Blick und Begehren – Schöneberg (2)

Photographien zu fertigen, die radikal das Sichtbare auslöschen, die eine Welt verfinstern, die eine Welt und ihre Szenen so zeigen, wie diese Welt und diese Szenen sich darstellen. Wie sie sind. Photographien erzeugen, die vom Verschwinden zeugen, wäre die Aufgabe. Photographien als radikale Destruktion. Bilder, die von der Grundfarbe schwarz gestochen sind, Bilder, die ins Lichtlose weisen. Weltecho aus Todesräumen und die als Bilder die Kälte als solche zeigen. Nicht mehr Archive, sondern deren Gegenteil. Das ist nicht mehr die Kälte einer Gesellschaft, sondern eine Kälte grundsätzlicher, metaphysischer Natur. Das Eis in den sogenannten Herzen soll nicht mittels Buch oder Kunst zerhackt und geschmolzen werden, wie es jenem tschechischen Dichter vorschwebte, sondern mittels Apparaten weit weit tiefer heruntergekühlt werden. Noch ohne den schönen Schein der flirrenden, in die Nachthimmel zuckenden Polarlichter sollen diese Photographien pur auftreten. Kalt. Schwärze, ohne Licht-Blitz. Nicht mehr dieses: Ein Blitz und dann die Nacht, was Baudelaire in jenem Gedicht an die, die vorüberging, in der Menge der Großstadt von Paris, beschwor. Als Imperativ des begehrenden, imaginierenden Ästhetikers, des echolalierenden Selbstbetrachters im Spiegelspiel des Flusses. Lautlos und ohne Ton, es gibt keine Stimmen, es gibt nur Bilder. Schwärze im Blick. Verliert nicht andererseits eine Photographie, die in die reine Abstraktion stößt, die diese Abstraktion ist als reines Sein (nicht gleitet, nicht hinübergeht, nicht: langsam die Grenzen auswischt oder neu bestimmt – das alles wäre etwas ganz und gar anderes) ihren Sinn? Die Photographie dokumentiert und inszeniert uns eine Welt, die mit unserer in irgend einer Weise korrespondiert. Im besten Falle laden sich Photographien mit Philosophie und Text auf, sind Zündungspunkte für die nie dagewesene Schwärze, fürs Licht, fürs grelle Weiß, die Farben und die Graustufen. Auch als jene Ascheszene, die der Maler in Becketts „Endspiel“ am Ende seines Betrachtens im Irrenhaus oder an einem dieser abgezirkelten Orte nur noch sah. Nichts als Asche und Grau. Er hatte es, so Hamm, als erster wahrgenommen. Justinesche Melancholia-Szenen. Dance macabre, Totentanz. Es müßten die letzten Szenen dieser Welt, kurz vor dem Einschlagpunkt des kalten Steins aus dem toten weiten Raum, den wir Weltenraum, All oder Kosmos nennen, abphotographiert werden. Dies wären Bilder, die noch schnell aufgenommen, dann aber von keinem Menschen mehr betrachtet werden können. Sie schlummern in den Datenspeichern oder zurrten als Polaroids in jenen letzten Sekunden aus der Kamera heraus, (denken Sie nur an die wunderbaren Rolleiflex-Mittelformatkameras mit hinten aufsetzbarem Polaroidteil), ohne daß es für dieses Bild noch einen Zuschauer gäbe, denn gleich darauf erfolgt der Einschlag. Es bleiben als Reste nicht einmal die Photographen, denn auch diese verbrennen in Hitze und Glut. Energie des Einschlags. Lars von Trier setzte diesen Treffer ins Bild. Den meisten ist diese Vorstellung unerträglich, und so setzt Verneinung und Verleugnung ein. Lieber preisen sie die Ringelblume. Bekanntlich ist das Schöne jedoch nichts als des Schrecklichen Anfang. Und wie der Pfeil die Sehne besteht, denn Bleiben ist nirgends. Das ist der Lockruf.

„Das Kino schafft für unseren Blick eine Welt, die auf unser Begehren zugeschnitten ist.“ So schreibt der französische Filmkritiker André Bazin, und Godard stellte dieses Zitat an den Anfang seines Films „Die Verachtung“. „Die Verachtung“ zeigt uns den Verlust einer bestimmten Welt. In gewissem Sinne konterkariert er also das Eingangszitat, schreibt es um. Denn der Blick der Liebenden ist am Ende nicht mehr aufs Begehren zugeschnitten.

Dieser Satz Bazins ist rätselhaft und schillernd in einem. Er läßt sich durchaus auch auf die Photographie übertragen und muß doch zugleich immer wieder unterlaufen, unterschritten, hintergangen und übertreten werden. Transgressionsanordnungen.

HAMM: Die Natur hat uns vergessen.
CLOV: Es gibt keine Natur mehr.
HAMM: Keine Natur mehr! Du übertreibst.

 Welch wunderbare Lakonie! Und welch subtiler Humor, für den leider nur die wenigsten empfänglich sind.

Die Logiken der Sammlung – All das köstliche Krebsfleisch!

Ich betrete das Museum für Völkerkunde in Dahlem, schlendere zunächst wie ein Spaziergänger zwischen den Objekten, um mich auf die Kontemplation einzustimmen. Museum ist Zen-Buddhismus für den Bewohner des Okzidents. Der Okzidentale wandelt sich im guten alten Museum zum beruhigten Bewohner der Innenwelt. Ich setze mich, bringe die Sinne zusammen. Vergeblich. Kinder turnen herum, sie machen Lärm, halten den Ort für einen besonderen Spielplatz. Solche Kinder-Besuche mögen museumspädagogisch wertvoll sein, dennoch bin ich der Meinung, daß quakende, quengelnde, unerzogene Kinder nicht ins Museum gehören. „Was wollen die hier?“, frage ich mich, aus der Ruhe gebracht und mit Zorn im Blick: auf die Kinder, die ja eigentlich nichts dafür können, und mehr noch auf die unerzogenen Eltern, und wenn ich mir das halbgebildete Gequatsche der Eltern anhöre, bestärkt es mich in der Ansicht Rousseaus, daß den meisten Eltern grundsätzlich die Kinder weggenommen gehören, weil: So kann man an den Kindern noch etwas Gutes tun. Aber ich habe keine Kinder, insofern ist es mir egal. Andererseits kenne ich Mütter, die wissen, wie man mit Kindern in einem Museum sich bewegt. (Nein, ich delegierte die Erziehung nicht an Frauen, jedoch kenne ich nun einmal mehr Frauen als Männer.) Aber der Halbbildungsbürger aus dem fernen Pankow (zugereiste Pankower, naturgemäß, keine einheimischen) schleppt seine Kinder ins Museum im fernen Dahlem. „Sophie-Charlotte, magst Du nicht ein wenig leiser sein? Ich meine natürlich, nur wenn du Lust hast.“ Natürlich mag Sophie-Charlotte keineswegs leiser sein. Und Philip-Anton ebensowenig. Nun hat sich Philip-Anton den Kopf an einer Vitrine gestoßen und schreit wie am Spieß. Hämisches Lachen klingt im Gang. Aber darüber wollte ich eigentlich gar nicht schreiben, doch wenn ich schon einmal dabei bin, kann ich’s ja erzählen.

