Jenseits, diesseits, inmitten der Welt: Schopenhauer zum 225. Geburtstag

Todestage – Geburtstage: einerlei – im Fluß des Lebens und im Wirken des Willens, in der Bewegung von Werden und Vergehen. Arthur Schopenhauer feiert in einer Welt jenseits aller Vorstellungen und als bloßer Strom und Wille, als Brahman oder Weltseele gar (nicht aber als Weltgeist, in dieser Weise jubiliert sein großer Antipode) seinen 225. Geburtstag. Eine Würdigung zu seinem 150. Todestag schrieb ich hier.

Daß der Kern der Schopenhauerschen Philosophie das Überschreiten der Welt als Vorstellung sei, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, aber es existieren in seinen Texten Passagen, die einen sehr diesseitigen Philosophen uns zeigen:

„Die Spaßphilosophen kennen nicht ein Mal das Problem der Philosophie. Sie vermeinen, es sei Gott. Von dem gehn sie, als einem Gegebenen, aus, mit dem haben sie es durchweg zu tun, ob er in der Welt oder draußen sei, ob er sein eigenes Selbstbewußtsein habe oder sich des Menschen bedienen müsse, und solche Possen ohne Ende. Die Welt, die Welt, ihr Esel ist das Problem der Philosophie, die Welt und sonst nichts!“

Spaßphilosophen, welch schöne Wendung und bis ins Heute hin noch passend. Schopenhauer – das ist auch ein Stilist ersten Ranges, an dem sich Schreiben, Denken, Lesen lernen lassen.

Aufglitzern einer fast schon materialistisch gewendeten Philosophie.

Auch über die Weiber wußte der Junggeselle Schopenhauer manches zu berichten (Achtung, große TRIGGERWARNUNG, es kann nach dem Lesen dieser Zeilen zu bestialischen Rückfällen in das alte abgeschaffte, abgehalfterte Patriarchat kommen):

„Daß das Weib, seiner Natur nach, zum Gehorchen bestimmt sei, giebt sich daran zu erkennen, daß eine Jede, welch in die ihr naturwidrige Lage gänzlicher Unabhängigkeit versetzt wird, alsbald sich irgend einem Manne anschließt, von dem sie sich lenken und beherrschen läßt; weil sie eines Herrn bedarf. Ist sie jung, so ist es ein Liebhaber; ist sie alt, ein Beichtvater.“

Na ja, wer groß denkt, der irrt auch groß. Manchmal.

Schwarzes Denken – schwindelfrei! Dies mag eine der großen Maximen Schopenhauers bleiben: Oder wie es Hegel in der Vorrede seiner Phänomenologie formulierte: beim Negativen zu verweilen und ihm ins Angesicht schauen. Manche trauen es sich nicht und schreiben lieber im Seichten, baden gerne lau, wie es Herbert Wehner einmal über Willy Brandt sagte.

Schopenhauer und die kritische Theorie der Gesellschaft

Einen interessanten Nachtrag möchte ich zum Schopenhauertext liefern, und zwar ein Zitat aus dem Aufsatz von Heinz Paetzold „Schopenhauers Motive in der Ästhetik des Neomarxismus“. Diese Passage deutet noch einmal darauf, daß es durchaus Verbindungsglieder gibt zwischen Schopenhauer, dem vermeintlichen Philosophen des behaglichen Bürgertums, welches den Spiegel nicht wahrnahm, den Schopenhauer ihm entgegenhielt, und der Kritischen Theorie. Nebenbei bemerkt wird ja auch Wilhelm Busch, der Schopenhauer samt seinem Pudel als Skizze zeichnete, vom behaglichen Bürgertum in Anspruch genommen. Ein wenig zu unrecht, wenn man bedenkt, daß die Zeichner der Neuen Frankfurter Schule diesen Wilhelm Busch, trotz seines Antisemitismus und seiner Spießbürgerlichkeit, illustratorisch nicht gering schätzten.

Doch nun zum Text von Paetzold:

„Die Lektion, die jede sich auf Marx berufende Philosophie der Praxis von Schopenhauer erhält, besteht darin, die Bedingungen mißlingender Befreiung schärfer ins Auge zu fassen. Schopenhauer macht hellsichtig für einen Verlauf der Welt am Rande der Katastrophe. Die Lektion, die ein in der Fluchtlinie Schopenhauers sich bewegendes Denken vom Neomarxismus erhält, besteht darin, daß die Wahrscheinlichkeit der Katastrophe dann nicht zur Resignation oder zu heroischem Zynismus führt, wenn zugleich die Möglichkeit umwandelnder Praxis zugestanden wird. Als Statthalter dieser Möglichkeit fungiert bei Adorno wie Marcuse, Bloch und Benjamin die Kunst. Man muß allerdings hinzusetzen: Eine Kunst, die aus den Avantegardebewegungen gelernt hat. Das Scheitern der klassischen Avantgarden in dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bei ihren Versuchen, die ästhetische Erfahrung in das gesellschaftliche Leben zu übersetzen, beruhte darauf, daß den künstlerischen Avantgardebewegungen keine sozialen Bewegungen zur Seite standen. Mit der Bürokratisierung der Arbeiterbewegung durch Stalin und seine Nachfolger war die Sprengkraft der Politik gefesselt.“ (S. 172, in: Schopenhauers Aktualität, Wien 1988)

