Jacques Dutronc: Die Tonspur zum 80. Geburtstag

Kurz vor Mitternacht, aber es geht noch zum Gratulieren: Jacques Dutronc wird heute 80 und es ist Musik, die mich mit Frankreich verbindet. Und mit einer besonderen Lebensweise. Und mit einem jener Stadtteile von Paris, der auf den Namen Saint-Germain-des-Prés hört.

Und wenn Paris um vier oder um fünf erwacht, dann ist es in der Tat besonders und schön und das habe ich erfahren, als ich nachts von einer Frau nach Hause ging. Die mich allerdings rausgeschmissen hat, und so mußte ich vom Montparnasse zurück zum Montmatre, wo mein Hotel war, zu Fuß spazieren. Aber das war mir egal. Ich lasse mir nicht Emanzipation von Frauen erklären, die nicht emanzipert sind. Ich bin da störrisch. Am Ende sind es dumme Streitereien von dummen jungen Menschen. Die Stadt zur Nacht und zum erwachenden Morgen hin jedoch bleibt schön. Unvergänglich. Und an Paris sind für mich immer noch verzückend all die Namen der Straßen und der Métros, frei nach Peter Handkes „Métro Balard-Charenton“: Port de la Chapelle, Odéon, Maubert Mutualité, Place Monge, Anvers, Porte de Clignancourt, Ségur, Place Dauphine, Trocadéro, Liège (wir sagen Lüttich) – da wo der Nachtzug von Köln nach Paris irgendwann Mitte der 1980er Jahre durchfuhr: gelbes, belgisches Licht nachts an Bahnhöfen und Kohlereviere: Bonjour Tristesse. Arts et Métiers. All diese Namen, gereiht wie ein Gedicht, bis heute Erinnerungen an Orte und Straßen. Paris eben, oft profan. Alles Gute zum Geburtstag für ein besonderes Lebensgefühl. Paris en nuit.

Zum Karfreitag

„Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot (dasjenige, was gleichsam nur empirisch ausgesprochen war mit Pascals Ausdrücken: »la nature est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et hors de l’homme«) -, rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein – weil das Heitere, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien sowie der Naturreligionen verschwinden muß – die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß.“ (G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche)

Kreuzigung Christi, um 1494/95, Werkstatt Michael Wolgemut
Nürnberg St. Lorenz

(In Nürnberg wirkte Hegel, nachdem er in Jena bzw. Bamberg 1807 seine „Phänomenologie des Geistes“ vollendete und diese als Buch erschein, von 1808 bis 1818 als Rektor des Egidiengymnasiums. Er unterrichtete Philosophie, Germanistik, Griechisch und höhere Mathematik. Seine Unterrichtsmethoden waren für seine Zeit mehr als modern.)

Zum Tod von Hans Modrow

In Würdigung für Hans Modrow. Einen Mann aus einer anderen Zeit, für den jene Ideale galten, die auch ich bis heute achte: einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht. Trotz seiner Haltung zu Rußland und jenem Alterstarrsinn, was jenen gräßlichen Angriffskrieg der Russen angeht.

„… und die Welt ist eine kalte Welt“ – zum 125. Geburtstag von Bert Brecht

Bertolt Brecht, geboren in Augsburg, aus den schwarzen Wäldern, von der Mutter in die Städte hineingetragen: „Und die Kälte der Wälder//Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.“ Geflohen aus Umständen, die bekannt sind, 1933 ins Exil nach Dänemark und später dann als Kommunist bauernschlau in die erzkapitalistische USA emigriert – wohlweislich – und nicht in Stalins Sowjetunion, jenes Paradies der Werktätigen, das Brecht vermutlich nicht überlebt hätte. Die USA verlassend, in der DDR lebend, den Staat, den er mit aufbauen wollte und den er doch nicht mit aufbauen konnte. Es sind jene finsteren Zeiten, wie Brecht dichtete. Vom Ton der Utopie, die doch nicht ist:

Dabei wissen wir doch: 
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit 
verzerrt die Züge. 
Auch der Zorn über das Unrecht 
Macht die Stimme heiser. Ach, wir 
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit 
Konnten selber nicht freundlich sein. 

Ihr aber, wenn es so weit sein wird 
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist 
Gedenkt unserer 
Mit Nachsicht. 
[Aus: „An die Nachgeborenen“]

Denn es kamen die härteren Zeiten und die Regierung wählte sich besser ein neues Volk, so Brechts Vorschlag in „Die Lösung“:

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

Der politische Brecht, der kalte Brecht – jene Kälte der Jahre und des Habitus, wie sie der Germanist Helmut Lethen in seinem Buch „Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen“, in den 1990er Jahren des ironischen Zeitalters verfaßt, für jene Weimarer Jahre beschrieb. Der umtriebige Brecht, nicht nur in politischen Dingen. Und zugleich doch der Brecht der Liebesgedichte. Hart manchmal, wie jene wunderbare Poesie der Engel:

Über die Verführung von Engeln

Engel verführt man gar nicht oder schnell.
Verzieh ihn einfach in den Hauseingang
Steck ihm die Zunge in den Hals und lang
Ihm untern Rock, bis er sich nass macht, stell

Ihm das Gesicht zur Wand, heb ihm den Rock
Und fick ihn. Stöhnt er irgendwie beklommen
Dann halt ihn fest und lass ihn zweimal kommen
Sonst hat er dir am Ende einen Schock.

Ermahn ihn, dass er gut den Hintern schwenkt
Heiß ihn dir ruhig an die Hoden zu fassen
Sag ihm, er darf sich furchtlos fallen lassen
Dieweil er zwischen Erd und Himmel hängt –

Doch schau ihm nicht beim Ficken ins Gesicht
Und seine Flügel, Mensch, zerdrück sie nicht.

Ihr wollt ein Liebeslied? Es gibt kein Liebeslied. Nicht jetzt, nicht heute. Poetisiert Euch nicht, das ist Marketing für Buchverlage. Und glotzt nicht so romantisch, denn diese Romantik, die ihr meint, hat nichts mit Novalis‘ Fragmenten zu tun. Aber die Kampflieder gehen ebensowenig: Vorwärts und nicht vergessen. Unvergeßlich – nur eben: heute Geschichte und fürs Museum der Arbeit. Unbeweglichkeitsposen. Dem Morgenrot entgegen. Gute alte Zeit, „altes Linnen!“ (S. Beckett). „‚Dich behalte ich.‘ Er nähert das Taschentuch seinem Gesicht, bedeckt sein Gesicht mit dem Taschentuch, läßt die Hände auf die Armlehnen sinken und bewegt sich nicht mehr.“

Obwohl das Politische im Ästhetischen schon lange ins Belanglose gekippt ist, darin Gesinnungsgemeinschaften bedient werden, bleibt ein Stück wie Brechts „Die Maßnahme“ insofern interessant, weil es die Verheerungen des Stalinismus wie auch die Möglichkeiten der Propaganda zeigt, wenn man es in der Inszenierung zuspitzt. Jener Klassenkampf, der einst notwendig war, der in die Repression kippte und in den Terror. Auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Die, die den Boden für Freundlichkeit bereiten wollten, konnten selbst nicht freundlich sein. Tücke der Geschichte. Vielleicht aber haben gegenüber dem unmittelbar Engagierten „Vorwärts -nieder“ solche Zeilen Bestand, die ins Grundsätzliche gehen, sozusagen historischer Ontologismus mit liquider Tendenz als Geschichtshoffnung

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne
Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Ich weiß es nicht. Ich glaube nur sehr bedingt ans Lehrgedicht und auch der Tag hat eben am Ende doch nur zwölf Stunden und im Winter deutlich weniger. Wirken solche politischen Parabeln heute noch? Und vor allem: bestehen sie in ihrer Konstruktion? Der politische Brecht ist genau in den Passagen gut, wo er den historischen Materialismus nicht bloß vulgär nimmt – Adorno hielt ihm dieses Simplifizieren des Komplexen vor; insbesondere in seiner Kritik an Benjamins Baudelaire-Text warnte er davor, das Basis-Überbau-Phänomen unidirektional einfach in jenem brechtschen Vulgärmaterialismus zu fassen. Denn der Weltgeist ist ein Trickser. Das eben ist die „List der Vernunft“. Brecht ist dort gut und wirkt ästhetisch, wo er im epischen Theater unsere Rezeptionsweisen befragt, wo er unsere Auffassungen erschüttert und die Art, wie wir Welt wahrnehmen, bei den Hörnern packt: Als Schock. Was freilich nicht bloß auf die Seite der Wirkung zu buchen ist, sondern zunächst als ästhetische Konstruktion und als Arbeit am Material im Text selbst auszuloten ist.

