Sankt-Martinstag: das ist Laternenumzug

„Viele Kinderaugen fragen,
Es ist kalt in den Novembertagen!“

Heute abend ist wieder Laternenfest oder besser und genauer Sankt-Martinstag – rabimmel, rabammel, rabumm; man muß sich das immer von Blixa Bargeld gesprochen vorstellen – und also laufen manche heute wieder beim schönen Laternenumzug mit, so sie denn Kinder haben. Ich habe diese Veranstaltung damals als Kind sehr, so sehr genossen: im Dunkeln auf der Straße mit der Laterne, darin eine Kerze brannte. „Messer, Gabel, Schere, Licht, dürfen kleine Kinder nicht!“ – heute aber doch das Licht, das schöne, und auch Messer und Gabel durften wir schon und auch die Schere, aber eine stumpfe zum Basteln, die schöne Susanne rammte einmal einem Mitschüler eine solche Schere in den Rücken. Damals verbuchte man das aber noch nicht als Mädchenpower, sondern eher als abweichendes Verhalten, obwohl doch der Junge sie nunmal geärgert hatte. Meine schöne Laterne war blau und darauf waren der gute Mond und die lieben Sterne zu sehen, mit Gesichtern und in feinem Gelb und rötlichem Schimmer. Und wir sangen wohl auch Lieder und was das schönste war: Ein ganzer Spielmannszug zog, der Kinderschar hintendran, durch die Straße: von der Horner Rennbahn ging es los, über die Manshardtstraße, hunderte Kinder und ihre Eltern und wohl zwanzig, dreißig Jugendliche und Kinder in den Uniformen des Spielmannszuges, sie spielten ihre Instrumente – daß ich bis heute Spielmannszüge liebe, muß ich wohl nicht extra sagen – und dazu schmetterten sie Melodien: „Wacht am Rhein“, „Bomben auf Engeland“, „Wir aus den Kroogblöcken werden siegen!“ – was man eben so in einer sozialdemokratischen Stadt der späten 1960er, der frühen 1970er Jahre spielt. Nein, ich verwechsele da was, diese verdammte Erinnerung, sie spielten anderes. Und weil solche Laternenmusik so schön ist und ich mich so gerne erinnere, verweise ich an dieser Stelle auch auf einen feinen Song, den ich, glaube ich, vor einiger Zeit bei Ralf Scherzinger fand.

Ein wunderbares Musikstück namens „Laternenlied“ mit einem tollen Text! „Zieht er sein Schwert am Mikrophon und er zerteilt sein maillot jaune.“

Endstation Reeperbahn

Es gibt einen legendären Song von Gottfried & Lonzo, der heißt „Hamburg ʼ75“ – den Text schrieb der Satiriker Hans Scheibner, wunderbar gecovert 2005 von „Element of Crime“. Dieses ragtimeartige Stück handelt, wen wundert’s, von Hamburg, genauer gesagt von der Hamburger Szene jener Jahre rund um den Musikclub „Onkel Pö’s Carnegie Hall“ in Eppendorf. Berühmt durch sich selbst. Über Hamburg hinaus bekannt durch eine prägnante Zeile aus Lindenbergs „Andrea Dorea“: „Im Onkel Pö’s spielt ʼne Rentnerband, seit 20 Jahren Dixieland …“

Wer diesen Song von Gottfried & Lonzo (dem Teufelsgeiger von Eppendorf) kennt, weiß, was ich meine und der weiß um die Atmosphäre einer Stadt, die wir damals als Kinder erlebten: von Honka bis HSV, zwischen Billstedt, Jenfeld und Horn. Wer Song und Sound dieser Zeit nicht kennt, dem ist nicht zu helfen und dem kann man es auch nicht beschreiben: jenes Hamburg der 1970er Jahre. [Ich mache es vielleicht ein andermal, wenn wir eine „Sentimental Journey“ in jene wunderbaren Jahre unternehmen.] Wie dem auch sei: Dies waren die gemütlichen Zeiten. Es gab jedoch andere, häßlichere Zeiten, häßlichere Orte, weniger buntscheckig (wobei Billstedt und Horn auch nicht zu den schönsten zählen). Wild aber dennoch. Da waren nicht nur die feine Binnen- und Außenalster, die Flaniermeile Jungfernstieg, das politisch linke Eimsbüttel, wo all die Lehrer wohnten, das teils elegante, teile linke Eppendorf, verträumtes, ländliches Blankenese mit Elbhügelblick und jene herrliche Mutter Elbe, die breit strömte, sondern es war da auch die höchst seltsame Reeperbahn mit ihren Buden, Bordellen und Spelunken, der Hafen in der Nähe, der Fischmarkt, der Geruch von Pisse, Fisch, Hafen und Bier. Und was in den 1970er Jahren noch „normales“ Nuttengeschäft und Geschäft mit Bars und Bums war, das entwickelte sich in den 1980er Jahren ins organisierte Verbrechen: Kiez-Kriege wurden nicht mehr nur intern und mit Fäusten ausgetragen – sehr schön zu sehen in Klaus Lembkes „Rocker“ (1972), wenn sich Loden und Leder prügelten.

Die ARD-True-Crime-Dokumentation zur „Reeperbahn Spezialeinheit FD65“ nimmt diese Zeit unter die Lupe: Eine speziell gebildete Ermittlergruppe der Hamburger Polizei gegen die sich herausbildende organisierte Kriminalität wird portraitiert, der Hamburger Kiez, seine Zuhälter und Prostituierten, das St. Pauli der späten 1970er und dann vor allem der 1980er Jahre. Fünf Teile mit Interviews, Archivbildern und nachgestellten Szenen. Die Doku-Bilder und die Doku-Szenerien aus NDR-Archivfilm sind insofern interessant, weil sie gute Einblicke in jene Zeit und in die Probleme liefern, sie lassen die Atmosphäre jener Jahre noch einmal an uns vorbeiziehen, dazu erzählen Zeitzeugen, wenn auch zuweilen in der Aufmachung überdramatisiert. Weniger schafft in manchen Fällen mehr. In diesem Sinne ist jene vor einem Jahr im NDR gelaufene mehrteilige Doku zum Kiez, von den 1950er bis zu den 1990er Jahren, besser geraten, nämlich ohne jene Effekte, bei denen man sich durch die nachgespielten Szenen in „Reeperbahn Spezialeinheit FD65“ zuweilen bei ZDF-History oder Terra-X wähnte. Aber man muß es vielleicht so sehen: Suspense will inszeniert sein. Und weil diese Serie mit Photographien und Filmen eine Menge an Doku-Material aus dieser Zeit bietet, funktioniert das Prinzip dennoch an einigen Stellen leidlich, auch weil dort Menschen sprechen, die dabei waren und diese Zeit kommentieren und von ihrem Blick her analysieren: Polizisten, Staatsanwälte, ehemalige Prostituierte, die MoPo Reporter Thomas Hirschbiegel und Thomas Osterkorn, Kiez-Größen wie der damals „Neger-Kalle“ genannte Geldeintreiber Karl Heinz Schwensen. Und es sprechen auch, was für die 1980er Jahre etwas Besonderes ist, ehemalige Polizistinnen über ihre Arbeit inmitten einer harten und harschen Männerwelt: eine der Polizistinnen von der Schutzpolizei herstammend, sie diente auf der Davidwache mitten auf St. Pauli; und eine Polizistin als Teil des Teams vom FD65. Damals waren Frauen in der Polizei eine Seltenheit, so wie auch in der Bereitschaftspolizei bei Demos Anfang der 1980er keine oder kaum Frauen dabei waren, sondern junge Männer mit Oberlippenbärten, wie sie heute wieder modern sind. Manche hätte man für den jungen Lee Hazlewood halten können, trügen sie keine Schlagstöcke, Schilder und schwere Uniformen.

Die Serie streift teils auch die politischen Bezüge jener 1980er Jahre, von der „Stoppt-Strauß“-Demo 1980; dazu 1981, 1982 dann die Hausbesetzerszene der Hafenstraße, die Brokdorf-Demos, der Hamburger Kessel Mitte der 1980er Jahre, wo mehrere hundert Anti-AKW-Demonstranten rechtwidrig über Stunden auf der Straße festgehalten und eingekesselt wurden (gezeigt in den letzten Teilen), aber auch das Rockermilieu der Hells Angels, die das Schanzenviertel einschüchterten und von den Wirten Schutzgeld erpreßten. Niemand sprach darüber, alle wußten es.

