Zum Karfreitag

„Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot (dasjenige, was gleichsam nur empirisch ausgesprochen war mit Pascals Ausdrücken: »la nature est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et hors de l’homme«) -, rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein – weil das Heitere, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien sowie der Naturreligionen verschwinden muß – die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß.“ (G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche)

Kreuzigung Christi, um 1494/95, Werkstatt Michael Wolgemut
Nürnberg St. Lorenz

(In Nürnberg wirkte Hegel, nachdem er in Jena bzw. Bamberg 1807 seine „Phänomenologie des Geistes“ vollendete und diese als Buch erschein, von 1808 bis 1818 als Rektor des Egidiengymnasiums. Er unterrichtete Philosophie, Germanistik, Griechisch und höhere Mathematik. Seine Unterrichtsmethoden waren für seine Zeit mehr als modern.)

„Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“

„Von Christus selbst konnte man keine Reliquien haben, denn er war auferstanden: das Schweißtuch Christi, das Kreuz Christi, endlich das Grab Christi wurden die höchsten Reliquien. Aber im Grabe liegt wahrhaft der eigentliche Punkt der Umkehrung, im Grabe ist es, wo alle Eitelkeit des Sinnlichen untergeht. Am Heiligen Grabe vergeht alle Eitelkeit der Meinung, da wird es Ernst überhaupt. Im Negativen des Dieses, des Sinnlichen ist es, daß die Umkehrung geschieht und sich die Worte bewähren: »Du lässest nicht zu, daß Dein Heiliger verwese«. Im Grabe sollte die Christenheit das Letzte ihrer Wahrheit nicht finden. An diesem Grabe ist der Christenheit noch einmal geantwortet worden, was den Jüngern, als sie dort den Leib des Herrn suchten: ‚Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden‚. Das Prinzip eurer Religion habt ihr nicht im Sinnlichen, im Grabe bei den Toten zu suchen, sondern im lebendigen Geist bei euch selbst. Die ungeheure Idee der Verknüpfung des Endlichen und Unendlichen haben wir zum Geistlosen werden sehen, daß das Unendliche als Dieses in einem ganz vereinzelten äußerlichen Dinge gesucht worden ist. Die Christenheit hat das leere Grab, nicht aber die Verknüpfung des Weltlichen und Ewigen gefunden und das Heilige Land deshalb verloren. Sie ist praktisch enttäuscht worden, und das Resultat, das sie mitbrachte, war von negativer Art: es war, daß nämlich für das Dieses, welches gesucht wurde, nur das subjektive Bewußtsein und kein äußerliches Ding das natürliche Dasein ist, daß das Dieses, als das Verknüpfende des Weltlichen und Ewigen, das geistige Fürsichsein der Person ist. So gewinnt die Welt das Bewußtsein, daß der Mensch das Dieses, welches göttlicher Art ist, in sich selbst suchen müsse; dadurch wird die Subjektivität absolut berechtigt und hat an sich selbst die Bestimmung des Verhältnisses zum Göttlichen. Dies aber war das absolute Resultat der Kreuzzüge, und von hier fängt die Zeit des Selbstvertrauens, der Selbsttätigkeit an. Das Abendland hat vom Morgenlande am Heiligen Grabe auf ewig Abschied genommen und sein Prinzip der subjektiven unendlichen Freiheit erfaßt. Die Christenheit ist nie wieder als ein Ganzes aufgetreten.“
(G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte)

Karfreitag und „Marias Testament“

Erinnerungen können täuschen, ich bin nicht sicher, ob ich dieses El-Greco-Bild damals im Frühjahr 1989 im Prado in Madrid wirklich gesehen habe oder ob es dort gar nicht hing: „Die Entkleidung Christi“. Vor allem an das flammende Rot erinnere ich mich genau, aber dieses El-Greco-Rot eines Gewandes, das mich damals mit Mitte zwanzig beim Prado-Besuch so in den Bann zog, war doch ein anderes Bild. Freilich ein ähnliches Rot. Nach meiner Recherche hängt das Christi-Bild in der Alten Pinakothek in München. In Erinnerung bleibt dieses Rot, bleibt ein Spaziergang durch den Prado, eine Woche vor Ostern, die dort in Spanien zelebrierten Semana Santa, und es bleibt in Erinnerung, daß ich noch nie ein Museum mit derart herrlichen Bildern gesehen habe: Roger van der Weydens berühmte Kreuzabnahme und seine Pietá. Die Trauer der Mutter, die ihren toten Sohn in die Arme schließt: sie zeigt sich fast unscheinbar in den Augen, im Mundwinkel: Keine große Mimik, sondern in einfachen Zügen gemalt. Zart fast und gerade dadurch so innig und traurig.

Eine ganz andere Geschichte der Maria bietet Colm Tóibíns Erzählung „Marias Testament“ [Rezension zum Buch an dieser Stelle] – das Buch wird zwar als Roman betitelt, besitzt für mich jedoch eher den Charakter einer Erzählung. Darin geht es um eine Maria, die die revolutionären Absichten ihres Sohnes keineswegs teilt. Es ist das persönliche Testament einer Frau, die ihren Sohn verlor. Geflohen und in Ephesos lebend. Und da tauchen plötzlich zwei Jünger auf, wollen Maria befragen und jenen toten Sohn in einen Schmerzensmann, in einen Mythos umwandelt. Stiftung einer Religion, Stiftung des Besseren. „Wenn ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war,“ so Maria.