Im Blick auf das ethnologische Museum in Dahlem ergibt sich die Frage nach dem Ordnungsprinzip einer solchen Sammlung. Wie werden die Exponate zusammengestellt, was erfahren wir über den Hintergrund der ausgestellten Dinge, auf welche Weise kamen sie ins Museum? Weshalb betrachten wir eine afrikanische Fetischfigur als Kunstwerk, während die, welche diese Figur in einem Ritual oder in einem andern Zusammenhang verwendeten, nie auf die Idee kämen, in diesem Objekt einen kontemplativen oder aber einen für die ästhetische Erfahrung geöffneten Gegenstand zu sehen? Es übt zwar einen großen Reiz aus, durch die Gänge dieses Museums zu schlendern, die zusammengetragenen Objekte zu betrachten. Aber das Wissen um die Hintergründe oder zumindest die Ahnung davon, verleiht der Betrachtung ein beklemmendes Gefühl. Die Objekte sind nach der Logik der Taxinomie geordnet (wenngleich dies eher ein Begriff der Naturwissenschaften und speziell der Biologie ist, um im Tierreich zu klassifizieren.) Michel Foucault zitiert in seinem Buch „Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften“ einen Text von Jorge Luis Borges, um das Fremde eines Ordnungsschemas aufzuzeigen, wenn wir es einmal von außen betrachten. Dieser Text von Borges zitiert eine „eine gewisse chinesische Enzyklopädie“:

„Die Tiere lassen sich wie folgt gruppieren:

a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppe gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, j) unzählbare, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, i) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von Weitem wie Fliegen aussehen.“ (J.L. Borges, Die analytische Sprache des John Wilkins, in: Gesammelte Werke, Essays 1952-1979)

 Genauso absurd wie diese Einteilung der Tiere mutet die Staffierung der ethnologischen Sammlungen an. Es läuft auf „unsere tausendjährige Handhabung des Gleichen und des Anderen“ hinaus, solche aus der Ferne betrachtete Taxinomie, wie sie Borges vorführt, ruft bei uns ein gewisses Erstaunen oder ein Schmunzeln hervor. Aber Fremde von einem anderen Kontinent würden die Ordnung der ethnologischen Sammlungen in Europa womöglich mit ebensolcher Verwunderung, und vielleicht auch mit ein wenig Ärger wahrnehmen, wenn sie an die Herkunft der Gegenstände und die Art ihrer „Besorgung“ denken.

Doch es gibt ebenfalls andere Arten zu sammeln, die in gewissem Sinne mit einer privaten Marotte zu tun haben. Es ist die Vielfältigkeit des Sammelns: Sammelleidenschaften, sich nach einem Schock sammeln (das gehört in einer bestimmten Weise ebenfalls zur Logik der Sammlung, einer introspektiven Sammlung allerdings), Dinge sammeln, in Alben, Kästen oder Vitrinen stellen, sie dort versiegeln. Der Sammler ist, je ausgefallener seine obskuren Objekte der Begierde sich darbieten, nach Walter Benjamin eine eigentümlich verschrobene, aus der Zeit geschleuderte Figur. Schrullig, wie es heute mache der Theaterfiguren von Marthaler in ihrer Versponnenheit und in ihrer verzögerten Wahrnehmung sind. Aber es zeigt sich in seiner Tätigkeit ein Moment von geschichtlicher Wahrheit. Denn der Sammler unterhält ein rätselhaftes Verhältnis zum Besitz, so Benjamin in seinem Text „Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln“. Er bemißt die Dinge nicht nach ihrem Funktionswert oder ihrem Nutzen, sondern er inszeniert sie in einer eigenen Weise als Schauplatz und Theater des subjektiven Blicks wie auch als Schicksal der Dinge.

„Es ist die tiefste Bezauberung eines Sammlers, das Einzelne in einen Bannkreis einzuschließen, in dem es, während der letzte Schauer – der Schauer des Erworbenwerdens – darüber hinausläuft, erstarrt. Alles Erinnerte, Gedachte, Bewußte wird Sockel, Rahmen, Postament, Verschluß seines Besitztums. Zeitalter, Landschaft, Handwerk, Besitzer, von denen es stammt – sie alle rücken für den wahren Sammler in jedem einzelnen seiner Besitztümer zu einer magischen Enzyklopädie zusammen, deren Inbegriff das Schicksal seines Gegenstandes ist. Hier also, auf diesem engen Felde läßt sich mutmaßen, wie die großen Physiognomiker – und Sammler sind Physiognomiker der Dingwelt – zu Schicksalsdeutern werden. [Hinweis Bersarin: Wogegen allerdings der Naturwissenschaftler und Aphoristiker G.Ch. Lichtenberg in bezug auf den Physiognomiker Lavater und seine Schrift „Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ in seiner Satire „Fragment von Schwänzen“ sich belustigte.] Man hat nur einen Sammler zu beobachten, wie er die Gegenstände seiner Vitrine handhabt. Kaum hält er sie in Händen, so scheint er inspiriert durch sie hindurch, in ihre Ferne zu schauen.“ (Walter Benjamin)

