Mondsüchtig – Flüchtige Skizzen, auch im Hinblick auf die Jenaer Frühromantik

„Wir sind auf einer Mißion: zur Bildung der Erde sind wir berufen.“
(Novalis, Blüthenstaub)

„Der Mond ist nichts als eine Hypothese beim
Schreiben eines alltäglichen Gedichts in diesem alltäglichen
Gefängnis aus Seitenstraßen, Straßenecken, verstaubten kleinen Buden, …“
(Rolf Dieter Brinkmann, Westwärts Teil 2)

Es landete die Fähre, es tat der Astronaut seinen ersten Schritt. Ich erinnere nur, daß ich geschlafen habe, und auch das erinnere ich nicht, weil ich eben schlief. Ich erinnere, daß ich ein Kind war und daß am Morgen die Eltern aufgeregt und voll von Euphorie sprachen: Es sei ein Mensch auf dem Mond. Ich begriff es nicht ganz mit meinen vier Jahren. Es war doch hell schon, was hatte der Mond damit zu tun? Für mich war der Mond ein poetischer Gegenstand, er beschien nachts die lieben Häschen, die Rehe und den Fuchs auf der Waldwiese, auch in unserem Zaubermärchenwald schien er nachts und beleuchtete die Geschöpfe. In seinem Licht tanzte das Rumpelstilzchen und es sagten sich dazu Fuchs und Hase gute Nacht, es ein Ort, wohin der Maikäfer Herr Sumsemann in „Peterchens Mondfahrt“ reiste, und es war ein verschrobener, aber irgendwie auch gemütlicher alter Mann, der dem kleinen Häwelmann ins Gesicht leuchtete und ihn ob seines Ungestüms rügte. Und als es der dumme kleine Häwelmann zu bunt trieb, strafte der Mond ihn und ließ sein Licht verlöschen. Später dann war der Mond eben Frau Luna: die schöne Bleiche, die ätherische Frau. Daß „Mondlicht in einem Baugerüst“ eines der von mir geschätzten Gedichte werden sollte, ahnte ich am 20. Juli 1969 nicht.

Mondlicht in einem Baugerüst
am Ende des 20. Jahrhunderts, einfach wie
Mondlicht in einer übriggebliebenen
Allee, schön wie ein langes Klaviersolo Lennie Tristanos,
ein Bücherregal mit noch nicht gelesenen

Büchern, kräftig wie ein Güterzug, flache Schatten,
Entzückungen: voller Mond im September über der
Seitenstraße in der Innenstadt abends 9 Uhr. Das Wort
Mondlicht erinnert mich u.a. an Mondlicht und

nachts im leeren Gang eines Schnellzuges am Fenster
zu stehen und hinauszublicken auf eine Landschaft,
über der das Mondlicht ausgebreitet ist, offen,
gewöhnlich und unsentimental wie eine dunkle

Tankstelle in der sonst menschenleeren Weite,
oder wie Sonntagnachmittag drei Uhr „hang on,
sloopy“ zu hören und auf einen leeren Park
Platz zu schauen, wo ein umgekippter emaillierter

Elektroherd liegt.

Irgendwo eine Seitenstraße in Köln oder in Hamburg eine normalbefahrene Straße im Randbezirk nahe den Hochhaussiedlungen, am 20. Juli. Es war dieses Gedicht an diesem Tag auch noch nicht geschrieben.

Ich zitiere mich gerne selbst, aus meinem Text zu Yoko Ono und John Lennon, darin auch eine Reise zum Mond vorkommt:

1969 war das Jahr von Woodstock und in Altamont kam die vermeintliche Utopie zum Ende, wie es pop-lehrbuchhaft so schön hieß, als die Hells Angels beim Konzert der Rolling Stones einen Neger erstachen. Aber diese Differenz zweier Festivals ist nur eine Illusion. In Woodstock, im Pop, ist Altamont immer schon angelegt. Irrungen, Wirrungen. 1969 zeigte die Risse. Die Reise zum Mond. Utopie nach Ins-Außen, als Reise, in den Weltenraum. Enterprise. Noch in der Grundschule spielten wir dies, als die neue Aula eröffnet wurde, als Kinder, auf der Bühne nach: die Klassenfahrt zum Mond hieß das Stück. Ich war zum Glück nur der Tagesschau-Sprecher, der aus einem Fernsehkasten links von der Bühne auf das Publikum glotze und nachdem die alte Titelmelodie der „Macht um acht“ tönte, verkündete, daß eine Schulklasse zum Mond geflogen sei. Ich brauchte zum Glück mit den widerlichen Kindern nicht mitzureisen, sondern durfte deren Landung verkünden. Leider kamen sie auch wieder zurück, nichts ging schief und ich mußte am nächsten Tag wieder mit ihrem naseweisen Geschwätz im Klassenraum dasitzen. Die blonde Klassenlehrerin hatte ganz zu recht mich als Außenposition des Sprechers von Ereignissen, die zu Nachrichten wurden, gewählt. Distanz als Lebensmodus schon als Kind. Ich schätze die Ferne. „Die größte Kraft ist deine Phantasie“. Deren Reisen lagen in der Ferne. Unter dem Pflaster. Journalist, wie ich immer dachte, wurde ich nicht. Besser war es.

Und ich erinnere mich, daß es damals als Spielzeug Mondfähren und Mondroboter gab, Airfix hatte im Sortiment der Miniaturfiguren auch die Mondfahrer, was mich wenig interessierte – ich mochte die richtigen Soldaten lieber, dann damals Anfang der 1970er Jahre, mit vier gab es nur Ritterschwert und Indianerkostüm. Zum Glück ohne sinnlose Debatten von Cultural confussed People.

Vor allem aber im Krämerladen beim neuen Einkaufszentrum, in der Ecke beim Naschkram zu kaufen, gab es jenen Mondstaub. Das war ein weißes Pulver. Es schmeckte süß. Und es bestand aus Kokosraspel. Nicht schlecht, dachten wir und schleckten aus von der Handfläche. Aber in den Zeiten der rational-entzauberten Welt ist echter Mondstaub wohl eher gefährlich. Solche Phantasien von Verheißung und Seltsamkeit gab es wohl nur im schönen Kinderland oder in der Einbildungskraft der Dichter.

Das Wissenschaftliche dieser Mission hatte mich schon als Kind wenig gereizt und Reisen hatten für mich nur Sinn, wenn es an Orte ging, wohin man am Ende auch gelangen konnte. Der Mond war kein realer Ort, der Mond war ein Sehnsuchtsort, der unser Denken bestimmt, weil er die Einbildungskraft anregt:

„Der Mond stand in mildem Glanze über den Hügeln, und ließ wunderliche Träume in allen Kreaturen aufsteigen. Selbst wie ein Traum der Sonne, lag er über der in sich gekehrten Traumwelt, und führte die in unzählige Grenzen geteilte Natur in jene fabelhafte Urzeit zurück, wo jeder Keim noch für sich schlummerte, und einsam und unberührt sich vergeblich sehnte, die dunkle Fülle seines unermeßlichen Daseins zu entfalten.“ (Novalis, Heinrich von Ofterdingen)

Was für herrliche Zeilen! Novalis ist ein Vorläufer der künstlichen Paradiese und der surrealistischen Überschreitungen, und in diesem Sinne taten die 68er-Studenten dem philosophisch-literarischem Denken des Friedrich von Hardenberg unrecht,  wenn sie die Wände der Universität mit roter Farbe schrieben: „Macht die blaue Blume rot –
Schlagt die Germanistik tot.“ Sie verkannten, daß die Situationisten im Pariser Mai mit ihren Wandparolen genau diese Phantasie an die Macht bringen wollten, man lese nur deren Parolen – ganz im Geist des Surrealismus als Politik. Ob sowas als poetische Politik funktioniert und am Ende wohldurchdacht ist, wenn die Ebenen verschleifen, sei dahingestellt. Das Denken auf Einheit in Differenz zumindest, daß die literarische Romantik befleißigte, fand freilich unter ganz anderen Voraussetzungen statt. Nämlich im Anschluß an die Philosophie Kants und die dort offen gebliebenen Fragen sowie der daraus resultierenden, nicht ganz einfach zu tilgenden Brüche zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, oder wie Friedrich Wilhelm Joseph Schelling im Januar 1795 in einem Brief es an Hegel schrieb:

„Die Philosophie ist noch nicht am Ende. Kant hat die Resultate gegeben: die Prämissen fehlen noch. Und wer kann die Resultate verstehen ohne die Prämissen?“

Eine Theorie des Selbstbewußtseins, ein Denken des ordo inversus. Der Mond ist ein Ort, um die Ferne anzuzeigen und wie sehr sich das Leben auf unserer der Erde, von Mond aus betrachtet, seltsam ausnimmt und wie klein all dieses Treiben scheint, wenn es durch fremde Augen betrachtet wird. So schreibt Franz Kafka in einem Brief an Oskar Pollak vom 9. November 1903:

„Lieber Oskar!
Ich bin vielleicht froh, daß Du weggefahren bist, so froh wie die Menschen sein müßten, wenn jemand auf den Mond kletterte, um sie von dort aus anzusehen, denn dieses Bewußtsein, von einer solchen Höhe und Ferne aus betrachtet zu werden, gäbe den Menschen eine wenn auch winzige Sicherheit dafür, daß ihre Bewegungen und Worte und Wünsche nicht allzu komisch und sinnlos wären, solange man auf den Sternwarten kein Lachen vom Monde her hört.“

Kafka setze in seiner Prosa jenen fremden Blick vom anderen Ort her vielfach in die literarische Szene.

Für jene Mondsüchtigen, wie ich es bin, gibt es heute vom Bayrischen Rundfunk eine Auswahl wunderschöner Musik zum Mond: Es sind dies allesamt feine (und abwechslungsreiche) Stücke. Mein Liebling ist „Breakfast at Tiffany’s“ und „Der Mond ist aufgegangen“, so wie überhaupt im deutschen Volkslied der Mond eine herrliche Stellung einnimmt. Und im Hinblick auf „Stellung“ fällt mir auch wieder jenes Mondlichtgedicht ein – eben wie bei Brinkmann, zum Ende des Gedichtes, im Vers in der Mitte:

Und mir ist egal, ob das Mondlicht paßt oder nicht,
das Mondlicht fällt in den Supermarkt, es macht

die Dinge einfach mehr weniger, und zu fragen,
nach wieviel Stößen kommst du unterm Mondlicht ist Schwachsinn
unterm Mondlicht, und es macht gar keinen Sinn, das Mondlicht
anders zu beschreiben als mit Mondlicht. Und wenn ich sage,

das Mondlicht ist eine Türklinke im Mondlicht, heißt das,
das Mondlicht ist schön wie Mondlicht; und es ist Zeit;
mit den Vorschriften aufzuhören.

 

 

 

 

 

 

Achtundsechziger Geschichtszeichen (2). Bilderwelten: „Willst du wirklich immer Hippie bleiben?“

„Wer die rote Fahne schwingt, wird dadurch so wenig zum Proletarier wie zum Sadhu wird, wer ein Krishna-Poster an die Wand hängt.“ So formulierte es sardonisch der Rechtskonservative Caspar von Schrenck-Notzing. 68 ist ein Geschichtszeichen, ein Ereigniswort und ein Reizwort bis heute. Aber auch viel Mythos schwingt darin mit, was eben bedeutet: erzählte Geschichten, gestrickte Legenden, manch Tragisches. Manches auch voll Komik: „Wer zweimal mit derselben pennt …“. Man probierte und merkte, daß in dieser vermeintlichen Freiheit doch nicht alles so rund lief wie erträumt. Vorrecht der Jugend eben, Fehler zu machen. Rebels Without a Cause gab es zahlreiche und schon lange vorher, insofern ist dieser Aufstand kein Phänomen bloß der 68er, vielmehr knüpften sie an eine bereits bestehende rebellische Jugendkultur an und transformierten das ins Politische. Doch ihr Protest war zugleich auch Rock’n’Roll. Die USA-Dialektik will ich hier gar nicht aufmachen, weil sie falsch ist. Man kann natürlich die Politik eines Landes kritisieren und trotzdem von ihrer Kultur fasziniert sein. Gerade die der Musik. Weshalb zur Epoche 68 nicht nur eine Polit- und Gesellschaftsgeschichte gehört, sondern ebenso eine der Musik. Und sicherlich gab es in diesen Jahren eine sehr viel stärkere Kluft zwischen den Generationen als in den nachfolgenden Jahrzehnten. Wenn Vater wie auch Sohn beide „Feine Sahne Fischfilet“ hören, wenn Mutter und Tochter beide Tocotronic-Songs in ihrer Cloud haben, so hat sich was verändert.