Alle jene Theater-Inszenierungen, bis heute hin, die postdramatisch die vierte Wand aufbrechen, – sei das als Publikumsbeschimpfung oder in anderen Varianten des Bezugs – sind insofern Ahnen von Brecht, als sie mit einer Verfremdung arbeiten, die den Zuschauer direkt anspricht, wenn nicht bepöbelt. Insbesondere ist Frank Castorf Brechts großer Erbe. Er allerdings brach diese Wand manchmal bloß durch ganz simple, aber geniale Effekte auf: der Einsatz von Kartoffelsalat genügte, und eine Rutschbühne mit Gleitgel reichte aus, was Zurufe aus dem Publikum provozierte. Oder unendlich gedehntes Sprechen, daß es die Zuschauer veranlasste, in den Saal zu rufen, wann dieses Zeitgeschiebe endlich aufhöre. So in Ibsens „Die Frau vom Meer“, in der Szene als Hauslehrer Arnholm (Herbert Fritsch) der Bolette (Kathrin Angerer) einen Heiratsantrag machte. Was in fünf Minuten gesagt und getan wäre, zog sich eine halbe Stunde. Im Publikum rief es: „Mach schneller!“, worauf Arnholm/Fritsch nur trocken entgegnete: „Jetzt habe ich meinen Text vergessen, jetzt muß ich nochmal von vorne anfangen!“

Wie aber geht solches (politische) Theater? Castorf ist da politisch, wo er politisch schweigt und die Zeit unendlich dehnt. Adornos Brecht-Kritik am „Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui“, wie er sie in den „Minima Moralia“ und auch in seinem Essay „Engagement“ formuliert, ist nicht ganz von der Hand zu weisen:

„Die politische Ökonomie jedoch, deren Darstellung sie sich statt dessen zur Aufgabe setzt, ist unverändert im Prinzip, doch in jedem ihrer Momente so differenziert und fortgeschritten, daß sie der schematischen Parabel sich entzieht. Vorgänge innerhalb der großen Industrie als solche zwischen gaunerhaften Gemüsehändlern zu präsentieren, reicht eben aus für den schnell verbrauchten Schock, nicht aber für die dialektische Dramatik. Die Illustration des späten Kapitalismus durch Bilder aus dem agraren oder kriminalistischen Vorstellungsschatz läßt nicht das Unwesen der heutigen Gesellschaft aus seiner Vermummung durch komplizierte Phänomene rein hervortreten. Sondern die Unbesorgtheit um die Phänomene, die selber aus dem Wesen zu entfalten wären, entstellt das Wesen. Sie interpretiert die Machtübernahme durch die Größten harmlos als Machination von Rackets außerhalb der Gesellschaft, nicht als das Zusichselbstkommen der Gesellschaft an sich. Die Undarstellbarkeit des Faschismus aber rührt daher, daß es in ihm so wenig wie in seiner Betrachtung Freiheit des Subjekts mehr gibt. Vollendete Unfreiheit läßt sich erkennen, nicht darstellen. Wo in politischen Erzählungen heute Freiheit als Motiv vorkommt, wie beim Lob heroischen Widerstands, hat es das Beschämende der ohnmächtigen Versicherung. Der Ausgang wirkt allemal als durch die große Politik vorgezeichnet, und Freiheit selber tritt ideologisch, als Rede über Freiheit, mit stereotypen Deklamationen, nicht in menschlich kommensurablen Handlungen hervor. Kunst läßt nach der Auslöschung des Subjekts am wenigsten durch dessen Ausstopfung sich retten, und das Objekt, das heute ihrer allein würdig wäre, das reine Unmenschliche, entzieht sich ihr zugleich durch Unmaß und Unmenschlichkeit.“ (Adorno, Minima Moralia, Staatsaktion.)

Brecht scheitert an solchen Stellen, wenn man den Maßstab Adornos anlegt und in der Kategorie Beckett denkt. Ähnliches bei „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“: Tendenztexte, die man allenfalls aus ihrer Zeit heraus verstehen kann, die Kämpfe jener Jahre, und was bei mir unter die Rubrik „Parolenkunst“ fällt. Andererseits hängen Theatertexte immer an ihren Inszenierungen. Doch selbst in der genialen Ui-Inszenierung von Heiner Müller, 1995 am Berliner Ensemble, bleibt es bei dem, was Adorno den Effekt, den schnell verbrauchten  Schock nennt – hier nur eben in Humor transformiert: die Weltgeschichte als Komödie. Martin Wuttke spielt diesen Arturo Ui genial-komisch und übertragen auf die Diktatoren dieser Welt liefert das Stück auch heute noch eine Anschauung. Doch aus dem Abstand der Zeit löst sich das geschichtsphilosophische Drama in Geschichte und Komik auf – einer Geschichte, der das historische Subjekt abhanden kam. Für das freilich, was wir den autonomen Kern des Kunstwerkes nennen, für das Gesetz seines Gemachtseins richtete dieses Engagement samt politischer Parole Schaden an. Das reicht bis heute, wo es im identitären Theater agitpropt.

Doch Brecht schrieb auch solche Zeilen, die ironisch und doch ganz unironisch ins Mark treffen: „Vom armen B.B.“, für uns Großstadtbewohner, im harten Ich-Ton, und wie das Gewirr und die Annehmlichkeiten der Großstadt mit der Kühle der Modernen nachhallen und jener Ich-Distanz. Birth of the cool:

Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein
Als ich in ihrem Leib lag. Und die Kälte der Wälder
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.

In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang
Versehen mit jedem Sterbsakrament:
Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein.
Mißtrauisch und faul und zufrieden am End.

Solche Brecht-Texte funktionieren. Und zwar weil sie das Subjektive, gleichsam eine Befindlichkeit, in ein Allgemeines aufheben und in eine Geschichte bringen. Jenes Ich, das das des Dichters ist, in der Vergänglichkeit der Städte und der Menschen, diesem Sound nachspürend.

Beim politischen Brecht freilich ist dieses Besondere der Dichtung vor allem in der gesungenen Version der Fall, also als Lied, Lyrics gleichsam, weil Rhythmus, Klang und Ton die Lyrik zuspitzen. Auch solche engagierte Dichtung wie die „Lied von der belebenden Wirkung des Geldes“ halten und bleiben – noch im Lauf der Zeit, was aber zugleich bedeutet, daß sie ins Refugium des Klassikers rutschen, sich entschärfen zum behäbigen Vortragsabend mit Stimmung, wenn man den Gehalt nicht reaktualisiert. Brecht ist immer wieder neu zu singen – das ist die Herausforderung. Mann bleibt Mann oder von der belebenden Wirkung des Geldes:

Die Frage dabei ist eben nur, wie man es macht und ob es überhaupt einen Sinn hat, das, was lange Geschichte ist, zu reaktualisieren. Sicherlich gibt es bei Brecht immer noch jene Lyrik-Prosa (oder prosaische Lyrik), im Exil geschrieben, die uns heute noch einsichtig ist, im Blick auf den Verkauf von Kultur als Waren das, was Adorno/Horkheimer Kulturindustrie nannten und was Brecht in wenigen Zeilen in eine Anschauung bringt:

HOLLYWOOD
Jeden Morgen mein Brot verdienen
Geh ich auf den Markt, wo Lügen gekauft werden.
Hoffnungsvoll
Reihe ich mich ein zwischen die Verkäufer.

