr unfreundlich, der ist niemals in seinem Leben in der Bretagne gewesen. Die Einheimischen dort verhalten sich nicht nur gegenüber deutschen, englische, niederländischen Touristen abweisend, sondern sie zeigen sich ebenfalls zu ihren eigenen Landleuten harsch und geben unverhohlen kund, was sie von Fremden halten. Der Haß oder neutraler: das abweisende Wesen, welches eine raue Landschaft hervorrufen mag, ist den Bretonen als umfassende Negativität eingeboren – fast möchte ich meinen, es sei dies ein genetisches Dispositiv. Wer in die Bretagne fährt, der wird zum Naturalisten (nein, nicht zum Nudisten, zu kalt selbst im Sommer) oder zum Biologisten und sie oder er glauben niemals mehr an das Gute im Menschen, darüber belehrte uns bereits der erste Tag in einem bretonischen Restaurant. Dennoch: die Landschaft der Bretagne ist schön, das Meer tost an Fels und Strand wie es eben nur dort zu tosen hat, wo es sich unendlich entfalten kann. Der Reiseführer versprach eine sonnenreiche Region.

Darüber sowie über die Stadt Brest gibt es mehr zu berichten im zweiten Teil der Serien „Ausgewählt öde Orte – unsere Landung in der Bretagne“.

Der Omega-Punkt

Drehen wir doch mal den vielzitierten, zu Tode bemühten Kitschsatz des Schriftstellers Hermann Hesse um und schreiben: Jedem Ende wohnt ein Zauber inne. Ja, Friedhöfe sind ganz spezielle Orte, an denen eine besondere Aura herrscht. Nicht unbedingt Orte für einen Neuanfang, weil auf dem Friedhof in der Regel Schluß ist, so zumindest steht es im postmetaphysischen Zeitalter, in der säkularisierten Welt zu vermuten, zu befürchten, zu hoffen – je nach Perspektive. Sowieso: „Den Himmel überlassen wir den Engeln und des Spatzen“. Und in Berlin den Tauben samt den Krähen gleich mit dazu. Über den Friedhof schlendert man am besten unter der Woche umher, wenn kaum jemand sich an den Gräbern aufhält. Aber auch an Wochenenden ist es ruhig, nur manchmal stehen die Verbliebenen an einem Grab und pflegen es oder verharren einfach nur davor, in ihre Gedanken versunken.

Im Dezember besuchte ich mit einer Freundin die Friedhöfe an der Bergmannstraße in Kreuzberg. Und wer die Bilder von diesem Flaniergang zwischen Steinen, Gras, Bäumen und Ruinen sehen möchte, der schaue doch bitte auf meinem, in letzter Zeit ein wenig in Vergessenheit geratenen Photographieblog „Proteus Image“ nach.

Die geneigten Leserinnen und Leser möchte ich zudem daran erinnern, daß gestern vor genau 70 Jahren in Berlin die Wannseekonferenz stattfand.

Kleisttage, Herbsttage, Wannsee – Eine melancholische Reise in den Süden

„Küsse, Bisse/Das reimt sich und wer recht von Herzen liebt,/Kann schon das eine für das andre greifen“