Daß diese Ferne das Auratische bezeichnet – die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nahe sie sein mag“ – wissen wir seit Benjamins Kunstwerkaufsatz. Mit dieser Ferne können, im Sinne Benjamins, sowohl Objekte der Kunst als auch Phänomene der Natur gemeint sein. Hier, inmitten der Sammlung, liegt das Auratische in einer Art Reise in die Ferne, nämlich dahin, wo einstmals diese Dinge ihren Ort hatten. Die gesammelten Objekte unterliegen insofern einer mehrfachen Betrachtung. Sie sind bevorzugte Gegenstände der Imagination (insbesondere beim Briefmarkensammeln gut zu beobachten), sie sind in der Welt diesseits der Sammlung Gebrauchsgegenstände gewesen, sie fungieren nun – gemäß einer Logik des Ausstellungswertes – einerseits als funktionslose Objekte, aber auch als Fetische, mit einem Blick belegt, der diese Objekte aus ihrem Zusammenhang entrückt. Die Gegenstände zeugen von etwas, von dem der Betrachter ohne Kontextwissen oft nichts ahnt. Das unterscheidet solche gesammelten und dann aus dem Kontext gerissenen Gegenstände nicht von den Objekten der ethnologischen Sammlung – wenngleich hinter letzterer ein bestimmtes Dispositiv der Macht und ein gesellschaftliches Schema der Ordnung steht.

Daß solchen Objekten ein gewisser Kultwert anklebt, zeigen diverse Sammlungen. Bibliotheken, wie Benjamin sie beschreibt, Münz- oder Käfersammlungen oder zusammengetragene Fan-Objekte einer Pop-Band, wie in Berlin im Ramones-Museum gezeigt; oder überhaupt Schallplattensammlungen, wenn unter Freunden die Trophäen präsentiert werden: hier eine Erstpressung in gelbem Vinyl, da eine Ausgabe, die nur in Japan auf den Markt kam usw.

Der Blick in die Ferne scheint mir am schönsten in den Regionen des Meeres möglich: Als Kinder sammelten wir am Meer Muscheln, meine Schwester fing Taschenkrebse, mit denen sie zur Freude der übrigen Kinder ein Wettrennen auf der Strandpromenade veranstalte, sie ließ von den übrigen Kindern auf die Krebse wetten und sammelte dafür allerlei Kindertand oder kleine Münzen ein. Ich hielt mich von der Vielzahl der Kinder und Menschen fern, sammelte Seesterne, Muscheln, Steine und Geäst im Wasser. Ich trocknete diese Seesterne am Strand oder in den Dünen, wo es hitzig und windstill war, in der Sonne. Doch diese getrockneten Seesterne stanken nach einiger Zeit in der „Pension Jansen“ erbärmlich und erweckten nicht nur den Argwohn der Pensionswirtin, sondern auch den der Eltern. Nicht die Verheißung des Meeres blieb in getrockneter Gestalt, als Form bewahrt, zurück, sondern ein widerlicher Geruch, so daß die Eltern umstandslos das getrocknete Zeug in einer Mülltonne entsorgten. Es überstand nicht einmal die Fahrt mit der Fähre zurück nach Hause. Anders die Muscheln und die mitgebrachten kleinen Steine. Die im Eimer in die Pension mitgeschleppten Krebse kippte der Vater auf den roten Backsteingehsteig. Er zertrat sie mit seinem seinen Sandalen und einem klaren Lachen; dann blickte er uns an und sagte: „Das ist euch eine Lektion, damit ihr nie wieder Lebendes aus seinem Element hervorholt!“ Als Biologielehrer wußte der Vater wahrscheinlich, wovon er sprach. Die Schwester weinte noch ein wenig. Aber bald schon hatte sie in der Leichtigkeit ihres kindlichen Daseins die im Eimer gesammelten und nun zertretenen Krebse wieder vergessen.

Denn sie wissen, was wir tun: Der krypto-industrielle Komplex

Und nicht nur das: sie wissen auch, was wir schreiben, vom Handy telefonieren oder per SMS in die Tastatur tippen: jene Posten, die unsere Post abfangen – sei es die elektronische aus dem Digitalen und den Glasfaserkabeln unter der Tiefsee gefischt oder wie früher, ganz analog fixiert. Das Private ist politisch oder kann es zumindest werden. Von dieser Einsicht zehren ebenso die Geheimdienste. Nicht erst, seit sich die Kommunikationsmedien wandelten: von der mündlichen Botschaft über das ins schriftlich Fixierte auf Papier bis hin zur digitalen Schrift, die sich auf Bildschirmen und Lesegeräten materialisiert, gab es immer jemanden, der begierig darauf war. Informationen abzuschöpfen. Tele-Kommunikation kann immer durch einen unsichtbaren Dritten, durch einen verborgenen „Gast“ eingesehen werden. Zwischen Sender und Empfänger steckt die zwischengeschaltete Ebene.

Für die Technikfreundinnen und -freunde, die dies hier lesen und an all den technizistischen Spielereinen und Programmierungen großes Gefallen finden, sei nur soviel preisgegeben: Ich selber habe mir inzwischen eines dieser modernen und abhörsicheren Handys angeschafft, auf dem man seine Mitteilungen und SMSe mittels einer kryptotechnischen Drehscheibenfunktion einspeist.

 
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Daß es die NSA gibt, ist für die, die es hätten wissen sollen und auch die, die es hätten wissen wollen, nicht ganz neu – insofern scheint manches an der Empörung und Entrüstung naiv. Ja, in der Tat: die USA haben mittels NSA abgehört! Was sollten sie auch sonst machen? Die Aufgabe eines Geheimdienstes ist es, geheim zu sein, sich Informationen zu beschaffen, und zwar so viele wie es geht und sich dabei nicht erwischen zu lassen. So hielten es die alten Römer, so funktionieren James Bond-Filme oder Romane von Eric Ambler. Dagegen helfen keine Gesetze und keine Lippenbekenntnisse. Das, was man schon lange hätte wissen können, ist nicht erst seit heute bekannt. Aber das Bekannte ist nach Hegels Satz eben noch lange nicht das Erkannte. Und so schaufelten viele ihre Daten und ihre Kommunikation freigiebig auf die Server, die in den USA stehen.