HOLLYWOOD-ELEGIE
Die Engel von Los Angeles
Sind müde vom Lächeln. Am Abend
Kaufen sie hinter den Obstmärkten
Verzweifelt kleine Fläschen
Mit Geschlechtsgeruch.

Ist bei Brecht das Politische bleibend? Oder nicht vielleicht doch eher seine Liebesgedichte (denn die Liebe hört nimmer auf; die Geschichte freilich auch nicht), seine Gedichte zur Natur, zu Landschaften und Städten und zu den Menschen darin: sie gehören zu den liebsten mir. Oder jene kleine Dichtung, jene spezifischen Szenen in den „Buckower Elegien“, wenn in einem kleinen Bild sich ein Ganzes verdichtet. Und wenn ein Reisender das kleine und schöne Brecht-Haus in Buckow besucht, versteht er vielleicht ein wenig besser diese Elegien: der Blick auf den See, das Spazieren in den Wäldern, die Scherbe eines Tonkruges, die wir beim Spazieren ums Brecht-Haus fanden. Und dann natürlich eines der frühen Gedichte von Brecht. Die „Erinnerung an die Marie A“ gehört zu den schönsten Gedichten, die das Phänomen „Zeit“ ins private Moment setzen und die Bedeutung von Natur mit dazu. Wie sich ein Augenblick an einen Fetzen Himmel zu knüpfen vermag, eine Wolke, die im nächsten Moment schwindet, wie all die schönen Augenblicke. Vielleicht im Sommer vor dem Schinkel-Casino am Jungfernsee, abends beim verbotenen Picknick auf der Wiese. Mit dem Blick durch die Pergola, hinüber auf die Heilandskirche am Port von Sacrow, wo im Jungerfensee die Sonne absinkt. Vergänglichkeit und das Erinnern an eine längst vergangene Zeit.

Man kann es aber auch ganz anders und viel weniger in dieser melancholischen Erinnerungsfuge dichten und sagen, nämlich als eine Art von Harmonie im Zusammenschwingen, wie in Brechts Gedicht „Die Liebenden“:

Seht jene Kraniche in großem Bogen!
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon als sie entflogen
Aus einem Leben in ein anderes Leben.
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.
Daß so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
Daß also keines länger hier verweile
Und keines anderes sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen:
So mag der Wind sie in das Nichts entführen.
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
So lange kann sie beide nichts berühren
So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
So unter Sonn und Monds verschiedenen Scheiben
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
Wohin ihr? – Nirgend hin. Von wem davon? – Von allen.
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem. – Und wann werden sie sich trennen? – Bald.
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.

Auch das eben ist Brecht und doch gehören der politische Brecht, der kalte Brecht, der (post)expressionistische Brecht, der Brecht der Liebesdichtung, der Brecht der Lehrstücke in ihrer Weise zusammen und genau dieser Bogen macht die Größe von Brechts Dichtung aus. Bis heute.

Zum Tod von Jeff Beck und Tatjana Patitz

Daß sich Fetisch und Teetisch reimen, ist ein Zufall der deutschen Sprache – Gottfried Benn hat es in einem Gedicht fruchtbar gemacht.

Fetisch und Gitarrenhals reimen sich leider nicht. Eine meiner Lieblingsszenen – Lieblingsszene eben weil: vielsagend – in Antonionis „Blow up“ ist es, als der Photograph Thomas in ein Konzert der Yardbirds gerät – wunderbar das London der 1960er Jahre eingefangen, mit den bunten, nein, buntbraven Leuten (ein einziger Schwarzer, die Kamera streicht das heraus, indem sie beim Schweif durch die Menge für eine Millisekunde innehält), die diese neue, wilde Musik hören, und wie dann in Wut und Ekstase oder inszenierter Ekstase der Gitarrist Jeff Beck sein Instrument zerlegt, zerhackt und zerkloppt, weil es Rückkopplungen und Verzerrungen erzeugt, zum Rock gehört eben auch die gestörte Elektronik, Beck zerrt und zieht an der zerstampften Gitarre und wirft dann den Gitarrenhals in die Menge. Die hysterische Gruppe der Fans rauft sich um diesen Gitarrenhals des Stars.

Wer den Hals aber erwischt, ist der Photograph Thomas. Er entflieht mit diesem obskuren Objekt der Begierde, während eine Horde Fetischisten ihm nacheilt. Auf dem Straßengeschehen eines modernen Londons jedoch wirft Thomas den Gitarrenhals weg. Er ist nutzlos geworden, er ist kein Fetisch mehr, sondern ein gewöhnlicher Gitarrenhals, von einer kaputten Gitarre, wie es sie überall gibt. Keiner der vorbeieilenden Passanten würde diesen Gitarrenhals als bedeutungsvolles Objekt, als Fetisch gar, als den Gitarrenhals von Jeff Beck, dem Gitarristen der Yardbirds erkennen. Ich habe diesen großartigen Film wohl 1983 oder 1984 erst im Fernsehen und dann im Kino gesehen. Und dann immer wieder.

Jeff Beck war natürlich nicht nur (Neben)Akteur in einem hochgenialen Film, der das London der 1960er Jahre, die Welt von Illusion, Glamour, Drogen, Fragen der Wahrnehmung und der Abbildbarkeit von Realität in Medien zum Thema hatte – seltsam, daß fast zeitgleich mit Beck das mir immer sehr liebe und wunderbare Modell Tatjana Patitz gestorben ist -, aber diese Yardbird-Szene ist mir als eine der eindringlichsten in Erinnerung geblieben – von denen „Blow up“ freilich viele hat. Erst durch „Blow up“ stieß ich überhaupt auf die Yardbirds und erstand mir dann ihre Platten – damals gab es noch Schallplatten, teils auch als Fetischobjekte, gehortet von machen. Und auch pflegte ich den Habitus, eine weiße Hose und hellblaue Hemden zu tragen, kombiniert freilich mit einer schwarzen Lederjacke, die oberhalb der Hüften bzw. etwa auf Hüfthöhe endet. (Zum Leidwesen jener Diva, einer gewissen Dame, die das als gockelhafte Allüren abtat und die schwarze Lederjacke eine Stasijacke nannte, weil eben bei den Stasis damals in der DDR viele der Firma-Bediensteten solche Lederjacken trugen. Ich für meinen Teil kann im Leben der anderen nur sagen: wir trugen mittelbraune Lederjacken, als ich noch Oberleutnant Jäger war.)

Leider weiß ich ansonsten von Jeff Beck nicht allzu viel. Nur eben, daß manche sagen, er sei ein guter, wenn nicht einer der besten Gitarristen.

Von Tatjana Patitz läßt sich sagen, daß ich sie in den 1990ern sehr mochte, sie war eines meiner Lieblingsmodels, wenn sie auf einem Cover oder mit einer Photostrecke erschien, in jenen Jahren der großen Photomodels auf den Laufstegen und in den Magazinen: ich sah auf Photographien gerne Patitz‘ besonderen Ausdruck, ihre Art zu posieren und Haltungen einzunehmen. 1993 schaffte Tatjana Patitz es sogar aufs Cover der Kunstzeitschrift „Parkett“. (Die leider 2017 eingestellt wurde.) Die Zeitschrift mit ihrem Bild bekam ich, vermutlich ob meiner Schwärmereien, von einer Freundin zu Weihnachten 1993 geschenkt, auch jene Freundin war sehr blond und auch sehr schön – zumindest in meinen Augen. Auch sie fand, daß Tatjana Patitz eine besondere Aura umgab.