Zentrale Figur in dieser Doku ist der Leiter des FD65, Wolfgang Sielaff, damaliger Chef der frisch gegründeten Abteilung „Organisierte Kriminalität“, der von seiner Arbeit berichtet. Ein bis heute hin eindrucksvoller Mann, der eloquent, überzeugend und mit klarer Stimme die Lage benennt, Probleme beschreiben und eine Situation analysieren kann, um daraus gezielte Vorgehensweisen zu entwickeln. Solche Macher braucht es, vor allem auch heute, um solcher Organisierten Kriminalität das Leben schwerzumachen. Wenn man diese Polizisten bei ihrer Arbeit sieht, so leben wir keineswegs nur in einem postheroischen Zeitalter. Ganz im Gegenteil sind Menschen gefordert und gewünscht, die für eine gute Sache mit ihrem Mut, ihren Überzeugungen und ihrer Tatkraft einstehen. Das nur nebenbei gesagt – denn das Problem OK ist ja keineswegs vom Tisch, und auch sonst erweist es sich im Politischen, daß solche Eigenschaften gefragt sind. Polizisten wie Wolfgang Sielaff zeigen, wie man mit Entschlossenheit eine Sache angehen kann.

Die fünf Teile umfassen das Kiezleben der ausgehenden 1970er Jahre bis hin zum Amok des Auftragskillers Werner Pinzner am 29. Juli 1986 mitten im Hamburger Polizeipräsidium. Im ersten Teil geht es um den „Paten von St. Pauli“ genannten Wilfried „Frieda“ Schulz und seinem Handlanger Dakota-Uwe. Schulz betrieb auf dem Kiez Bars, Bordelle und Spielcasinos im großen Stil und es ging Anfang der 1980er Jahre jenes Gerücht um, daß über den Hamburger Kiezgrößen irgendwer in der Polizeibehörde seine schützende Hand hielt, insbesondere der Kriminaldirektor Hans Zühlsdorf geriet in Verdacht. Nachweisen konnte man ihm nichts. Aber der Verdacht blieb. Soziologisch aufschlußreich ist auch der Blick in Schulz‘ Anwesen in Blankenese und wie dieses Haus im inneren und im Garten eingerichtet ist: Plüsch und Protz: jene Mischung aus Emporkömmling und Kleinbürgergeist und wie sich solch ein Kleinbürger vom Interieur her die großbürgerliche Welt vorstellt, die er zu imitieren und an der er teilzuhaben versucht, um zu zeigen, daß er in der Gesellschaft oben angekommen ist. Aber Schulz war, folgt man den Zeugenaussagen, zugleich auch eine Persönlichkeit, die Menschen für sich einnehmen konnte. Nur setzte er dieses Wesen in die Manipulation von Roulette-Tischen und Spielkarten sowie in die Förderung von Prostitution.

Im zweiten Teil geht es um die Verbindungen von Schulz zur US-Mafia und wie die Hamburger Polizei in ihrer Arbeit von den US-Behörden und vom FBI lernte, um eine der effektivsten Abteilungen zur Bekämpfung von Organisierter Kriminalität in der Bundesrepublik aufzubauen. Sielaff berichtet von seinen Reisen in die USA und auch US-Polizei kommt zu Wort. Die Polizei mußte angesichts dieser neuen Art von Kriminalität auf neue Methoden zurückgreifen und so wurde auch das FD65 gegründet. 1982 wurde Schulz in einer großangelegten und bis auf die letzte Minute vor allen Dienststellen der Polizei geheimgehaltenen Aktion verhaftet und verschiedene Objekte auf dem Kiez und an anderen Orten Hamburgs wurden zeitgleich durchsucht.

Der dritte Teil handelt unter anderem von den Prostituierten und ihrer Ausbeutung durch die Zuhälter, es wird erzählt, was mit sogenannten Lampen-Bräuten passiert: Frauen, die der Polizei erzählen, was mit ihnen gemacht wurde, wenn sie nicht genug anschafften und dann von ihren Zuhältern verprügelt wurden oder wenn sie ganz einfach den Zuhältern nicht den nötigen Respekt erwiesen – so wie „Respekt“ auf der Reeperbahn sowieso ein Zauberwort war. Vor den großen Gestalten hatte man zu gehorchen und zu parieren. Ihr Wort war Gesetz. Schlecht nur, wenn die Alphatiere aneinandergerieten, so wie es in den 1980er Jahren geschah und als auf dem Kiez die Zuhälterkriege ausbrachen. Denn in die Leerstelle, die Schulz nach seiner Verhaftung hinterließ, strömten neue Kiezgrößen wie die Nutella Bande, Sunny-Boy- Zuhälter, die wegen ihres jugendlichen Aussehens derart genannt wurden, sowie die GMBH, die wegen der Vornamen ihrer vier Mitglieder diese Bezeichnung trug. Und plötzlich galt auch nicht mehr das Gesetz der Faust, welches auf dem Kiez Konflikte regelte: „Keine Schußwaffen!“, so hieß es, soll das Motto von Schulz gewesen sein; man traf sich und eine Art von Feme- und Privatgericht regelte die Sache, sprach Kiezverbote aus oder verteilte einen „Denkzettel“, der meist ein blutiges Andenken war. Nun aber kamen nicht nur Schlagringe, sondern auch Knarren ins Spiel.

In den letzten beiden Teilen geht es um die erheblichen Veränderungen, die nach der Verhaftung von Schulz das Leben auf dem Kiez mit sich brachte. Leider reißen insbesondere die beiden letzten Teile, darin auch die politischen Aspekte von St. Pauli qua linksautonomer Szene in den Blick kommen, vieles nur noch an. Auch die Straßengang-Szene, die Anfang oder Mitte der 1980er Jahre auf dem Kiez mitmischte, kam zu kurz: die Streetboys, die sich mit den Zuhältern der GmbH und der Nutella-Bande prügelten, der Kampf der Gangs wie der Champs und der Streetboys, die zu einem Teil aus Türken-Jungs, aber auch aus deutschen Kids bestanden, gegen die in Hamburg hart vertretene Nazi-Skinhead-Szene werden genannt, aber auch ihr Kampf gegen Punks und Hafenstraßenlinke. Im Blick auf den Polit-Kiez kommt auch Schorch Kamerun (Sänger der Punk-Band „Die Goldenen Zitronen“ und Mitbetreiber des Golden Pudel Club zwischen Hafenstraße und Fischmarkt) zu Wort. Was diese Verquickungen und Kämpfe angeht, hätte ich mir pro Folge mindesten eine ¾ Stunde mehr gewünscht statt der üblichen 42 Minuten, die jeder der Teile umfaßt. Diese Szenarien und Hintergründe wären mindestens zwei Extrafolgen wert gewesen. Und auch die sich auf dem Kiez tummelnden und seit Mitte der 1980er Jahre ins rechtsextremistische Milieu abgeglittene Szene des HSV-Fanclubs die Löwen hätte eine Erwähnung finden können. Ich hätte mir an manchen Stellen dieser Serie einen vertiefenden Einblick gewünscht – auch über die Prostitution und das Schicksal der Prostituierten. Andererseits war der Fokus der Serie die Organisierte Kriminalität und dafür spielen die soziologischen und politischen Aspekte jener wilden wie kriminellen Kiez-Jahre nun einmal nur eine Nebenrolle.

Dennoch: Es ist dies eine Serie, die man über das Thema OK hinaus auf mindestens 20 Folgen ansetzen könnte, mit Themenfäden wie: Der Kiez, die Zuhälter, die Huren, die Freier, das Alltagsleben, die Polizei, Organisierte Kriminalität, das politische St. Pauli, die Hafenstraße, der Wandel von St. Pauli, das Nacht- und Musiknachtleben, die Drogen, der Hafen, die Schanze, die S-Bahnlinie 3. Freilich mit einigen Verränderungen in der Machart und der Inszenierung. Eigentlich gäben solche Folgen ein schönes Sittenbild jener wilden 1980er Jahre, die auf dem Kiez eben auch so derart viel Trauriges hervorbrachten: Armut, Drogen, Erpressung, derbe Gewalt. Der MoPo-Reporter Thomas Hirschbiegel beschreibt es am Ende der Serie treffend und es ging auch mir meist so, wenn ich dort zum Ausgehen mich aufhielt: Der Reporter war jedesmal wieder froh, wenn er von seinen nächtlichen Photo-Einsätzen mit Toten, mit Drogen, mit Nutten, mit Zuhältern und mit all dem Versifften dort wieder nach Hause in seinen (klein)bürgerlichen Bezirk kam und er weg von jenem ranzigen, räudigen Kiez war.