Der Philosoph bzw. Literatur- und Medienwissenschaftler Friedrich Kittler schrieb zum NSA (ich mache es mir heute mal bequem: anstatt, wie ich es ansonsten in meiner gewohnt eloquenten und analytisch-sezierenden Art betreibe, selber – sozusagen eigenhändig und -köpfisch – zu analysieren und in zusammenhängenden Sätzen zu schreiben, die als Text mehr als 140 Zeichen umfassen, zitiere ich Kittler.):

„Der amerikanische Geheimdienst CIA ist eine der bestgehaßten Institutionen der westlichen Welt. Mit seinen 4000 Beamten erscheint er aber nur als zarter Ableger, der so gut wie unbekannten 70 000-Mann-Behörde NSA, die jede tausendste Fernmeldeverbindung auf dieser Erde abhören soll. Wer bisher kein Paranoiker war, kann es nach der Lektüre des Buches NSA vom ehemaligen Mitarbeiter der Company James Bamford werden.“

So schrieb Kittler bereits im Jahre 1988 in der taz in seinem Artikel „Jeder kennt den CIA, was aber ist NSA?“ Und weiter heißt es dort:

„Eine von Trumans letzten Amtshandlungen aber war die Gründung der NSA, die in gewohnter Bescheidenheit erklärte, ‚das Heraufkommen des Computerzeitalters mit Sicherheit beschleunigt‘ zu haben. Wenn ihre Cheftechniker nicht von IBM; TRW, Cray Research, Harris oder Bell Labs kommen, dann gehen sie eben in diese Zulieferfirmen. Und wenn Computer (nach Turing) Fragen von Geheimdiensten an den Feind ‚leichter‘ beantworten als Fragen von Physikern an die Natur, ist das auch kein Zufall.

Der krypto-industrielle Komplex (Bamfords Entdeckung) baut jedenfalls gleichzeitig Satelliten und Computer, die unsere Telephonate oder Telegramme vom Kabel befreien, und fünf Jahre fortgeschrittene Satelliten und Computer, die sie der NSA wieder zugänglich machen.“

An die Macht von Gesetzen und Beschlüssen, die Macht von Geheimdiensten zu brechen, glaubte Kittler nicht. Zu Recht:

„Denn was automatische Datenverarbeitung stoppt oder doch limitiert, sind nicht Gesetze, sondern Technologien.“

Uns gefällt diese Welt – Archive der Nacht

Peter sagt
Er sei total verliebt in diese Welt
Peter sagt
Er nimmt die Welt weil sie ihm gut gefällt
Tina sagt
Mach dir nen schönen Abend ganz allein
Tina sagt
Ein nettes Buch kann auch ganz unterhaltsam sein

Manchen gefällt die Welt
Und manchen bricht das Herz entzwei
Und wir sagen ja zur modernen Welt
(FSK, Moderne Welt)

Inmitten des falschen Lebens gibt es nun doch ein Refugium – zumindest für Kinder: The Pink World of Barbie.
 
 
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„You wanna go for a ride? / Sure, Ken! / Jump in! / I’m a Barbie girl in a Barbie world / Life in plastic, it’s fantastic / You can brush my hair, undress me everywhere!“

Wenigsten für die unschuldigen Mädchenherzen präsentiert und zeigt sich in Verlängerung bis zum 6. Oktober in Berlin am Alexanderplatz noch das richtige, das glitzernde, das bunte Leben in all seinen wunderbaren Facetten. Und nicht immer nur wird alles das, was ist, von den Nörglern und den Bewohnern des Grandhotel Abgrund so unerhört negativ-schwarz gepinselt und der Finger in die Wunden gelegt, sondern an diesem Ort präsentiert das Leben sich von seiner rosa Seite. Überhaupt: Wie kommen eigentlich die, die als Kritische Theoretiker alles besser wissen, dazu, dem echten Menschen, dem je eigentlichen Subjekt falsches Bewußtsein und falschen Blick zu unterstellen? Unerhörte Überheblichkeit! Es gibt doch lediglich unterschiedliche Perspektiven. Der eine ist so, die andere so. Der eine ist Maskulinist und die andere mag Barbies. Wer will da richten und sich überheben? Man muß die Menschen dort abholen, wo sie stehen, so spricht das demokratische Bewußtsein. Denn jeder Mensch ist bekanntlich immer ganz anders. Man muß durchaus die Welt durch diese Brille in rosa gemalt sehen, die Individuen in ihrer Vielfalt betrachten und im Frohsinn über das Dasein gleiten. Denn alles ist ein Schweben, ein Hauch, wie getupft. Das Leben ist schön. „Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick.“ Das wußte schon Goethes Mephisto im zweiten Teil des „Faust“. Wir verschreiben uns mit diesen Photographien voll und ganz der vollumfänglichen Menschenliebe und dem Dasein. Und wie durfte ich heute in einer Kommentarspalte in affirmativer Absicht lesen: „Die meisten, ach so ungebildeten Menschen handeln in den allermeisten Fragen nicht marktwirtschaftlich.“ Aha, da möchte man gerne nachbohren, wie diese „allermeisten“ Situationen und Fragen beschaffen sind. In den allermeisten Fragen nicht marktwirtschaftlich! So bleut die Spieltheorie das Bewußtsein weich. Und die INSM handelt wahrscheinlich ebenfalls in den allermeisten Fällen nicht marktwirtschaftlich, sondern zum Wohle der Menschen.
 
 
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Wer aber rosa nicht mag, der oder die geht zum Bodrum-Imbiß und nimmt ein gutes Brathähnchen zu sich. Oder einen Fleischspieß. Und wer es herzhaft möchte, gerne auch eine Grillplatte. Wir müssen das gute Leben an den richtigen Orten und in den gemütlichen Stunden entdecken, denn es ist ja da. Wir müssen es nur sehen lernen, erkennen lernen, bis es wieder zu uns spricht. Das richtige Leben. In diesem Sinne, liebe Leserin, lieber Leser: Es gibt lediglich kein richtiges Hähnchen im falschen Imbiß.

Texte zur Asche, Sehnsuchtsorte. Formen des gelingenden Scheiterns [Notizhefte der Gegenwärtigkeit] (1)

Bildbeschreibung

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.


 

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So hieß es in den guten alten Zeiten, als noch (mehr oder weniger) umstandslos jene Gedichte geschrieben werden konnten, die über das Bloß-Faktische hinausflogen und es transzendierten. In den Zeiten der Post-Pathetik, der ironischen Brüche, im Zeitalter der bloßen Lebenskontingenzbewältigung und im Diesseitsparadigma jedoch tritt der Schmetterling ab, und es bleibt bei einer kleinen unscheinbaren Fliege, die sich aus einer Laune des Zufalles heraus in das Feuer verirrte, verstrickte oder vielleicht auch flüchtete und im Wachs sich dann einschloß. Bernstein für Bargänger.