In seinem neuen Buch nannte Heinz Bude diese Generation, die da antrat, die Welt zu ändern und nicht nur zu interpretieren, Ruinenkinder – in Anspielung auf einen Text von Rolf Dieter Brinkmann. Denn genau so wuchsen viele von dieser Generation auf, die in den 40er Jahren geboren wurden: entweder mitten im Krieg geboren, im zerbombten Deutschland, Kinder auf der Flucht, oder in den unmittelbaren Jahren nach dem zweiten Weltkrieg, in den Ruinen und in Trümmern spielend. Insofern ist das für diese Generation eine treffende Bezeichnung:

„Ruinenkinder, Bombensplitterkinder, ja, Todessplittereisen haben wir, jeder auf seine Art, gespielt, und die frühe Kulisse waren aufgerissene Straßen, abgedeckte Häuser, brennende Ruinen – lange her und in der ersten Zeit des Lebens, des Sehens, der Neugier, der ersten halbbewußten Wahrnehmungen versiegelt, eingeschlossen, nämlich was?: Trümmer, zerrissene Häuser, Betonbrocken, Brandphosphorbomben und blaue Narben am Körper eines Spielkameraden – …“ (Brinkmann, Rom, Blicke)

Brinkman wurde 1940 in Vechta geboren, im selben Jahr wie Rudi Dutschke, Uschi Glas im Jahr 1944, am 1. März, mancher kennt sie noch aus „Zur Sache Schätzchen“, von May Spils, ebenfalls aus dem Jahre 1968. Die Filmkomödie atmete viel von jenem unkonventionellen Geist dieser Jahre, ebenso aber jene legendäre Serie „Der Kommissar“ mit Erik Ode, die 1968 ihren Anfang nahm und 1975 endete. „Der Kommissar“ griff kongenial die Probleme und Fragen zur Zeit auf, in einer politisch oft trivialen, filmisch aber nicht ganz uninteressanten Form – in dramatischem schwarz/weiß zudem, wie die Bilderwelt dieser Zeit in der BRD meist war, herrliche Dialoge und teils eine avancierte Kameraführung.

„‚He, ich bin/im Krieg geboren‘“

So heißt es in einer Zeile in dem Gedicht „Westwärts, Teil 2“. Zwar spricht da ein lyrisches Ich, aber das ist auch so ein typischer Zug an Brinkmann und an jener Zeit um 68: daß da ästhetisch keine Differenz mehr zwischen einer Autobiographie, einer subjektiven (lyrischen) Impression und einer literarischen Fiktion eröffnet wird. Insofern bleibt es teils im vagen, ob es sich bei Brinkmann um eine Autorenrede handelt oder um eine (lyrische) Fiktion – zumindest wenn man das Schreibprinzip jener Jahre zuspitzt und auch die dokumentarischen und zugleich schnappschußhaften Photographien in „Westwärts 1&2“ mit berücksichtigt, ist das eine interpretatorische Möglichkeit. Brinkmanns „Rom, Blicke“ – ebenfalls mit Photographien angereichert sowie mit Bildern, Postkarten, Pornos – wie auch Bernward Vespers On-the-Road-Lebensbeschreibung „Die Reise“ sind wohl mit die ausdrucksstärksten Texte für jene Art der Literatur, die in den frühen Siebzigern unter der Rubrik „Neue Subjektivität“ firmierte und die viel mit jenen wilden Jahren zum Ausklang der 60er zu tun hat – vom Tod der Literatur, der in jenen Jahren ausgerufen wurde und der als Topos und Gestalt für eine neue Kunst die Runde machte, ganz zu schweigen; ein gescheitertes Konzept freilich, auf das ich ebenfalls noch zu sprechen kommen müßte. Vom Tod der Literatur zum Tod des Märchenprinzen ist es leider ein konsequenter Weg. Da es sich in dieser losen Serie aber um kein Buch handelt, müssen diese Fragen deshalb auch gar nicht so sehr systematisch angepackt werden, sondern ich händele diese Gedanken als eine Streuung.

Einiges von diesem Mythos 68 und von den gestrickten Legenden entzaubert Martin Stallmanns Medienstudie Die Erfindung von „1968“. Der studentische Protest im bundesdeutschen Fernsehen 1977-1998, letztes Jahr im Göttinger Wallstein Verlag erschienen. Und da es sich um eine Dissertation handelt, ist das Buch in den Belegen faktenreich und wenig spekulativ gehalten. Manch hübsches und gerne gepflegtes Vorurteil darf man nach der Lektüre getrost abbauen. Triebkraft etwa beim Wandel im Umgang mit dem 3. Reich waren nicht die primär die Studentenproteste, sondern vielmehr die bereits lange vorher stattfindenden „spektakulären NS-Prozesse zwischen 1958 und 1965, die Bundestagsdebatten um Verjährung von Mord und Totschlag in den Jahren 1960/61 und 1965 sowie die breite dazugehörige Medienberichterstattung.“ Präsent war das Thema also schon lange vor den Studentenunruhen. Die Studenten griffen freilich das, was als Geist der Zeit bereits in der Luft lag, auf und spitzten es zu. In diesem Sinne fungierten sie als Verstärker, aber es waren nicht die Studenten, die diese Debatte initiierten. Weiter heißt es bei Stallmann:

„Ihre schrille Rhetorik und Aufmerksamkeit erregende Protestaktionen verwiesen zwar auf die Kontinuitätslinie zwischen nationalsozialistischer Zeit in der Bundesrepublik, standen laut Wilfried Mausbach ‚einer angemessenen Aufarbeitung allerdings im Wege.‘ Gleichwohl haben sich Protestakteure der späten 1960er Jahre intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandergesetzt und auch zur wissenschaftlichen Diskussion beigetragen. Dies geschah jedoch verstärkt in späteren Lebensphasen – vor allem ab den frühen 1980er Jahren.“

Stallmann untersucht das konkret an Dokumenten und kratzt damit an mancher Legende. Von einer „Erfindung von ‚1968‘ spricht Stallmann, weil es sich bei dieser „68er-Generation“ um eine narrated community handelt, also eine Angelegenheit, die sich ganz wesentlich durchs Erzählen und über mediale Vermittlung konstituiert. In diesem Kontext stellt Stallmann fest, daß sich der Begriff der 68er erst Ende der 70er Jahre herauskristallisierte und zudem mehr und mehr zu einem Generationsbegriff wurde. (Daß der Begriff 68er politisch sowieso ungenau ist, darauf deutete ich im letzten Teil der Serie: Denn der Protest begann weit früher und spätestens mit dem 2. Juni, dem Mord an Benno Ohnsorg lief er zum Höhepunkt auf. Im Grunde ist die Chiffre 68er eher schon ein melancholisches Verwehungszeichen.)

Was aber bewegt uns an dieser Zahl heute noch? Was den Betreiber dieses Blogs? Ich bin, von der Generation her kein 68er, viel zu spät geboren und selbst noch für den Anfang des Punk 1976 zu jung, um das angemessen zu begreifen, aber doch prägten uns diese 68-Leute, die da nach dem großen Aufbruch von den Universitäten an die Schulen und von den Fachschulen an die Kindergärten kamen. Die linken Lehrer mit ihren Ideen und Idealen, was sich bis in die 80er Jahren mit Anti-AKW-Protest und Protest gegen den Nato-Doppelbeschluß sowie Friedensbewegung manifestierte, ihrer legeren Kleidung, teils kluge Köpfe darunter, belesen und sprachlich brillant, genauso aber mancher Blender, es gab, zumindest für mich und ich denke, für einige andere auch, eine Freiheit im Lernen, wie sie vorher in dieser Form nur bedingt existierte. Da wurde in der Erziehung eine Tür geöffnet und es kam ein frischer Wind, der nötig war, bei mancher berechtigten Klage über den Formverfall von der Seite unserer konservativen Freunde. Aber wie wir Dialektiker wissen, setzt Form immer auch einen Inhalt voraus. Die bloße Form als Form bleibt leer und regrediert zum Fetisch. Das wissen viele der Rechtskonservativen nicht. (Ein guter Konservativer ist sich seines Hegels wohl bewußt. Aber da kommen wir in andere Gefilde und wir schreiben heute und hier nicht von der Ritter-Schule.)

Zugleich aber stellte sich mit diesem Wandel auch eine Kultur des unendlichen Auslaberns ein. Das Fehlen intellektueller Strenge. Aber all dies sind subjektive Aspekte, jeder aus der Generation der Mitte der 60er bis Mitte der 70er Geborenen erzählt eine andere Geschichte, hat eine andere Vita. Mit Kindergarten, Kinderladen und Schule, und man müßte genauso davon schreiben, wie diese Zeit in der DDR wahrgenommen wurde, was da anders oder ähnlich lief. Ich hatte das unendliche Glück auf ein linkes und zugleich liberales Gymnasium zu gehen. Ich würde gerne von diesen wunderbaren Jahren schreiben, die mir eine Entwicklung und eine Freigeistigkeit ermöglichten, die ich woanders womöglich nicht gefunden hätte. Aber wer kann schon hellsehen, was unter anderen Bedingungen, vielleicht im Strauß-Bayern, aus ihm geworden wäre? All das zumindest sind für uns, die wir in diesen Jahren geboren wurden, nolens volens und für jeden unterschiedlich, die unmittelbaren Nachwirkungen von 68. Einfache Thesen lassen sich daraus nicht ableiten. Und wir blicken inzwischen auf fünfzig Jahre zurück, sind nun in dem Alter, in dem damals noch nicht einmal unsere Lehrer waren, die nun alt oder auch schon tot sind. Dieses Denken hat insofern auch eine ästhetische und eine melancholische Perspektive, weil sie vom Vergehen der Zeit und von unserer Endlichkeit handelt. Deshalb sind solche Jubiläen und Gedenktage als eine Form des An-Denkens wichtig.