Eindringlich auch die Angst einer Mutter:

„Ich habe geträumt, ich sei dort. Ich habe geträumt, dass ich meinen zerschlagenen Sohn in den Armen hielt. Als er ganz blutig war, und dann wieder, als er gewaschen war, dass ich ihn wiederhatte, dass ich sein Fleisch berührte und meine Hände an sein Gesicht legte, das jetzt, wo sein Leiden vorbei war, eine hagere Schönheit gewonnen hatte.“

Der Glaube, die Verklärung und der Sinn für Höheres mag für alle anderen eine wichtige Sache sein. Für den aber, dem das Opfer alles nahm, bleibt die krude Empirie und das Tödlichfaktische zurück, der Tod, der Leichnam, der leblose Körper  – auch wenn Hegel diesen Rekurs aufs bloße Faktische in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte in die Kritik nimmt: wenn nämlich die Kreuzfahrer das Heilige Grab suchen und es leer finden:

„Endlich haben mit vieler Mühe und ungeheurem Verluste geordnetere Heere ihren Zweck erreicht: sie sehen sich im Besitz aller berühmten heiligen Orte, Bethlehems, Gethsemanes, Golgathas, ja des Heiligen Grabes. In der ganzen Begebenheit, in allen Handlungen der Christen erschien dieser ungeheure Kontrast, der überhaupt vorhanden war, daß von den größten Ausschweifungen und Gewalttätigkeiten das Christenheer wieder zur höchsten Zerknirschung und Niederwerfung überging. Noch triefend vom Blute der gemordeten Einwohnerschaft Jerusalems fielen die Christen am Grabe des Erlösers auf ihr Angesicht und richteten inbrünstige Gebete an ihn.“

Und warum dieses Unternehmen schiefgehen muß: dazu wird am Sonntag hier die entsprechende Ergänzung durch Hegel geliefert.

Die liturgische Farbe des heutigen Tages ist schwarz. Es ist der höchste Feiertag der katholischen Kirche. Damals, in jener anderen Zeit regten sich viele Menschen über das sogenannte Tanzverbot auf. Ich hielt dies immer für eine gute Sache, obwohl keiner Konfession zugehörig: an was sollte der Teufel auch glauben? Eine gewisse Faszination bot ihm Dostojewskis kleine Erzählung vom Großinquisitor in den „Brüdern Karamasow“: eine Parabel auf die Kirche, erzählt wie eine biblische Geschichte aus dem Neuen Testament, gleichsam dessen geheime Ergänzung, geschrieben im Auftrag der Kirche. Das hat was. Aber ich schweife in eine andere Richtung. Das Tanzverbot hielt und halte ich deshalb  für eine gute Sache, weil es, wenn auch unter Zwang, einmal im Jahr so etwas wie eine Besinnung einfordert. Ein Anhalten, ein Innehalten, so etwas wie Ruhe, auch wenn diese Ruhe von den meisten vermutlich nicht so genutzt wird, wie man es wollte. In einer Welt im Westen, in der für die meisten Menschen so gut wie alles verfügbar ist, einen einzigen Tag der Ruhe einzulegen. Zwischen Sonntagsshoping, Dauerrave, Dauererregung. Aber auch dagegen gibt es inszenierte Mittel: ein ganzer Markt der Achtsamkeitsindustrie bedient die Satten. Wer durchgeravt hat, nimmt ein Aloe vera-Duschbad. „Wir werden immer so weiterleben.“ Was Rainald Goetz affirmativ und als eine Art fröhlichen Positivismus der Partylaune meinte, ist am Ende traurige Universalie. Aber der Protestant sieht das anders: „Dont‘ cry – work!“ (R. Goetz, Irre)

Zum Ostersonntag

Zwar gibt es zum Ostersonntag noch kein Mailicht, wie es unten in dem schönen Gedicht von Hölderlin genannt wird und wie es eher zu Pfingsten leuchtet, aber doch ein anderes Licht schon herrscht als noch in den späten Wintertagen. Vor allem aber eine andere Zeit wird dort ausgerufen. Passend zum Ostersonntag und wie es zum Ostern-Sonntag heißt: Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Das Grab ist leer:

„Am ersten Tag der Woche gingen die Frauen mit den wohlriechenden Salben, die sie zubereitet hatten, in aller Frühe zum Grab. Da sahen sie, daß der Stein vom Grab weggewälzt war;  sie gingen hinein, aber den Leichnam Jesu, des Herrn, fanden sie nicht.  Und es geschah, während sie darüber ratlos waren, siehe, da traten zwei Männer in leuchtenden Gewändern zu ihnen.  Die Frauen erschraken und blickten zu Boden. Die Männer aber sagten zu ihnen: Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?  Er ist nicht hier, sondern er ist auferstanden.“ (Lukas 24, 1-6)

Jenes Heilige, jenes Wunder zeigt sich durch die Abwesenheit. Hier nicht die des Gottes, sondern der physischen Abwesenheit des Leichnams, des Leibes und seine Auferstehung. Solche Transzendenz kann Befreiung bedeuten.

Bei Hölderlin ist es in seinem „Gang aufs Land“ jene Neckarlandschaft, die dann in anderen Gedichten mit der Landschaft Hellas sich vermischt und die ins Offene uns führt – ohne Pudel freilich. Man kann dieses Gedicht auch als eine Art Osterspaziergang lesen und ebenso als eine Weise der Transzendenz, der Transgressions, des Überschreitens eben: Gedichtet auf einen Augenblick, einen Kairos vielleicht.

Der Gang aufs Land

An Landauer

Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.
Dennoch gelinget der Wunsch, Rechtglaubige zweifeln an Einer
Stunde nicht und der Lust bleibe geweihet der Tag.
Denn nicht wenig erfreut, was wir vom Himmel gewonnen,
Wenn ers weigert und doch gönnet den Kindern zuletzt.
Nur daß solcher Reden und auch der Schritt‘ und der Mühe
Wert der Gewinn und ganz wahr das Ergötzliche sei.
Darum hoff ich sogar, es werde, wenn das Gewünschte
Wir beginnen und erst unsere Zunge gelöst,
Und gefunden das Wort, und aufgegangen das Herz ist,
Und von trunkener Stirn höher Besinnen entspringt,
Mit der unsern zugleich des Himmels Blüte beginnen,
Und dem offenen Blick offen der Leuchtende sein.