Jene romantisierende Kiez-Schwärmerei mancher Szenegänger, die zwischen Schanzenviertel und Reeperbahn und ihren Seitenstraßen in den 1980ern lustwandelten und ihre Ausgehabende organisierten, habe ich nie verstanden, und als da eine junge Frau verzückt ausrief: „Oh, wie geil ist es hier auf der Reeperbahn!“ erboste es mich dann doch: als ob die Nutten, die Schläger, die Junkies und die Zuhälter dort herumstanden, um der jungen Frau ein Privatvergnügen zu bereiten und als ob es ein wilder Spielfilm nach Manier von New Hollywood sei. Ich muß vielleicht zur Entschuldigung sagen, daß sie im Grunde mit ihren 15 Jahren noch ein Mädchen war. Aber der Heroin-Schick und die große weiße Dame namens Koks sind am Ende kein Spaß und kein Spiel. Und auch über Prostitution kann man sich streiten, wenngleich ich kein grundsätzlicher Gegner derselben bin, solange sie nicht unter Zwang geschieht. Hier waren dann auch die kurzen Sequenzen der Huren interessant, die eben nicht wirkten, als wären sie gezwungen worden, wenngleich ihr Leben sicherlich nur bedingt schön zu nennen ist – aber auch das sind nur Ausschnitte, anderen geht es anders, und es war nicht jede eine Domenica Niehoff.

Diese Serie ist durchaus spannend, aber sie zeigt vielfach auch, wie man es besser machen kann. Ehemalige Polizistinnen, die auf der Davidwache wirkten, muß man nicht unbedingt mehr in Uniform zeigen, wenn sie lange schon außer Dienst sind. Ähnliches gilt für die Kameraführung bei Kalle Schwensen: Das Objektiv von unten, so daß es bedrohlich und mächtig wirkt, gefilmt in irgendeiner edel wirkenden Nachtbar, damit Milieuatmosphäre entsteht: solches Setting zielt auf Effekte und nicht auf Wissen. Als ein Stück visueller Sozialgeschichte von Hamburg ist diese Serie interessant – auch im Blick auf solche inzwischen vergessenen Orte wie das „Cleopatra“ in Hamburg-Bramfeld. Aber es hätte der Geschichte als Forschungsdisziplin, als Oral History wie auch einfach nur im Sinne eines seriösen Dokumentarfilms gutgetan, auf manchen reißerischen Effekt zu verzichten – auch bei den Interviews. Warum muß man ehemalige Streetboys in Bomberjacken stecken? Warum müssen Staatsanwälte in einem Interieur sitzen, das wie eine hochelegante Hotellobby ausschaut oder einer großbürgerlichen Villa ähnelt? Solche Settings sind überflüssig. Und so hinterläßt diese Serie leider immer wieder den Eindruck, daß es sich am Ende mehr um eine voyeuristische Schlüssellochperspektive handelt und nicht um einen gutgemachten Dokumentarfilm über ein Stück Hamburger Leben und Geschichte. Das ist schade.

Photographie: Homepage ARD zur Doku-Serie.

„Postkarten aus der Ukraine“: Putins Tote, Putins Krieg

„The project “Postcards from Ukraine” aims to record and demonstrate the damage caused to the Ukrainian culture by the Russian troops as a result of the bombings and shelling during the full-scale war that Russia launched against Ukraine on February 24th, 2022.

Since Russia’s full-scale invasion of Ukraine began, the Russian troops have been destroying our country’s historical, architectural, and archaeological monuments every day. The Russian military are cynically and ruthlessly shelling museums, memorials, university buildings, cinemas, dropping rockets on churches, temples, cathedrals, TV towers, and monuments. Russia is not just destroying Ukrainian cities and villages, but is systematically destroying Ukraine’s cultural heritage, which dates back thousands of years.

Today, more than ever, we need solidarity and support from the international community.

Tell the world about the destruction of Ukrainian culture. Everyone can make a huge difference and deprive Russia of this lever of influence, regardless of location. Distribute postcards on social networks, send them to those persons who have influence and their voice.

The project was developed by the Ukrainian Institute with the support of the USAID project and in cooperation with the creative agency Green Penguin Media. We also thank Oleksandr Vynohradov and Yulia Hrubrina for expert consultations on the project.

Use the hashtag #PostcardsFromUkraine

„The building, which until recently housed the Literary Memorial Museum of Hryhorii Skovoroda, was built in the 18th century. The museum was founded here in 1972. Its first two rooms were dedicated to the biography and works of the thinker, and the third one — to the memory of the philosopher. The memorial room (‘quiet cell’), where Hryhorii Skovoroda lived and died, was also open to visitors.

The exhibition presented a variety of materials: publications of the philosopher’s works, scientific literature and fiction about him, his favourite books of ancient, medieval, modern philosophers and poets, ethnographic objects, paintings dedicated to him, graphics, and sculptures. Some personal belongings of the folk sage were also preserved here. The grave of the philosopher is not far from his house.

On May 7, 2022, Russian army shelled the roof of the building, and the fire engulfed the entire museum. The 18th century building, which was initially a home for guests at the manor of the Kovalivski landowners, home for Hryhorii Skovoroda and preserved the memory of his last years of life, has now become a memory itself.“

All das ist unendlich traurig, nicht nur all die toten Menschen und die zerstörten Familien, Mütter, die um ihre Töchter und Söhne weinen: Töchter und Söhne, die nun tot und von Russen ermordet sind, weil sie in den Streitkräften der Ukraine dienen und weil sie ihr Land gegen einen barbarischen Überfall verteidigten, sondern auch die Zerstörung von solch schönen Gebäuden wie dem Memorial Museum of Hryhorii Skovoroda und vielen anderen für die Kultur der Ukraine wichtigen Gebäuden.

Rußland geht es darum, gezielt die ukrainische Kultur auszulöschen – nicht nur durch das Zerbomben von solchen für die Ukraine bedeutsamen Gebäuden, sondern auch durch Umerziehung, Drangsalierung und Mißhandlung der Ukrainer in den okkupierten Gebieten. Während hier in Deutschland irgendwelche „Intellektuellen“ offene Briefe unterschreiben und Lars Eidingers Schwafelpazifismus absondert. Es ist zum Kotzen und man müßte diese Leute in ihre eigene Scheiße tunken, die sie seiern. Abstellen aber kann diesen Krieg allein Putin. Indem er sich aus der Ukraine zurückzieht – und zwar komplett. Und es steht jenen Deutschen, die ansonsten nicht ein Stück von ihrem eigenen Kuchen, von ihrem Wohlstand irgendwie nur abgeben wollen, ganz und gar nicht an, den Ukrainern zu raten, daß sie doch bitte auf Teile ihres Landes verzichten sollen. Hinzu kommt: Wenn Putin irgend etwas verspricht, so ist es nicht das Papier wert, auf dem es niedergeschrieben wurde.

Hier findet sich im übrigen die Homepage dieses Projekts und man kann sich verschiedene Postkarten ansehen, auf denen die Zerstörungen durch die russische Armee beim Krieg gegen die Ukraine dokumentiert sind.

https://ui.org.ua/en/postcards-from-ukraine/

Zum ersten April

Aber das sollte vielleicht gar kein Scherz sein.

Ansonsten sei Putin empfohlen, den Krieg in einem Zweikampf zu beenden. Putin tritt im Faustkampf gegen den Bürgermeister von Kyjiw an.

Die Überschrift heute „Russland wirft Ukraine Luftangriff auf Öllager vor“ scheint eher schon der Rubrik Aprilscherz zu entstammen: Wer hat nochmal wen überfallen? Wer beging Kriegsverbrechen in der Ukraine? Der Aggressor gibt sich als Opfer. Genau das ist Putins Taktik seit Jahrzehnten. Putin läßt morden in Tschetschenien und in Syrien? Rußland fühlt sich von der NATO bedroht. Putin marschiert auf der Krim ein und führt im Donbas Krieg? Rußland fühlt sich von der NATO bedroht. Wer eigentlich bedroht wen?