Heinz Bude schreibt in Adorno für Ruinenkinder (Rezension folgt im nächsten Teil) in bezug auf unsere individuelle Biographie und unser Verhältnis zu dem, was mal unsere rebellische oder unsere jugendliche Gegenwart war und was inzwischen die Vergangenheit ist:

„Weil wir aber mit unserem kontingenten Leben nicht allein dastehen wollen, suchen wir nach Resonanz bei den ungefähr Gleichaltrigen, bei denen wir ähnliche Bedingungen und Verläufe feststellen können. Für dieses ‚übertriebene Wir‘ der Generationen, wie Julia Kristeva in den Erinnerungen an ihr 68 formuliert hat, stellen sich in fortgeschrittenem Lebensalter mit einer gewissen Unabweislichkeit die Frage, was von uns bleibt und was mit uns verschwindet.“ (Bude, Ruinenkinder, S. 116)

1969 waren die Achtundsechziger vorbei. Die Träume der Revolution waren ausgeträumt, es begann mit den 70ern entweder ein langer Marsch durch die Institutionen, andere machten sich auf den Weg in den Exzeß der Innerlichkeit, auf nach Indien oder in die „Windungen des German Ableitungsmarxismus“. Andere fanden den Weg in den bewaffneten Untergrund, es folgte, mit Hölderlin gesprochen und wie dann 1981 ein Film Margarete von Trottas auch hieß, die „bleierne Zeit“. Andere wurden irre und nahmen Pillen, wie Bernward Vesper, in den 60er Jahren der Lebensgefährte von Gudrun Ensslin. Er starb 1971 in Hamburg. Ob die Chiffre 68 mit dem Deutschen Herbst ihre Unschuld verlor, bleibt dahingestellt, denn zu vielfältig waren die Aspekte, die mit jenen Jahren verbunden waren. Zumindest verdichtete sich diese Chiffre 68 in den medialen Diskursen der späten 70er Jahre zum Zeitzeichen, oft, vor dem Hintergrund der RAF-Angriffe auf den Staat, als Menetekel, im Kontext des Deutschen Herbstes, der für Skepsis sorgte. Stallmann schreibt auch darüber in seinem Buch. Die Toten der Nomenklatura: Buback, Ponto, Schleyer. Die Toten von Stammheim; Bader, Ensslin, Raspe. Die vielen nichtgenannten Toten: die Fahrer der Wagen, Polizisten, und Benno Ohnsorg sowie Rudi Dutschke, der 4. Dezember 1979 in Aarhus in der Badewanne starb – auch eine Nachwehe jener Protestzeit. Aber Tote kann man nicht aufrechnen.

Genauso begannen mit den frühen 70ern und als Nachklang zu den 60ern jedoch die ersten Umweltbewegungen, die Platzbesetzungen von AKW-Baustellen und neue Formen des sozialen Protests und der sozialen Bewegungen – bis hin zur Gründung der Grünen. Verwiesen sei hier auch auf die zahlreichen Archive für Soziale Bewegungen, wo diese Zeit dokumentiert ist – von dem Archiv in Freiburg bis hin zu dem in Hamburg. Lebenswelt gegen Systemrationalität. Aber spätestens 1976/77 als Punk aufkam und davor schon, als die ersten Autonomen die Black Blocks bildeten, war es mit jener Zeit im Grunde vorbei, die wir im Rückblick oft als seligen Mythos verklären – manchmal arkadisch – oder aber von rechter und konservativer Seite (teils) generalisierend fürs Böse der Welt verantwortlich machten. Jedoch: Eine neue Generation trat an und das geht in manchen Phasen nicht ohne Kampf ab. In diesem Sinne war der Protest von 68 auch ein Väter-Söhne-Konflikt um die Macht. Der Punk stellt auch diese nicht mehr ganz so junge Generation infrage und amüsierte sich über Hippies. Der Begriff wurde zum Schimpfwort. Die letzten Hippies, so könnte man bösen sagen, waren Crass- und Slime-Hörer.

Und 1980, meine Zeit, meine Politik, meine erste Demo überhaupt, und zur Bundestagswahl mit Strauß als Kanzlerkandidat erscholl es im schwarzen Block in Hamburg, im August 1980, ich sollte eigentlich zur ersten Tennisstunde: „Buback, Ponto Schleyer: der nächste ist ein Bayer!“ In Hamburg starb bei jener Anti-Strauß-Demo am 29. August 1980 Olaf Ritzmann. Ritzmann war mein Jahrgang, dennoch trennten uns Welten. Vielleicht trennte uns auch bloß eine Polizeikette, so daß ich abends wieder nach Hause trottete und mir eine Kamera für Photos wünschte, um all diese Szenen irgendwie festzuhalten.

„1968 war getilgt, die achtziger Jahre konnten mit Helmut Kohl und dem Poststrukturalismus beginnen“ schreibt Heinz Bude. Sein Buch Adorno für Ruinenkinder werde ich in der nächsten Woche hier vorstellen.

(Teil 1 der Serie hier)


 
 

 
 

 
 

Die Photographien zeigen nicht die Stoppt-Strauß-Demonstration, sondern eine Solidaritätskundgebung für El Salvador, mit robustem Polizeieinsatz. (Etwa 1981)

Zergliederte Wirklichkeiten, fragmenthafte Szenen – Zu Rolf Dieter Brinkmanns 40. Todestag

Nahtlos fast läßt sich an letzte Woche anknüpfen. Heute vor 40 Jahren starb Rolf Dieter Brinkmann in London. Er lief – profan – vor ein Auto. Eine Woche nach seinem 35. Geburtstag. Ob die Götter, die all jene, die sie lieben, früh zu sich holen, [so wie man es in den Legenden von ihnen behauptet] ihre Freude mit Brinkmann haben, darf bezweifelt werden. Ebenfalls dürfte er den Musen es schwergemacht haben, denn friedsam war er kaum. Elogen und Kritik lassen sich zu Brinkmann schreiben, man kann das auch lobhudeln. Am besten ist es aber immer noch, Brinkmanns Gedichte zu lesen, statt Erweckungserlebnisse zu produzieren. Denn das liegt bei dieser Art der Lyrik nahe, die so sehr mit dem Pop und den Stunden der wahren Empfindungen, die nun mal an Pop und das Kinderzimmer, aus dem der Pop stammt bzw. dem Radio abgetrotzt wurde, gebunden sind. Ich halte vom Pop nur bedingt etwas, zu sehr hat dieser die Rezeption von Kunst beschränkt und die Vielfalt der Formen beschädigt und auf minimales Maß reduziert. (Das reicht insbesondere hinein bis in die Literatur der Gegenwart, wo ein bestimmter „Wir-haben-Raketen-geangelt-Sound“ nicht abreißen will. [Nicht abreisen will wie ich zuvor schrieb, ist auch nicht schlecht und paßt.])

Dennoch, es gibt sie immer wieder: diese Ausnahmen, wo es glückt, wenn einer sich von der populären Musik nicht nur aisthetisch, sondern ebenfalls ästhetisch inspirieren ließ. Rolf Dieter Brinkmanns Gedichte gehören dazu. Formal, inhaltlich, vom Rhythmus und von der Bewegung des Textes her, in ihren einfachen und am Ende doch subtilen, manchmal meditativen Bildern. Sie – wie alle Gedichte – laut zu lesen, damit die Tonart, der Rhythmus, der Sound mitgehört werden und ins Blut gehen, scheint unabdingbar. Laut muß es für die meisten Leser sein, denn die wenigsten verstehen es, Gedichte wie eine Partitur zu lesen: daß Klang im Kopf entstünde, indem die Zeichen in ihrer Vielfalt entziffert und interpretiert werden. Stimmen im Kopf, aus Zeichen gemachte Klangkörper. Brinkmann wäre solcher Gestus zuwider. Elaborierte Hochkultur, schimpfte er vermutlich. Das Ressentiment der Kleinbürger gegen das, was sie nicht begreifen und was nicht das ihre ist, bleibt unaufheblich. (Vielfach – nicht immer. Ich will das nicht ins Allgemeine treiben. Aber dennoch: Brinkmann  hatte in seiner Diktion recht. Heute diese Pose des Protests als Pop zu wiederholen, in derselben Manier, bleibt eher ein hilfloser Versuch der Epigonalen.)

Der ins Bild fixierte Moment, die eingefrorene Bewegung, Geschautes, Gelebtes, Gesehenes, das Dinghafte einer profanen Szenerie (manchmal verdinglicht schon), Alltagsfetzen, Aufgegabeltes, Notizen, Skizzenhaftes und Photographien sind Brinkmanns Texten nicht äußerlich. Diese Elemente findet man in „Rom, Blicke“ und ebenso in „Westwärts 1&2“ kombiniert: Photographien und Texte, einmontierte Bildschnipsel. Als ließe sich aus diesem Wust heraus etwas beglaubigen. Literatur wirkt wie ein Dokument und überführt doch im Überdokumentarischen und Fragmenthafen dieser Anordnung das Begehren, etwas festzuhalten, als pure Illusion. Das Dokumentieren und die Prosa des vermeintlich Authentischen baute auf den Geist dieser 70er Jahre auf, aber Brinkmann übersteigerte dieses scheinbar Authentische: diese Tendenz der Prosa und der Poesie die Kunst mit dem Leben zu verwechseln und in Protokollsätzen die Wahrhaftigkeit des eigenen Daseins zu schreiben. Terminierend in Max Frischs genial-grausamer, schonungsloser Erzählung „Montauk“, die etwa zur selben Zeit wie der Gedichtband „Westwärts 1&2“ erschien. Modisch keimte diese neue Wahrhaftigkeit dann wieder als langweiliger Biographismus und als Ich-Dokumentation des Bedeutungslosen in der Literatur zum Beginn dieses Jahrtausends auf und wucherte in einer nicht immer angenehmen Weise. Was bei Brinkmann als Spiel und als Versuch sich äußerte, verdinglichte sich in den 00er Jahren zum Schema. Nicht mehr die Visionen und die Fiktionen, die das biographische Faktum unterminieren, das Phantastische, das Unheimliche, das quer zum Alltag liegt, sondern die „Blödigkeit“ (Hölderlin) und das Banale der Existenz werden im Beschreibungsmodus eins-zu-eins als Literatur ausgegeben. Texte, in denen sich die Menschen wiederkennen. Schlimmste Art des Schreibens.

Auch Brinkmann freilich beschreibt zunächst einfach Anmutendes, er läßt den Augenblick erstarren. Ein Protokollsatz der neuen Sachlichkeit:

Photographie
Mitten
auf der Straße
die Frau
in dem
blauen
Mantel
(in: Le Chant du Monde, 1963/64)

 Das kann man – aus verschiedenen Perspektiven heraus – heute schwerlich noch in dieser so einfach wirkenden und im Enjambement doch drastischen Weise schreiben. Zumal der allseits beliebte, abgehackte Zeilenbruch wirkt in der unendlichen Nachahmung bemüht, mehr Künstlerschaft vortäuschend, als diese Kunst am Ende einlösend, dem Zufall und der Willkür geschuldet, ohne Motivation meist gesetzt. Es besitzt dieser Schnitt etwas Artifizielles. (Andererseits freilich wird diese Wirkung als Aspekt der Form von Fall zu Fall und vom Inhalt und dem Stoff her im Gedicht entschieden und nicht vom Katheder aus.) Solche derart drastisch ins Auge springenden Stilmittel kaschieren in der Gegenwartsproduktion allerdings häufig den Mangel an dichterischer Substanz, die Seichtigkeit des Ausdrucks und des Sujets verschleiernd, der in solcher „Lyrik“ steckt. Es kapriziert der simple Text sich auf den Effekt oder schlicht auf wild zusammengeklaubte Bilder.  Nicht mehr in komponierter Form und mit dem Gespür fürs Wort in der Arbeit des Begriffs, sondern Lyrik als blutarme bleiche Chimäre. Postmoderne als das Theater des literarischen Wiedergängertums. Nicht so bei Brinkmann.  Einmal davon abgesehen, daß es sich bei Photographie um eines seiner frühen, noch tastenden Gedichte aus den 60er Jahren handelt, lange nicht so ausgereift und in der Form und vom Rhythmus ausgefeilt wie in seinem Gedichtband „Westwärts 1&2“.

Dort sind es nicht mehr Zeilen wie Maschinengewehrsalven, die Brinkmann in den 60ern auf den Punkt feuerte, sondern gezielt plazierte Zündungen. Explosionen – zuweilen auch vermittels der eingestreuten Zitate solche des Sinns. Was in diesem Gedicht aber unter dem Titel Photographie angeschrieben und im Blick und eben auch als Bild hervorgerufen wird, ist – wie häufig in Brinkmanns Gedichten – eine Straßenszene. Kann Sprache objektivieren? Zumindest die einfache Szene, wie eine Photographie, ohne daß Interpretation hinzutritt: einfaches So-sein? (Man denke, was diese Straßenszenen betrifft, zudem an das Gedicht „Einen jener klassischen“, das sehr viel ausgefeilter und kaum noch wie eine Photographie aufgebaut ist. Wenngleich auch im Gedichtband  „Westwärts 1&2“ Photographien die Texte beglaubigen. Oder umgekehrt.)