Denn nicht Mächtiges ists, zum Leben aber gehört es,
Was wir wollen, und scheint schicklich und freudig zugleich.
Aber kommen doch auch der segenbringenden Schwalben
Immer einige noch, ehe der Sommer, ins Land.
Nämlich droben zu weihn bei guter Rede den Boden,
Wo den Gästen das Haus baut der verständige Wirt;
Daß sie kosten und schaun das Schönste, die Fülle des Landes,
Daß, wie das Herz es wünscht, offen, dem Geiste gemäß
Mahl und Tanz und Gesang und Stuttgarts Freude gekrönt sei,
Deshalb wollen wir heut wünschend den Hügel hinauf.
Mög ein Besseres noch das menschenfreundliche Mailicht
Drüber sprechen, von selbst bildsamen Gästen erklärt,
Oder, wie sonst, wenns andern gefällt, denn alt ist die Sitte,
Und es schauen so oft lächelnd die Götter auf uns,
Möge der Zimmermann vom Gipfel des Daches den Spruch tun,
Wir, so gut es gelang, haben das Unsre getan.

Aber schön ist der Ort, wenn in Feiertagen des Frühlings
Aufgegangen das Tal, wenn mit dem Neckar herab
Weiden grünend und Wald und all die grünenden Bäume
Zahllos, blühend weiß, wallen in wiegender Luft,
Aber mit Wölkchen bedeckt an Bergen herunter der Weinstock
Dämmert und wächst und erwarmt unter dem sonnigen Duft.

Zum Weihnachtsfest und vom Bewußtsein andrer Zeit

Meinen Leserinnen und Lesern ein frohes und irgendwie besinnliches Weihnachtsfest. Und es hilft ja auch nichts: in einer Welt, die durch den Wind ist, eine Welt, die das sowieso immer schon war, ist die Kunst und sind insbesondere die Gemälde, wie unten das von Hans Baldung, zwar keine Rettung, aber Kunst zeigt uns Schönes, Erhabenes, manchmal auch Grausames und schafft uns damit ein anderes Bewußtsein, einen anderen Blick – manchmal sogar das Aussetzen der alltäglichen Zeit. Kunst als Bewußtsein von Nöten, wie es Hegel schrieb, dessen 250. Geburtstag (zusammen mit Hölderlin und Beethoven) dieser Blog nächstes Jahr ganz sicherlich begehen wird.

Verwiesen sei im Hegel-Kontext, als Parenthese und gleichsam als verspäteter Weihnachtsgeschenk-Tip, nur kurz auf die gerade im Beck Verlag erschienene Hegel-Biographie von Klaus Vieweg. Sie ist ausführlich, Vieweg ist ein ausgezeichneter Hegel-Kenner, aber darin liegt leider auch die Schwäche des Buches: stellenweise bleibt es Paraphrase und um das Paraphrasierte zu verstehen, muß man bereits Hegel gelesen haben und ihn kennen, sonst bleibt es abstrakt – und da beißt sich eine Katze am Ende immer in den Schwanz: die Skundärliteratur kann den Primärtext nicht ersetzen. Aber biographisch immerhin und auch von der Philosophie her liefert Vieweg zahlreiche Details und schöpft aus einem großen Reservoir an Wissen. Vieweg ist Hegelianer. Er ist sogar ein Hegelianer-Hegelianer. Das ist noch mehr, als es schon orthodoxe Hegelianer sind. Das kauft man mit ein, wenn man jene Hegel-Biographie liest – meines Wissens gibt es, seltsamerweise, kaum Hegel-Biographien im deutschen Sprachraum. Insofern gerät das Buch stellenweise zur Hagiographie. Vieweg steht immerhin dazu, daß für ihn Hegel der wohl größte Denker der Philosophie ist. Wer sich in Hegel und sein Leben einlesen will, ist mit der Biographie gut beraten. Wer in Hegel einsteigen will, nehme nach wie  vor die Primärtexte. (Wie der Anfang mit Hegel zu machen ist, dazu werde ich im  nächsten Jahr ein wenig schreiben.)

Kunst ist das Bewußtsein von Nöten, so Hegel also. Doppelsinnig gedacht als nötiges Bewußtsein im Medium von Anschauung und Begriff sowie als Form von Reflexivität und zugleich als Bewußtsein einer Not, einer gesellschaftlichen oder auch subjektiven Not. Das, was bei Adorno angesichts einer beschädigten Gesellschaft das Leid-Motiv sich nennt und weshalb Kunst – auch – von der Grundfarbe schwarz zu sein hat. (Aus jener Epoche, von der her Adorno schrieb, Shoah und Zweiter Weltkrieg, samt zweier brutaler Diktaturen, mehr als verständlich gedacht.)

Kunst kann darstellen, wie es ist, wie es sein könnte und sein sollte, wie es  nicht sein sollte oder sie kann zu all dem schweigen, ohne doch schweigen zu können, implizit spricht die Kunst immer, in hartem Realismus, in Schwarz, in Abstraktion oder in Subjektivierung, oder sie kann verklären und eine Szenerie überhöhen.

Sehr viel dramatisierender oder genauer gesagt bildlich übersteigerter als Hans Baldungs eher nüchterne und schlichte Darstellung dieser Geburt ist Matthias Grünewalds Bild zu Christi Geburt am Isenheimer Altar. Wer je ins Elsaß reist, sollte nach Colmar und dort im Museum Unterlinden dieses Wunderwerk betrachten. Besonders die mit der Geburt korrespondiere Kreuzesszene des altars. Auch hier findet sich jenes Bewußtsein von Nöten. Einer höchsten Not: das geschundene Fleisch.