H. v. Kleist, Penthesilea

Wenn eine Reisende oder ein Reisender, etwa vom Osten kommend, vom Potsdamer Platz über das Kulturforum sich bewegend, die Potsdamer Straße in Richtung Süden immer weiter geradeaus fährt, dann …, ja dann ist der Autofahrer ziemlich bescheuert und ortsunkundig, weil sie oder er nämlich nur im Stau steht und nicht vorankommt. Nichts schlimmer als Samstag auf der Potsdamer Straße mit dem Auto, auf nur einer Spur. Langsamer nie als im November. Also umfahren wir den direkten, den geraden Weg, schließlich besitzt Berlin wunderbare Stadtautobahnen – jede Stadt sollte sich Stadtautobahnen zulegen: man kommt schnell durch und es gibt dort keine Fahrräder. Also über die Stadtautobahn spurten, mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit versteht sich. Und so beginnen wir unsere Reise: in Steglitz, die Autobahn verlassend, und fahren die Straße Unter den Eichen immer geradeaus, dann auf die Berliner Straße, bis man, weiter geradeaus, die Potsdamer Chaussee erreicht, welche, wie es der Name bereits sagt, direkt nach Potsdam führt. Teils stehen am Straßenrand schöne Alleebäume, am Wegesrand, zu den entsprechenden Obst- und Gemüsezeiten der Saison, verkaufen Händler, die vorgeben, aus dem Umland zu stammen, Erdbeeren, Spargel und sonst was für Obst und Gemüse an Hungrige und an Köche. Die Fahrt über die Straße ist eine Reise für sich, etwa wenn man durch das ruhige und verschlafene Zehlendorf kommt. Wie heißt ein Schlachtruf, sobald sich Nachbarn über zu laute Musik auf Kreuzberger oder Neuköllner Partys beschweren?: „Geh doch nach Zehlendorf!“ Dabei ist es schön in Zehlendorf, ab einem gewissen Alter zieht man entweder nach München – sofern man ordnungsliebend ist, graffitibefreite Zonen sowie klinisch-antibakterielle Sauberkeit mag und etwas für die Bayern übrig hat – oder nach Ottensen, wer Lehrer oder Yogatherapeut geworden ist. Und für den ganz normalen und beschaulichen Menschen mit Berliner Gemüt bieten sich Zehlendorf, Steglitz, Friedenau an. Dort wohnten, nebenbei gesprochen, Uwe Johnson, Günter Grass, meines Wissens zeitweise auch Max Frisch und Erich Kästner.

Wenn der Autofahrer endlich den fast äußersten Teil des Berliner Südwestens erreicht hat und nach Wannsee kommt, dann biegt er hinter der Eisenbahnunterführung links ab in die Bismarckstraße, und da findet sich nach kurzer Strecke rechter Hand das Doppelgrab von Henriette Vogel und Heinrich von Kleist. Es befindet sich auf einem Hügel, von dem die Betrachterin oder der Betrachter auf den Kleinen Wannsee schauen können. Schöner Herbstwald, gefärbtes Laub, das ich mir betrachte, wer möchte da nicht begraben liegen? Und die Ufer sind leider besetzt von Ruder- und Segelclubs, so daß der Flaneur nicht spazieren kann. Mit diesem Blick auf den See und in den Herbstwald hinein erschoß Heinrich von Kleist am 21. November 1811 zuerst die todkranke Henriette Vogel und hernach sich selber. Davon mehr und im Detail am Todestag  – hier in Ihrem Sensationsblog, unter der Rubrik „Todesschüsse“. Als wärst Du selbst dabei, so hautnah reportiert Ihnen ihr ästhetischer Lieblingsberichterstatter Bersarin jene Ereignisse, die sich an jenem 21.11.1811 an einem trüben Novembertag am Kleinen Wannsee zutrugen. Auf dem ersten ursprünglichen Grabstein kam der Name von Henriette Vogel nicht einmal vor.

Die Anlage des Kleistgrabes ist recht verwildert, sie soll umgestaltet bzw. ästhetisch flurbereinigt werden, so daß es dort mehr Platz zum Spazieren am Wasser gibt. Ich selber begab mich, nach einer sinnierenden Minute, in der ich auch der eigenen Melancholie frönte, weil ich am Vormittag eine ziemliche schriftliche Eselei begangen habe, weiter hin zum Großen Wannsee, um dort ein wenig zu spazieren – bis hin zum Heckeshorn. Photographien von diesem Kleistgang zeige ich auf Proteus Image.

Auch die Strecke am Großen Wannsee entlang – auf der Straße, auf dem Gehsteig – führt lediglich an Häusern im Privatbesitz vorbei: ein Segel- oder Ruderverein folgt auf den anderen. Es gibt kaum einen freien Blick auf den, geschweige einen freien Zugang zum Wannsee: Members only. Zuweilen thronen am Ufer auch prachtvolle Villen. Aber es stehen zur linken ebenfalls Appartementhäuser der 70er Jahre, die architektonisch recht interessant ausschauen. Unten beim Heckeshorn geht es dann in den Wald hinein und es gibt Wege am See

Vor 70 Jahren, einige Kilometer entfernt, begannen im Oktober 1941 am S-Bahnhof Grunewald die ersten umfassenden Deportationen der Berliner Juden. Über 50 000 Juden wurden von diesem S-Bahnhof in die Vernichtungslager im Osten verbracht. Gefüllt mit 1.013 Juden in den Vieh- oder Güterwagons verließ am 18. Oktober 1941 der erste Deportationszug der Deutschen Reichsbahn den Bahnhof Grunewald.