Ansonsten Bericht von der Russenfront, aus dem Tagebuch von Juri Durkot, vom 31.3.2022:

„Lemberg, den 31. März, abends

Seit gestern fühlt es sich wie ein Dammbruch. Zumindest ein winziger. Immer wieder Geschichten ukrainischer Frauen. Die eine Geschichte schlimmer als die andere. Das Schicksal einer Frau, deren Mann erschossen und sie selbst – Pistole am Kopf – vergewaltigt wurde, während ihr vierjähriger Sohn im Keller weinte. Die britische „The Times“ hat die Geschichte bereits vor zwei Tagen veröffentlicht. Eine Frau in Irpin weint vor der Kamera im „heute journal“ des ZDF. Eine Frau in Mariupol überlebt die Vergewaltigung nicht, ihr Kind bleibt am Leben. Drei Soldaten einer russischen Panzertruppe, die über ein Mädchen herfallen. Es sind keine zufälligen Gräueltaten. Es ist ein System.

Dagegen erscheinen die Marodeure fast wie jämmerliche, kleine Diebe. Ein abgefangenes Telefonat zeigt aber auch hier die Abgründe der menschlichen Seele. Ein russischer Soldat, vielleicht sogar ein Offizier, berichtet ungeniert im Gespräch mit seiner Frau, wie er und seine Kameraden sich in einem verlassenen Haus schamlos bedienen. „Ich habe ein bisschen Kosmetik mitgenommen. Allerdings waren nur Probedöschen da … Dann Damensportschuhe, ein Paar NB, alles Markenartikel, weißt du … Größe 38.“

Alle Jungs würden sich die Tragetaschen vollstopfen, kein Problem. T-Shirts, Trikots, Vitamine. Eine sportliche Familie. Ein Haus mit Sauna. Die Soldaten würden sich schon seit zwei Tagen dort entspannen. Nur das Notebook will der Mann nicht mitgehen lassen, die Sache sei ihm doch zu heikel, man könne damit auffliegen. Das ruft bei seiner Frau nur Bedauern hervor, schließlich hätte ihre kleine Tochter, die bald zur Schule geht, doch einen Computer gebraucht. Ansonsten darf ihr Mann alles nehmen: je mehr, desto besser. Sie würde sich über einen „Gruß“ aus der Ukraine freuen. Und T-Shirts brauche man sowieso immer.

Die „Befreiung auf Russisch“ setzt sich fort. „Befreiung“ vom Eigentum. „Befreiung“ von jeglicher Würde. „Befreiung“ vom Leben. Eine andere Bedeutung des Wortes kennt man in Russland offenbar nicht mehr. Sie ist aus dem Wortschatz spurlos verschwunden.

„Schau doch mal, wie sie gelebt haben, ja? … Dafür kämpfen sie doch“. Die Frau des russischen Soldaten hat nichts kapiert. Sie war einfach nicht imstande zu verstehen, dass wir für die Freiheit kämpfen. Dieser Begriff ist in ihrem Heimatland längst zu einem Fremdwort geworden. Zu finden nur noch in einem Fremdwörterbuch.“

Konstantin Olmezov †

Am Sonntag, den 20.3.2022 hat sich der ukrainische Mathematiker Konstantin Olmezov (27) in Moskau das Leben genommen. Auch einer von Putins Toten. Auf Twitter auf dem Kanal „Ukrainian Mathematicians“ heißt es über Konstantin Olmezov:

„Konstantin Olmezov R.I.P. (1995-March 20, 2022) Konstantin was from Ukraine, he studied in Donetsk National University. He left Donetsk because of the war and eventually began graduate studies in mathematics in MIPT, Russia. Konstatnin was in love with additive combinatorics. He was also a poet, his telegram channel is full of poems. What follows is edited death note of Konstantin. He was detained for 15 days on February 26 during his first attempt to flee Russia. Then he was invited to continue graduate studies in Austria and tried leaving again. He purchased airplane tickets to Turkey, but second escape also wasn’t successful. Then he committed suicide.“

Aus dem abschiedsbrief auf seinem Telegram-Kanal, aus dem Russischen übersetzt von Maya Vinokour:

Hello. My name is Konstantin Olmezov. As of this writing, I am of sound mind and memory, and if you are reading it, most likely I will never write anything again.

Once, a long time ago, when I was first thinking seriously about that which cannot be named on the Russian internet, I started looking for self-help videos. In one such video, a psychologist says that the main thought that drives almost everyone who intends to do this is: “The world owes me and the world has not lived up to my expectations.” I took this idea to heart and realized that, given the situation at the time, such a position was inappropriate—and the problem was solved. I returned to life relatively quickly.

But now, I think exactly this: “The world owes me and the world has not lived up to my expectations.”

The world should strive to correct errors. And it doesn’t. The world should be comprised of thinking, empathetic, and responsible people. And it isn’t. The world should permit creative freedom and freedom of choice. And it constantly takes them away. The world should consider these demands normal. And it considers them excessive.

That which began on February 24 changed certain existential positions within me. It is more than horrible how people who only yesterday seemed to be leading quite mundane lives so easily acquired all the characteristics I’d read about in books. I am afraid our language doesn’t yet have words to reflect the extreme nature of what is happening. It turns out that in order to start resembling characters from books and songs, all you have to do is not read or listen to them; and millions of people are capable of doing this.

I came to Russia in 2018 to study mathematics. I came because I had fallen in love with a type of mathematics that wasn’t represented in Ukraine—additive combinatorics. I fell in love for real, I was head over heels—the way people fall in love with people. I spent days and nights with it. My love wasn’t especially diligent, my mathematical achievements are very modest, but there’s actually no contradiction there, because I do even worse when it comes to regular love.

I was always critical of Russian politics and always thought Russian culture was on a higher plane. I thought it capable of transcendence. This illusion inside my head was almost unshakeable, but now it has dropped away, all at once and irrevocably. Vysotsky, Filatov, Shpalikov, Astrakhan, Tarkovsky, Mikhalkov (before his recent demonic possession)1, Vinogradov, Linnik, Shkredov, Tchaikovsky, Rakhmaninov, Scriabin—I’m afraid that these and many other names mean absolutely nothing to the majority of those whose actions the majority of Russians currently support. They mean nothing to them to a point we can’t even imagine. But regardless, they support them.

It’s so ridiculous that everyone still believes that you can achieve everything by force. That if you break people hard enough over your knee, you can force them to forget what is happening right in front of them. That if you gag everyone, you can suffocate their thoughts, too. You would think these observations belong in the realm of politics or psychology, but no, it’s culture yet again—it’s not a strategy for working with reality, it’s an expression of an attitude toward the phenomenon of subjectivity as such. That’s what it means when “being determines consciousness.”

On February 26 I attempted to leave Russia. This was a somewhat stupid act, but only insofar as it was poorly planned. I don’t regret it, I only regret that I didn’t do it on the 23rd, when there was already every reason to do so.

I was leaving to defend my country, to defend it from those who wanted to take it away from me. To defend my president, whom I myself elected, the same way a boss feels obligated to defend a subordinate. Speaking of which, I didn’t vote for Zelensky in the first round of elections in 2019. And I wouldn’t have voted for him in 2023, either. But however unpleasant I found him, what matters to me is freedom of choice and the freedom to take responsibility for that choice, responsibility up to and including fully experiencing the consequences. This is very difficult to explain to many Russians and pro-Russian Ukrainians—how violent changes from the outside, even if they improve well-being across all possible parameters, might be unacceptable just by virtue of being violent and coming from outside. It’s a little bit like rescuing someone from their helicopter parents.

They arrested me as I was getting on the bus. The fault for this lies, I think, with my own big mouth and one person with whom I rashly shared my plans. Once arrested, I concluded that my freedom had been taken away forever, and told the FSB everything I thought about what’s going on, right to their faces. That was stupid, but it couldn’t have been otherwise. It was the last thing I could hit them with, and I lashed out with all my might. I was even amused at how helplessly they tried to answer me, how absolutely innocent their faces looked as they repeated the crudest propaganda clichés with total guilelessness.

Once confined to a cell, I sought only one thing—death. I made no fewer than ten attempts using seven different methods. In retrospect, some of these seem silly and obviously doomed to fail, but they were sincere attempts. And the only thing I dreamed of, sitting there, was to be released in order to gain the opportunity to make a final attempt, this time with a fair chance of success. (By the way, I still don’t understand why they released me in the end.)