Heute aber ist der Christus geboren. Man mag das alles als leeren Brauch oder als Ritual sehen und bekritteln. Aber Bräuche leben eben nur soviel, wie wir es vermögen, ihnen Leben zu geben und sie zu füllen. Laßt die Weihnachtsjammerer jammern und in ihrer Trostlosigkeit harren, und wer beim Fest mit dem Bleistift beim veganen Essen seine Klimabilanz ausrechnet, soll das in gutneucalvinistischer Büßermanier tun, wenn Verzicht Freunde macht. Jeder nach seiner Façon. Man muß es nicht mitmachen. Der eine büßt, der andere schwelgt, schenkt oder spaziert. In Günter de Bruyns Roman „Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll“ heißt es:

„Leo dagegen setzte die alten Bräuche fort. In seinen Berliner Jahren war der Spaziergänger von der Oranienburger Straße zur Sophienkirche für ihn, Maria und die Kinder immer Teil der Festtagsfreuden gewesen, und seit seiner Rückkehr nach Wittenhagen hatte er sich den Besuch der weihnachtlich geschmückten Dorfkirche angewöhnt. Das christliche Fest, so hatte er den Kindern früher zu verstehen gegeben, müsse als solches auch begangen werden, sonst sei die Bescherung unterm Weihnachtsbaum doch ganz sinnentleert.“
Herrlicher Weihnachtsschuck und feines Ritual. Doch geht es zum Heiligen Abend oder eben zur Weihnachtszeit samt den darin webenden Rauhnächten nicht bloß um diese Geschenke und ums bloße Ritual (auch, aber nicht nur und Rituale sind zudem lebenswichtig und strukturieren ein Leben: sie machen das Fest erst zum Fest), sondern ebenso um das, was wir die erfüllte Zeit nennen können. Karl Heinz Bohrer schreibt in seiner (unbedingt lesenswerten) autobiographischen Kindheits- und Jugenderinnerung „Granatsplitter“:
„Der Refrain ‚Heissa! Heut ist Weihnachtstag!‘ entzündete einen dramatischen Impuls, der auf etwas gewartet hatte. Das schöne, altmodisch klingende Wort ‚Heissa‘ war ihm das Ereignis, das nun gekommen war, ein leuchtendes Zeichen. nicht das Fröhliche daran, sondern das Heftige zog ihn an.
Das Allerwichtigste am Heiligen Abend und der Zeit davor aber war, dass die normale Zeit eine nichtnormale Zeit, in eine andere Zeit versetzt wurde. Er wusste, dass es eine andere Zeit war.“

Dieses Andere einer Zeit, eine Form von Zeitenwende, die diese Geburt anzeigt, auch eschatologisch und als Verheißung, ist in jenen Weihnachtstagen mitzudenken und nicht bloß zum Bewußtsein zu bringen, sondern als Praktik auch zu leben. In diesem Sinne Euch oder Ihnen allen ein paar frohe und besinnliche Weihnachtstage – und vergessen Sie auch die Wilde Jagd der Rauhnächte nicht! Jene magischen Tage, da das Wünschen noch geholfen hat und die  kalten Winde über unsere Wälder wehen. In Bozen, ab von der Stadt in den Höhen von Südtirol geschieht’s noch. Und auf den Kuppen des Thüringer Waldes, in den dunklen Jean-Paulschen Oberfränkischen Wäldern und im Erzgebirge. Hamburg und Berlin: eher Regen und Nordseewind an der Küste. Zwischen den Jahren eben. Heute aber ist der Heilige Abend und dazu gibt es von Joseph von Eichendorff eines der schönsten deutschen Weihnachtsgedichte:

Markt und Straßen stehn verlassen,
Still erleuchtet jedes Haus,
Sinnend geh’ ich durch die Gassen,
Alles sieht so festlich aus.

An den Fenstern haben Frauen
Buntes Spielzeug fromm geschmückt,
Tausend Kindlein stehn und schauen,
Sind so wunderstill beglückt.

Und ich wandre aus den Mauern
Bis hinaus in’s freie Feld,
Hehres Glänzen, heil’ges Schauern!
Wie so weit und still die Welt!

Sterne hoch die Kreise schlingen,
Aus des Schneees Einsamkeit
Steigt’s wie wunderbares Singen –
O du gnadenreiche Zeit!

Hans Baldung: Geburt Christi

„Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“

„Von Christus selbst konnte man keine Reliquien haben, denn er war auferstanden: das Schweißtuch Christi, das Kreuz Christi, endlich das Grab Christi wurden die höchsten Reliquien. Aber im Grabe liegt wahrhaft der eigentliche Punkt der Umkehrung, im Grabe ist es, wo alle Eitelkeit des Sinnlichen untergeht. Am Heiligen Grabe vergeht alle Eitelkeit der Meinung, da wird es Ernst überhaupt. Im Negativen des Dieses, des Sinnlichen ist es, daß die Umkehrung geschieht und sich die Worte bewähren: ‚Du lässest nicht zu, daß Dein Heiliger verwese‘. Im Grabe sollte die Christenheit das Letzte ihrer Wahrheit nicht finden. An diesem Grabe ist der Christenheit [der Kreuzfahrer, Hinweis N.B.] noch einmal geantwortet worden, was den Jüngern, als sie dort den Leib des Herrn suchten: ‚Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden‘. Das Prinzip eurer Religion habt ihr nicht im Sinnlichen, im Grabe bei den Toten zu suchen, sondern im lebendigen Geist bei euch selbst. Die ungeheure Idee der Verknüpfung des Endlichen und Unendlichen haben wir zum Geistlosen werden sehen, daß das Unendliche als Dieses in einem ganz vereinzelten äußerlichen Dinge gesucht worden ist.“ (Hegel, Philosophie der Geschichte)

Cranachaltar der Herderkirche in Weimar, Rückseite, Quelle: Wikipedia

Auferstehung – eine messianische Zeit

(Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version, die ich bereits zu Ostern 2012 auf AISTHESIS einstellte.)

Die Zeit, die bleibt“

„Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber,
daß der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist.“
(W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte)

„Osterqualm, flutend, mit
der buchstabenähnlichen
Kielspur inmitten.“
(Paul Celan, Atemwende)

Gemeinhin wird mit dem Osterfest eine Hoffnung verbunden: der Glaube an die Auferstehung, der Triumph des Geistes über den Körper, die Transformation des Fleisches. Der „Faust“ Goethes inszeniert und simuliert diese Szenen des Glaubens während jener Osterszene, die zum Gequatsche der regredierten Bürger herabgespielt wurde, in nuce und in einer drastischen Verschiebung theologischer Begrifflichkeit noch einmal. Das beginnt mit einer Farbenlehre und endet in den Träumen. Teuflisch gar. Der Schub des Begehens und die Sucht nach Augenblick.