Karl Kraus hat in bezug aufs Besetzen von Objekten und Menschen in der „Fackel“ einen schönen Satz in seinen Nachtgedanken und in die Nacht hinein geschrieben:

„Liebe und Kunst umarmen nicht was schön ist, sondern was eben dadurch schön wird.“

Theologie goes Kritische Theorie: Benedikt XVI. (†)

Heute, zur Trauerfeier für Papst Bendikt XVI., werden viele Menschen Kerzen entzünden und eines einen herausragenden Theologen gedenken. Bendikt XVI. hielt 2011 im Deutschen Bundestag eine beeindruckende Rede. Aus einem christlichen und philosophischen Ethos heraus sprach dieser Papst und dies über die Forderungen des Tages hinaus zur Menschenwürde und dem Verhältnis von Natur und Mensch und ebenso lieferte er eine Kritik des Positivismus und eines rein funktionalen Verständnisses von Natur. Aus einer biblischen Geschichte des Alten Testaments wird ein philosphisches Problem der Moderne:

„Im ersten Buch der Könige wird erzählt, daß Gott dem jungen König Salomon bei seiner Thronbesteigung eine Bitte freistellte. Was wird sich der junge Herrscher in diesem wichtigen Augenblick erbitten? Erfolg – Reichtum – langes Leben – Vernichtung der Feinde? Nicht um diese Dinge bittet er. Er bittet: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht“ (1 Kön 3,9). Die Bibel will uns mit dieser Erzählung sagen, worauf es für einen Politiker letztlich ankommen muß. Sein letzter Maßstab und der Grund für seine Arbeit als Politiker darf nicht der Erfolg und schon gar nicht materieller Gewinn sein. Die Politik muß Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Friede schaffen. […] „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“, hat der heilige Augustinus einmal gesagt. Wir Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung, daß diese Worte nicht ein leeres Schreckgespenst sind. Wir haben erlebt, daß Macht von Recht getrennt wurde, daß Macht gegen Recht stand, das Recht zertreten hat und daß der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde – zu einer sehr gut organisierten Räuberbande, die die ganze Welt bedrohen und an den Rand des Abgrunds treiben konnte. Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren ist und bleibt die grundlegende Aufgabe des Politikers. In einer historischen Stunde, in der dem Menschen Macht zugefallen ist, die bisher nicht vorstellbar war, wird diese Aufgabe besonders dringlich. Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen. Wie erkennen wir, was recht ist? Wie können wir zwischen Gut und Böse, zwischen wahrem Recht und Scheinrecht unterscheiden? Die salomonische Bitte bleibt die entscheidende Frage, vor der der Politiker und die Politik auch heute stehen.

[…]

Wie erkennt man, was recht ist? In der Geschichte sind Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden: Vom Blick auf die Gottheit her wird entschieden, was unter Menschen rechtens ist. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben. Es hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt. Die christlichen Theologen haben sich damit einer philosophischen und juristischen Bewegung angeschlossen, die sich seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. gebildet hatte. In der ersten Hälfte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts kam es zu einer Begegnung zwischen dem von stoischen Philosophen entwickelten sozialen Naturrecht und verantwortlichen Lehrern des römischen Rechts. In dieser Berührung ist die abendländische Rechtskultur geboren worden, die für die Rechtskultur der Menschheit von entscheidender Bedeutung war und ist. Von dieser vorchristlichen Verbindung von Recht und Philosophie geht der Weg über das christliche Mittelalter in die Rechtsentfaltung der Aufklärungszeit bis hin zur Erklärung der Menschenrechte und bis zu unserem deutschen Grundgesetz, mit dem sich unser Volk 1949 zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekannt hat.

Für die Entwicklung des Rechts und für die Entwicklung der Humanität war es entscheidend, daß sich die christlichen Theologen gegen das vom Götterglauben geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie gestellt, Vernunft und Natur in ihrem Zueinander als die für alle gültige Rechtsquelle anerkannt haben. Diesen Entscheid hatte schon Paulus im Brief an die Römer vollzogen, wenn er sagt: „Wenn Heiden, die das Gesetz (die Tora Israels) nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie… sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, daß ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab…“ (Röm 2,14f). Hier erscheinen die beiden Grundbegriffe Natur und Gewissen, wobei Gewissen nichts anderes ist als das hörende Herz Salomons, als die der Sprache des Seins geöffnete Vernunft.

Wenn damit bis in die Zeit der Aufklärung, der Menschenrechtserklärung nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Gestaltung unseres Grundgesetzes die Frage nach den Grundlagen der Gesetzgebung geklärt schien, so hat sich im letzten halben Jahrhundert eine dramatische Veränderung der Situation zugetragen. Der Gedanke des Naturrechts gilt heute als eine katholische Sonderlehre, über die außerhalb des katholischen Raums zu diskutieren nicht lohnen würde, so daß man sich schon beinahe schämt, das Wort überhaupt zu erwähnen. Ich möchte kurz andeuten, wieso diese Situation entstanden ist. Grundlegend ist zunächst die These, daß zwischen Sein und Sollen ein unüberbrückbarer Graben bestehe. Aus Sein könne kein Sollen folgen, weil es sich da um zwei völlig verschiedene Bereiche handle. Der Grund dafür ist das inzwischen fast allgemein angenommene positivistische Verständnis von Natur und Vernunft. Wenn man die Natur – mit den Worten von H. Kelsen – als „ein Aggregat von als Ursache und Wirkung miteinander verbundenen Seinstatsachen“ ansieht, dann kann aus ihr in der Tat keine irgendwie geartete ethische Weisung hervorgehen. Ein positivistischer Naturbegriff, der die Natur rein funktional versteht, so wie die Naturwissenschaft sie erklärt, kann keine Brücke zu Ethos und Recht herstellen, sondern wiederum nur funktionale Antworten hervorrufen. Das gleiche gilt aber auch für die Vernunft in einem positivistischen, weithin als allein wissenschaftlich angesehenen Verständnis. Was nicht verifizierbar oder falsifizierbar ist, gehört danach nicht in den Bereich der Vernunft im strengen Sinn. Deshalb müssen Ethos und Religion dem Raum des Subjektiven zugewiesen werden und fallen aus dem Bereich der Vernunft im strengen Sinn des Wortes heraus. Wo die alleinige Herrschaft der positivistischen Vernunft gilt – und das ist in unserem öffentlichen Bewußtsein weithin der Fall –, da sind die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt. Dies ist eine dramatische Situation, die alle angeht und über die eine öffentliche Diskussion notwendig ist, zu der dringend einzuladen eine wesentliche Absicht dieser Rede ist.

Das positivistische Konzept von Natur und Vernunft, die positivistische Weltsicht als Ganzes ist ein großartiger Teil menschlichen Erkennens und menschlichen Könnens, auf die wir keinesfalls verzichten dürfen. Aber es ist nicht selbst als Ganzes eine dem Menschsein in seiner Weite entsprechende und genügende Kultur. Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja sie bedroht seine Menschlichkeit. Ich sage das gerade im Hinblick auf Europa, in dem weite Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame Kultur und als gemeinsame Grundlage für die Rechtsbildung anzuerkennen, alle übrigen Einsichten und Werte unserer Kultur in den Status einer Subkultur verwiesen und damit Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt und zugleich extremistische und radikale Strömungen herausgefordert werden. Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen, daß wir in dieser selbstgemachten Welt im stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.

Aber wie geht das? Wie finden wir in die Weite, ins Ganze? Wie kann die Vernunft wieder ihre Größe finden, ohne ins Irrationale abzugleiten? Wie kann die Natur wieder in ihrer wahren Tiefe, in ihrem Anspruch und mit ihrer Weisung erscheinen? Ich erinnere an einen Vorgang in der jüngeren politischen Geschichte, in der Hoffnung, nicht allzusehr mißverstanden zu werden und nicht zu viele einseitige Polemiken hervorzurufen. Ich würde sagen, daß das Auftreten der ökologischen Bewegung in der deutschen Politik seit den 70er Jahren zwar wohl nicht Fenster aufgerissen hat, aber ein Schrei nach frischer Luft gewesen ist und bleibt, den man nicht überhören darf und nicht beiseite schieben kann, weil man zu viel Irrationales darin findet. Jungen Menschen war bewußt geworden, daß irgend etwas in unserem Umgang mit der Natur nicht stimmt. Daß Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern daß die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen müssen. Es ist wohl klar, daß ich hier nicht Propaganda für eine bestimmte politische Partei mache – nichts liegt mir ferner als dies. Wenn in unserem Umgang mit der Wirklichkeit etwas nicht stimmt, dann müssen wir alle ernstlich über das Ganze nachdenken und sind alle auf die Frage nach den Grundlagen unserer Kultur überhaupt verwiesen. Erlauben Sie mir, bitte, daß ich noch einen Augenblick bei diesem Punkt bleibe. Die Bedeutung der Ökologie ist inzwischen unbestritten. Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend antworten. Ich möchte aber nachdrücklich einen Punkt noch ansprechen, der nach wie vor weitgehend ausgeklammert wird: Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muß und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.