To me, unfreedom is worse than death. My whole life, I’ve tried to have freedom of choice in everything—in food, in my profession, in my place of residence, in the type of soap I use to wash my hands and which party I vote for. I only ever ate food that tasted good to me, and if I didn’t have the opportunity to do so, I preferred to go hungry.

There are only two methods of fighting unfreedom—displacement and rejection. Displacement is when you’ve been able to choose freely all your life, and then, when they lock you up, you start to pick out books to read during your imprisonment. I can only fight unfreedom by rejecting it, by refusing to remain in the very situation of unfreedom. If I am prevented from choosing how and where to live, I prefer simply not to live.

I love Donetsk very much, even if it is with a strange love.2 Despite my vile childhood, it’s still the city where I wrote my first computer program, my first poem, went onstage for the first time, earned my first paycheck. It’s the city where every little bench, every twist and turn of the path in every park is saturated for me with its own kind of rhyme, with some problem that I worked to solve there, with names, faces, with pleasant and terrible events. Every corner of every path.

I love Kyiv very much—it’s the city where I first attained an independent life, where I first endured hunger and loneliness, where I first fell truly in love, where I wrote my best poems. While I lived there, there was a period when I wrote two poems every three days, more than ever before. Every bridge over the Rusanivsky Channel, every tree in the woods behind the Lisova metro station, every bench in Victory Park are suffused for me with their unique forms of pain and love.

I love Moscow very much—it’s the city where I first stood on my own two feet, became financially independent, where I proved my first and only theorems, where I really and truly started believing in my own abilities. Where there is Tsaritsyno! I feel pain for both sides in this war, but I see with my own eyes who’s defending their own land, and who’s trying to seize someone else’s.

I see with my own eyes who’s defending their right to be responsible for their own life, and who seeks to justify their own degradation.

There’s this hackneyed question: “to be or not to be.” I always tried to ask myself that from time to time. I feel like if a person doesn’t ask themselves that question on a regular basis, then the continuation of their life cannot be a conscious choice.

It’s a well-known question, but the author follows it up with another: “whether ‘tis nobler in the mind to suffer/ The slings and arrows of outrageous fortune.” The answer to that question is unequivocal for me today: to be silent, to lie, to pretend that nothing is happening either in the world or in my soul—is indecent; to put myself in harm’s way and spend my whole life in prison, helpless—is indecent; to live in hiding, thereby bringing trouble on the heads of others, to constantly seek help, to fear everyone—is indecent; to act as a partisan, doing harm to another nation while on its territory—is doubly indecent. I’m a Ukrainian, a person of another culture. (I know that some will think this is a weakness; so be it.) I don’t see a way to continue to live decently.

At some point I became hopeful that my second attempt to leave would be successful. I am immensely grateful to the people who gave me the gift of that attempt and apologize for not being able to make use of it. I am too afraid of being imprisoned again, for real this time—I did too many stupid things during my first arrest.

Not to mention that I am disappointed in both individual people and humanity as a whole. When, in the 21st century and in the middle of the night, an army attacks a completely foreign country that presents no danger to it and every soldier understands what he is doing but pretends he doesn’t. When a government official says, “We didn’t attack,” and journalists amplify that message. And every journalist understands that it’s a lie but pretends not to. When millions of people look on and understand that what is being done will be on their conscience and their history, but pretend that it has nothing to do with them. When black is called white and softness—bitterness, and not in a conspiratorial whisper or with winking irony, but seemingly from the heart. When Zadornov’s joke about the American who says that “Russians are cruel because they attacked the Swedes near Poltava” ceases to be a joke and stops being about an American talking about Swedes.3 When the world seriously considers the possibility of the very thing it has been trying to prevent for seventy-five years, but doesn’t consider any new models of prevention. When force once again claims to be the main source of truth, and betrayal and hypocrisy—the main source of peace.

When all of this is happening all around us, I utterly lose hope that humanity will take a different path. I utterly lose the desire to do anything for or with these people. I knew that we would backslide sooner or later, that the beast is incorrigible. But I couldn’t imagine that it would be so quick or so simple, like the flip of a switch.

Does what used to lend meaning to our lives make sense any longer? Of course everything will return, but it will return just as weak as before, and fall just as easily as soon as some thug takes a swing at it.

I can’t say I’m ashamed of my life, but I could have done better. I mostly didn’t have time to accomplish the things that only I can do and that would have improved people’s lives. But would they even be useful now?

I wanted to create an app that helps people make conscious decisions, that enables people to hold what I thought of as internal referenda, answering the same question many days in a row. This idea gave me life, but who needs elections and referenda now? Who is actually interested in even their own opinion? I wanted to “color in” Szemerédi’s theorem, transforming a mathematical proof into a creation at the intersection of the arts, into something on the scale of a film. I am certain that mathematics deserves as much.

I wanted to help people escape cognitive distortions and logical contradictions, to seek and formulate their own models of the world. I feel like I was good at that.

None of that matters anymore, and I’m writing about it not to arouse pity, but to insist on its significance.

I was unforgivably lazy and thought I had a lot of time. That was a big mistake.

I feel somewhat ashamed before my Ukrainian friends. Please believe that I never wanted or did anything to hurt Ukraine and always kept in mind my readiness to leave if, by chance, what is happening now were in fact to occur. Unfortunately, I was simply unable to do so, my approach wasn’t savvy enough . . . The FSB agents who detained me spoke to me as though I were a traitor, but on the morning of February 24 it was I who felt betrayed. Yes, it may seem silly—but even having acknowledged, rationally and out loud, that war was possible, on an emotional level it was a shock, to a shocking degree. I was naively certain that juridical tact toward Ukrainians would make it possible to escape when things came to a head. But I had stuck my head too deep into the tiger’s maw. That was the second big mistake; I’ve certainly made a few, and now I have to pay.

I hurt from every shell that falls onto the streets of Kyiv. Reading the news, I keep seeing those streets and neighborhoods in my imagination.  From the first day to this moment I was with you heart and soul, although, of course, that didn’t save any lives . . .

I am an absolute atheist. I don’t believe in hell, I’m heading into the void. But that void appeals to me more than a reality in which half the people have devolved into savagery, while the other half indulges them—even if they throw up their hands in collective insanity, even if they “evacuate” far away from the front lines. I don’t want any part of either.

And last but not least, a little poem:

Do Russians want no war posters?
Ask the armored riot police;
Ask those diving down into the metro;
Ask the one clinging to the throne.

Do Russians want broken cities?
Ask the overstuffed trains.
Do Russians want destroyed hospitals?
Ask the dried-out eye sockets of infants.

Do Russians want to change anything at all?
Ask what few news media are left.
Do Russians want to root out Nazism?
Ask the students emblazoned with the “Z.”4

Your calling card will be this awful year,
You truly unwavering people,
Prepared to bathe in blood or shit,
So long as all no war posters disappear.

Хотят ли русские плакатов „нет войне“?
Спроси об этом у омоновца в броне,
Спроси об этом у ныряющих в метро,
Спроси об этом у вцепившегося в трон.

Хотят ли русские разбитых городов?
Спроси об этом у забитых поездов.
Хотят ли русские разрушенных больниц?
Спроси у высохших младенческих глазниц.

Хотят ли русские хоть что-то изменить?
Спроси об этом у оставшегося СМИ.
Хотят ли русские искоренить нацизм?
Спроси об этом у студентов с буквой „цыц“.

Твоей визиткой станет этот жуткий год,
Воистину непоколебленный народ,
Готовый хоть в крови купаться, хоть в говне,
Но лишь бы не было плакатов „нет войне“.

Was von einem Leben übrigblieb: Boris Romanchenko

Dies ist, laut der Facebookseite von Igumen Savvatiy Sobko, das, was vom Leben des 95jährigen Boris Romanchenko aus Charkiw übrig blieb. Romanchenko überlebte vier Konzentrationslager der Nazis: Buchenwald, Mittelbau Dora, Bergen-Belsen und Peenemünde. Putins Angriffskrieg auf die Ukraine überlebte er nicht.

Krieg wird manchmal dann verständlicher, wenn wir ihn am Einzelschicksal zeigt. Dazu sind Photographien wie diese da. Manchmal leisten das Reportagen. Im Fall von Boris Romanchenko wäre beides gut gewesen: Die Geschichte seines Lebens und sein Ende in Russenraketen zu erzählen. Eine Sache für das ZEIT-Dossier wäre dies.