Dieses Motiv jener Frau auf der Straße korrespondiert zudem auffallend mit Baudelaires großartig blitzhafter Straßenszene in „A une passante“; bei Brinkmann jedoch viel profaner, simpel fast, unlyrisch, dicht. Früher Text Brinkmanns eben. Bei Baudelaire heißt es in der Interlinearübersetzung: „Ein Blitz … und dann die Nacht! – Flüchtige Schönheit, von deren Blick ich plötzlich neu geboren war, soll ich dich in der Ewigkeit erst wiedersehen?“ Mythos der Großstadt, wenn aus den vorübereilenden Menschenmassen, dieses eine Bild einer Frau sich herausschält und freistellt. Jene eine, jene, die vorübergehen wird, die kurz blickt und die einzig deshalb bleibt, weil das Wort des Dichters sie ergriff. Ewigkeitsszenerie im Profanen. Alles in diesem einen Blick. Bei Brinkmann ist es nicht mehr, wie bei Baudelaire, dieser flüchtige Blick, der sich auf irgendeiner Straße der Großstadt als Ereignis des Momentanen gibt, sondern die Szene als solche, die in den Blick des Dichters fällt.

Wenn ich diese Brinkmann-Texte aus „Westwärts 1&2“ jener geliebten Wunderfrau platonisch-laut vorlese, wie z.B. das Mondlicht-Gedicht (wie weiland bettwärts wir‘s taten), das ich für sein intensivstes halte, oder wenn wir in seiner Synchronie der (Zeit)Ebenen das Westwärts-Gedicht lesen, das in seinem Rhythmus treibt und einen Drive hat und vorausfährt wie ein Ford-Mustang, dann geschieht beim Lesen etwas, es fließt dieser Text, die Lettern geraten beweglich, bildet einen Klang, einen Beat, von dem genau kommt Brinkman her, schuf diesen neuen Ton der Dichtung. Man müßte diese Gedichte in Kombination mit Musik lesen, in diesem Rausch der Wörter und Worte: Das ist ein Form von Bewegung, wie sie in der ansonsten und häufig so schalen Pop-Literatur durchweg fehlt. Das ist Gottfried Benn in der Plattengeschwindigkeit 45 Umdrehungen pro Minute gespielt und auf Speed. Bei Benn sind es nur 33 Umdrehungen per Minute. (Irgendwie passend)

Auch als „Hymne an die Nacht“ geht das, gedichtet auf einen wunderbaren Moment, der ein Bild aus dem anderen freisetzt:

 Mondlicht in einem Baugerüst
am Ende des 20. Jahrhunderts, einfach wie
Mondlicht in einer übriggebliebenen
Allee, so schön wie ein langes Klaviersolo Lennie Tristanos.
ein Bücherregal mit noch nicht gelesenen

 Büchern, kräftig wie ein Güterzug, flache Schatten,
Entzückungen: voller Mond im September über der
Seitenstraße in der Innenstadt abends 9 Uhr. Das Wort
Mondlicht erinnert mich u.a, an Mondlicht und

 nachts im leeren Gang eines Schnellzuges am Fenster
zu stehen und hinauszublicken auf eine Landschaft,
über der das Mondlicht ausgebreitet ist, offen,
gewöhnlich und unsentimental wie eine dunkle

Tankstelle in der sonst menschenleeren Weite,
oder wie Sonntagnachmittag drei Uhr „hang on,
sloopy“ zu hören und auf einen leeren Park
Platz zu schauen, wo ein umgekippter emaillierter

 Elektroherd liegt. Mondlicht erinnert mich an Kühe,

 Und so treibt sich – von Szene zu Szene, in den Begriffen, die aneinander lose sich binden – der Text in den Assoziationswebungen und -wegen weiter – jenes Mondlicht, das Erinnerungen auslöst. „Mondlicht in einem Baugerüst“ ist ein Text, der über den Klang eines Wortes, Szenen und Erinnerungen freisetzt. Situationen und Bilder, die nicht zusammengehören, wie der Regenschirm und die Nähmaschine auf dem Operationstisch in der literarischen Anordnung von Lautréamont, und die doch auseinander heraus sich entwickeln und zu einem Strom sich steigern, verdichtet assoziiert über ein Wort, wie bereits in jenem Gedicht, das exakt im Raum lokalisiert ist: „Im Voyageurs Apt. 311 East 31st Street, Austin“: Jener Traum vom Süden: „Sie träumen alle von Süden. Wörtersüden,//nächtlicher Gaukelsüden, Schwebetiersüden …“ und so fort geht das, und es werden Wortfelder und Ketten aus Süden gebildet, so daß das Wort Süden und das, was in ihm an Bezügen und Anklängen steckt, in eine Fiktion von Süden und als unser Bild von Süden mündet. Obgleich all diese Verbindungen des Gedichts im Grunde mit Süden vielfach gar nichts zu tun haben. Mit dem Süden (wie mit jedem Wort) läßt sich alles koppeln und es erzeugen sich diese wilden Bilder und ein Sprachenklang, die als Muster einer Reise oder als Armchair travel im Denken nisten. Nicht anders als dieses Mondlicht

 „das Mondlicht fällt in den Supermarkt, es macht

 die Dinge einfach mehr weniger, und zu fragen,
nach wieviel Stößen kommst du unterm Mondlicht ist Schwachsinn
unterm Mondlicht, und es macht gar keinen Sinn, das Mondlicht
anders zu beschreiben als mit Mondlicht. Und wenn ich sage,

 das Mondlicht ist eine Türklinke im Mondlicht, heißt das,
das Mondlicht ist schön wie Mondlicht; und es ist Zeit;
mit den Vorschriften aufzuhören.“

 Das bleibt. Selbst dann, wenn das lyrische Ich im Fluß der Aspekte jenes Mondlicht an manches und vieles, aber eben nicht an Dialektik erinnert. Da ist keine Aufhebung, da bleiben keine Vermittlungen, sondern nur Mondlicht in seinen unterschiedlichen Kontexten. (Was natürlich falsch ist, denn das Gedicht vermittelt bereits und schiebt eine andere Referenzebene dazwischen. Doch das tut (zunächst) nichts zur Sache, wenn wir dieses Gedicht lesen.) Mondlicht, das auf einen Tisch und auf die Dinge fällt, ist Mondlicht das auf Tische und Dinge fällt. Spezifisch im Hier und Jetzt. Aber wie wir wissen, ist Bleiben nirgends und kein Hier und Jetzt findet im Fluß der Zeiten seinen Halt. Mondlicht läßt sich nur mit Mondlicht beschreiben. Dinge und Szenen sind nur in ihrer Form des Daseins. Und genau auf diese Form des Wahrnehmens, überhaupt etwas wahrzunehmen, darauf verweist das Gedicht. In einem unendlichen Strömen der Bilder und Assoziationen treibt das Gedicht Augenblicke hervor, setzt im Rhythmus etwas frei. Schönheit inmitten eines Alltags, den wir im Sensorium des Dichters wahrnehmen.

Short Cuts. Rolf Dieter Brinkmann zum 75. Geburtstag

Geboren in Vechta. Das zeichnet. Wie jeder Ort sich einschreibt und Bilder zeugt. Call it hot stuff. Am Ende kommt es darauf an, was wir mit diesem Stoff anstellen werden.

Die Frage nach dem Schreiben war zunächst eine nach den Objekten oder an die Dinge, die in den Fokus des Dichters zu rücken wären und wie sie sich realisierten. Eigentümliche Dinge, in den frühen 60er Jahren, so zwanzig Jahre nach dem zweiten großen Krieg des 20. Jahrhunderts, von den vielen kleinen ganz abgesehen, da waren die Szenen einer verhaßten Kleinstadt und die Übermächtigen der Schreibzunft aus der Flakhelfergeneration oder später geboren, gegen die es einen eigenen Sound, einen Ton zu etablieren galt, der in Drastik und Lakonik so bisher nicht da war. Impressionen und das Objekt als Objekt das zum Verwechseln einlädt:

Verwechslung
In dem kleinen
Obstladen der Seitenstraße
kurz nach Ladenschluß, sagte sie.
Zur gleichen Zeit
überquert ein Mann
die Kreuzung.
Obstläden solcher
Art gibts viele.

(in: Le Chant du Monde, 1963/64)

Das sind Texte, die noch tasten. Die, wie in seinem ersten Gedichtband „Ihr nennt es Sprache“ sich ihres Ortes vergewissern. Reimzone 1962. Schreibversuch des Dichters als junger Hund, denn „Am Anfang war das Wort“, so Brinkmann. Abgelebte Theologie im Gedicht ins Profane treibend. Doch selbst abgelebte Theologie bleibt im Profanen eben jener Theologie verbunden.  In die Sphäre der „Kulturgüter“ mischt sich bei Brinkmann eine Rebellion gegen genau diese Kultur; eine Revolte, die sich aus dem Geist der populären Musik speist, für die wir den Namen Pop wählen, welcher sich als universale Spielmarke erweisen wird. Weltengesang eben. Kultur der hohen Art degenerierte bloß noch zum Effekt und zum Distinktionsmerkmal, das ahnte der frühe Nicht-68er Brinkmann. Lakonisch-frech die Gesten und Zeichen benennend, kurz nach Stunde null, die keine war. (Daß Pop nie hält, was er verspricht, konnte Brinkmann nicht wissen.) Despektierlich den Müll auf den Müll, der sich Kultur nennt, türmend, wie in seinen Comic-Gedichten im Band „Die Piloten“ von 1968. Kultur degradiert zur Abfolge und zu Effekten:

 Kulturgüter
Eine Sonate von Stockhausen
drei Preise für Böll
das Dementi von Andersch
zwei Schmierzettel von Faßbender
Marylin Monroe ist tot
ihre roten Morgenröcke
das Vermächtnis von Borchert
von Bense die Theorie
ein Jahr die Frankfurter
Ohrenschmalz von Enzensberger
die Lyrik Heissenbüttels
ein Fötus in Spiritus

(in: Ihr nennt es Sprache, 1962)

Rotzfrech für einen 22jährigen. Nicht Wohlklang mehr und „Kein Dinge sei, wo das Wort gebricht“, sondern eine krude Reihung, keine Entscheidung in der Wahrheit der Situation und in der Entschlossenheit oder was der Pathosgeladenheiten dieser Zeit noch mehr ist, keine „Gruppe 47“, zu der Brinkmann, anders als der zwei Jahre jüngere Peter Handke, nie geladen wurde und die er sicherlich fluchend zerlegt hätte. (Das tat dann in Princeton Handke. Aber anders.) Ein Ausbruch, neue Zeit. Und welch ein Kontrast zur hermetischen Lyrik und insbesondere zu Paul Celan. Unvereinbarkeiten.