An dieser Stelle müßte uns das kulturelle Erbe Europas zu Hilfe kommen. Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben. Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewußtsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.

Dem jungen König Salomon ist in der Stunde seiner Amtsübernahme eine Bitte freigestellt worden. Wie wäre es, wenn uns, den Gesetzgebern von heute, eine Bitte freigestellt wäre? Was würden wir erbitten? Ich denke, auch heute könnten wir letztlich nichts anderes wünschen als ein hörendes Herz – die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden.“

Einige dieser Sätze könnten ebenso aus einem Essay Kritischer Theorie stammen, wenn es um den Machbarkeitswahn geht. Theologie goes Adorno, goes Benjamin. Politik ist nicht Intuition. Aber sie hat, wenn sie gelingen soll, manches mit der Phronesis zu tut.

Heute trauern wir um Benedikt XVI., auch ich, obgleich kein Katholik und doch durch meine Urgroßmutter einem seltsam kaschubischem Katholizismus nahe.

Verspäteter Nachtrag zum Tod von Hans Magnus Enzensberger

„Jede Migration führt zu Konflikten, unabhängig davon, wodurch sie ausgelöst wird, welche Absicht ihr zugrunde liegt, ob sie freiwillig oder unfreiwillig geschieht und welchen Umfang sie annimmt. Gruppenegoismus und Fremdenhaß sind anthropologische Konstanten, die jeder Begründung vorausgehen. Ihre universelle Verbreitung spricht dafür, daß sie älter sind als alle bekannten Gesellschaftsformen. Um sie einzudämmen, um dauernde Blutbäder zu vermeiden, um überhaupt ein Minimum von Austausch und Verkehr zwischen verschiedenen Clans, Stämmen, Ethnien zu ermöglichen, haben altertümliche Gesellschaften die Tabus und Rituale der Gastfreundschaft erfunden. Diese Vorkehrungen heben den Status des Fremden aber nicht auf. Sie schreiben ihn ganz im Gegenteil fest. Der Gast ist heilig, aber er darf nicht bleiben.

[…]

Je höher die Qualifikation der Einwanderer, desto weniger Vorbehalte begegnen ihnen. Der indische Astrophysiker, der chinesische Stararchitekt, der schwarzafrikanische Nobelpreisträger – sie sind überall auf der Welt willkommen. […] Dem Sultan von Brunei hat noch niemand seine Hautfarbe übelgenommen. Wo die Konten stimmen, versiegt wie durch ein Wunder der Fremdenhaß.


Den Vogel schießen in dieser Hinsicht die Drogen- und Waffenhändler ab, zusammen mit den Bankiers, die ihr Geld waschen. Sie kennen keine Rassen mehr und sind über jeden Nationalismus erhaben. Vermutlich sind sie die einzigen auf der Welt, denen jedes Vorurteil fernliegt. Fremde sind um so fremder, je ärmer sie sind.

[…]

Wer seine Landsleute auffordert, alle Mühseligen und Beladenen der Welt eine Zuflucht zu bieten, womöglich unter Berufung auf kollektive Verbrechen, die von der Eroberung Amerikas bis zum Holocaust reichen, ohne Folgenkalkül, ohne politische und ökonomische Vermittlung, ohne Rücksicht auf die Realisierbarkeit eines solchen Vorhabens, macht sich unglaubwürdig und handlungsunfähig. Tiefgreifende gesellschaftliche Konflikte können nicht durch Predigten abgeschafft werden.“ (Hans Magnus Enzensberger, Die Große Wanderung. 33 Markierungen, in: Versuche über den Unfrieden, Berlin 2015)

***

Der Fliegende Robert

Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter! –,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draußen stürmt,
euern Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.

nach 1970
[Hans Magnus Enzensberger]


Zum Tod von Kristof Schreuf

Gestern erst las ich, nachdem ich von einer Reise aus Bambergs Nebelwelt, mit Hegels „Logik“ angereichert, zurückkehrte, daß der Musiker und Autor Kristof Schreuf tot ist. Er starb mit nur 59 Jahren. Ich mochte diese Art des Schreibens und Schreiens und Wisperns, diese Musik aus einer inzwischen anderen Zeit. Es hatten seine Lieder, die Melodien und Texte und die Art, wie Schreuf es sang, immer auch einen Hauch von Rio Reiser und Udo Lindenberg. Mit anderen Worten: diese Musik ruht auf einer guten Tradition, nämlich trotz englischsprachiger Präponderanz im Pop Deutsch zu singen, aber doch nicht die in Ton, Melodie und Rhythmus ruhigere Musik der Liedermacher zu spielen – wobei auch diese, wenn ich an Georg Kreisler, Walter Mossmann, den freilich auch lauten und wild singenden Wolf Biermann, Hannes Wader und den egozentrischen DKPler Franz Josef Degenhardt denke, eine für den deutschen Text wichtige Angelegenheit war und somit ihre Berechtigung besaß – auch politisch.

Der Pop von Schreuf jedoch war auf andere Weise politisch, derart wie es auch bei Rio Reiser geschah, aber angereichert um jenen Funken Hoffnungslosigkeit, daß es nie mehr so sein würde, wie in den utopischen Träumen von einer befreiten Gesellschaft angedacht, und dazu angereichert um ein Repertoire aus Fragment und den Versatzstücken des aus Frankreich in den 1980er Jahren in Deutschland in den Pop hereinbrechenden Poststrukturalismus im Geflecht von so unterschiedlichen Autoren wie Roland Barthes, Jacques Derrida und Michel Foucault: „Der Text ist meine Party“, so lautet die wohl vielfach zitierte und bekannte Zeile aus jenem Song „Party“. 1989 trat mit der Band „Kolossale Jugend“ – bereits in der Spätpunkphase – in Hamburg eine Band auf den Plan, die etwas machte, was es in dieser Art nicht gab, und was dann von Bands wie „Die Braut haut ins Auge“, „Tocotronic“, „Die Sterne“ und „Blumfeld“ in unterschiedlicher Weise weitergeführt wurde und was fürderhin unter dem Namen „Hamburger Schule“ firmierte. Tocotronic brachte dies 1995 in den halb ironisch, halb huldigenden Song „Ich bin neu in der Hamburger Schule“ auf den Punkt.

Immer auch war es bei Schreufs Musik die Kritik an Deutschland, einem nach der Wiedervereinigung erwachten neuen Deutschland, das nicht mehr die alte BRD war und vor dem viele Angst hatten – in meinern Augen schon damals allzu alarmistisch gedacht: als ob ein neues Großdeutschland entstünde, und unfair war diese Haltung auch gegenüber all jenen in der DDR, die für ihre Freiheit kämpften: eine Freiheit, die in Hamburg und anderswo im Westen in den Zentren des Politprotests wie selbstverständlich genommen wurde. Auch wenn ich gegenüber Schreufs Sicht politisch auf Distanz bleibe, trotzdem ich die Wut auf Deutschland nach den Gewaltauswüchsen jener Hooligans zur WM 1990 verstehen kann, jenem Vorlauf zu Rostock-Lichtenhagen, betrachtet man es ex post facto, so mischte sich diese Musik doch politisch und ästhetisch in einer neuen Form und in gelungener Weise, von Sound und Text her, in das Handgemenge ein. Aber Deutschland ist mehr als „Halt’s Maul, Deutschland!“ – auch wenn man diesen Slogan zugleich ironisch verstehen kann, bei einer Band, die auf Deutsch sang. Denn gerade in der Kritik an rechtsradikalen Verhältnissen ist man eben auch und zum Glück Deutschland – ein anderes Deutschland freilich. Und für dieses andere Deutschland, mit einer anderen Art von Pop-Musik, stand Schreuf ein.

