Nietzsches Wahrheit (1)
Als Unterbrechung der Adorno-Lektüren, die nächstens weitergeführt werden, und damit auch als Schnitt innerhalb der „Meditationen zur Metaphysik“ sei im Rahmen der Postmoderne-Texte auf einen der schärfsten Kritiker abendländischer Philosophie samt ihrer Metaphysik eingegangen, und zwar auf Nietzsche. Mochte bei Nietzsche anfangs noch, im Banne Wagners, die Metaphysik, zumindest als Ersatzstoff in der Kunst, als Kunstreligion gewissermaßen, eine tragende Rolle im theoretischen Konzept gespielt haben, so wechselte die Perspektive, verschob sich die Optik endgültig mit „Menschliches, Allzumenschliches“ zu einem ganz anderen Blick hin, der die Annahmen von „Die Geburt der Tragödie“ hinter sich ließ. Die „Verzückungsspitze“ des Daseins war nicht mehr durch die Kunst motiviert. Man könnte diesen neuen Blick des Textes fast schon positivistisch nennen; zumindest sah sich Nietzsche so, der die Welt nun nicht mehr in der Optik des Künstlers, sondern in der des Wissenschaftlers betrachtete.
Aber bereits in einem seiner frühen Aufsätze, der zeitlich im Umkreis des Tragödienbuches verfaßt wurde, sieht es wieder ganz anders aus als in jenem Werk, und es deutet sich ein Wechsel der Perspektive in Nietzsches Text nicht nur an, sondern dieser Wechsel wird ganz deutlich proklamiert. (Über die Perspektivität nicht nur als philosophisches Erkenntnismittel, sondern auch innerhalb von Nietzsches Text-System, was dann zu Verschiebungen und Blickwechseln im eigenen Theorierahmen – selbst innerhalb eines einzigen Werkes – führt, muß irgendwann gesondert geschrieben werden, es ist dies ein eigenständiges Thema, das sich mit einem (postmodernen) Multiperspektivismus und dem Konzept von Vielheiten, aber auch dem poststrukturalistischen (derridaschen) Aufbrechen eines einheitlichen Zusammenhangs und der hermeneutischen Sinnkohärenz verschiedentlich deckt.)
Und so soll als philosophischer Gründungstext eines postmodernen Denkens, welches in seinem Schlummer noch gar nicht wußte, daß es solches war, Nietzsches „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ genannt werden. Womöglich mag dieser Sicht insofern etwas Willkürliches innewohnen, als es doch andere Texte gibt, die bis in die Romantik hinein- oder zu Herder und Hamann zurückreichen, in denen man ein Potential gegen- oder andersmodernen Denkens oder wenigstens das Denken eines Gegenparts zur puren Rationalität ausmachen kann. Doch was diesen Text von Nietzsche gegenüber allen möglichen anderen Kandidaten auszeichnet, ist, daß dort in komprimierter, allerdings auch fragmentierter Form bereits im Jahre 1873 verschiedenste, fast bin ich etwas überteiberisch geneigt zu sagen sämtliche Motive eines „postmodernen Denkens“ anklingen, die dann in unterschiedlichsten Positionen postmoderner Philosophie wieder auftauchen und variiert werden. Was in diesem Text als Motiv angespielt wird (natürlich nicht nur in diesem Text, sondern in einer Vielzahl anderer Nietzsche-Texte genauso), entfaltet sich fast 100 Jahre später in komplexen, mehr oder weniger explizit auf Nietzsche bezugnehmenden Denkräumen.
„In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben, –“ (KSA 1, 875)
So beginnt der Text Nietzsches, und um sogleich den konstruktivistischen Charakter der Erkenntnis zu bestätigen, wird der Auftakt als eine Erfindung gesetzt, wir befinden uns bei der Lektüre im Modus des fiktionalen Erzählens, im Reich der Dichtung: Denn „So könnte Jemand eine Fabel erfinden …“ heißt es im nächsten Satz des Textes. (Zum Motiv der Fabel auch aus der „Götzendämmerung“: „Wie die wahre Welt endlich zur Fabel wurde“.) Damit jedoch ist es nicht genug: es ist die Erkenntnis nicht nur ein Fabulieren und eine „Erfindung“ – Nietzsche eröffnet die erkenntnistheoretische Passage literarisch, der Text verfährt insofern performativ –, sondern das Wesen, welches als Subjekt erkennt (oder zu erkennen glaubt), darf sich nicht einmal als Herr im eigenen Hause fühlen und steht mitnichten im Zentrum. Weder im Zentrum des Denkens noch des Handelns. Erkenntnistheorie und praktische Philosophie sind weder an ein Subjektzentrum und schon gar nicht sub specie aeternitatis konzipiert. „… und wie jeder Lastträger seinen Bewunderer haben will, so meint gar der stolzeste Mensch, der Philosoph, von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf sein Handeln und Denken gerichtet zu sehen.“ (S. 875 f.)