Fausts Arbeit des Über-Setzens. Lost in Translation: dieses verfluchte Dickicht eines Anfangs, und es bleibt dabei: „Im Anfang war die Tat“, eine Art von praktischer Philosophie des Bürgertums, gesiedelt zwischen Kant und Hegel, die unendliche Umschrift jenes ersten Wortes, das als Schrift auftritt, jenes ungeheuren Satzes des Johannesevangeliums. Keines der anderen drei Evangelien beginnt in dieser Weise. Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott. Auch ein Aspekt der theologisierten Literaturtheorie: Wortwerden des Fleisches, wie es bei Adorno an einer Stelle zu den Gedichten Eichendorffs heißt. Das Etwas vom Überschuß. Der Mehrwert gar.

Die Hölle der Immanenz, die„transzendentale Obdachlosigkeit“, wie Georg Lukács es in seiner „Theorie des Romans“ formulierte, steigerte sich im Lauf der Geschichte derart auf, daß diese Hölle zu keinem Bild mehr taugt und sich im Sinne realistischen Schreibens im Roman kaum noch reifizieren läßt. Jener Mann, den Lukács einst einen Formalisten scholt und der im Herrschaftsbereich der Sowjetmacht verboten war, sagte – so wird überliefert – zu Max Brod: „Es gibt unendlich viel Hoffnung! Nur nicht für uns.“ Als Georg Lukács dann in die Gefangenschaft seiner eigenen Genossen geriet, fiel ihm auf, wie sehr Kafka Realist war.

Nein, es geht durch die Welt kein Geflüster, sondern ein Riß. Von diesem spricht Lukács in „Die Theorie des Romans“ (1914/15), welche noch, aber doch nicht mehr ganz jenem bürgerlichen Ästhetizismus angehört. Auch in diesem Werk tätigt sich ein Übergang in der Zeit.

Womöglich ließe sich aber, was die Hoffnung und jenes Andere betrifft, von einem Deus absconditus sprechen. Nur wissen wir nicht, ob dieser sich aus Bosheit oder aber aus Scham heraus verbirgt. Daß bei Adorno die Utopie schwarz verhüllt ist, hat seinen Grund in der Sache. „Verlassen sind wir doch wie verirrte Kinder im Walde“ schrieb Franz Kafka 1903  an seinen Freund Oskar Pollak.

Es geschieht in der Kreuzszene jener Schnitt in der Zeit – zwei Zeiten: als chronos und als kairos gedacht, ein Schnitt, der als Ereignis auftritt. Geschieht es? Was geschieht? Eine Drehung ums ganze. Es handelt sich nicht um ein Warten, sondern um eine Form des Ereignisses, für das kein Bild mehr hinreicht. Es erfüllt sich die Prophezeiung. Und der Vorhang des Tempels zerreißt. Solche theologischen Aufladungen gilt es materialistisch zu wenden, ohne dabei aber den Gehalt zu verfehlen und ins Fahrwasser eines simplifizierten Materialismus zu geraten. Walter Benjamin verweist darauf in seiner ersten geschichtsphilosophischen These, wenn er schreibt, daß Theologie und Materialismus einander bedürfen, freilich in einer Form der Verkehrung (es ist alles eine Frage der Technik): Die artifizielle, maskierte Puppe des Schachautomaten mit ihren Schnüren, den Spiegeln und den Tricks, welche etwas vorspielt, das sie nicht ist, benennt Benjamin nicht etwa als die Theologie, sondern sie stellt jene Form von Geschichte dar. Und der Drahtzieher, der als strukturierendes, aber verborgenes Prinzip bloß ein Zwerg ist, gibt den Part des Theologischen:

„Gewinnen soll immer die Puppe, die man ‚historischer Materialismus‘ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.“ (W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte)

Sicherlich darf die christologische Perspektive nicht ins Absolute umfassender Theologie versetzt werden, aber gegen eine, von evangelischen Akademien gepflegte, zu einfache Lesart des Kreuzestodes, der Kreuzestheologie des Paulus, des leeren Grabes, der Auferstehung, der Leiblichkeit und der Gewalt, die im Namen Roms auf den Körper ausgeübt, ihm angetan wird und die als Recht auftritt, nämlich als das Recht Roms, sollte die geschichtsphilosophische Perspektive Hegels im Spiel bleiben. Daß als Prinzip dieser Religion nicht beim bloß Sinnlichen, im Grab bei den Toten zu verbleiben sei, denn das Grab ist leer und das Lebendige ist nicht bei den Toten zu suchen, auf dem Friedhof, sondern er ist auferstanden (Lk 24, 5). Am Heiligen Grabe, so heißt es bei Hegel in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, vergeht alle Eitelkeit der Meinungen. „Im Negativen des Dieses“ geschieht die Umkehrung (auch als Metanoia zu lesen). Hegel verweilt eben nicht bei der puren Faktizität.

„Das Prinzip eurer Religion habt ihr nicht im Sinnlichen, im Grab bei den Toten zu suchen, sondern im lebendigen Geist bei euch selbst. Die ungeheure Idee der Verknüpfung des Endlichen und Unendlichen haben wir zum Geistlosen werden sehen, daß das Unendliche als Dieses in einem ganz vereinzelten äußerlichen Dinge gesucht worden ist.“ (Hegel, „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“)

Der Rückbezug läuft nicht über die bloße Körperlichkeit. (Transzendenz des Begehrens.) Es ist jenes Dieses, welches Hegel bereits in der „Phänomenologie“ in die Kritik nimmt. Bei Adorno wird es, im Kontext einer Rettung der Dinge unter dem Blick des Messianischen, wie er es als „Programm“ und Wesen der Philosophie zum Schluß der „Minima Moralia ausführt, zum Movens seines Denkens.

In der Tat ist diese Perspektive, welche Hegel auftut, insbesondere nach den drei Kantischen Kritiken, eine ungeheure Idee. Und diese Bezüglichkeit von Endlichem und Unendlichem eben ist der Hegelsche Rückverweis auf die Immanenz. Es bleibt nichts draußen, alles kann zum Bestand des Denkens werden.