Für die beginnenden 70er Jahre und bis in die 80er Jahre hinein trat, nach dem Scheitern der Revolten und als der lange Marsch durch die Institutionen sich anschickte, auf den Weg sich zu machen, weil die Verwirklichung der Praxis versäumt ward, als Schreibweise der Literatur die Wendung hin zu einer „Neuen Subjektivität“ auf den Plan. Diese Art des Schreibens machte sich radikal an die eigenen Befindlichkeiten heran – ausdeutend, ausbeutend – und münzte sie in Literatur. Das spielte sich als autobiographisches Schreiben und in den sogenannten Verständigungstexten ab. (Dazu etwa Ralf Schnells instruktive Literaturgeschichte der BRD). Ein Subjekt trat auf den Plan, das sich seiner eigenen Empfindungsfähigkeit zu versichern suchte. Ausdeutend, ausbeutend, noch einmal und immer wieder im Duplex-Verfahren. Großspurig, kleinkariert. Doch es gibt diese Ausnahmegestalten: Großartig, dicht gebaut, kreisend, kreiselnd, tastend nach dem Ausdruck bei Peter Handke: dem großen Versucher des geglückten Augenblicks. Und eben auch bei Rolf Dieter Brinkmann. Freilich in einer ganz und gar anderen Weise.

Dessen Tonlage allerdings änderte sich in den 70er Jahren. Seine Texte wurden vom Rhythmus her und in der Anordnung der Zeilen musikalisch-beweglich, teils synchron zu lesen, wie jenes Gedicht namens „Westwärts“. Das Erstarrte und das Direkte im Ausdruck der frühen Texte, fast wie Protokollsätze, verflüssigte sich, gewann Form. In den Text Brinkmanns schlich sich, neben seinen wunderbaren Elogen auf die Schönheit eines Augenblicks zugleich diese uneinholbare Melancholie ein:

Trauer auf dem Wäschedraht im Januar
Ein Stück Draht, krumm
ausgepannt, zwischen zwei
kahlen Bäumen, die

Bald wieder Blätter
treiben, früh am Morgen
hängt daran eine

Frisch gewaschene
schwarze Strumpfhose
aus den verwickelten

Langen Beinen tropft
das Wasser in dem hellen
frühen Licht auf die Steine

(in: Westwärts 1&2, 1975)

 Haikuhaft fast: Prosa in Poesie, Prosaischwerden der Welt oder deren Poetisierung als Alltag, „Ihr nennt es Sprache“: Ja, aber mehr als das, beglückt von dieser wunderbaren Emanation eines derart Profanen mit einem Blick auf eine Zeit im Stillstand, auf den Augenblick und sein Gefrorenes, und doch zugleich eine Zeit, die zyklisch immer weiter rinnt (die zwei kahlen Bäume, die bald wieder Blätter treiben: grün) samt dem Verlöschen jeglicher Zeit im Tod. (Die frisch gewaschene schwarze Strumpfhose.) Eine Anordnung in Text, die zunächst ganz und gar ohne Rätsel scheint. Direkt eingewoben in diesem einen Bild, das auf den Punkt kommt. Und trotzdem oder gerade aufgrund dieser (Zeit-)Kontraste: Eine Feier der Gegenwärtigkeit. Aus lyrischer Sprache geformt wird ein zur höchsten Intensität gesteigertes Bild, das einen im Grunde unscheinbaren und bedeutungslosen Augenblick festhält – aus dem Alltag gegriffen. So wie viele von Brinkmanns Gedichte solche ganz und gar profanen und alltäglichen Szenen in einem lyrischen Ton, fast zart schon, beschreiben, die aber gerade dadurch, daß sie in dieser Weise vom lyrischen Ich, das da spricht, wahrgenommen werden, eine besondere Bedeutung erhalten – eben jene Bedeutung noch des unscheinbaren Augenblicks, der vergeht, der in die Vergessenheit gerät.

In seinem späten (und  posthum) veröffentlichten Gedichtband „Westwärts 1&2“ zeigt sich im Vergleich zur frühen Dichtung deutlich der Fortschritt in der Konstruktion: um wieviel subtiler die Texte gebaut sind und vor allem verlassen sie das Feld der Miniaturen, formen sich zu Langgedichten, die man freilich ebenso als Prosaskizzen bezeichnen kann. Überhaupt scheint „Westwärts 1&2“ ein Skizzenbuch. Angefangen mit diesen schlecht geschossenen jeglicher Photographieästhetik entbehrenden Schnappschüssen. Ein Nebeneinander von Ungleichzeitigem, nicht einmal gewillt, diese Photoszenen irgendwie typographisch angemessen zu ordnen. Augenblicke eben. Augenblickverdichter. Das setzt sich in der Dichtung als Komposition fort. Doch diese Szenen, dieser Moment, wie der auf dem Wäschedraht im Januar, erhält sich und bleibt qua Sprache als Bild, unabdingbar, wie bei photographischen Schnappschüssen, die wir von einem eigentlich eher unbedeutenden Moment fertigen oder zu einem besonderen Anlaß oder aber für einfach so machen, um etwas festzuhalten, das in dieses Sekunde uns bedeutsam erscheint. Szenen, die als Erinnerung bewahrt werden. Aufbahrungen. Schauplätze und Szenen, die sonst unserer Wahrnehmung entgehen und ihr im Fluß der Zeit entgleiten. Chronosfraß und Saturnalien des Gewöhnlichen. Man denke nur an Brinkmanns „Hymne auf einen italienischen Platz“: Piazza Bologna – ein lauter, ein häßlicher Ort inmitten Roms, unweit der Villa Massimo, wo er als Stipendiat weilte. (Dieser Aufenthalt schlägt sich etwa in seinem Collage-Buch „Rom Blicke“ nieder, jenes Tage- oder Dokumentationsbuch, das seinen Aufenthalt in Rom, sein Stipendium an der Villa Massimo festhält.) Es ist nicht das Rom der Touristen, nichts, was da in der Figuration dieses Platzes bella figura sich spreizt und im Schönen scheint, sondern einzig Alltag und lärmendes Treiben herrschen auf dieser Piazza. Aber neben dem Profanen, das in eine exzeptionelle Anordnung gebracht wird, gibt es in Brinkmanns Texten oft etwas, das ist verstört und traut dem Frieden nicht mehr. Bereits der Alltag selber, der zum Inhalt dieser Lyrik wird, mag den aufs Erlesene getrimmten Leser des feinen hohen Tones zunächst verschrecken. Aber selbst darin zeigt sich fürs lyrische Ich stellenweise die Verunsicherung. Augenblicke wie Photographien, die festhalten, bannen, sich der Wirklichkeit vergewissernd, aber es haftete am Blick immer diese Fremdheit: Eines wie das andere: „In Rom dachte ich an London. In London dachte ich an Rom. Als ich in Köln war, dachte ich an Amsterdam.“

[Da sich unmittelbar an Brinkmanns 75. Geburtstag am 23. April 1975 sein 40. Todestag knüpft, fügt es sich, an diesen Textteil einen zweiten anzuschließen.]

Lyrische Arbeitsfläche – aporetisch, dithyrambisch verdreht, mit einem Seitensprung zu Georg Lukács

Morgenlatte morgens,
ohne Erfüllung.
Während der Löffel im Kaffee stakt.
Wo sonst?
Fünf Uhr.
Daß Lyrik noch funktioniert, ist ein Gerücht.
Die Texte rauschen nicht einmal mehr.
Denn Schreiben ist nirgends.

Ich denke, die Aporie der Kunst, daß es keine Kunst mehr gibt, sondern bloße Wiederholungen, läßt sich auch künstlerisch nicht gestalten, denn sonst wäre diese Aporie eine Paradoxie. Paradoxien hingegen sind das Elixier der Kunst. Selbstverständlich müssen die Künstlerinnen und Künstler darauf beharren, sich darauf fixieren, kaprizieren, daß noch Kunst sei, daß Romane noch sich schreiben, Gemälde noch sich malen, Stücke sich komponieren, Filme noch sich drehen ließen: Nur: ich habe alle diese Filme, alle diese Bilder, alle diese Romane bereits gelesen und gesehen. Die ästhetische Form erstarrt, Variation ergibt sich allenfalls aus den Inhalten. Es stellt sich beim Lesen der Gegenwartsliteratur regelmäßig der Ennui ein. Ich lege das Buch zur Seite und sage mir „Ja, ja, ich weiß.“ Ehrlich gesagt, ich lese lieber Proust, Flaubert, Fuentes „Terra Nostra“. Wenige Ausnahmen nur, die ich in Prosa und Lyrik der Gegenwart antreffe. Ist dies nur das alte Lamento, welches es seit undenklichen Ewigkeiten gibt? Sicherlich. Auch. Aber ja doch: es kann immer noch auf die eine oder auf die andere Weise erzählt werden, sei es auktorial, sei es im Bewußtseinsstrom eines Subjekts – assoziativ und selektiv – oder objektivistisch im Sinne des nouveau roman, perspektivistisch oder klassisch realistisch mit jenen Brüchen, wenn das Irreale, das Surreale das Nicht-Reale in den Alltag, in die überkommene Struktur des Erzählens einfällt, oder ein Text startet im Rahmen der neuen, nicht mehr ganz so neuen Internetliteratur – es verschwimmen die Grenzen zwischen Realem und der Fiktion. Figuren des Lebens werden zu solchen des Textes und umgekehrt. Ist der, der den Blogtext schreibt schon Literatur oder noch Textsubjekt? Ist das noch ein bloßer Internet-Blog, in dem ein Text als Biographie sich bekundet, oder ist dieser Text bereits ein Stück Literatur? Zahlreiche Blogs praktizieren das und lassen die Grenze verschwimmen – die einen besser, die anderen eher nicht so gut.

Doch es bleibt bei all diesen Projekten und insbesondere in der Bildenden Kunst ein schaler Nachgeschmack. Irgend etwas läuft in der Kunst als auch in der Ästhetik schief. In der „Zeit“ vom 15. November schrieb Thomas Assheuer einen Essay, der jenes Moment des Atmosphärischen kritisiert, das der Philosoph Hartmut Böhme in den 90er Jahren gegen eine allzu rationalistische Kunstkritik und -rezeption ins Spiel brachte, um jenen Aspekt des Sinnlichen, der dem Kunstwerk ebenso innewohnt, wieder zur nötigen Geltung zu verhelfen.

Mittlerweile scheint aber nicht mehr ein übertriebener Rationalismus in der Wahrnehmung von Kunstwerken oder eine Radikalintellektualisierung der Kunst das Problem für jenen aufs Sinnlich-Unmittelbare heruntergebrochenen Geist zu sein. Im Gegenteil: Eine Kunstausstellung in einem Museum muß etwas bieten, um überhaupt wahrgenommen zu werden, sie gleicht sich demEvent an. Es reicht nicht mehr aus, daß da im Raum ein wie auch immer komplexes – sei es auch grenzüberschreitendes – Objekt plaziert wird. Mindestens eine Wackelplatte oder eine Rentierherde müssen zu begehen, zu sehen, zu beriechen sein. Alles muß angefaßt und berührt werden dürfen. Und da möchte man dazwischenschreien: „Berühren verboten!“ „Noli me tangere!“ Im Zeichen solch (kapitalistischer) Vernutzung von Kunst als symbolischem sowie kulturellem Kapital ist eine andere Weise von Kunst und von Kritik erforderlich. Wo die sowieso fragwürdige Rezeptionsästhetik endgültig auf den letzten Hund kam und Kunst den Kunstkonsumenten gefühlsselig und auf der Ebene bloßer Empfindungen umfangen will, um ihn von Reflexion und Kritik zu erlösen, da ist der Kunst sowie der Ästhetik in ihrer herabgesunken regredierten Form grundsätzlich zu mißtrauen. [Ebenso aber der Gegenbewegung.]