Nach einem Monat des Mordens und Zerstörens, des Einsatzes von Steumunition hört der Mörder aus Moskau mit dem Töten nicht auf. Er hätte verhandeln können und seinen Angriff für die Zeit der Verhandlung stoppen können. Das alles tat Putin nicht. Das einzige, was ihn stoppen kann, ist militärische Gegenwehr. Und das bedeutet: die Ukraine mit allem an Waffen, an Material und an Hilfsgütern zu unterstützen, was sie braucht. Wir sind im freien Europa Millionen von Menschen, wir können spenden und helfen, jeder wo, er kann. Und langfristig gesehen muß es die Perspektive sein, daß auch Rußland zu einem freien Europa gehört, wo Menschen ihre Regierung und ihre Lebensform frei wählen können, wo sie auf der Straße demonstrieren können, ohne verhaftet und zusammengeschlagen zu werden. Wo Menschen als Journalisten frei schreiben und arbeiten können, ohne ermordet zu werden, wie die Journalistin Anna Politkowskaja, oder zusammengeschlagen zu werden, wie Nikolai Andruschtschenko in St. Petersburg. An den Folgen des Überfalls verstarb Andruschtschenko. Das ist das Rußland Putins. Es gehört beseitigt. Und dieser Angriff auf die Ukraine ist, anders als Putin sich dies dachte, der erste Schritt zu seinem Ende. Der Kreml-Kritiker Michail Chodorkowsk formulierte es im Tagesspiegel sehr richtig: „Putin ist ein Mafioso“. Aber das trifft nur einen Teilaspekt:

„In der Vorbereitung des Krieges habe Putin eine Reihe von Fehlern gemacht, sagte der Kreml-Kritiker, der auf Einladung des Zentrums Liberale Moderne in Berlin ist. Der russische Präsident sei sicher gewesen, dass seine Truppen in der Ukraine wenn nicht mit Blumen, so doch ohne Widerstand empfangen würden. Vor dem Einmarsch seien riesige Geldsummen zur Verfügung gestellt worden, damit in den ukrainischen Städten russlandfreundliche Kräfte bereitstanden. „Dieses Geld ist einfach geklaut worden“, sagt Chodorkowski mit einem Lächeln. Auch das Geld, das für die Modernisierung der russischen Armee ausgegeben werden sollte, sei gestohlen worden.“

Solches immerhin macht Hoffnung. Und die Korruption, Rußlands erstes Exportgut, noch vor dem Gas, schlägt am Ende um, weil die Gier stärker ist als Verstand.

Harald Martenstein und der Tagesspiegel

Die Causa Tagesspiegel, das Schnarchblatt aus Westberlin, das es gestern nicht einmal vermochte, zum 75. Geburtstag des genialen Henry Hübchen zu gratulieren, dürfte inzwischen auch in überregionalen Medien gelandet sein. Der Tagesspiegel hat letzte Woche eine Kolumne ihres langjährigen, seit 1988 für diese Zeitung schreibenden Journalisten und Kolumnisten Harald Martenstein offlline gesetzt, worauf Martenstein seine Mitarbeit für diese Zeitung aufkündigte. Konsequent von Marteinstein, beim Tagesspiegel aufzuhören. Ich schätze nicht nur seine Texte sehr, sondern auch seine Haltung. Dies ist wie mit Harald Schmidt: ab einem bestimmten Alter tun viele Dinge nicht mehr weh und man kann den Leuten auch ins Gesicht sagen, was man von ihnen hält. Martenstein ist einer jener, die witzig und lässig zugleich sind. Ein bißchen so, wie früher unsere altlinken Kunst- oder Philosophielehrer.

Hier der Text der gelöschten Kolumne zum Zwecke der Dokumentation. Damit sich jeder selbst ein Bild machen kann und nachfolgend mein Kommentar dazu:

Anfang Januar 2012 demonstrierten in Jerusalem ultraorthodoxe Juden gegen die Regierung, viele trugen dabei den „Judenstern“ aus der NS-Zeit. Ihrer Ansicht nach verhielt sich der Staat Israel ihnen gegenüber so ähnlich wie die Nazis. Auch beim „Marsch gegen Islamophobie“, 2019 in Paris, waren Judensterne zu sehen, nur mit fünf Zacken statt sechs.

Laut Godwins Gesetz, benannt nach einem US-Autor, taucht in jeder öffentlichen Diskussion von emotionaler Bedeutung irgendwann ein Nazi-Vergleich auf. Godwins Gesetz kommt der Wahrheit ziemlich nah. Dass Donald Trump, Wladimir Putin, Sebastian Kurz oder die AfD heute mit Hitler oder der NSDAP verglichen oder gar gleichgesetzt werden, versteht sich von selbst, obwohl sich dabei Historikern die Fußnägel hochrollen und man so etwas durchaus „Verharmlosung des Holocaust“ nennen könnte. Origineller war die britische Zeitschrift „New Statesman“, als sie Angela Merkel „die gefährlichste deutsche Führungspersönlichkeit seit Adolf Hitler“ nannte, originell sind auch Vergleiche der NSDAP mit der CSU (etwa durch den SPD-Politiker Florian von Brunn). Den Vogel abgeschossen hat wohl Dieter Dehm, Linkspartei, als er die Bundespräsidentenwahl 2010 so kommentierte: „Was würden Sie machen, wenn Sie die Wahl hätten zwischen Hitler und Stalin?“ Zur Wahl standen Joachim Gauck und Christian Wulff.

Wer den Hitlervergleich bemüht, der natürlich nie stimmt, möchte sein Gegenüber als das absolut Böse darstellen, als Nichtmenschen. Der Vergleich will Hitler gerade nicht verharmlosen, er macht ihn zu einer Art Atombombe, die einen politischen Gegner moralisch vernichten soll. Der Judenstern dagegen soll seine modernen Träger zum absolut Guten machen, zum totalen Opfer. Er ist immer eine Anmaßung, auch eine Verharmlosung, er ist für die Überlebenden schwer auszuhalten. Aber eines ist er sicher nicht: antisemitisch. Die Träger identifizieren sich ja mit den verfolgten Juden. Jetzt, werden auf Corona-Demos häufig Judensterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ getragen. Von denen, die das „antisemitisch“ nennen, würden wahrscheinlich viele, ohne mit der Wimper zu zucken, Trump mit Hitler und die AfD mit den Nazis vergleichen. Der Widerspruch in ihrem Verhalten fällt ihnen nicht auf.

Ein Supermarktleiter hat vor ein paar Jahren seine Sekretärin, die ihm wohl zu dominant auftrat, mit den Worten „Jawohl, mein Führer!“ gegrüßt. Sie klagte, wegen Hitlervergleichs, er wurde fristlos entlassen. In zweiter Instanz wandelte ein weises Gericht die Kündigung in eine Abmahnung um. Die einzige Kirche, der ich angehören möchte, ist die, die man im Dorf lässt. Dieses Zitat stammt von dem „konkret“-Chefredakteur Hermann L. Gremliza, einem meiner Jugendidole.

Man muß diese Sicht nur bedingt teilen und auch Martenstein entschuldigt das Tragen von Judensternen keineswegs, aber seine Kolumne ist dennoch gut gewesen und eine Zeitung wird auch solche Position aushalten müssen und können und es sollten dort auch solche Zeilen sagbar sein – zumal Kolumnen und Glossen keine Nachrichten und Reportagen sind, sondern Sichtweisen einer bestimmten Person zeigen. Etwas mehr Ambiguitätstoleranz hätte dem Tagesspiegel gut angestanden. Konsequenterweise hat Martenstein dann gekündigt und die Arbeitsbeziehung abgebrochen.

Martenstein schreibt teils Satiren und milde, sehr milde Polemiken, die immer mit einem Augenzwinkern daherkommen und die im Ton freundlich sind. Man lese zum Gegenpol einfach mal den teils herrlichen bissigen Wolfgang Pohrt sowie den fein-nfrechen Wiglaf Droste oder den zuspitzenden und mit Polemik nicht sparenden und von Martenstein oben genannten Herman L. Gremliza (alle leider schon tot) – da wird deutlich ätzender und beißender in der Kritik ausgeteilt. Aber die weiß- und weichgespülten Mingelbürschen und Mingel-Mägdelein hören bei anderen das Gras laut wachsen, nur eben leider nicht bei ihrem eigenen, teils übergriffigem Verhalten.