„Und es war um die sechste Stunde, und es ward eine Finsternis über das ganze Land bis an die neunte Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels zerriß mitten entzwei. Und Jesus rief laut und sprach: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt, verschied er.“ (Lk 23, 44 – 46 )

„Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde. Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verführen könnte, sich unter die Egge zu legen. Es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloss an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als horche er.“ (Franz Kafka, In der Strafkolonie)

Es sind in dieser Phase des Überganges alle Sinne des Opfers geschärft, so zumindest erzählt es der Täter oder aber die Beobachter der Tat. Was in eine Korrespondenz tritt, ist die bloße Körperlichkeit als die in den Leib geritzte schmerzende Schrift und die Gewalt, welche sich als Erkenntnis maskiert und den Körper unwiederbringlich markiert und wandelt, und zwar als die Gewalt eines Rechts auftretend, welches jener Offizier exekutiert/ausführt. Die Folter, die Tortur geschieht im Namen des Rechts (im Geiste Roms) und verweist, insbesondere in Kafkas Erzählung auf das kontingente Moment des Rechts.

„Man kennt den brutalen Spruch, den sich Scotus bei Avicena ausleiht, um die Kontingenz zu beweisen: ‚Diejenigen, die die Kontingenz leugnen, müßten gefoltert werden, bis sie zugeben, daß sie auch nicht hätten gefoltert werden können.‘“
(G. Agamben, Die Zeit, die bleibt)

Wer mag, stelle sich vor den Isenheimer Altar in Colmar, um die Kreuzszene zu betrachten. Im Altarbild des Matthias Grünewald zeigen sich zwei Perspektiven dieses Körpers: der schimmelige, gemarterte, geritzte und verwundete Dornen-Körper jenes Menschen (ecce homo!), und die Auffahrt des wiederhergestellten Körpers, jenes Leibes in der Aureole, die ein Schweben über der Erde ist. Ein Leib, in dem die Wunden der Kreuzigung zwar noch an den Händen, den Füßen und im Brustkorb schimmern, aber in jenem verklärenden Modus der Schaustellung zugleich im Rot der Aureole verblassen. Vom Rot der Wunden zum Himmelsrot. Das Wunder der Auferstehung. Dieses „Er ist auferstanden, er ist wahrlich auferstanden.“ Buchstabenszenarien, die bei Paul Celan im Rauch aufgehen. Flutender Osterqualm. Der Osterkerze oder von sonstwo her.

Auferstehung (2) – „To Leave, with Love“ (Erika M. Anderson)

Das Gesetz der Zeit zu brechen …

Es schrieb der emeritierte Professor für Geschichte und Literatur des frühen Christentums in Göttingen, Gerd Lüdemann, in der der Berliner Zeitung vom 6.4.2012:

„Die in Jerusalem auf den Namen Jesu erfolgende Taufe, die dem Schutz vor bösen Mächten diente, wurde in Damaskus zu einem mystischen Akt in das göttliche Wesen Christus Jesus hinein. Die dabei ausgesprochene programmatische Formel – ‚Hier ist weder Jude noch Heide, weder Sklave noch Freier, weder männlich noch weiblich; denn ihr alle seid eins in Christus Jesus‘ – spiegelt antike Utopien von der einen Menschheit wider.

Die Aussagen zu den drei Gruppen von Menschen, welche die Taufe empfangen, sind im damaligen gesellschaftlichen Kontext revolutionär. Sie proklamieren das Ende der Sklaverei, reißen Schranken zwischen Juden und Nichtjuden nieder und heben die sozialen, gesellschaftlich bedingten Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf. Wahrscheinlich haben die Christen in Damaskus ihre große Vision sogar in die Tat umgesetzt.

Aufbegehrende Frauen musste in Gottesdiensten Schleier tragen

Indes ergaben sich für Paulus daraus, dass ‚in Christus Jesus‘ die Unterschiede zwischen Mann und Frau, Sklave und Freier aufgehoben sind, keine Konsequenzen für die Stellung von Frauen oder Sklaven in Gemeinde und Gesellschaft. Unter Hinweis auf den Konsens mit den anderen Gemeinden Gottes zwang Paulus später in Korinth aufbegehrende Frauen, im Gottesdienst einen Schleier zu tragen; die Sklaven wies er an, die Freiheit auch dann nicht zu suchen, wenn sich dazu eine Möglichkeit ergebe. Einzig die Gleichstellung von Juden und Heiden setzte Paulus in seinen Gemeinden durch.

So gab Paulus, der ehemalige Verfolger und berühmteste Schüler der Gemeinde von Damaskus, deren emanzipatorischen Ideale preis; er machte langfristig nicht nur Frauenunterdrückung, sondern auch Sklaverei in Christentum und Gesellschaft hoffähig. Die große Vision der Christen von Damaskus aber ist geblieben.“

Die Figur des Paulus, seine Gesetzeslehre sowie die Paulinische Gnadentheologie sind umstritten. War Paulus der, welcher Jesus am ehesten verstand und in die Schriftform brachte oder handelte es sich um einen Scharlatan, der die praktizierte und gesprochen dargebrachte „Lehre“ Jesu als Herrschaftsinstrument verfälscht in die Auslegung transformierte? Der Anfang des 1. Römerbriefes lautet in der lateinischen Übersetzung des Hieronymus: „Paulus servus Jesu Christi, vocatus apostolus, segregatus evangelium Dei“ (Röm 1,1) „Paulus Sklave des Jesus Messias, berufen zum Apostel, ausgesondert für das Evangelium Gottes.“ (Vgl. G. Agamben, Die Zeit die bleibt, S. 17)