Das Stirb und Werde der seligen Sehnsucht hatte ihren Ort in einer Metaphysik der Gegenwärtigkeit, die zugleich mit einer aufgesteigerten Selbstpreisgabe einherging. Diese Preisgabe freilich – und damit korrespondierend sollte als Effekt die Daseinsweise der instrumenteller Ratio aussetzen und für diesen Gang stillgestellt sein – hatte zum Ziel, daß sich über die Entäußerung ein Subjekt bildend gewinne: dem Geist der Goethezeit gehorchend, als es, zumindest für die jungen Weimarer Damen und für die weiblichen Musenkreise, von erzieherischen Erfolg gekrönt war, Bildungsromane zu schreiben.

Es kaprizierte sich dieses Stirb und Werde auf den Augenblick – im Moment zu verglühen, in seiner Intensität einzugehen – und gleichzeitig auf die Ewigkeit dieses Augenblickes: diesen auf die Dauer und in die Unendlichkeit hinein stillzustellen, ihn ins Unermeßliche zu heben. Und weil dieser Krebsgang niemals recht funktionieren kann, sondern von Störungen und Interferenzen getragen ist, stellt sich angesichts der Aporie beim reflektierten Schreiber eine Weise von Melancholie ein, die das Leben daran bemißt, was es hätte sein können: die Wahrheit liegt nur selten in den gelebten Momenten, denn diese Zeit, die bleibt, diese Augenblicke – als „Verzückungsspitzen des Daseins“ –, sind in ihrer emphatischen Variante rar. Eine Nacht in Leipzig, eine Sommernacht in Hamburg, Winter in Potsdam, der Park Sanssouci liegt in Kälte und Dämmer. Wer keinen Hang zur Melancholie in sich trägt, hat nimmer das Zeug zur Schriftstellerin, geschweige zum Dichter. Einzig der Melancholiker vereint den kalten und den warmen Blick in einem Zuge und einem Wesen. Acedia ist die Tugend des Schriftstellers, des beobachtenden Essayisten. I would prefer not to. Das „Kein Ort, nirgends“ ist einerseits das Versprechen einer Existenz, die nicht mehr auf Heimat, Blut und Boden bauen muß, sondern im Ungebundenen und im Dissoziierten wohnt und andererseits die Gewißheit, das hiernieden kein Platz bleibt, an dem es sich aufzuhalten lohnte. In einer entstellten Welt bleibt auch die Natur beschädigt. Wer meint, bloß seinen Garten hegen, pflegen und bestellen zu müssen, wird schneller dem darin thronenden Gartenzwerg ähnlich als ihr oder ihm lieb ist.

Der Drang zur Destruktion im Flammentod (als Schmetterling versteht sich) oder an sonst einem Ort zu vergehen, verband sich – selige Zeiten – seinerzeit noch mit dem Drang zum Schöpferischen, zur Negation der Negation, und zwar im Akt des Ästhetischen als eines gesonderten Bereiches, der als Transzendenz- und Steigerungsmodus wirkte. Kunst war souverän und autonom in einem Zuge. Nietzsche dichtete im Vorspiel zur „Fröhlichen Wissenschaft“ unter dem Titel „Ecce homo“ im Sinne einer ästhetischen Existenz, der freilich bereits (zumindest an sich) die Selbsterfindung als Selbstoptimierung eingeschrieben ist:

Ja! Ich weiß, woher ich stamme!
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse:
Flamme bin ich sicherlich.

Den Kontext einer Destruktion von Metaphysik und Wesenheit, die Gegenlektüre zu Hegel, lasse ich beiseite. Vielmehr geht es auch in diesem Gedicht um jenes Stirb und Werde, und am Schluß dieses Buches, wenn die Lieder des Prinzen Vogelfrei gegeben werden, so eröffnen diese Gedicht-Passagen mit einer herausfordernden Zueignung „An Goethe“:

Das Unvergängliche
Ist nur Dein Gleichnis!
Gott, der Verfängliche,
Ist Dichter-Erschleichnis…

Das Phoennixmotive jedoch überwog sowohl bei Goethe als auch bei Nietzsche das der Asche. Bei Nietzsche verband es sich mit dem Augenblick als reinem Augenblick in der Gegenwart, bei Goethe kombinierten sich die Ebenen, verschwisterten sich (denn hinab geht es am Ende immer zu den Weibern und wenn nicht das, dann zu den Müttern des Seins) zu einem die Zeit übersteigenden Moment. Die Zeiten änderten sich, es gingen einige Kriege und einiges Unbill ins Land, das Ästhetische nahm die Negativität als eine absolute auf. Das Ideal der Kunst sei das Schwarze, so schrieb es Adorno in seiner „Ästhetischen Theorie“. Bedingt ist diese Konstatierung durch den Gang der Geschichte selbst. Wir haben, in der Konstellation bei Becketts „Endspiel“ etwa, nur noch die Asche als jenen Rest, der bleibt, auch wenn uns die Heilsversprecherinnen und -versprecher beständig das Gegenteil salbadern und gerne eine heile, heile Welt im Plauderton hätten. Aber die ist hinüber.

„HAMM: Ich habe einen Verrückten gekannt, der glaubte, das Ende der Welt wäre gekommen. Er malte Bilder. Ich hatte ihn gerne. Ich besuchte ihn manchmal in der Anstalt. Ich nahm ihn an der Hand und zog ihn ans Fenster. Sieh doch mal! Da! Die aufgehende Saat! Und da! Sieh! Die Segel der Sardinenboote. All diese Herrlichkeit! Pause. Er riß seine Hand los und kehrte wieder in seine Ecke zurück. Erschüttert. Er hatte nur Asche gesehen. Pause. Er allein war verschont geblieben. Pause. Vergessen. Pause. Anscheinend ist der Fall … war der Fall gar keine … Seltenheit.“

Diese Lakonie besticht. Von der Gegenwart geht die Reise zur Vergangenheit: „ist der Fall … war der Fall“. Großartig konstruiert: es sind hier die Zeitebenen aneinander gebaut. Es bleibt: die Asche. „Feu la Cendre“, wie ein Text Derridas heißt. Die adjektivische Bedeutung von „feu“ ist „verstorben“ bzw. „selig“. Die Asche als Grund, und Derrida nimmt hier den Grund durchaus im Sinne Heideggers. „Es gibt die Rebellion gegen Phoenix und ebenso die Affirmation des Feuers ohne Ort noch Trauer.“ So schreibt Derrida in jenem Buch. Ein entscheidender und einschneidender Satz. Jedes Kaddisch läuft ins Leere. Es bleiben lediglich die Spuren, der „Singbare Rest“. Eine Poetik nach Auschwitz oder ganz allgemein, eine Poetik innerhalb des Grauens und des Immanenzzusammenhangs, für den das Wort Hölle zu kurz greift, ist den meisten fremd; das Diktum Adornos von einer Kunst nach Auschwitz den meisten heutzutage vollkommen unverständlich.