Harald Martenstein gehört in meinen Augen mit zum Besten, was an Kolumnenschreibern so schreibt. (Er teilt im übrigen gegen alle aus, nicht nur gegen Woko Haram.) Das ZEIT-Magazin, seit Jahren ein Schatten seiner selbst und noch überflüssiger als die Beilage für ZEIT-Werbung aus dem ZEIT-Shop, lebt einzig durch die Kolumnen von Martenstein und die Kochrezepte von Elisabeth Raether. Selten lese ich dort eine gute Reportage, meist aber lustige Kolumnen. Und so war es auch am Sonntag im Tagesspiegel. Aber der neuerdings erhobene vornehme Ton derer, die da anbräunen, wo nichts zum Anbräunen ist, wird vermutlich nicht verstummen, und es werden die Debatten und die hysterischen Einsätze, von beiden Seiten, den Fake-News-Verbreitern und der Woko Haram, schärfter. Es gilt, dagegenzuhalten. Gegen beide Seiten.

Martenstein ist ein astreiner Linker, der innerlinke Kritik an der Mingelkindskopflinken und an deren Identitären betreibt – so wie das früher in den 1980er Jahren auch die Titanic tat, wenn sie über das absurde Gebaren des Alternativmilieus und die Betroffenheitsschwätzer herzog. Ich erinnere noch gut die Rubrik „Briefe an die Leser“, wo Bettina Wegener in Anspielung auf die Textzeile „Wenn meine Lieder nicht mehr stimmen, hör ich auf zu singen“ gebeten wurde, doch bitte mit dem Singen aufzuhören. Oder aber Eckhard Henscheid, der einer bestimmten Linken in scharfem und witzigen Ton ihre Phrasen um die Ohren schlug. Oder zeichnerisch F. W. Bernstein, Clodwig Poth und Marie Marcks. Und der Ton der Kritik und der Satire war damals teils deutlich schärfer. Erinnert sich noch jemand an die Geiselnehmer in Gladbeck mit dem Viererphoto im Auto und dazu von Titanic die Bildmontage „Abba sind wieder da!“? Ja, das war hart und bitter und an schwer an der Grenze, vor allem aber war es eine bissige Satire gegen das Verhalten vieler Medien. Dagegen ist Martenstein ein alter, freundlicher, weißer Mann.

PS: Eigentlich hätte ich meine Kolumne mit dem provokanten Titel versehen müssen „Nazis, mit langen Haaren“ – frei nach jenem Schlagertext „Mädchen mit blonden Haaren“ (kennt heute vermutlich keiner mehr). Aber dieser lustige Titel fiel mir erst hinterher ein.

CC-Lizenz Wikipedia; https://commons.m.wikimedia.org/wiki/File:Kolumnist_Harald_Martenstein.jpg

Der fliegende Robert

Wenn der Regen niederbraust,
Wenn der Sturm das Feld durchsaust,
Bleiben Mädchen oder Buben
Hübsch daheim in ihren Stuben. —
Robert aber dachte: Nein!
Das muß draußen herrlich sein! —
Und im Felde patschet er
Mit dem Regenschirm umher.

Hui, wie pfeift der Sturm und keucht,
Daß der Baum sich niederbeugt!
Seht! den Schirm erfaßt der Wind,
Und der Robert fliegt geschwind
Durch die Luft so hoch, so weit;
Niemand hört ihn, wenn er schreit.
An die Wolken stößt er schon,
Und der Hut fliegt auch davon.

Schirm und Robert fliegen dort
Durch die Wolken immerfort.
Und der Hut fliegt weit voran,
Stößt zuletzt am Himmel an.
Wo der Wind sie hingetragen,
Ja! das weiß kein Mensch zu sagen.
(Heinrich Hoffmann)

***

Der Fliegende Robert

Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter! –,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draußen stürmt,
euern Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.

nach 1970
[Hans Magnus Enzensberger]

Der Parlamentspoet oder vom Beruf des Dichters

Ich werde mich wohl, nachdem vor einigen Tagen bei mir das Buch „Texte und Materialien zur Geschichte der RAF“ eingetroffen ist und mich ästhetisch inspirierte, denn doch auch als Parlamentsprolet bewerben. Ich habe bereits mit einem ersten Entwurf für eine Bewerbung begonnen – sozusagen „Notizen aus der Begeisterung“:

Oh, Hohes Haus, oh reine Übersteigung
Oh Abgeordnete, vor dir eine Verneigung
Oh hohe Rede,
alter Schwede.

Schöne Frau in weißem Mieder,
Sehn wir uns nach der Debatte wieder?
Oder wirst Du an mir vorbei gar gungen?
Ein „Guten Tag!“ nur abgerungen.

Banknachbarin von der SPD
Wann ich dich jemals wiederseh?
Liebesleid auch in diesen Hallen.
Da tat sie mir gleich eine knallen:

„Du Chauvi, frecher Macho-Mann,
fäßt du mich an meim Mieder an!?
Das tue niemals wieder!“

Im Winter blüht kein Flieder.
So verlasse ich betrübt den Saal.
Voll stiller, grauer Liebesqual.

Oh holdes gutes Parlament,
Du schenktest mir die Liebesstunden.
Doch bleiben, ach, am Ende nur die bittersüßen Wunden.
In jenem, der vor Liebe brannte.

Vor Troja haben wir gefochten.
In Schnellroda zogen wir in Wachs die Dochten
Die Arbeiter gilt es zu befreien:
Sie stellten sich in unsere Reihen.

Da lacht die Frau im weißen Mieder:
„Deine Sozialromantik wieder!
Du schöner Mensch, der du lebst in alten Zeiten.
Soll ich Dich heute nach Haus begleiten?“

„Bin weder unbeweibt noch schön,
Kann gut allein nach St. Eglitz gehen
Ansonsten tuts der Fahrdienst auch
Das ist im Bundestag so Brauch.“

Zwar ist dies bisher bloß eine lose Folgen von Reimen, der Zug und die Geschichte fehlt hier noch. Aber da auch in Parlamentsdebatten vieles unvollkommen ist, denke ich, daß diese Zeilen denn eine gute Bewerbung als Parlamentspoet sind. Vorab für die Planung dieser Dichtlung läßt sich allerdings schon einmal sagen, daß sie getragen ist von Thomas Bernhards Menschheitskomödie „Das Rad der Geschichte“, wie er sie in „Der Theatermacher“ entfaltet. Diese epische Dichtung wird, wie die Illias, achtzehn Gesänge umfassen, aber multipliziert um die Zahl der magischen Sieben. Sie darf nur im Ganzen vorgetragen werden.

Aber Scherz und schiefere Bedeutung beiseite: Interessant wäre es zu sehen, was dieselben Leute sagen, die jetzt noch jubeln und die Idee knorke finden, wenn plötzlich Uwe Tellkamp oder Jörg Bernig ins Spiel kämen: da wird dann vermutlich von der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Katrin Göring-Eckardt der geteilte Mantel des barmherzigen Samariters ganz schnell in die warme Stube gebracht und aus ist’s mit Toleranz und Pluralität.

Wenn man freilich die Leute, die solchen Posten vorschlugen, ernst und beim Wort nimmt und den Gedanken tatsächlich aufgreift, daß es bei diesem Posten nicht um einen Staatsdichter geht, weil es nicht die Regierung selbst ist, sondern das Parlament mit seinen verschiedenen Parteien, das einen Dichter „bestellt“, also kein „Staatsdichter“, dann könnte jede Fraktion, die im Parlament in Fraktionsstärke sitzt, für sechs oder sieben Monate einen solchen Poeten vorschlagen. Und wenn der Dichter annimmt, dann wird er eben jener Parlamentspoet. Das können so unterschiedliche Dichter sein wie Juli Zeh, Dietmar Dath, Monika Maron, Ursula Krechel, Jörg Bernig, Rainald Goetz, Uwe Tellkamp, Navid Kermani, Martin Mosebach, Karen Duve, Thea Dorn, Jenny Erbenbeck. Das wären dann in der Tat unterschiedliche Stimmen und vielleicht kommt sogar was Brauchbares heraus. Aber ob man das wirklich in dieser Weise braucht, bleibt fraglich, zumal sich ja immer schon und eh manche Dichter ins Getümmel des Alltagspolitischen geworfen haben.