„Die Rolle der Deutschen Reichsbahn im Holocaust blieb lange unbeachtet. Erst in den 1980er und 1990er Jahren wurden in Erinnerung an dieses Kapitel in der Vergangenheit des Bahnhofs Grunewald mehrere Mahnmale errichtet. Daher wurden die ersten Mahnmale von anderen Gruppen errichtet. Die erste Gedenktafel zur Erinnerung an diese Deportationen wurde 1953 am Signalhaus aufgestellt, allerdings wurde sie aus unbekannten Gründen wieder entfernt, auch der Zeitpunkt des Abbaus ist nicht dokumentiert. Die Einweihungsfeier wurde damals von Polizisten gestört, weil die Vereinigungsgruppe, die die Gedenktafel initiiert hatte, als kommunistisch galt. Die zweite Tafel des Gedenkens wurde erst zwanzig Jahre später im Jahr 1973 angebracht und 1986 gestohlen. Am 18. Oktober 1987, dem 46. Jahrestag des ersten Transportes, wurde ein weiteres Mahnmal von einer Frauengruppe der evangelischen Gemeinde Grunewald errichtet. Auf zwei Eisenbahnschwellen stand senkrecht eine dritte mit der Inschrift

„18.10.41“

Eine Messingplatte mit der Beschriftung

„Wir erinnern / 18. Okt. 41 / 18. Okt. 87“

vervollständigte das kleine Ensemble. Nachdem die Initiatorinnen das Mahnmal altersbedingt nicht mehr pflegen konnten, wuchs es zu und die Messingplatte wurde entwendet. 2005 wurde es dann vereinfacht, mit querliegender anstatt senkrechter Eisenbahnschwelle, wieder hergerichtet und eine neue Messingplatte montiert, …“ (Wikipedia)

Soviel zur zeitnahen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. „Entwendet“ ist ein feiner Euphemismus.

Sicherlich böte sich in bezug auf Kleist eine Text/Photostrecke an: eigene Bilder, dazu Texte von Kleist, aber mir scheint solche Anordnung doch ein wenig zu bemüht. Und um solch ein Projekt wirklich gut zu gestalten, muß man sich sehr viel Zeit nehmen, die jemand, der in Vollzeit im Beruf steht, naturgemäß nicht besitzt. Und schließlich ist „Aisthesis“ bloß ein bescheidener ästhetisch-kritisch-theoretischer Blog, aber kein Buchprojekt.

„Zeit geben“

Die Einsamkeit des Rieslingtrinkers – Armageddon im Ostgebiet

Soeben brachte ich einen Riesling aus dem Elsaß vom Weinschrank in den Kühlschrank – Domain Lucien Goettelmann, 2007 und zur Sicherheit tat ich noch einen zweiten vom Jahrgang 2008 dazu. Und zwar für Samstagabend, wenn ich wieder mit mir selbst bin: drei Tage keine Menschen um mich herum, die mir auf die Nerven gehen, die sprechen, die mich mit ihren Eigenarten und ihrer Nähe stören. Abends: Vertieft in den Text, vertieft in die Nacht. Es gibt keinen besseren Zustand. Es ist dies die Zeit, in der es in Hegels „Wissenschaft der Logik“ hineingeht. Die Gedanken Gottes vor der Erschaffung der Welt, wie Hegel dies in der Einleitung formulierte: „Die Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selber ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und des endlichen Geistes ist.“

Für den endlichen Geist ist die Photographie zuständig.