Die dritte dem Subjekt zugefügte narzißtische Kränkung, welche so Freud, von der Psychoanalyse betrieben wurde, fand um ein weniges vor ihm statt. (Ähnliche subjektdezentralisierende Motive lassen sich allerdings bereits bei Schopenhauer ausmachen. Sie kommen dort aber auf etwas leiseren Füßen als bei Nietzsche und im Banne der Metaphysik daher.) Das Ich ist nicht Herr im eigenen Hause. Der stolzeste Mensch, der Philosoph, verkennt dies in all seinen Reflexionsspiralen und in seinen konstruierten Systemen.
Doch der Text sistiert in seinem Beginn, gewissermaßen naturgeschichtlich, nicht nur das Erkennen anders als wir es gewohnt sind und als die Philosophie dieses Geschäft betrieb, sondern er ist, ganz Kind seiner Zeit, genauso vom Biologischen durchzogen. Das Denken Nietzsche bewegt sich hier im Banne Darwins, und eine lebensphilosophische Konzeption, die an der Biologie ausgerichtet ist, deutet sich an.
Erkenntnis, der Intellekt, wird zum Mittel, das dazu dient, das Individuum zu erhalten. Es sind keine heheren Ziele, daß da Wissen vermehrt werde, Erkennen um seiner selbst betrieben würde oder weil alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, sondern die biologische Notwendigkeit, die Art zu erhalten, wird im Sinne einer Verschiebung und einer konstitutiven Verkennung sowie Leugnung vom Subjekt umgedeutet zu einem höheren Wert. Der Intellekt hält das Individuum im Dasein, mehr nicht. Er ist der Ausgleich dafür, daß der Mensch, anthropologisch gesprochen, ein Mängelwesen ist. „Jener mit dem Erkennen und dem Empfinden verbundene Hochmuth, verblendende Nebel über die Augen und Sinne der Menschen legend, täuscht sie also über den Werth des Daseins (Herv. Bersarin), dadurch dass er über das Erkennen selbst die schmeichelhafteste Wertschätzung in sich trägt.“ (S. 876) Schein ist hier nicht mehr als Vorschein von einer irgendwie gearteten und auf bestimmte Weise zugänglichen Wahrheit konzipiert, sondern er wird einzig als Pseudos verstanden.
Doch dient der Intellekt nicht nur als Mittel zur Erhaltung des Individuums, sondern er entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung. (S. 876) In einer Reihe von Verschiebungen und Umdeutungen, die vom ursprünglichen Zweck der Erkenntnis abrücken, wird der Bereich dieses Natürlichen, Biologischen verdeckt. Mittels dieser Verstellung erhalten sich die weniger robusten Individuen/Lebewesen, denen der Kampf mit Hörnern oder Raubtiergebiß nun einmal versagt ist (S. 876).
„Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentiren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.“ (S. 876)
Woher kommt diese Härte, dieser Blick, der unter der Oberfläche der Kultur dieses Grauen einer Natur, die kein gut und böse kennt, wahrnimmt? Eine Konzeption, die anmutet wie der Auftakt von Lynchs „Blue Velvet“. Hegel und überhaupt die Epoche, welche dem Geist der Goethezeit verhaftet war, hätte angesichts einer solchen Konzeption des Subjekts vom geistigen Tierreich gesprochen, und weiter weg von einem aufklärerischen Konzept könnte man sich eine theoretische Konzeption nicht denken. Die Frage ist, was Nietzsche da in seinem Aufsatz veranstaltet, worauf er hinaus will.
Und was hat dies mit einem Denken zu tun, das sich teils in postmodernen Positionen fortsetzen wird? Auch ist festzustellen, daß dieser Auftakt Nietzsches hypothesenhaft bzw. einfach nur behauptend daherkommt. Eher rhetorisch, literarisch, erzählerisch motiviert, als argumentativ gefestigt, womit wir ein erstes postmodernes Motiv in diesem Text Nietzsches, zumindest in seiner Darstellungsform, bereits hätten. (Man müßte jetzt so einen Jargon wie die Performanz des Performativen gebrauchen, um ein wenig diese Tonlage eines bestimmten Poststrukturalismus, wesentlich seiner Adepten, zu konterkarieren.) Sprache und Erkennen werden in diesem Aufsatz ein eigenwilliges Verhältnis eingehen. Erkenntnis und Wahrheit werden zu Effekten und stellen keine Werte an sich dar. Nietzsche koppelt sie an verschiedene Bedingungen. (Davon im 2. Teil mehr.)