Die Band „Kolossale Jugend“ war ein Teil von unserer Zeit in Hamburg. Und die Platte „Bourgeois with Guitar“ von 2010 bildet einen schönen melancholischen Abgesang auf eine Zeit, die mal war. Gerne hätte ich Schreufs Roman gelesen, den er zum ersten Mal 2003 in Klagenfurt vorstellte und der in Planung war und sich doch immer weiter aufschob. Es paßte wohl zu seiner Art des Schreibens als Scheitern: Niemals fertig zu werden. Manche Texte haben die Tendenz, ein Luftschloß zu bleiben, darin sich gemütlich oder auch verzweifelt wandeln läßt – als Möglichkeitssinn, daß der Autor irgendwann das perfekte und gelungene Werk schüfe: Werke, die keine Werke mehr sind. Oder es geschieht wie in Thomas Bernhards Roman „Beton“, darin der Protagonist von seiner großen und größten Studie zum Komponisten Mendelssohn Bartholdy fabuliert, bei der er jedoch nicht einmal über den ersten Satz hinausgekommen ist. Das Fragment im Kopf oder in der Schublade als Form der Moderne. Dennoch: gerne würde ich die Fragmente und die Texttrümmer von Schreuf lesen, die da im Digitalen oder in einer Schublade schlummern. Aber das wird nun nichts mehr. Aber vielleicht findet sich trotzdem ein Herausgeber, der die Notate ordnet und dann bringt.

Die Goldenen Zitronen haben auf ihrer Facebookseite einen seiner Songs, nämlich „Laufe blau“, zum Andenken gepostet. Doch es sind diese alten Zeiten leider auch vorbei und wir liegen in neuen, stehen in jener Zeitenwende, auch von der Musik her vermutlich. Und doch nimmt mancher immer wieder neue Anläufe und das ist gut so. Let there be rock! Und doch waren es diese guten, alten Hamburger Zeiten, die einen besonderen Ton, eine besondere Musik und ein besonderes Lebensgefühl schufen, das auf unterschiedliche Weise ästhetisch wie auch politisch, manchmal auch als bloße Lebenspose und sogar -posse umgesetzt wurde: mit Alkohol, Abende, die bis in den Morgen gingen, mit dem unendlichen Gespräch in jenen Kneipen, Cafés und Bars, zwischen „Sorgenbrecher“ und Café unter den Linden. Eine Jugend, Ende der 1980er, in der wir eigentlich schon lange keine Jugendlichen mehr waren.

Zum Tod von Jean-Luc Godard. Fragment und Lust: jene Kraft der Bilder

Einer der letzten großen Pioniere des Kinos, einer jener, die man mit Fug und Recht „Avantgarde“ nennen konnte, ist nun tot: Jean-Luc Godard. Ich habe seine Filme geschätzt und geliebt, egal ob jene „Geschichte(n) des Kinos“, ob den Gangster-und-Paris-Film „Außer Atem“ mit seiner atemlosen Kameratechnik und vor allem den heiter-kritisch-tragischen Film „Masculin-Feminin. Die Kinder von Marx und Coca Cola“ – zugleich auch ein wunderbarer Parisfilm, der das Flanieren und das Hocken in herrlichen Café uns zeigte. Godard gehörte zu den Regisseuren, die meinen Kinoblick maßgeblich prägten. „Die Verachtung“ habe ich wohl an die sieben oder acht Mal bereits gesehen: Allein wie die Kamera zum Anfang des Filmes die Haut Brigitte Bardots abfährt, ist großartiges Kino: Es war im übrigen dieses Repräsentieren, bei dem der Körper in diesem seltsam-roten, flackernden Licht nie ganz und nie im ganzen nackt zu sehen war, als eine Antwort auf den Produzenten Carlos Ponti gedacht. Er stellte als Maßgabe zur Finanzierung des Films auf, daß man die Haut der Bardot sehen müsse, wenn sie schon mitspiele. Godard löste dieses Problem auf eine ästhetische stimmige, gelungene und zugleich ansprechende Weise: Zeigen, ohne zu zeigen: es war die Haut, die Bardot war nackt, aber eben alles fragmentiert. Aber der Film ist eben auch viel mehr noch als eine Liebesgeschichte, die tragisch endet. Es ist eine kleine Geschichte des Kinos, vor allem der Produktionsbedingungen. Schön vor allem, wie Fritz Lang dort das Hölderlinwort über die Abwesenheit des Gottes spricht. Und vor allem die großartige Malaparte-Villa als Blickfang. Und natürlich und auf alle Fälle dieser wunderschöne, rote Alfa Romeo: Nomen est omen. Diese Mischung aus Ästhetischem im Sinne der Schönheit und einem Ästhetischen als Selbstreflexion des Kinos begeisterten mich bereits beim ersten Sehen, als ich irgendwie noch sehr jung war.

Allein die Musik setzte erhebliche Effekte und das Spiel mit Sprachen, Blicken, Begehren, Ästhetik und Geschichtsphilosophie und vor allem das, was wir immer auch im Kino uns wünschen: Das Begehren.

„Das Kino schafft für unseren Blick eine Welt, die auf unser Begehren zugeschnitten ist. Die Verachtung ist die Geschichte dieser Welt.“ (André Bazin in: Die Verachtung, Vorspann)

Eine Würdigung, die ich vor einigen Jahren zu Godards 88. Geburtstag schrieb, habe ich hier als Hommage ein wenig umgearbeitet

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Kino – das ist die große Täuschung der Sinne, und es ist die wunderbarste Lüge, sieht man einmal von geliebten oder begehrten Objekten ab, die wir assoziativ mit Bedeutungen aufladen – wir Fetischisten wissen, wovon wir sprechen. Bilder sagen: Es ist so. Bilder zeigen, daß es nicht so ist. Film ist ein inzwischen altes, etabliertes und nach wie vor komplexes Medium der Kunst, das wesentlich dazu beitrug, unsere Sehgewohnheiten und Wahrnehmungen aufzubrechen und sie im selben Zug auch wieder zu zementieren.

Film ist ein Medium, das nicht mehr nur im Kino seinen Ort besitzt, sondern inzwischen auch auf kleinen Bildschirmen, die wir bei uns zu Hause aufstellten. Denn es spielt eine bestimmte Sorte Film das Geld nicht mehr ein, wenn sie nur im klassischen Verleih gezeigt würde. David Lynchs skizzenhaftes Material zu „Mulholland Drive“ geriet so umfangreich und ausufernd, daß es selbst eine Fernseh-Serie wie „Twin Peaks“ übersteigt: mit immerhin 30 Folgen in zwei Staffeln. Kein Produzent ist bisher bereit gewesen, ein solches Film-Vorhaben „Mulholland Drive“ zu finanzieren, weder als Serie noch als Mehrteiler im Kino. So blieb nur eine Bilderauswahl übrig, ein Bildrest, welcher 2001 in die Lichtspielhäuser kam. Kino hat seine Tücken.

Kino ist nicht Film. Im Französischen existiert neben „film“ das wunderbare Wort „cinéma“. „Ich mache keine Filme, ich mache Kino“, so sagte Godard einmal.

Die erste Filmvorführung der Welt fand bekanntlich in der Antike in einem ungastlichen Hinterhofkino statt: in Platons Höhle. So erzählt es der Mythos, so erzählt es eine Schrift zum Staats- und Gemeinschaftswesen, die sich mit der Frage nach der Gerechtigkeit befaßt. Neorealismus? Wir nehmen Schatten wahr, wir mit der Leidenschaft wollen aber zugleich bessere beseelte Bilder, die wahren, die „richtigen“ Bilder. Wir gieren nach mehr und wir glauben zugleich. Der Aufstieg ist voller Mühe. Manche wollen die gewohnten Bilder, sie halten die Schatten fürs Wesentliche. Unerkannt, unbekannt. Und dahinter ist nichts, nichts, nichts. Nichts als das ewige Feuer: „Kalt modern und teuer“, wie Tocotronic auf ihrer LP „Schall und Wahn“ dichteten. Wie die wahre Welt zu einer Fabel wurde. Manche freilich wollen ein ganz anders Bild. Das Unerhörte wagen. Westwärts zu, Worstward ho: man kann auch in die Höhe fallen. Wie Lenz im Gebirg. Wir nehmen den für diesen Weg der Reinigung mühsamen Aufstieg in Kauf. Wir existieren inmitten von Bildern, die uns umgeben, wir existieren inmitten von Deutungsanforderungen: wie ein Bild zu lesen sei. Und wir glauben es kaum, aber der Meister solcher Bildfolgen ist nun tot. Er lebt und er lebt nicht mehr.