Freilich: Ich hege bei einigen Leuten, die diesen Posten vorschlugen, nur leider den Verdacht, daß es da gar nicht um unterschiedliche Stimmen und unterschiedliche ästhetische Ausarbeitungen geht, sondern daß vielmehr die Stimmlage in etwa so ausfällt wie der Spielplan des Berliner Gorki-Theaters, ein Buch von Max Czollek oder eine Kolumne von Stokowski. Zudem habe ich den Verdacht, daß es hier vielmehr um ein Projekt von Alimentierung für eine bestimmte Richtung von Künstlern geht. Das muß nicht so sein, aber die Gefahr ist doch vorhanden und schnell werden die üblichen Verdächtigen um die Futtertröge sich scharren. Mit dem Amt eines Stadtschreibers kann ich mich in vielerlei Weise anfreunden. Mit dem des Parlamentspoeten nicht. Und das nicht etwa, weil es von der DDR her und von anderen damaligen Zeiten einen schlechten Klang hat, sondern aus ästhetischen Gründen. Ganz zu recht schreiben Dana von Suffrin und Tijan Sila in ihrem lesenswerten Artikel in der SZ vom 10.1.2022:

„Wir glauben an eine unabhängige Kunst: Wir Künstler sind nicht systemrelevant und wollen es auch nicht sein. Wir wollen als Künstler keine Verantwortung in einem Staat tragen. Künstler liefern selten eine zuverlässige moralische oder politische Orientierung. Sie sind keine Maskottchen, sie sollten auch keine Symbole werden, auch nicht für ein kleines Honorar. Das bedeutet nicht, dass Künstler und Kunst keinen Einfluss auf gesellschaftliche politische Prozesse nehmen können, aber sie müssen sich nicht fortwährend bewähren oder sich durch behauptete Systemrelevanz eine Daseinsberechtigung erschwindeln. Kunst muss nicht unmittelbar politisch nutzbar werden.“

Und weiter heißt es darin im Blick auf die Knete:

„Wir stehen morgens auf, heften am Monatsende unsere Gehaltsabrechnungen in Leitzordnern ab und sammeln Rentenpunkte. Abends schreiben wir dann an unseren Büchern, die, ehrlich gesagt, nicht viel gelesen werden, aber wir lieben und brauchen das Schreiben eben. Wer Schriftsteller sein möchte, verbringt wenig Zeit damit, sich zu fragen, wieso und wozu – es ist nun mal ein Bedürfnis, manchmal sogar ein Zwang. Was man sich als Schriftsteller hingegen oft fragt, ist, wie – wie soll man dem Bedürfnis nachgehen, wenn die Welt sich immer weniger für Literatur interessiert? Wir bekommen hin und wieder einen Vorschuss und werden für Lesungen bezahlt, aber ein sicheres Einkommen ist das nicht. Deshalb sind wir auf ihn angewiesen: den Brotberuf – und das ist so in Ordnung. Um das schreiben zu können, worauf man Lust hat, darf man nicht finanziell auf Literatur angewiesen sein. Nur so entzieht man sich der Not, in seinem Werk Debatten hinterherzurennen und Sujets zu bearbeiten, weil man glaubt, dass sie die Öffentlichkeit interessieren. Um schreiben zu können, was man selbst braucht, braucht man einen Beruf. Gedichte für Politiker zu schreiben ist allerdings keiner, aus gutem Grund.“

Von dem Begehren danach alimentiert zu werden, und dem Heranschleimen an Fördergelder einer bestimmten Gruppe aus dem Bereich der identitären Linken will ich hier gar nicht einmal sprechen: da wo nicht Dichtung, sondern die richtige politische Haltung überwiegt – das wäre ein weiteres Thema. Und diesen Satz kann man gar nicht oft genug betonen: „Wer Schriftsteller sein möchte, verbringt wenig Zeit damit, sich zu fragen, wieso und wozu – es ist nun mal ein Bedürfnis, manchmal sogar ein Zwang.“ Man sollte ihn manchen Leuten und Leutinnen aus der Fraktion „Mingeln, Jammern, Klagen“ übers Bett tapazieren. Ja, vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt, dreckigen, stinkenden Musenschweiß. Und viele wollen zwar, aber wenige schaffen es – auch dies sollte jedem Autor, jedem Dichter, jedem Künstler klar sein. Und oft ist der Betrieb gerade zu den besten ungerecht. Kunstmachen ist ein Wagnis – auch finanziell. Und es bedeutet teils auch Lebenseinschränkung. Etwas, das viele heute nicht gerne mehr hören: Verzicht auf bestimmte Dinge, weil nämlich Zeit zum Schreiben ein kostbares Gut ist.

Furchtlos bleibt aber, so er es muß, der Mann
Einsam vor Gott, es schützet die Einfalt ihn,
Und keiner Waffen brauchts und keiner
Listen, so lange, bis Gottes Fehl hilft.

Das ist das Ende von Hölderlins Ode „Dichterberuf“. Sicherlich kein hilfreicher Rat. Eigentlich gar keiner. Man kann solches Dichten (binnenästhetisch genommen) auch in den Rat „An die jungen Dichter“ fassen, ebenfalls von Hölderlin und wie am Tone unschwer zu hören, aus einer anderen Zeit:

Lieben Brüder! es reift unsere Kunst vielleicht,
Da, dem Jünglinge gleich, lange sie schon gegährt,
     Bald zur Stille der Schönheit;
          Seyd nur fromm, wie der Grieche war.

Liebt die Götter und denkt freundlich der Sterblichen!

Haßt den Rausch wie den Frost! Lehrt und beschreibet nicht!
     Wenn der Meister euch ängstigt,
          Fragt die grosse Natur um Rath.

St. Martin in Vincoli

St. Martinstag finde ich jedes Jahr erneut rührend und schön – wenn nicht all die Kinder da wären. Nein, Scherz beiseite: Hier in dem doch im ganzen angenehmen Stadtteil der ansonsten widerlich verranzten Stadt, in der ich lebe, gab es heute abend einen großen St. Martinszug. Ich habe ihn mir angesehen, denn ich mag Laternelaufen und Kinder mit ihren Laternen. Meine schöne blaue Laterne mit dem guten gelben Mond darauf habe ich damals geliebt. Die Musik heute schallte zwar etwas kläglich – lediglich ein Bläserensemble von fünf Mann. Die Kinder und die Erwachsenen hätten mehr singen können (eigentlich sangen sie gar nicht), ich hätte die Kinder mit den Werkzeugen der Inquisition dazu angehalten, fröhlich-melancholisch St-Martinslieder abzusingen, aber gut, ich bin leider kein Mann der Kirche.

Wir damals in „Born in Hamburg-Horn“ hatten auch St. Martin, aber bei uns im Arbeiter-Aso-Osten hieß das Laternenumzug, da spielte, wie das Anfang der 1970er üblich war, ein ganzer Spielmannszug auf und schmetterte. (Ich liebe im übrigen Spielmannszüge, wer da Bildbände für mich hat, bitte melden.) Schöne Geschichte einer Horner Freundin dazu, von anno dunnemals, sie war damals vielleicht vier Jahre und ging mit ihrer drei, vier oder fünf Jahre älteren Schwester, in die ich mich in der Schultheater-AG zehn Jahre später schwer verlieben sollte, aber das ist eine andere Story, auf diesen Laternenumzug. Der Spielmannszug spielte und am Ende des Zuges schlug ein Mann die Pauke und irgendwie dahinter schlenderte auch ein Polizist. Die kleine Schwester der zukünftigen Theaterliebe fragte, warum der Polizist dort ginge, worauf die große Schwester mit viel Ernst antwortete: „Damit der Mann mit der Pauke dem der vor ihm geht, nicht den Paukenschläger auf den Kopf haut!“ So war Hamburg-Horn und ja, ich hatte mich in das richtige Mädchen verliebt.

(Das Photo stammt aus unserem, nun ja, Einkaufszentrum und ist aus genau jener Zeit. Allerdings nicht zum Laternenumzug, wie man unschwer sieht. Der Bengel hinten links auf dem roten Rad mit der Vistramjacke könnte ich sein – ich rätsele noch.)

Und im Abschluß noch ein guter Song, den ich gerade bei einem Facebookfreund zu diesem schönen Anlaß sah und hörte. Man muß Korrespondenzen erzeugen: „Und er zerteilt sein Maillot Jaune.“