Woher nimmt Nietzsche diese Einsichten? Sicherlich: ein guter Teil ist der Biologie, der Evolutionstheorie entnommen, die philosophische Prämisse vom dunklen, irrationalen Grund des Seins geht auf Schopenhauers Philosophie zurück. Diese beiden Positionen, die eine naturwissenschaftlich grundiert, die andere einer Metaphysik des Willens entnommen, die es derart in der europäischen Philosophie nicht gab, in einer denkerischen (oder textuellen) Konstellation zusammengefügt, geht dann eine eigentümliche Mischung ein, die fürderhin etwas recht Explosives erzeugen wird, weshalb Nietzsches Satz in „Ecce Homo“, daß er ein Dynamit sei, nicht ganz verkehrt ist. (Eine seiner letzten Schriften nebenbei, die in einem hellsichtigen Wahnsinn geschrieben wurde.)
Als eine erste Bewegung des Textes bleibt festzuhalten, daß das Subjekt hier in eine Position versetzt wird, die, zumindest im Rahmen der Erkenntnistheorie und der Ethik, nicht mehr im Zentrum situiert ist. Und es gibt ein Vorgängiges, das in der Reflexion des Subjekts nicht einzuholen ist. Ganz im Gegenteil, diese Reflexion ist – fast notwendig – beständiger Scheinproduzent, die ihre Produkte jedoch als Wahrheit ausgibt und zurechtschneidet. Es reicht nicht einmal mehr zum Γνῶθι σεαυτόν hin:
„Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst! Ja, vermöchte er auch nur sich einmal vollständig, hingelegt wie in einen erleuchteten Glaskasten, zu percipiren? [Der Verurteilte, auf den Apparat gelegt, in Kafkas „Strafkolonie“, mit der zukünftigen Inschrift im Körper, vermag es vielleicht.] Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluß der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschließen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtseinszimmer heraus und hinab zu sehen vermöchte und die jetzt ahnte, dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Woher in aller Welt, bei dieser Constellation der Trieb zur Wahrheit!“ (S. 877)
Zweimal wird eine Frage gestellt, die von der Interpunktion her dann jedoch in Ausrufezeichen terminiert.
Im Einzugsbereich der Metaphysik verbleibt, wie schon Heidegger zeigte, Nietzsches Text innerhalb dieses frühen Konzeptes allerdings immer noch. Er dreht hier lediglich die Vorzeichen um. Trotzdem deutet sich in diesem kurzen Text Nietzsches bereits eine Drehung innerhalb der Philosophie an. Sicherlich: Das Bild vom Bewußtseinszimmer ist in bester Schopenhauerischer Manier gesetzt und auch das des Tigers, auf dessen Rücken der Mensch sitzt, steht in dieser Linie, in der sich zwar nicht das Verschwinden des Subjekts zeigt, (dieses kann nicht verschwinden, weil dann nichts mehr da wäre, was seine eigene Dekonstruktion erkennen könnte), aber sehr wohl eine Umpolung des Subjektbegriffs: daß das Paradigma von Subjektivität und Subjektkonstruktion neu zu denken ist. Und hier eben sind wir mitten drin in einer Debatte, welche in verschiedenen poststrukturalistischen Ansätzen zum Thema wird, sei dies nun bei Lacan, Derrida, Deleuze oder Foucault. Interessanterweise wird dieses Motiv des Tigers, auf dessen Rücken wir sitzen, dann von Foucault in „Die Ordnung der Dinge“ aufgegriffen. Schließen wir also mit Foucault als Kommentar zu Nietzsche:
„Man begreift die Erschütterungskraft, die das Denken Nietzsches hat haben können (und für uns noch bewahrt), als es in der Form des bevorstehenden Ereignisses die Verheißung und Drohung anjündigte, daß der Mensch bald nicht mehr existieren werde, sondern der Übermensch. Das bedeutet in einer Philosophie der Wiederkehr, daß der Mench bereits seit langem verschwunden war und immer weiter verschwand, und daß unser modernes Denken vom Menschen, unsere Sorge um ihn, unser Humanismus heiter auf seiner grollenden Nichtexistenz schlief. Wir glauben uns an eine Endlichkeit gebunden, die nur uns gehört und die uns durch das Erkennen die Welt öffnet, aber müssen wir uns nicht daran erinnern, daß wir auf de Rücken eines Tigers sitzen?“ (O.d.D. S. 389)
Nächstens weiter in der Lektüre dieses Nietzsche-Textes.