Mit der Literatur verhält es sich nicht viel anders. Meist ist sie gefällig. Das große Epos zu schreiben, diese Form, Art und Weise, den heiligen Zorn zu singen: das wäre es. Literatur ist immer auch eine Form von Zorn: Von Homer ab ist dieses Phänomen bekannt. Aber die Aporie einer Form, die auf die Totalität geht, und daß solche Totalisierung unter den Bedingungen fragmentierter Modernität nicht mehr geht, dies zeigte sich bereits in den Texten der Romantiker und wesentlich dann als Theorie in den Texten Friedrich Schlegels. Teils zumindest. Denn das Projekt der Romantik war zugleich das der Universalpoesie – mithin einer totalisierend-totalitären Form, in der umfassend poetisiert wurde. Die Poesie fungierte, in der Nachfolge Kants, als die neue Transzendentalphilosophie. So schreibt Schlegel in den Athenäums-Fragmenten:

„Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei ihr Eins und Alles; und doch gibt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden.“

Und dieser Spiegel ist eben: Reflexion. Was im Duktus romantischer Theorie nach Schlegel bedeutet, daß sich in der romantischen Poesie „diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihung von Spiegeln vervielfachen.“ Was in unserer Terminologie gesprochen bedeutet: es geschieht in dieser Weise des Poetisieren jene postmoderne Vervielfältigung, Aufspaltung, Dissoziation, Dissemination, in der die Grenzen sich nicht mehr als beständig erweisen [zumindest in der Ästhetik sowie in der Kunst], es löst sich die einheitliche Struktur, der Holismus des Bewußtseins, der des Geistes, die Struktur bezeichnender Sprache in den Spiegelungen der Phantasie und in den Brechungen des Bewußtseins auf zugunsten eines reinen Scheins: jener „Schein des Scheins“ (mithin wieder eine Potenzierung), den Nietzsche in seiner „Geburt der Tragödie“ zum Thema erhob und dessen schwerer Nachtmahr E.T.A. Hoffmann – Freud antizipierend – in jene düstere Schrift brachte: Vom „Sandmann“ über „Das Fräulein von Scuderi“. Die andere Seite der Aufklärung, die düstere, der Schatten der Vernunft, das Projekt der Aufklärung als Destruktion.

Was in der Frühromantik als einzig verbindendes und damit letztlich totalisierendes Moment bleibt ist, contre Hegel gedacht, das Universale der Poesie, die unendlich Poetisierung der Welt, wie sie Novalis und die Romantiker in ihrer Prosa betrieben.

In einer Mischung aus Lebensphilosophie, Modernitätskritik und Geschichtsphilosophie, changierend zwischen Kant und Hegel, beschrieb Georg Lukács 1916 in seiner „Theorie des Romans“ den Zerfall der epischen Form. „Eine nur hinzunehmende Totalität ist für die Formen nicht mehr gegeben: darum müssen sie das zu Gestaltende entweder so weit verengen und verflüchtigen, daß es von ihnen getragen werden kann, oder es entsteht für sie der Zwang, die Unrealisierbarkeit ihres notwendigen Gegenstandes und die innere Nichtigkeit des einzig möglichen polemisch darzutun und so die Brüchigkeit des Weltaufbaus dennoch in die Formenwelt hineinzutragen.“

Polemik, Brüchigkeit, Fragment sowie die Absenz des Sinns werden die Schlagworte der kommenden Ästhetik bilden; und diese Kategorien konditionieren auch einhundert Jahre später den Rahmen der Ästhetik und halten die Kunst am Laufen. Die Grunderfahrung der Moderne wird der Bruch, die Faltung, die Verschlingung, das Fragment. Lukács konstatierte in seiner „Theorie des Romans“ jene „transzendentale Obdachlosigkeit“, die zum Signum der Moderne wurde. Der zu dieser Zeit mit ihm befreundete Max Weber hielt ein Jahr später jenen Vortrag mit dem Titel „Wissenschaft als Beruf“. Darin sprach er von der „Entzauberung der Welt“. Ähnliche Metaphern und Bilder aus unterschiedlichen Denkrichtungen bezeichnen ein und dasselbe Phänomen. Es gibt keine Bleibe und kein Bleiben, „Kein Ort, nirgends“. Die Aufladung der Dinge, der Zauber geschieht nun auf eine andere Weise. Marx analysierte dies auf den Punkt, als er im „Kapital“ vom „Fetischcharakter der Ware“ schrieb. Aber die theologischen oder magischen Mucken der Ware, die Verdinglichung von sozialen Verhältnissen sind der Kritik durchaus zugänglich. Auch heute noch.

Und zugleich gilt es, auch diese letzten Residuen einer Kunst als Wohnstätte durchzustreichen oder sie zumindest ihrer Wohlfühligkeit zu berauben. Denn bereits vor fast einhundert Jahren schrieb Lukács: „Es ist ein neues, paradoxes Griechentum entstanden: die Ästhetik ist wieder zur Metaphysik geworden.“ Und Kunst zur Religion, so sei ergänzt.

Dennoch: es geht in der Kunst weiter. Trotz aller Zwischenrufe und jener Kritik aus dem Grandhotel Abgrund: jener Männer, die den bösen, den kalten, den analytischen Blick auf eine durch und durch entstellte Welt werfen. Philosophie und Essay sind die Beschreibung dieser Welt. Eine Art Positivismus: das was ist, als das zu benennen, was es ist. Dieses Verfahren nennt sich: Kritik. Oder frei nach Hegel: inwiefern sich Begriff und Wirklichkeit entsprechen. Andererseits läßt sich mit dem Dichter Rolf Dieter Brinkmann in bezug auf die Kunst auch diese Passage zitieren, mit der er seinen Gedichtband „Westwärst 1 & 2“ als Vorbemerkung beginnt, geschrieben am 11/12/ Juli 1974 in Köln.

„Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock‘n‘Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter, Tag und Nacht macht weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht auf, man spricht, man macht Zeichen, Zeichen an den Häuserwänden, Zeichen auf der Straße, Zeichen in den Maschinen …“

Es bleiben die Bewegung und das Treiben. Was das für die Kunst bedeutet, sei dahingestellt.

Rolf Dieter Brinkmann (2)

Brinkmann trifft in dem Gedichtband „Westwärts 1&2“ den Ton jener Zeit der ausklingenden 60er und insbesondere der frühen 70er Jahre, er legt einen kollektiven Strom dichterisch frei, bringt ihn in Bilder, verdichtet dieses Strömen: nämlich das Moment von Subjektivität und Empfindung als Gegenpart zur Macht der Vergesellschaftung, was später dann zu einer unendlichen, wälzenden, wühlenden Selbstbohrerei des Subjekts wurde und in die Innerlichkeiten und Innenwelten leerer Selbstbezüglichkeit sich verstieg. Objektlose Innerlichkeit. Diese neue Subjektivität in der Literatur der 70er Jahre manifestierte sich bei Handke und Brinkmann gleichermaßen und auf eine durchaus gelungene Weise, was man von dieser Literatur der neuen Subjektivität nicht immer sagen konnte: Zwei Schriftsteller des Aufbruchs, des Pop, die sich den Medien und der Musik ihrer Zeit verbunden fühlten. Transformierte sich der Text Handkes in den späten 70ern zunehmend hin zu einer artifiziellen, hochartistischen, gesteigerten Sprache und einer Ding-Ontologie, so gibt es in der Lyrik Brinkmanns, der die späten 70er nicht mehr erlebte, weil er vor ein Auto lief und starb, eine Evokation von Situationen und Momenten. Brinkmann zelebrierte den Einfall der Alltäglichkeit in die Dichtung, kurze Momente geraten in die Unendlichkeit und Banales sticht heraus. Diese Stunde der wahren Empfindsamkeit und der Empfindung des Augenblicks gibt es also nicht nur bei Peter Handke, sondern auch bei Brinkmann, aber doch anders strukturiert: lyrischer, leichter und zugleich spielerischer, manchmal freilich auch härter komponiert, wie ein Faustschlag, und cooler gestaltet:

Einen jener klassischen

schwarzen Tangos in Köln, Ende des
Monats August, da der Sommer schon

ganz verstaubt ist, kurz nach Laden
Schluß aus der offenen Tür einer

dunklen Wirtschaft, die einem
Griechen gehört, hören, ist beinahe

ein Wunder: für einen Moment eine
Überraschung, für einen Moment

Aufatmen, für einen Moment
eine Pause in dieser Straße,

die niemand liebt und atemlos
macht, beim Hindurchgehen. Ich

schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten

dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.

Brinkmann pflegt nicht den hohen Ton – anders als Handke. Die in Sprache gebannte Alltäglichkeit einer flüchtigen Szenerie und die Größe eines Momentes, einer Empfindung kommen unprätentiös ins Gedicht, blitzen auf, um wieder zu vergehen; sie erlöschen. Was bleibt, ist die Sprache. Die Assonanz von Unverbundenem bildet den Auftakt: jener schwarze Tango und irgendein griechisches Restaurant in Köln, in einer unbedeutenden Straße im Irgendwo der Stadt. Genau so, wie ich mir einen staubigen, heißen Sommertag, der sich zum Abend neigt, vorstelle: summer in the city. Es gibt nichts Schöneres als einen brütend heißen, ausgedorrten Sommerabend in einer Stadt, wenn sich kaum Menschen auf der Straße befinden, wenn die Stadt auf Abend zugeht, an einem Irgendwo-Ort einer abgelegenen Straße, und wenn die Menschen gerade woanders sind. Wie in den 70ern – Samstag am frühen Abend, 18 Uhr: beim Sportschausehen oder parallel dazu der Daktari oder Raumschiff Enterprise. Die Straßen sind leer, es geht auf das Abendbrot zu. Nur ich bin da, beobachtend. Ein herübergewehter Augenblick, fast eine Photographie, die Zeit ist stillgestellt und gleichzeitig wird der Moment gebrochen durch die Reflexion darauf, die das Gedicht eben zum Thema macht – den Vollzug, das Bannen, das Vergehen. Und insofern stellt sich in Brinkmanns Gedicht die Zeit selber dar.

Der Rhythmus des Gedichts ist vermittels des Enjambements ein harter, gebrochener. Zudem ist dieses Enjambment ein vollkommen willkürliches: der Bruch folgt nach jeweils zwei Zeilen. Es herrscht hier in diesem Brinkmann-Ton also nicht die gewöhnliche Zärtlichkeit für die Dinge und Momente (wie es an einer schönen Stelle in Hegels „Logik“ heißt) oder ein Pathos, der verklärt. Die Titel der Gedichte bilden bei Brinkmann häufig den ersten Satz des Gedichts.

Für meinen schönsten Monat in Rom wäre dieses Gedicht gelesen worden, wenn es zu diesem schönsten Monat in Rom gekommen wäre.

Hymne auf einen italienischen Platz

O Piazza Bologna in Rom! Banca Nazionale Del
Lavoro und Banco Di Santo Spirito, Pizza Mozzarella
Barbiere, Gomma Sport! Gipsi Boutique und Willi,
Tavola Calda, Esso Servizio, Fiat, Ginnastica,

Estetica, Yoga, Sauna! O Bar Tabacci und Gelati,
breite Hintern in Levi‘s Jeans, Brüste oder Titten,
alles fest, eingeklemmt, Pasticceria, Marcelleria!
O kleine Standlichter, Vini, Oli, Per Via Aerea,

Eldora Steak, Tecnotica Caruso! O Profumeria
Estivi, Chiuso Per Ferie Agosto, o Lidia Di Firenze,
Lady Wool! Cinestop! Grüner Bus! O Linie 62 und 6, das
Kleingeld! O Avanti grün! O wo? P. T. und Tee Fredo,

Visita Da Medico Ocultista, Lenti A Contatto!
O Auto Famose! Ritz Cräcker, Nuota Con Noi, o Grazie!
Tutte Nude! O Domenica, Abfälle, Plastiktüten, rosa!
Vacanze Carissime, o Nautica! Haut, Rücken, Schenkel

gebräunt, o Ölfleck, Ragazzi, Autovox, Kies! Und Oxford,
Neon, II Gatto Di Brooklyn Aspirante Detective, Melone!
Mauern! Mösen! Knoblauch! Geriebener Parmigiano! O dunkler
Minimarket Di Frutta, Istituto Pirandello, Inglese

Shenker, Rolläden! O gelbbrauner Hund! Um die Ecke
Banca Commerziale Italia, Flöhe, Luftdruckbremsen, BP
Coupons, Zoom! O Eva Moderna, Medaglioni, Tramezzini,
Bollati! Aperto! Locali Prowisori! Balkone, o Schatten

mit Öl, Blätter, Trasferita! O Ente Communale Di
Consumo, an der Wand! O eisern geschlossene Bar Ferranzi!
O Straßenstille! Guerlain, Hundeköttel, Germain Montail!
O Bar Fascista Riservata Permanente, Piano! O Soldaten,

Operette, Revolver gegen Hüften! O Super Pensione!
O Tiergestalt! O Farmacia Bologna, kaputte Hausecke,
Senso Unico! O Scusi! O Casa Bella! O Ultimo Tango
Pomodoro! O Sciopero! O Lire! O Scheiß!