Es sei an dieser Stelle das ganze Goethe-Gedicht, die komplette „Selige Sehnsucht“ gegeben, um sich zu vergegenwärtigen, wie eine Existenzweise einstmals funktionierte, in der das Selbst sich steigert, indem es zunächst sich verliert:

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Ueberfällt dich fremde Fühlung
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsterniß Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Handelt es sich hierbei nun um gelingendes Scheitern oder doch vielmehr um mißlingendes Leben? [Auch wirft diese Passage ein grelles Licht auf das Dialogische und das Schwadronieren der Kommunikationstheoretiker samt des Handelns.] In Becketts „Endspiel“ heißt es im Hinblick auf die Modalität des Daseins:

HAMM: Ich bin nie dagewesen. Pause. Clov!
CLOV sich zu Hamm zuwendend, aufgebracht: Was ist denn?
HAMM: Ich bin nie dagewesen.
CLOV: Du hast Schwein gehabt.
Er wendet sich wieder dem Fenster zu.
HAMM: Abwesend immer. Alles ist ohne mich vorgegangen. Ich weiß nicht, was geschehen ist. Pause. Weißt du, was geschehen ist? Pause. Clov!

Der versehrte Körper – Oder wie der Text des Kreuzestodes zu lesen sei

„Es stand aber bei dem Kreuze Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, des Kleophas Weib, und Maria Magdalena. Da nun Jesus seine Mutter sah und den Jünger dabeistehen, den er liebhatte, spricht er zu seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn! Darnach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. Darnach, da Jesus wußte, daß schon alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllt würde, spricht er: Mich dürstet! Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Isop und hielten es ihm dar zum Munde. Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und neigte das Haupt und verschied.“ (Joh. 19:25-29)

Heute am Karfreitag erwartet die geneigte Leserin und den geneigten Leser wieder ein Höhepunkt der reinen Geistigkeit und der intellektuellen Brillanz intensiv sublimierter Sexualität. („Text is Sex“ wie die Bloggerin Julia Seeliger es in ihrem Blog „zeitrafferin“ als Headline formuliert.) Ich schreibe, passend zum Karfreitag, einige Überlegungen zum Körper, und zwar über den in seiner physischen Beschädigung medial inszenierten Körper. Den in der Marter im Bild dargebotenen Körper als eine Weise der Repräsentation von Gottesfurcht und Dasein Gottes im dunklen Moment seiner Abwesenheit, einem Moment, der mit Notwendigkeit erfolgen muß – religio. Daß sich die Schrift erfülle. [Und um dieser Erfüllung willen ist auch eine Person wie Judas religionsdramaturgisch notwendig.] Der Text selbst ist es, der den Körper des Jesus, der zum Christus ward, steuert. Damit die Schrift sich erfülle. Zugleich bleibt dieser Körper jedoch – trotz medialer Darbietung, insbesondere in der christlichen Ikonongraphie – akzidentell. Eine eigentümliche Paradoxie in der Bildlektüre offenbart sich hier: einerseits verweist der gemarterte Körper auf ein bloßes Moment im Prozeß von Zerschindung, Verklärung und Auferstehung als Geist; das Wesen des Bildes und das Zentrum ist nicht die Marter. Andererseits kann sich jener Geist, die Aufhebung des Opfers, das trinitätische Wesen nicht in Abstraktion oder Ornament entäußern und präsentieren, sondern muß (womöglich mit Notwendigkeit) auf die sinnliche Form rekurrieren. Der Geist und das Wesen Gottes bleiben auf die irdische Repräsentation samt den Repräsentationsmedien und damit auch: auf den Körper als Trägermaterial angewiesen.

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In jenem Körper des Gekreuzigten verbinden sich – zumindest in den meisten medialen Inszenierungen des Abendlandes – Marter, Qual, Verklärung und Verzückung im Schmerz, so wie ihn die zahlreichen und vielschichtigen Gemälde von der Kreuzigung Christi zeigen, über Lucas Cranach d. Ä. Kreuzigungsbilder, aber auch El Grecos semi-expressive Leidverzückung in düsterroter Farbe. Oder wie später dann der (biblische) (Hollywood-)Film den Körper (als lesbares Zeichen) ausstellt – ob nun „Das Gewand“ oder „Ben Hur“ und in aller Drastik vielleicht bei Mel Gibsons „Die Passion Christi“. Aber auch Filme, die dem kulturindustriellen Strom entgegenstehen, wie „Montana Sacra“ von Alejandro Jodorowsky oder Pasolinis „Das 1. Evangelium – Matthäus“, präsentieren einen unter dem Zeichen der Religion gekerbten und versehrten Körper.

Eine der ungeschminktesten Darstellung des Leidens Christi während des Kreuzestodes findet in der Bildenden Kunst beim Isenheimer Altar (in Colmar) sich, wie es das Tafelbild von Matthias Grünewald zeigt.

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Dieser Körper der Marter wird erst in der Auferstehung zum Leib, und an diesem Leib sind alle Zeichen der Entstellung getilgt, elevatorische Transformation alles Irdischen und gegen alle Gesetze der Physik, umgeben von der Aureole.

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Das Pendant zu jeglichem Kreuzigungsbild – inspiriert vom Dada – in satirisch-zuspitzender Absicht und zugleich eine komplexe Materie im freilich bereits abgelebten Dada-Getus (notwendig) simplifizierend zeigt wohl Martin Kippenberger:

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Das Bild  entstammt folgender hier verlinkter  Quelle.

Im biblischen Hollywoodfilm hingegen verweltlicht sich in monetärer Absicht der Aspekt der Marter und des Schmerzes. Der Kreuzestod geriet säkular und zur Produktion der Studios. Der Kalvarienberg und die Schädelstädte (des Geistes): Aber das Lebendige des Geistes ist (nach Hegel) nicht im Toten zu suchen oder gar zu fixieren.