Die Geschichte des Films ist im selben Atemzug auch die Geschichte einer bequemen Verstumpfung. Sie erzählt von den Verschattungen und sie zeichnet uns die wunderbare Überblendung der Sinne. Gerne verheddern wir uns in der zerstreuten Rezeptionshaltung und wollen zugleich die radikale Aufklärung über die Welt – in Bild-Sequenzen, die keine Worte sind, wohl aber eine eigene Sprache, in Bild-/Tonspuren als lector in fabula arbeiten wir an den Verstrickungen. Diese Aspekte laufen in dieser Geschichte des Films wie auch in der seiner Wahrnehmung in paralleler Spur. Verzauberung und Lüge. Entgrenzte, verdichtete Wahrnehmung, Zauberbilder. Im Reich der Sinne und auf dem Gebiet der Anschauungen, für die uns noch die Begriffe fehlen, um zu kartographieren, wie auch die Konfektionsware von der Stange: sie alle tummeln sich im Reich des Bildes. Es gibt Filme, die sind sowohl für die Unterhaltung, aber genauso für den Diskurs des Theoretikers geschaffen: Chaplin und Hitchcock, Griffith und de Palma gehören etwa dazu. Dann wiederum existieren Filme, die übersteigen den kontemplativen, versunkenen Blick des Zuschauers und brechen das Auratische der Unterhaltung auf, wie seinerzeit jener Schnitt durchs Auge in Buñuels/Dalis „Ein Andalusische Hund“. Zu dieser Reihe exzeptioneller Werke gehören auch die Filme Jean-Luc Godards. Und zugleich auch nicht, wie uns sein 1960 gedrehtes Manifest „À bout de souffle“ lehrt.

Godards noch vor diesem ersten veröffentlichten Spielfilm gedrehtes Werk „Der kleine Soldat“ (ebenfalls 1960) bezeichnete er im Rückblick als faschistisch. Dies mag – auch im Rahmen des Politischen –, übertrieben erscheinen, zumal der Film für keine Seite Partei nimmt. Denn die algerische FLN und die französische Armee samt ihren Geheimdiensten standen sich in ihrer Brutalität in nichts nach. Diese strukturell so ähnliche Form der Gewalt vermerkt der Film lakonisch. Die landläufige Identifikation mit den Filmhelden allerdings fällt hier schwer. Es gibt nur kalte Charaktere. Allenfalls die Anspielungen auf Kunst, wenn von dem Protagonisten Bruno die Komponisten Bach und Beethoven oder der (freilich politische) Autor Louis Aragon genannt werden, mag als Relikt des bürgerlichen Ästhetizismus durchgehen. Im Laufe der (nicht immer glücklichen und klugen) Politisierung Godards erschien ihm dies im Rückblick womöglich als Schwäche. Das Revolutionäre bleibt in diesem Film Einsprengsel; es wird im Modus des Verweisens lediglich gestreift. Etwa wenn einer der arabischen Kombattanten in zwei kurzen Einblendungen die Schriften Maos liest. Darin gerade liegt die Stärke des Films: er nimmt nicht Partei und gerät gerade durch diese Enthaltung zur Parteinahme. Revolution im Film ohne Polit-Trara. Aber die Revolution ist am Ende eine der Bilder, eine des Sehens. Und das ist gut so.

Ästhetisch setzen „Der kleine Soldat“, vor allem aber „Außer Atem“ in der Anordnung von Montage und Mise en Scène neue Maßstäbe. Und bereits in diesem frühen Werk weist der Film auf sein eigenes Medium, wenn da in „Der kleine Soldat“ vom Protagonisten Bruno der Satz folgt: „Die Fotografie, das ist die Wahrheit. Kino, das ist die Wahrheit 24 Mal in der Sekunde.“ Einschuß der Bilder. Aber ist das die Wahrheit? Oder eben doch nur eine bestimmte Perspektivierung? Oder eben das, was der Filmkritiker André Bazin im Vorspann zu „Le Mepris“ sagt? Oder wenn in „Bande à part“ aus dem Jahr 1964 die Protagonisten durch das bürgerliche Louvre-Museum, durch den großen Saal laufen: auch das ist eine Referenz aufs Medium Bild und auf einen neuen ästhetischen Umgang mit jenen klassischen und überlieferten Bildern.

Ein ganz anderer Rhythmus, ein wilder Bildsound bestimmten mit einem Male das Genre Film, obwohl diese beiden frühen Werke Godards von der Story her klassische Sujets aufgriffen. „Der kleine Soldat“ entstammt dem Genre des Agentenfilms. Was den Plot beider Filme anbelangt, ist die primäre Quelle Hollywood: der klassische, düstere Kriminalfilm, wie in „Außer Atem“ – ohne Happy End, Film noir eben, aber technisch und in ihrer Form treiben diese beiden Filme weit über Hollywoods Standardware hinaus. Insbesondere „Außer Atem“ ist zwar eine Hommage, wie ja auch Truffaut und Wenders einer bestimmten Sorte des amerikanischen Kinos ihre Aufwartung darbrachten. Noch in der Anordnung der Szenen, wenn der Protagonist in „Außer Atem“ vor einem Bogart-Plakat sich vergleicht, an seiner Zigarette ziehend, oder wenn kurz der Schriftzug eines Filmplakates von Aldrich auftaucht, der für einen Augenblick zu lesen ist: „Gefährlich leben bis zum Schluß“, was wohl gut als Motto des Films fungieren kann, dann ist solches Verweisen Anspielung und Programm dieses Filmes. (Und auch die Lichtgestalt des Film-Noir, Jean-Pierre Melville kurz spielt mit.) Und doch verläßt „Außer Atem“ vermittels seiner Konstruktion die B-Movie-Ecke der Kriminalfilme als Konfektionsniveau. Darin kein kulturindustrielles Produkt, sondern Reflexion aufs eigene Medium.

Die Schnitte in „Außer Atem“ – so der von Godard erfundene Jump Cut – und die Kameraführung sind exzeptionell: rasant, ungewöhnlich, neu. Der Blick ist irritiert. Die Geburt eines anderen Kinos (aus dem Geist des aufkeimenden Pop). Während des Dialogs zwischen Michel (Jean Paul Belmondo) und Patrica (Jean Seberg) bei einer Autofahrt durch Paris: die Kamera ist immer seitlich von schräg hinten auf den Hinterkopf Patricias gerichtet, ihr kurzes blondes Haar im Blick, während Michel nicht zu sehen ist. Godard schrieb in seinem lesenswerten Buch „Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos“:

„Ich erinnere mich noch sehr gut, wie dieser berühmte Schnitt zustande kam, der heute immer in Werbefilmen verwendet wird. Wir haben uns alle Einstellungen vorgenommen und systematisch das geschnitten, was wegkonnte, uns dabei aber bemüht, einen Rhythmus einzuhalten. Zum Beispiel gab es da eine Sequenz mit Belmondo und Seberg im Auto – das war gedreht: eine Einstellung auf ihn, eine auf sie, sie antworten einander. Als wir zu dieser Sequenz kamen, die gekürzt werden mußte wie alle anderen auch, haben wir mit der Cutterin Kopf oder Zahl gespielt. Wir haben uns gesagt: Statt ein Stückchen bei ihm und ein Stückchen bei ihr zu kürzen und lauter kurze Einstellungen von beiden zu machen, kürzen wir vier Minuten, indem wir entweder ihn oder sie ganz rausnehmen, und dann schneidern wir einfach eins ans andere, als ob es eine einzige Einstellung wäre. Dann haben wir gelost um Belmondo und Seberg, und Seberg ist dringeblieben.“

Der Einsatz des Lichts (keine Kunstlicht) und die unkonventionelle Kameraführung, die Arbeit mit einer Handkamera nehmen das Dogma-Manifest von 1995 vorweg. Straßen- und Innenszenen wurden weitgehend ohne künstliche Ausleuchtung gedreht. Bei den (wenigen) Nachtszenen wurde ein hochempfindlicher Film verwendet. Das alles hat es in Filmen, die für ein breiteres Publikum gedacht waren, in dieser Form bisher nicht gegeben.