Eine Hymne sieht in der Regel anders aus, klingt anders, folgt einem anderen Soundsystem, man lese Hölderlin. Diese hier ist ein Klangwerk eigener Art, das laut gelesen werden sollte, und diese Hymne evoziert Lokalkolorit, selbst wer den Piazza Bologna nicht kennt, ist durch dieses Gedicht hindurch in Italien. Eine Ansammlung von Wörtern, Namen und teils von Klischees, Dadaistisches, all diese Momente und Aspekte des Disparaten verbindet dieses Gedicht, parataktisch, ohne auf irgend eine Synthese zu zielen. Mag der herkömmliche parataktische Satz noch einen sprachlichen Zusammenhang und damit auch eine – zumindest minimale – Synthese in der Sprache stiften, eben weil er ein Satz nach der Form Subjekt, Prädikat, Objekt ist, so sind diese Parataxen aus bloßem Wortmaterial gebaut – Substantive, Eigennamen, Ausrufe. Der Zusammenhang bzw. die Synthese bildet sich in diesem Falle vielmehr über die Visualisierungen. Italien und westliche Lebensart, Sex und Attribute desselben, Mafia, Gehwege, Konsum, Werbung, der Wunsch nach einem Espresso, und genau so bewegt sich ein Spaziergänger in seiner Wahrnehmungsweise über einen Platz, auf einer Straße, durch eine Stadt, die er als Tourist besucht oder wo er einige Zeit lebt, um irgendwann wieder fort zu sein. Der Flaneur nimmt die verschiedenen Zeichen so intensiv wahr, daß sie sich einbrennen; er registriert die Welt der ausgestellten Waren, die ihn anspringen, er schaut und eröffnet um diese Zeichen und Gegenstände herum einen Raum der Assoziation, er trödelt entlang und läßt die Zeit auf sich wirken. Und manchmal, wenn es schön war, verklärt er.

1995 wollte ich mit einer Freundin, die zugleich eine große Liebe der 90er war, von der ich schwer loskam, obwohl ich eigentlich mit einer anderen Frau zusammen war, die ich – zu allem Überflusse – mit jener einen auch noch in einer schnellen Stunde betrog, eine Reise nach Italien unternehmen. Wir hätten das hübsch als Kunstgeschichtsstudiumsprojektreise getarnt, alles war besten vorbereitet; ich bin eigentlich ein sehr schlechter Lügner, doch ihretwegen log ich zuweilen, und ich hatte vorgehabt, gewissermaßen als ein Geschenk für sie, ihr dieses Gedicht auf eben jenem Platze laut zu rezitieren – keine ausgefallene Idee, aber doch eigentlich ganz romantisch – wie unsereiner so war: in diesen wunderbaren, wilden, verwegenen Jahren. Zu dieser Romreise ist es jedoch nicht mehr gekommen.

So blieb es bei jener Schulprojektreise in den 80ern, zusammen mit jener schönen Frau, deren jugendlichen Liebhaber in einem Theaterstück der gymnasialen Laienspielgruppe ich geben durfte. Am Ende wäre eine der anderen Projekt-Reisen, etwa die Fahrt in die Vogesen womöglich besser gewesen: Diese Wanderung, welche von meinem hochverehrten Lehrer für Philosophie durchgeführt wurde. Jener Lehrer, bei dem ich Hegel und Adorno lernte, dessen Reflexionsniveau ich beschloß zu erreichen. Wir hätten nach den langen oder harten Wandertouren angenehm in einem kleinen Zelt gemeinsam gelegen, statt in Rom in getrennten Jungs- und Mädchenzimmern zu schlafen; unter der gestrengen Aufsicht der Lateinerin und den laxeren Blicken meines links-liberalen Geschichtslehrers. Und wenn ich das Lied „Wildledermantelmann“ von Degenhardt hörte, dachte ich immer gleich an diesen Geschichtslehrer, der uns nicht verpetzte, als wir vollkommen verspätet und völlig trunken nach diesem torkelnden, irrenden Gang durch Rom heim ins Hotel kamen.

Andererseits fuhren bei der Vogesenwanderung meine Punkfreunde mit. Und das wäre dann wieder eine andere Geschichte geworden.

Die Intensitäten Brinkmanns, das ist wohl richtig, lassen sich im Grunde nur mit dem Moment der Subjektivität koppeln, dessen eingedenkend freilich, daß auch diese Subjektivität in ihrem Wesen ramponiert ist und zuweilen einen Vorwand für den Eskapismus liefert. Das Problem mit den Entäußerungen ist es, daß eigentlich alles zur Masche geworden ist und man den eigenen und den fremden Wörtern kaum noch trauen kann. Selbst das Transzendierende ist Schein, jedoch im Sinne des Pseudos, nicht als Emanation. Womöglich läßt sich einzig im positivistischen Dokument des „Es ist so“, in der Darstellung dessen, was der Fall ist, ausharren. Deshalb bleibt am Ende die Photographie, eine Photographie übrig, die das einfängt. Auch das, was war.

Rolf Dieter Brinkmann – Rom (1)

Dieser Schriftsteller ist zu unrecht ziemlich in Vergessenheit geraten. Zu seinem 70. Geburtstag im letzten Jahr gab es in den Medien kaum Berichte über ihn bzw. sein Werk – zumindest erinnere ich mich nicht, darüber etwas gelesen zu haben. Es laufen mir Studenten der Germanistik über den Weg, die Rolf Dieter Brinkmann nicht einmal mehr vom Namen her kennen, geschweige denn sein Werk. Dies scheint mir im Grunde aber nicht weiter verwunderlich. Bereits die Lehramtsstudenten und -studentinnen zu meiner Studienzeit waren nicht minder schlimm (Lehramtsstudenten sind fast jedesmal schlimm): Betroffenheits- und Befindlichkeitsdiskussionen über Gewalt bei Kafka, über das Marterwerkzeug in Kafkas „Strafkolonie“. Ersthaft wurde im Seminar gefordert, seine Gefühle, seine Subjektivität beim Lesen der Erzählung darzulegen. „Aber Subjektivität setzt zunächst ein Subjekt voraus.“ Mein Einwand wurde wohl nicht recht verstanden oder als elitär ausgelegt. Von da ab bekam die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ ein konkretes Gesicht. Ich sehe die nach menschlicher Befindlichkeit fragende Frau und ihre Getreuen noch heute vor mir. „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ – ja: ein blödsinniger Ausdruck mit gutem Nebelpotential, doch in diesem Zusammenhang ganz treffend.

Nein, ich war damals nicht für den freien Zugang für jeden zum Studium. Wenn in der Medizin geprüft wurde, an den Schauspiel- und Musikhochschulen vorgespielt und bei den Kunstakademien eine Mappe eingereicht werden mußte, warum dann nicht auch in der Philosophie, in den Literaturwissenschaften und in der Soziologie? Weshalb müssen Menschen, die gerne Bücher lesen, das auch noch studieren, wenn Buch und Kopf so recht nicht zusammenpassen wollen? Emotionsleser sollten nicht die Literatur studieren, sondern einfach nur Bücher lesen. Das ist gut für die Verlage, welche diese Bücher verkaufen, das ist gut für die Seminare. Später einmal traf ich diese Frau auf einer Party wieder. Sie faselte dort genauso blöd daher. Zum großen Glück fand ich in jenem Seminar zwei GleichgesinntInnen, die genauso angeekelt waren wie ich, von dieser Art, mit Literatur umzugehen. Man muß – das als Gratisservicetip von „Aisthesis“ und als Rat für Studentinnen und Studenten, die hier mitlesen – bei den Arbeits- und Referatsgruppeneinteilungen nur den schwierigsten Text, das schwierigste Thema wählen, und schon reduziert sich die Anzahl der Gefühlsseligen und der Ich-will-so-bleiben-wie-ich-bin-Fanatiker. Ich wählte zum Referat die Kafka-Deutung von Adorno.

Das alles habe nichts mit Brinkmann zu tun? Doch, doch, gerade dieser Zorn gegen den Stumpfsinn und das Banale ist Brinkmann nicht fremd! Brinkmann ist ein Berserker, er wütet und schlägt um sich, und er gehört mit Thomas Bernhard zu den ganz großen Schimpfern in der Literatur. Und er ist – dennoch – in seinen Texten zugleich ein sanfter, genauer Beobachter.

Ich habe zuerst „Rom, Blicke“ angelesen wegen einer Schul-Projekt-Reise nach Rom, denn warum nur Kunstreiseführer zur Kenntnis nehmen, wenn es auch ausgefallene Lektüren gibt? Roma Termini, Ankunft am morgen, im Schlafwagen. Unausgeschlafen und völlig übernachtigt. Zuerst einen Espresso trinkend. Der Rausch beim ersten Anblick dieser Stadt. Die Mitoberstufenschülerin, in die ich unsterblich verliebt war, saß in meinem Zug-Abteil. Aber es ging leider sittsam zu. Die Rom-Reise 1983 war nicht viel anders als bei Brinkmann: im Nachtzug und lang, sehr lang während. Zwischenstop in München, mit Umsteigeaufenthalt. Wir aßen eine schreckliche Gulaschsuppe dort. München ist eine grauenvolle Stadt befand ich im Durchfahren und beim Blick in die Fußgängerzone.

Nachts im Gang des Zuges pflaumte mich ein italienischer Grenzschützer an, warum ich im Gang rauche [Zum Rauchen und zu diesen wunderbaren Jahren der 80er gibt es bei „Metalust“ einen sehr schönen Text, welchen ich allen ans Herz lege. Es geht dort um Philosophie, Punk und Pop, Denken, Rauchen und die große Liebe. Ganz wunderbar. Solche Texte sind die „Verzückungsspitzen des Daseins“ (Nietzsche)]

Ich verstand zwar kein Italienisch, aber der Grenzer deutete auf die Zigarette, erregte sich immer mehr, tippte immerzu inmitten seiner Wortkaskaden auf diese brennende selbstgedrehte Zigarette, gefertigt mit jener schönen, silbernen Zigarettendrehmaschine, in der man zugleich diese gedrehten Zigaretten aufbewahren konnte; ja, diese Maschine benötigte ich, denn ich war der schlechteste Zigarettendreher, den es auf der Welt gibt. Der Grenzer hörte nicht auf zu zetern und zu palavern. Irgendwann vernahm ich aus dem Schwall der geschimpften Sätze das Wort „Hitler“. Nun aber reichte es, denn ich war mir keiner Schuld bewußt. Denn in jenen seligen Zeiten, das muß man wissen, weil es nicht mehr selbstverständlich ist, durfte man in den Gängen der Züge durchaus rauchen. Ich entgegnete dem Grenzer, daß den Italienern der Name Mussolini sicherlich nicht unbekannt sei. Er wird mich nicht verstanden, sondern nur das jenes Mussolini vernommen haben. Sein Gezetere schlug um in Freunde, und der Mann rauchte mit mir eine Zigarette. Ich weiß bis heute nicht, was dieser italienische Grenzschützer von mir wollte.