Der gemarterte Körper ist zugleich als mediales Ereignis bedeutsam, das auf mehr als nur Religiöses verweist: nämlich auf die Folter. Auf eine Folter, die ohne Wenn und Aber und ohne Einschränkungen nicht sein darf. In den vier Evangelien finden sich z.B. keine nennenswerten Hinweise auf Gewalt am Körper Jesu, nichts an Gewalt wird dort in extenso ausgemalt, die Via Dolorosa ist kein Ort für bildliches Theater, für Passionsspiele und Filmeffekt, sondern allenfalls Zeichensprache. Die Gewalt am Körper um der Darstellung von Gewalt willen ist den Evangelien fremd, ihr zentrales Moment ist vielmehr das letzte Opfer des Menschen- und Gottessohnes als Ende jeden Opfers. Anders der Hollywood-Film, der diese Gewalt am Körper im Extrem und als bereits fetischhafte Obsession inszeniert und in überbordenden, reißerischen Bildern darbietet, am drastischsten wohl in Mel Gibsons Film „Die Passion Christi“, den man weniger als einen religiösen Film, sondern als eine Orgie der Selbstdestruktion lesen kann – von der darin sich manifestierenden politischen, reaktionären Bildsprache einmal ganz abgesehen. Religion geschieht hier um des Effektes und um der Vermehrung von Kapital willen und dient wesentlich der Produktion von Ideologie qua Bildsprache. Was nicht ausschließt, daß man bei „Die Passion Christi“ auch eine dekonstruktive Lesart wählen kann, die die Formen der Sexualisierung darstellt. [Jeder Fesselung wohnt ein Reiz inne. Sei’s der an den Felsen gefesselte Prometheus, sei’s der ans Kreuz geschlagene Jesus: formschöne, gezeichnete Männerkörper. Die Linie Jesus, Justine, Juliette ziehen.]

Verklärung des Leids oder Exzeß der Verausgabung?: „– Hat man mich verstanden –? Dionysos gegen den Gekreuzigten!“, wie es im letzten Satz von Nietzsches letzter Schrift heißt: „Ecce homo“.

Die Grenze zwischen Lust, Erotik, Gewalt, Schmerz und Religion sind fließend: der kaum bekleidete, gemarterter Körper eines Mannes, den Blicken dargeboten, der Beckenbereich mit einem Schamtuch verhüllt und der warme, der heiße Schmerz durchfährt jede Faser des Körpers. Die Selbstgeißelung und auch die Fremdgeißelung, die sich im Akt des Religiösen ereignet, maskiert ein im Grunde sexuelles Spiel. (Und insofern wird mich auch Ulrich Seidls Film „Paradies: Glaube“ interessieren.)

Die Lust am versehrten Körper hängt einerseits mit einer Form von Gewalt zusammen, die eine absolute Macht darstellt, (der so ausgesetzte Subjekt-Körper als Homo sacer im Sinne Agambens), aber diese Lust ist nicht unbedingt totalitäts- oder faschismuskompatibel, und es hat seine Gründe, weshalb Breker und Riefenstahl lediglich den makelloses Körper in Skulptur und Film umsetzten, von dem alle Spuren der Entstellung getilgt wurden – man betrachte nur diese speer- und diskuswerfenden Männer in Riefenstahls Olympia-Film „Fest der Völker“.

Der Körper der Kreuzlegung aber ist versehrt. Soviel ist richtig. Aber diese Versehrung bildet keineswegs das zentrale Motiv.

„Und es war um die sechste Stunde, und es ward eine Finsternis über das ganze Land bis an die neunte Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels zerriß mitten entzwei. Und Jesus rief laut und sprach: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt, verschied er.“ (Lukas 23:44-46)

Man lese diese Stelle parallel mit Kafkas „Die Strafkolonie“. Der gemarterte Körper bei Kafka mit einer Schrift versehen, die zugleich Tat und Strafe zum Inhalt hat: der Körper als inszenierter Text. So und nicht anders haben wir Verfechter des Textes es gerne. Auch am Karfreitag.

Unsere Geschichten – Archive der Nacht (2)

Hammer oder Ambos?, so heißt es. Wer nicht hören will, muß fühlen, so geht eine andere Redensart. Ich mag die Moral, wenn sie der Zucht sowie der Manipulation dient und sich inthronisiert, um die Diskurse der Überwachung zu strukturieren, die Verhaltensweisen von Menschen an irgendeine beliebige Norm anzupassen.

Im Grunde ist dieses unten eingestellte Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm eines über die Philosophie und wie es dieser ergeht, wenn sie sich in Fühligkeiten oder bloße Neugier verstrickt, die sich zum Ende hin in alberne Furcht verwandelt. Wenn sie abschwächt und sich dem bloßen Staunen überläßt, anstatt die Dinge, die Menschen, die Subjekte, die Diskurse auseinanderzulegen, ihnen mit dem Messer und der Axt an die Kehle und an den Kopf zu gehen – eben die Tätigkeit auszuüben, welche die vornehmste Aufgabe der Philosophie unter den gegenwärtigen Bedingen mir zu sein scheint: als Kritik zu wirken. Denn allein der kritische Weg ist noch offen, wie Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ wußte. Philosophie ist die Arbeit des Zerschneidens, des Auseinanderlegens, der Dekonstruktion, des Experiments, des Bastelns, der Beweglichkeit, des Spiels: Philosophie schlägt ins Gesicht. Allerdings muß der Betrachter dem, was er sieht, standhalten können und sollte nicht schaudernd niederfallen oder erstarren wie vor dem Bildnis zu Sais. Am Ende bleibt sonst nur ein Leuchten als lieblicher Holzscheit im Kamin übrig anstatt des Wissens als einer Weise der Erkenntnis. Dennoch: das Schlußbild dieses Märchens, wie es sich da eine Frau mit eigentümlicher Lebensart an der heimischen Heizstätte warm und gemütlich macht, eignet sich vortrefflich, um in die nötige weihnachtliche Besinnnung zu gelangen. Jene Frau ist im Grunde der andere Part der Philosophie. Aber kommen wir nun zu meinem Lieblingsmärchen:

Frau Trude (Grimms Kinder- und Hausmärchen)