Wie die Kamera auf die Darsteller gerichtet ist und sie in den Blick nimmt, etwa wenn Michel durch das Hotel schreitet, das ist göttlich wie die Citroën Déesse, welche in manchen Einstellungen (leider kurz nur) zu betrachten sind:

„In der D.S. Steckt der Anfang einer neuen Phänomenologie der Zusammenpassung, als ob man von einer Welt der verschweißten Elemente zu einer solchen von nebeneinandergesetzten Elementen überginge, die allein durch die Kraft ihrer wunderbaren Form zusammenhalten, was die Vorstellung von einer weniger schwierig zu beherrschenden Natur wecken soll.“ (Roland Barthes, Mythen des Alltags)

Man kann sich am Blick der Kamera nicht sattsehen. „Außer Atem“ ist in diesem Sinne ein Titel, der zugleich auf unsere Reaktion beim Mitfiebern in Bildern weist. Er nennt, wie es uns beim Zuschauen ergeht. Aber dieses neue Verfahren, Schnitt und Szenen in eine veränderte Anordnung zu bringen, reicht über das bloß subjektive Moment heraus und hat sein Motiv in der Logik der Sache. Es ist keine bloße Gangstergeschichte, der Plot ist im Grunde nur Aufhänger und Köder. Godard wird dieses Montage-Verfahren weiter ausbauen – und insbesondere in seinen späteren Filmen gesellen sich jene Texteinblendungen dazu, die wesentlicher Bestandteil des Films sind.

Godards Filme sind mehr als Filme, es sind, neben dem Erzählen und dem Technischen, gleichzeitig theoretische Essays: verfilmte Filmgeschichte, aber solche vor allem, die den Bereich der bloßen Wissenschaft verlassen. Bei Godard gelingt auf wunderbare Weise die Selbstreferenz des Mediums, ohne dabei in staubtrockene Theorie abzugleiten, Spannung bricht nicht ab. Immerzu telefoniert Michel, beständig ist er in Bewegung und in Unruhe, um an Geld zu kommen. „Außer Atem“ ist, zumindest im Ansatz, bereits ein solcher Film über das Filmen. Die dem ersten Anschein nach seichte Geschichte mag zunächst darüber hinwegtäuschen. Der Plot von „Außer Atem“ ist freilich trivial, eine B-Movie-Gangstergeschichte: die letzten Tage eines kleinen Ganoven, der einen Polizisten erschoß, werden uns gezeigt. Das Außerordentliche dieses Films, sein Spezielles in der Komposition der Bilder erschließt sich insbesondere, wenn man das Remake von 1983, mit Richard Gere und Valérie Kaprisky als Kontrastmittel schaut: „Atemlos“. Es handelt sich bei diesem Stück um filmischen Dreck, Popscheiße, die auf den Geschmack eines breiten Publikums zugeschnitten ist. Allerdings taugt dieses Machwerk unbedingt als Anschauungsmaterial, was in einem Remake alles schiefgehen kann. Weshalb es zuweilen jedoch ganz gut ist, sich einen schlechten Film anzuschauen. Das Gute tritt umso stärker in den Blick.

Zudem: wer „Außer Atem“ nur als einen Film noir wahrnimmt, übersieht Wesentliches. Der Film ist zwar einerseits kinotypische Unterhaltung, aber über den Aspekt der Form bereits viel mehr. Deutlicher noch und verdichteter geschieht diese Selbstreferenz des Mediums dann in „Die Verachtung“, welchen man als den wohl klassischsten seiner Filme bezeichnen kann. Modern und avanciert, aber in den Bildern zugleich ruhig – eine italienisch-antike Aura umgibt diesen Film: das Licht des Südens.

Allerdings ist „Außer Atem“ ebenso ein Film, der den Klang von Paris einfängt. Aber ist dieses Paris noch jenes Ort der langsam verbleichenden 30er Jahre-Moderne, welche sich residual in die 50er Jahre rettete, die Sartresche Subjektmoderne als filmischer Mythos? Oder aber handelt es sich bereits um den Rhythmus einer ganz anderen Moderne, einer des (Post-)Strukturalismus, der Dekonstruktion von Wörtern und Bildern, wo diese in Auflösung sich befinden? Musikalisch wäre hier sicherlich an den Jazz anzuknüpfen. Kein Ausgang aus der Höhle, aber eine Referenz an die Schatten, ohne dabei aber in die Ausweglosigkeit zu gleiten, daß es kein Licht, keine Sonne gäbe.

Wenn die Photographie die Wahrheit ist und wenn das Kino die Wahrheit 24 Mal in der Sekunde bedeutet, dann heißt das für unsere Epoche, daß die Wahrheit sich beschleunigte. Und wir müssen in dieser Schnelligkeit – heute bürgerte sich dafür philosophisch der Begriff der Akzeleration ein – eine neue Art des Auffassens angewöhnen. Auch im Blick auf die Flut der Bilder aus dem Internet, die kommen und schnell wieder vergehen. Bahn verschafft sich diese Wahrheit jedoch, das bleibt festzuhalten, in einem illusionären Medium. Die Wahrheit nistet sozusagen in den Falten des Scheins. Diese Wahrheit gerät in den weiteren Filmen Godards zunehmend komplexer und sie wird politischer. So in „Masculin – Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca Cola“.

Godard machte ein Kino, das manchmal aufdringlich war, wenn es sich zu sehr politisierte und doch fand Godard im Sinne Brechtscher Verfremdung zugleich die Distanz, so daß diese Bilder eine ganz eigene Sprache, eine eigene Poesie entwickelten. Auch in ihrer Härte.

Queen Elisabeth II. †

Ich kann leider zur Queen nicht viel schreiben, weil ich das englische Königshaus zu wenig kenne: Was mir an ihr aber immer gefiel und was ich hoch achte, ist ihre Pflichterfüllung, ihre Disziplin und daß sie all diese Dinge, die für ein Staatswesen eben so anstehen, immer mit Würde getan hat. Genau das ist es, was ein Staatswesen braucht. Und wer einen derart herrlichen Gatten an seiner Seite hatte, wie HRH Prince Philip, Duke of Edinburgh, der muß unbedingt Sinn für einen sehr speziellen Humor haben. Es ist der Humor, den auch ich teile. Und ich bewundere es, daß es in der heutigen Zeit, in diesem letzten Jahrhundert und bis in dieses hinein noch Menschen gibt, die derart lange Zeit gemeinsam diesen Weg der Ehe gehen. Den Weg zu zweit – oder wie „Grauzone“ es sang: „Der Weg zu zweit ist halb so weit.“ Bei einer dertigen Paarung mag es wohl stimmen.

Very British eben, so lebte und so wirkte Queen Elizabeth und mit Very British und mit der tatkräftigen Untestützung von UK wird auch der Verteidigungskrieg gegen Rußland gewonnen werden. Mit Elizabeth II geht sicherlich eine Epoche zuende. Das alte 20. Jahrhundert ist wieder ein Stück mehr in die Ferne gerückt und eine Gestalt des Lebens grau geworden.

Es gibt Bilder, die sind ikonographisch. Diese Photographie ist eines dieser Bilder. Vom Aufbau, vom Antlitz her wirkt es wie ein Gemällde. Nur eben in der modernen Form: als Photographie. Ich liebe dieses Bild. Und vor allem: Queen Elizabeth II war eine hübsche Frau. Nun ist sie – so Gott es will – bei ihrem über alles geliebten Philip und darf über seine schwarzen Scherze lachen und lächeln. RIP.