Mit jener jungen und begehrenswerten Mitschülerin in Rom, das war wunderbar, eigentlich wichen wir kaum voneinander, machten jeden Ausflug gemeinsam, jede Exkursion, hielten zusammen ein Referat über den alten Hafen Ostia Antica, jedes abendliche Ausgehen geschah gemeinsam. Wir haben uns auf göttliche Weise abends in einem römischen Restaurant, irgendwo in einem Nebenstraßenviertel, zum Essen betrunken, so daß wir kaum die Tür aus dem Restaurant fanden, der alte Patron fand uns verwerflich und widerlich, der junge Kellner jedoch konnte sich sein Grinsen über uns aber nicht ganz verkneifen, so zumindest nahm ich es aus den Augenwinkeln wahr, die Frau stützend, so gingen wir hinaus, und wir verirrten uns zu allem Überfluß, denn ich gab vor, den Weg ins Hotel zu kennen, obwohl ich ihn nicht wirklich kannte, sondern nur mit meinen nicht vorhandenen Stadtkenntnissen prahlen wollte. Wir sind über Autos gestiegen, die auf dem Gehweg parkten. Die junge Frau rief den vor einem Palast Wache schiebenden Carabinieri etwas zu, was nicht ganz fein war. Sie verstanden es zum Glück nicht.

(Und ich war so blöd, die Gunst des Alkohols nicht auszunutzen, weil ich mir dachte, daß ein Gentleman so etwas nicht macht.)

Da für dieses Schulprojekt neben den Latein-Rom-Eingeweihten, die bereits ein Jahr zuvor mitfuhren, nur eine begrenzte Zahl an Teilnehmern zugelassen war, mußten die übrigen Mitreisenden gelost werden. Wir sagten der Lehrerin, daß wir nur gemeinsam führen. Entweder wir beide oder keiner von uns. Wenn nur der oder die eine gezogen würde, und der/die andere nicht, reiste die geloste Person auch nicht mit. Dann hätte wir nämlich die rustikale Wanderung in die Vogesen mitgemacht. So ergab sich für uns beide auf wundersamen Zufall Rom, die ewige Stadt, denn wir wurden gelost.

Dann im Anschluß kaufte ich mir vor lauter Brinkmann-Begeisterung etwa 1983 gleich „Westwärts 1&2“. Denn Frauen beeindruckt man mit cooler Literatur und coolen Zitaten, am besten mit Gedichten, vielleicht nicht unbedingt mit Hölderlin oder Celan, aber mit einem Pop-Dichter sicherlich, so dachte ich damals etwas naiv. Später bekam ich dann jedoch heraus, daß man Frauen mit ganz anderen Dingen beeindruckt. Dann besorgte ich mir „Schnitte“ und „Film in Worten“ sowie den Gedichtband „Standphotos“. Dieser Band reicht nicht ganz an „Westwärts“ heran. Frühe Gedichte sind nicht immer die besten Gedichte.

Gerade diese Collagentechnik (in „Schnitte“ etwa), das Zusammenschnippseln von Comics, herausgerissene Fetzen aus Zeitungen, Postkartenmotiven, Trash, Kitsch, Obzönitäten, eigenen Typoskriptseiten mit Poesie und Prosa, und die Kombination von Text und eigenen Photographien überzeugten mich damals auf einer intuitiven Weise, wenngleich die Photos, die Brinkmann machte, lediglich schlechte Zufallsbilder waren, sozusagen eine Vorwegnahme der Lomographie. Aber das war ja das Prinzip: die Momente festzuhalten, Augenblicke bannen.

Das Destruktive habe ich bei Brinkmann natürlich geliebt. Genau so bin ich durch die Welt gegangen. Damals. Das traf seinerzeit sehr genau meinen Ton. Reflektieren, destruieren. Wenn jene schöne schwarzhaarige Frau, mit der ich die Seminare der Soziologie besuchte, mich einen Intellektuellen nannte, so war es gerade gut genug für mich. Dafür war sie Frau Körper. (Ich schrieb darüber an anderer Stelle.)

Manchmal frage ich mich, wie Brinkmann diese neuen Medien für sich genutzt hätte, sicherlich wären sie für seine Prosa und Poesie entgegenkommende Formen gewesen.

Ja, Rolf Dieter Brinkmann ist einer der ganz großen Dichter der 60er/70er Jahre. In jenem Jahrzehnt lief er zum Höhepunkt auf. Er setzte in seinem Sound, in seiner Sprache ästhetische Maßstäbe. (Und von Sound zu sprechen ist hier ganz und gar richtig, denn Brinkmann gehörte zu denen, die den Pop in die Literatur hineinnahmen. Nun bin ich nicht sonderlich popaffin, aber das Potential, was dort in die Schrift gebracht wird, dieser Ton der Texte, den muß man mit (Pop-)Musik zusammenlesen, zusammenhören.

Ende der ersten erratischen oder besser mäandernden Betrachtungen eines Tauge-Nichts

Tonspur zum Sonntag

„Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter, Tag und Nacht macht weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht auf, man spricht, man macht Zeichen, Zeichen an den Häuserwänden, Zeichen auf der Straße, Zeichen in den Maschinen, die bewegt werden, Bewegungen in den Zimmern, durch eine Wohnung, wenn niemand außer einem selbst da ist, Wind weht altes Zeitungspapier über einen leeren grauen Parkplatz, wilde Gebüsche und Gras wachsen in den liegengelassenen Trümmergrundstücken, mitten in der Innenstadt, ein Bauzaun ist blau gestrichen, an den blauen Bauzaun ist ein Schild genagelt, Plakate ankleben Verboten, die Plakate, Bauzäune und Verbote machen weiter, die Fahrstühle machen weiter, die Häuserwände machen weiter, die Innenstadt macht weiter, die Vorstädte machen weiter. Einmal sah ich eine Reklame für elektrische Schreibmaschinen in einem Schaufenster, worin Büromöbel ausgestellt waren. Ein Comicbildchen zeigte, wie jemand Zeichen in eine Steinplatte schlug, und eine Fotografie zeigte eine Schreibmaschine. Ich war verblüfft. Wo ist der Unterschied, fragte ich mich. Sie wollten mir doch damit einen Unterschied klar machen. Hier sitze ich, an der Schreibmaschine, und schlage Wörter auf das Papier, allein, in einem kleinen engen Mittelzimmer einer Altbauwohnung, in der Stadt. Es ist Samstagnachmittag, es ist Sonntag, es ist Montag, es ist Dienstagmorgen, es ist Mittwoch, es ist Donnerstag, es ist Freitagnachmittag, es ist Samstag und Sonntag. Es ist ein erstaunliches Gefühl, meine ich, das den Verstand erstaunt. Nun erinnere ich mich, an mich selbst, und da gehe ich eine lange Strecke zurück, gehe über warme Asphaltschichten von Seitenstraßen, die Turnschuhe kleben daran, aus einer Musikbox, ganz weit zurück, kommt Rock’n’Roll-Musik und läßt mich die lateinische Übersetzung vergessen. Ich haue ab, trete über verharschte Wiesen im Winter, außerhalb des Ortes, schleppe die Schultasche mit den Büchern mit mir herum, bis Mittag ist und ich zum Mittagessen kann, hellweiße kalte Vormittage in Norddeutschland mit den Wetterberichten nach den Nachrichten. Zwischen den weißen, frischen, zusammengelegten Bettlaken im Schlafzimmerschrank lag immer eine kleine matt-schwarz glänzende Pistole, bequem für eine Handtasche. Und wie war das Wetter, als ich geboren wurde? Meine Eltern waren jung, sie sprachen deutsch. Ich mußte das erst lernen, man wächst immer in eine schon gesprochene Welt rein. Das Lernen macht weiter. Deutsch macht weiter. Wiesen im Winter und warme Asphaltstraßen machen weiter, die Straßenecke macht weiter, die Wetterberichte machen weiter, die Bücher machen weiter, Pistolen, Schultaschen, Turnschuhe machen weiter. Die Nachrichtensprecher machen weiter. Der Sonntag macht weiter. Der Montag macht weiter. Der Postbote macht weiter. Der Dill macht weiter, und die Blätter machen weiter, die Zwiebeln, die Kuh, die Steine, der Film. Der Schallplattenspieler, repariert, macht weiter. Auch die Interpretationen machen weiter. Es sind die Bücher. Ich muß bei diesem Satz sehr lachen. Das Lachen ist angenehm. Als ich in einem gräßlich eingerichteten Apartment in Austin morgens gegen fünf Uhr auf dem vollgepackten Koffer kniete und die Kofferschlösser zuzukriegen versuchte, hörte ich aus dem Radio ein Lied, das mir sofort, nachdem es angefangen hatte, gefiel. Ich stelle das Lied, so wie ich es nach der Schallplatte aufgeschrieben habe, als erstes Gedicht hierher, denn mir gefällt es noch immer, und ich denke, daß das Lied gut als Zitat für meine Gedichte paßt. Der Beifall macht weiter, die Wörter machen weiter, die Knöpfe machen weiter, der Stoff macht weiter, das Marihuana macht weiter, was hat die Grammatik mit Marihuana zu tun? Das Marihuana war sanft und würzig. Die teueren Vororte sind durch Stille gesichert. Manchmal gibt es dort keine Fußgängerwege, und nur manchmal sieht man, beim Hindurchgehen, ein erhelltes Fenster, ganz oben, unterm Dach. Davor werden Bäume bewegt. Im Moment habe ich keinen Hunger, obwohl ich weiß, daß der Hunger weitermacht, der Moment weitermacht, die Erde weitermacht, die sozialen Lagen machen weiter, und der Hund, der in der Nachbarwohnung eingesperrt ist und schon den ganzen Morgen bellt, macht weiter. Die Erklärung ist sinnlos. Der Finger ist sprachlos‘, wie R. D. Laing sagt. Ich blättere durch Bücher. Ich fliege etwas und sehe: ‚So wie der Nahrungstrieb sich subjektiv als Hunger und objektiv als ‚Tendenz‘ zur Erhaltung des Individuums präsentiert, so der Sexualtrieb subjektiv als Bedürfnis nach Sexualbefriedigung und objektiv als ‚Tendenz‘ zur Erhaltung der Art. Diese ‚objektiven Tendenzen‘ sind aber keine konkreten Gegebenheiten, sondern bloß Annahmen. Es gibt in Wirklichkeit ebensowenig eine Tendenz zur Erhaltung der Art wie eine solche zur Erhaltung des Individuums.‘ Erstaunlicher Wilhelm Reich, schöne Sexualität, die weitermacht, und tatsächlich, Utopia ist eine Kiste. Das Geld macht weiter, und die Zusammenbrüche, wie die Songs weitermachen. Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus. Mag sein, daß deutsch bald eine tote Sprache ist. Man kann sie so schlecht singen. Man muß in dieser Sprache meistens immerzu denken, und an einer Stelle hörte ich, wie jemand fluchte: Ihr Deutschen mit Euren Todeswünschen, wenn Ihr sprecht! Bezogen auf die Erfindung der Psychoanalyse stimmt das. Was für Entzückungen eine Straße entlangzugehen, während die Sonne scheint. Die Gedichte, die ich hier zusammengestellt habe, sind zwischen 1970 und 1974 geschrieben worden, zu den verschiedensten Anlässen, an den verschiedenen Orten, ob sie gut sind? fragst Du. Es sind Gedichte. Auch alle Fragen machen weiter, wie alle Antworten weitermachen. Der Raum macht weiter. Ich mache die Augen auf und sehe auf ein weißes Stück Papier.“

Rolf Dieter Brinkmann, Westwärts