Es war einmal ein kleines Mädchen, das war eigensinnig und vorwitzig, und wenn ihm seine Eltern etwas sagten, so gehorchte es nicht: wie konnte es dem gut gehen? Eines Tages sagte es zu seinen Eltern: „Ich habe so viel von der Frau Trude gehört, ich will einmal zu ihr hingehen, die Leute sagen, es sehe so wunderlich bei ihr aus, und erzählen, es seien so seltsame Dinge in ihrem Hause, da bin ich ganz neugierig geworden.“ Die Eltern verboten es ihr streng und sagten: „Die Frau Trude ist eine böse Frau, die gottlose Dinge treibt, und wenn du zu ihr hingehst, so bist du unser Kind nicht mehr.“ Aber das Mädchen kehrte sich nicht an das Verbot seiner Eltern und ging doch zu der Frau Trude. Und als es zu ihr kam, fragte die Frau Trude: „Warum bist du so bleich?“ „Ach,“ antwortete es und zitterte am Leibe, „ich habe mich so erschrocken über das, was ich gesehen habe.“ „Was hast du gesehen?“ „Ich sah auf Eurer Stiege einen schwarzen Mann.“ „Das war ein Köhler.“ „Dann sah ich einen grünen Mann.“ „Das war ein Jäger.“ „Danach sah ich einen blutroten Mann.“ „Das war ein Metzger.“ „Ach, Frau Trude, mir grauste, ich sah durchs Fenster und sah Euch nicht, wohl aber den Teufel mit feurigem Kopf.“ „Oho,“ sagte sie, „so hast du die Hexe in ihrem rechten Schmuck gesehen: ich habe schon lange auf dich gewartet und nach dir verlangt, du sollst mir leuchten.“ Da verwandelte sie das Mädchen in einen Holzblock und warf ihn ins Feuer. Und als er in voller Glut war, setzte sie sich daneben, wärmte sich daran und sprach: „Das leuchtet einmal hell!“

Mehr Licht, so freuen wir uns im Sinne der Aufklärung. Oder mit Peter Rühmkorf gesprochen: „Laß leuchten!“. In diesem Sinne wünsche ich meinen Leserinnen und Lesern gute freie Feiertage. Und lassen Sie nichts anbrennen!

Die Entschärfung der Schärfe bei den Gebrüdern Grimm. Oder die Archive der Nacht (1)

Und als die Mutter uns das Geschichtlein am Bett zum Abend hin vorlas, mit einem hämischen Lachen, und als sie uns Kindern zurief: „So müßt ihr die Mädchen später nehmen, ihr müßt sie nehmen, wie sie kommen!“: Da ahnte ich fürdahin meine Bestimmung: Schreiben, Texte sammeln, den Essay als Form produzieren, schöpfen, abschöpfen. Es entstand – Jahrzehnte später – ein herrlicher Blog, der sich Aisthesis nannte. Denn ich wußte, daß man mit der Schrift Mädchen und vor allem Frauen binden kann. Nicht unbedingt auf die Weise wie Lewis Carroll es in seinen „Briefe an kleine Mädchen“ tat – das Verhältnis von Pädophilie (bzw. sexuellem Mißbrauch) und „Alice im Wunderland“ ist eine eigene Serie wert – und auch Kafkas Briefe an Felice erweisen sich als ungeeignet zum Brauterwerb. Bettgeschichten. Und die Mutter las mit ihrer mahnenden Stimme, während der Vater im Hintergrund streng und stumm blickte. „Ich liebe den Puritanismus, ich liebe das Evangelikale. Und im Zeichen des Kreuzes will ich es bluten sehen!“, so rief der Vater mit einem Male. Er sprang von seinem Platze auf in die Höhe, reckte sich und verließ den Raum. Und inmitten der grauen, für den kindlichen Blick nicht endenden Hochhaussiedlung in den 60er Jahren war das eine Ausnahmesituation, und die Mutter begann zu lesen:

„Der Prinz […] sprang in das Zimmer, fiel Rapunzel zu Füßen, schlug die Arme um ihre Knie und sagte ihr damit Dinge, die sie glauben konnte. Aber sie fürchtete sich doch und schrie ganz erbärmlich, hörte auch nicht eher auf, als bis sie so verliebt in den Prinzen war als er in sie, und da wurde sie stille. Er sagte ihr sehr viel schöne Sachen, und sie war bloß bestürzt und antwortete nicht. Das machte ihm gute Hoffnung, und endlich ward er so dreist, dass er Heiratens vorgab und sie gleich nehmen wollte. Sie sagte ja, ohne zu wissen, wozu es geschah, ohne zu wissen, wie, und es war ihr wohl und weh, ohne zu wissen, wo. Das war recht artig.“ (W. Schulze, Kleine Romane, 1795)

Ein Text voll von wundersamen Stellen, Paradoxien, Gegenwendigkeiten wie man sie später in der Prosa Kafkas findet: „Aber sie fürchtete sich doch und schrie ganz erbärmlich, hörte auch nicht eher auf, als bis sie so verliebt in den Prinzen war als er in sie, und da wurde sie stille.“ Auf welch seltsamen Wegen sich zuweilen die Liebe einer Frau zu einem Manne einstellt. Die parataktische Syntax eignet sich vorzüglich, das Geschehen zu transportieren und terminiert in jenem Satz: „Das war recht artig.“ Wilhelm Grimm formte diese Stelle in der Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen von 1837 auf diese Weise um:

„Anfangs erschrack Rapunzel gewaltig als ein Mann zu ihr herein kam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten, doch der Königssohn fieng an ganz freundlich mit ihr zu reden, und erzählte ihr daß von ihrem Gesang sein Herz so sehr sey bewegt worden, daß es ihm keine Ruhe gelassen, und er sie selbst habe sehen müssen. Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte ob sie ihn zum Manne nehmen wolle, und sie sah daß er jung und schön war, so dachte sie ‚der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel,‘ und sagte ja, und reichte ihm ihre Hand. Sie verabredeten daß er alle Abend zu ihr kommen sollte, …“

Lesen Sie morgen weiter, wenn es hier auf „Aisthesis“ zum 200. Jahrestag der Kinder-und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm heißt: GRRRRRIMMSSSS AND SEX: So zärtlich war die Nacht!

[Bitte rammsteinmäßig mit sehr gerolltem r aussprechen!]