Es ist dieser Riesling aus dem Elsaß ein im Grunde einfacher und doch außerordentlich guter Wein, der sich im Geschmack entfaltet und entwickelt. Aber ganz anders als der Riesling aus Teutschland – weniger mineralisch. Der französische Riesling ist weicher. Das langweilt auf die Dauer, so steht zu vermuten, aber im Moment bekommt dieser Geschmack durchaus gut, obwohl ich gerade dieses Mineralische, diese klare Härte, welche sich in Nuancen und zugleich wie ein Schuß entfaltet, so sehr schätze. Es gibt Weine, wie diesen von der Domain Lucien Goettelmann, für die kann, sollte und muß man jede Frau oder jeden Liebespartner bzw. -partnerin beiseite geben und einfach nur stehenlassen. (Außer die Frauen, für welche man bezahlt. Es sind dies sowieso die besten.) Der Idealfall einer ästhetischen Beziehung sähe so aus, wie in dem Hollywood-Film „The thin man“ beziehungsweise den Nachfolgern. Diese Filme sind zwar standardisiert, mithin Kulturindustrie, und Ausfluß des bewußtseinsnormierenden Staatsapparats, schauen sich aber gut und auf eine erbauliche Weise an, sie sind auf ihre Art lustig, dem kantischen Angenehmen verschwistert. Mit einer Vorfreude auf den morgigen Abend legte ich diesen Wein in den Kühlschrank. Ich darf es freilich nicht vergessen, ihn zeitig herauszunehmen. Ein zu kalter Weißwein ist ein schlechter Weißwein.

Ich habe heute bereits beim Metzger Rindfleisch gekauft, morgen früh erstehe ich auf dem Markt zudem grüne Bohnen sowie Tomaten, und dann gibt es abends einen Bohnen-Tomaten-Eintopf, sofern die Zeit für zwei Stunden Kochen verbleibt. Ansonsten gibt es Bohnen und Gulasch. Man sollte zu diesem Gericht im Grunde einen Rotwein trinken, statt eines Rieslings. Es harrt da, unter anderem, noch eine Kiste guter italienischer Rotwein im Regel, der probiert werden will und welche mir ein Vertreter der katholischen Kirche als Geschenk übergab. Wenn dieser freundliche Mann, dieser wunderbare, chaotische Doctore vorausschauend gewußt hätte, was ich hier kürzlich zum Besuch seines Arbeitgebers schrieb, schenkte er mir gar nichts oder reichte mir Essig zum Lohn. Nun: die Katholiken – insbesondere die aus Italien – wissen zu genießen, und man muß schließlich seinen Feind genau studieren, um ihn zu kennen. Also nahm ich die Kiste dankend und mit dem Lächeln des Ästhetikers an.

Ich bin mir aufgrund dieser Zweifel beim Wein nicht ganz sicher, wie ich die Abfolge der Getränke wählen werde. Vielleicht wird erst ein Glas, zwei Gläser Rotwein gegeben, dann schweife ich, beim Käsegang, ab zum Riesling.

Zudem geht es, um ein weiteres Vergnügen zu produzieren, morgen als Tagesausflug in den Osten: nach Frankfurt/Oder und Eisenhüttenstadt respektive nach Kostrzyn (Küstrin). Die düstere Seite der Welt und den herrlichen Verfall in all seinen Farben, Formen und Ausprägungen genießend und photographierend. Es gibt nichts Schöneres, am liebsten plazierte ich mir, wie der Prophet Jona, einen Stuhl, ein Zelt, baute mir einen Wohnraum vor einem dieser zerbröckelnden Gebäude auf, und betrachtete wohlwollend den Untergang: jeden Zug des Verfalls genießend, auskostend, mit meinen Kameras dokumentierend, die Zeit in das Bild gebannt. Mir gefällt diese Welt, die verfällt.

Demnächst aber, keine Angst, wenn ich von den einsamen, den wunderbaren Tagen genug habe, gehe ich wieder in Gesellschaft, sofern ich denn mag. Nachdem Marcel Proust alles ausgekostet hatte, was es auszukosten gab, verschloß er sich in seiner großbürgerlichen Pariser Wohnung, legte sich in sein Bett in dem korkverschälten Schlafzimmer, damit keine Geräusche der Außenwelt zu ihm drängen.