Am Jesus, der zum Messias wurde, ist insbesondere die Figur des Opfers, jenes bedingungslosen Opfers interessant. Daß kein anderer Mensch mehr, daß kein Tier mehr und kein Nichts geopfert werden müssen, weil ein Wesen seine Entäußerung zum letzten Opfer brachte, um künftig auf jedes weitere Opfer zu verzichten. Dies ist die zentrale christliche Lesart, welche allerdings in der Folge bloßes Bekenntnis blieb und als gestanzte Phrase ihren Nachhall fand. Es ist diese Bewegung von Einheit und Differenz zugleich eine der vielfach variierten Figuren europäischer Philosophie: nämlich die Entäußerung als Entzweiung und Differenzbildung, was zugleich bedeuten kann, daß jener als unteilbar angenommene Ursprung eben doch einer gleichsam „ursprünglichen“ Differenzstruktur unterliegt, so daß sich im Sinne Derridas von einer ursprünglichen Spaltung sprechen läßt. Urbild ist nicht die Einheit. Und noch der Begriff des Urbilds trägt dieses Moment der Einheit in sich und müßte im Grunde anders heißen. Mit Derrida gedacht, erscheint das Urbild als eine Spur. Sinnbildlich stellt sich diese Figur der Entäußerung sowie der vermittelten Rückkehr zum Ursprung am Odysseus dar, der als ein anderer in Ithaka wieder ankam und der dann in seinen Transformationen im Grunde die Gestalt für jenen klassischen Bildungsroman etwa im Sinne  „Wilhelm Meisters“  abgab. Die etwas andere Perspektivierung dieser Entäußerung lesen wir in jenem genialen exalktiert-sexuellen Monolog der Molly Bloom am Ende des „Ulysses“

Diese Perspektive, daß kein Opfer mehr sei, gibt auch jenen Impuls der Philosophie Adornos: Der Verzicht auf das Opfer, indem die Logik und die Spirale der Gewalt gebrochen wird. Das Verstömen in Natur, wie es in seinem Essay zu Goethes  „Iphigenie“  heißt. Vor ihm formulierte dies in anderer Weise Nietzsche im „Zarathustra“: den Geist der Rache zu überwinden.

„Daß die Zeit nicht zurückläuft, das ist sein Ingrimm; ‚das, was war‘ – so heißt der Stein, den er nicht wälzen kann.

Und so wälzt er Steine aus Ingrimm und Unmut und übt Rache an dem, was nicht gleich ihm Grimm und Unmut fühlt.

Also wurde der Wille, der Befreier, ein Wehetäter: und an allem, was leiden kann, nimmt er Rache dafür, daß er nicht zurück kann.

Dies, ja dies allein ist Rache selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ‚Es war‘.

Wahrlich, eine große Narrheit wohnt in unserm Willen; und zum Fluche wurde es allem Menschlichen, daß diese Narrheit Geist lernte!

Der Geist der Rache: meine Freunde, das war bisher der Menschen bestes Nachdenken; und wo Leid war, da sollte immer Strafe sein.

‚Strafe‘ nämlich, so heißt sich die Rache selber: mit einem Lügenwort heuchelt sie sich ein gutes Gewissen.

Und weil im Wollenden selber Leid ist, darob, daß er nicht zurück wollen kann – also sollte Wollen selber und alles Leben – Strafe sein!“
(F. Nietzsche, Von der Erlösung, in: Also sprach Zarathustra)

Dieses Statement impliziert eine (andere) Philosophie der (anderen) Zeit, und insofern geschieht bereits an dieser Stelle im „Zarathustra“, von seiner Erzählstruktur her, die Ankündigung jenes Motivs von der Wiederkehr des Immergleichen – jenes schwersten Gedankens. Es gilt, das Gesetz der Zeit zu brechen.

Dies wäre die soteriologische Perspektive, die beiden Texten innewohnt – auch im Text des Pfarrerssohnes Nietzsche, wobei über den Perspektivismus, welcher seinen Text trägt, zugleich bei jedem Dreh und bei jeder Wendung eine andere Sicht sich ergibt. Alles könnte auch ganz anders sein. Nimmt man jedoch den „Zarathustra“ als solchen, so deutet dieser Text auf ein explizit theologisches Moment: die Verkündung des Todes Gottes erzeugt eine neue Religion der Diesseitigkeit, und Zarathustra tritt eben doch als ein Religionsstifter auf. Der Text selbst zeigt dies auf performative Weise, indem er die Sprache Luthers einerseits fast mimetisch einkreist und sie zugleich als hohen Ton parodiert.

Das Messianische Ereignis, es ist dies zum einen die Auferstehung, aber zum anderen, in der Perspektive des Judentums, daß der Messias erst kommt. Dies setzt, so steht zu vermuten, eine andere Ordnung und eine andere Zeit voraus. Wird die Gerechtigkeit oder aber das Recht in jener eschatologischen Perspektive außer kraft gesetzt? Es bestünde ebenso die Möglichkeit, daß lediglich eine falsch verstandene Gerechtigkeit durch dieses Ereignis suspendiert wird.

„Ermöglicht die Dekonstruktion Gerechtigkeit, ermöglicht sie einen Diskurs über die Gerechtigkeit und über die Möglichkeitsbedingungen von Gerechtigkeit?“ (J. Derrida, Gesetzeskraft) Derrida setzt sich in diesem Text unter anderem mit Benjamins legendärem Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ auseinander, der zugleich mit Carl Schmitt korrespondiert. Der Antisemit Carl Schmitt führte in einem perversen Akt der Reinwaschung ausgerechnet Walter Benjamin zu seiner Rechtfertigung nach 1945 an. Aber dies ergibt ein anderes Thema. Derrida führt in seinem Text „Gesetzeskraft“ jenes Gleiten zwischen Recht und Gerechtigkeit vor und zeigt das Moment der Unbestimmtheit auf, das konstitutiv im Begriff der Gerechtigkeit steckt:

„‚Vielleicht‘ – wenn es um (die) Gerechtigkeit geht, muß man immer ‚vielleicht‘ sagen. Die Gerechtigkeit ist der Zukunft geweiht, es gibt Gerechtigkeit nur dann, wenn sich etwas ereignen kann, was als Ereignis die Berechnungen, die Regeln, die Programme, die Vorwegnahmen usw. übersteigt. Als Erfahrung der absoluten Andersheit ist die Gerechtigkeit undarstellbar, doch darin liegt die Chance des Ereignisses und die Bedingung der Geschichte.“
(J. Derrida, Gesetzeskraft, S. 57)

Das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, jene Dialektik im Stillstand, die Einhalt gebietet, inmitten der Katastrophe.

„Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à l‘ordre du jour – welcher Tag eben der jüngste ist.“
(W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte)

Die Römerbriefe des Paulus scheinen mir, andererseits, nicht ganz uninteressant. Ich lese dazu gerade ein wenig in Giorgio Agambens „Die Zeit, die bleibt“. Er liefert eine gleichsam dekonstruktive Lesart des ersten Satzes des Römerbriefes, rehabilitiert Paulus gewissermaßen, wie auch Alain Badiou in seinem Buch zu Paulus, indem er gerade die in der Christologie aus dem Römerbrief getilgte Lesart des Messianischen in den Blick nimmt und das jüdisch-griechische Denken des Damszeners Paulus darstellt. Was mich an Agambens Text fasziniert: diese Fülle an Assoziationen und die entfalteten Bezüge.

Was im Paulinischen Text, und zwar in der sozusagen dekonstruktiven-rekonstruierenden Lesart eines Alain Badiou und Giorgio Agamben, wirkt, ist eine neue Form der Subjektivität, die als Lektüre einen Blick auf den Text erlaubt, welche eine andere Dimension desselben freilegt.

Es ist nicht die Ununterscheidbarkeit zwischen Literatur, Philosophie und Theologie, sondern das Gleiten zwischen diesen Sphären, was am Ende eine ästhetisch inspirierte Lektüre ausmacht, die Bezüge ausgräbt, welche in einer orthodoxen Lesart womöglich verborgen bleiben müßte. Jene Zeit, die bleibt und die wir geben, wenn wir lesen, um uns von jenem ganz Anderen als Flüchtigkeit des Augenblicks, als Konstellation des Denkens, als Spiel eines Kaleidoskopes affizieren zu lassen.

Adornos „Mimima Moralia“ schließen mit jener Reflexion auf das beschädigte Leben und auf welche Weise ein Modus von Erkenntnis zu gewinnen sei. Was bleibt, ist die Kraft zur Negativität:

Zum Ende. – Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an. Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Aber es ist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat. Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet um des Unbedingten willen, um so bewußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.“
(Th.W. Adorno, Minima Moralia, in: GS 4, S. 283)

Fronleichnam (2) – Und wir sind wieder Papst. Ab 22. September: You are not welcome!

Ich bin launisch, ich lasse mich treiben, und ich bin von den Momenten hin und her gerissen. Ich fange ein Projekt an und wenige Tage später verliere ich die Lust daran oder bemerke den Schwierigkeitsgrad und sehe, daß ich es derart wie begonnen, kaum werde fortführen können, ohne unterkomplex zu geraten. Es gibt Wesen, die bleiben in der Flatterigkeit des Kierkegaardschen Ästhetikers. Sie schaffen weder den Sprung noch den dialektischen Dreh der engagierten Wende. Sie verbleiben in der Reflexion und in den unendlichen Möglichkeiten. Mit tiefer Inbrunst könnte ich einen katholischen Geistlichen abgeben, der auf der Kanzel predigt. Genauso könnte es jedoch geschehen, daß ich mitten in der Predigt die Lust verliere, von der Kanzel steige und sage: „Ihr könnt mich am Arsch lecken. Ich gehe einen Schweinebraten mit leckerer Kruste essen und dazu trinke ich eine Flasche Spätburgunder! Weibsleute unter euch, welche weniger als dreißig Lenze zählen, dürfen mitkommen.“ „Gott, bist du Otto Mühl?“, fragt dann einer. „Sind sie dafür nicht zu alt?“ Ja, irgendwie schon.

Wie kann man das Abendmahl und die damit verquickten Komplexitäten adäquat darstellen? Es müßte im Grunde ein Rückgriff auf Aristoteles Kategorienschrift erfolgen und auf die Substanzbücher seiner Metaphysik. Gibt es gar Leserinnen oder Leser, die mir diese theologische Wende als Eskapismus auslegen? Gerät der Blog in falsches Fahrwasser? Nein, man kann bei diesen Dingen natürlich mit Ernst Bloch kontern, der das Christentum, etwa in seiner Schrift zu Thomas Münzer, verschiedentlich stark machte. Und es kann kaum schaden, das ein oder andere Mal systematische Philosophie zu betreiben und nicht beim Fragment und im Zerrissenen zu verharren.

Wesentlich betritt mit Berengar von Tours ein Aufklärer die Bühne der mittelalterlichen Philosophie. Denn mit der Überlieferung der Schriften des Aristoteles aus dem arabischen Raum ergab sich eine ganz neue Konstellation von Glaube und Wissen. Es mußte nicht mehr alles geglaubt werden, was gepredigt wurde. Hier soll nicht das Wissen eingeschränkt werden, um zum Glauben Platz zu bekommen, sondern es geht anders herum. Nur mit der Vernunft galt es die Wahrheit des christlichen Glaubens zu beweisen.

Aber damit sind wir freilich noch nicht bei der Substanz angelangt, die ich weiterhin aufspare.

Ansonsten: kommen Sie doch einfach am Donnerstag den 22. September nach Berlin, wenn es wieder einmal heißt: Wir sind Papst! Die Springerpresse, welche ihren Sitz in diesem dreckig-speckig, antiquiert anmutenden Hochhaus bei der Kochstraße hat, entblödet sich nicht, ein Jubelpapstplakat an der Fassade anzubringen. Ich hätte dort freilich lieber Döpfner und Diekmann hängen sehen.

Ich hoffe, daß viele Menschen in Berlin und an den Folgetagen in Erfurt und Freiburg gegen diesem Dreck protestieren.X

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Ansonsten spielt heute Abend in Berlin als Ausgleich für den zu erduldenden Unbill die wunderbare Erika M. Anderson, kurz EMA. Tolle Frau, tolle Musikerin.

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