„Glück ist im Schöpfungsplan nicht vorgesehen“

Zum 150. Todestage Arthur Schopenhauers

Er gilt als Philosoph des Pessimismus, als einer der schwarzen europäischen Philosophen nicht nur des 19. Jahrhunderts. Es stammt zwar das obige Titelzitat von Freud, doch hätte diesen Satz genauso sein dunkler Ahnherr Arthur Schopenhauer formulieren können. Die Welt ruht auf einem irrationalen oder vielmehr a-rationalen Grund, und keineswegs geben – im Sinne des Idealismus gedacht – die Vernunft oder der Geist das Fundament dieser Welt ab. Hier stehen sich zwei philosophische Strömungen innerhalb des Idealismus gegenüber, wie sie unterschiedlicher nicht ausfallen können: nämlich einerseits Hegels Weltgeist, daß – Hegel sehr sehr vereinfacht zugespitzt, so daß es schon wieder falsch wird – das Vernünftige das Wirkliche und das Wirkliche vernünftig sei, wie er dies in der „Rechtsphilosophie“ schrieb, und andererseits Schopenhauers Willensmetaphysik, die sich einerseits an Kant und Platon ausrichtet, andererseits aber auf ein Moment rekurriert, das es auf diese Weise systematisch entfaltet in der europäischen Philosophie nicht gab.

Nicht die Vernunft, sondern ein blind wirkendes Prinzip durchzieht die Welt. Dieser alles durchziehende Wille hat jedoch nichts damit zu schaffen, was man für gewöhnlich mit diesem Begriff alltagssprachlich konnotiert, denn es wirkt hier ein Wille ohne intentionales Wollen, und es ist auch nicht der kantische gute oder gar der frei Wille, der die wunderbare Welt der Ethik strukturiert. Bei Nietzsche transformiert sich dieses Konzept später zu einem Geflecht aus Kräften und Macht. Wirkungen oder vielmehr: Taten ohne Täter, wie er dies in „Jenseits von Gut und Böse“ schrieb. Nietzsche drehte und wendete einiges an Schopenhauers Metaphysik des Willens, dieser Metaphysik ohne Jenseits. Doch zeitlebens blieb Schopenhauer trotz mancher theoretischer Differenzen für Nietzsche der große Lehrer, den er nicht mit Polemik bedachte, wie er es bei so vielen anderen tat. (Man suche bei Nietzsche einmal den Namen „Schiller“.)

Klopfte man an die Gräber und fragte die Toten, ob sie wieder aufstehen wollten, sie würden mit den Köpfen schütteln.“ (Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 539) Zu einem solchen Satz steht Nietzsches Denken diametral entgegen, die Verneinung des Willens gilt es zu hintertreiben, und so erweisen sich die ewige Wiederkehr sowie die großes Bejahung eben auch als Reflex auf die Philosophie Schopenhauers, um dieser eine andere Laufrichtung zu geben. Das Rad des Ixion verkehrt sich, fast wie bei Camus, wo man sich den Sisyphos als fröhlichen Menschen muß vorstellen können.

Andererseits zeigt sich Nietzsches Prägung durch Schopenhauer nicht nur in in der Konzeption des Willens und der amor fati, sondern auch in dem Aspekt der Leiblichkeit, der bei beiden, wenngleich in unterschiedlichen Ausprägungen, ein Korrektiv zur Vernunft abgibt. Einzig am Leib setzt bei Schopenhauer diese Form der Erfahrung ein, welche sich nicht mehr in der Welt der Vorstellungen bewegt, sondern an diesem Ort sind wir zugleich Subjekt und Objekt der Erkenntnis des Willens, weil einzig wir selbst es sind, wo sich der Wille unmittelbar manifestiert und sich nicht im Modus der Vorstellungen und des Theoretischen verbirgt. Es ist dieser unserer Leib der einzige Ort, wo wir den wirkenden Willen unmittelbar und direkt erfahren. In dieser Leibphilosophie steckt eine Drehung der Philosophie, die für das 19. Jahrhundert wohl bahnbrechend ist. Nur wenige Ohren haben sie seinerzeit vernommen.

Womit anfangen bei einer kurzen Würdigung in einem Blog, wenn die Aspekte der Philosophie Schopenhauers derart vielfältig sind? Natürlich! Bei der Ästhetik: wir können es nicht anders, wir wollen es nicht anders, wir wollten es nie anders, und wir werden niemals anders leben.

Hier aber war es, in diesem Pavillon, in dem kleinen Schaukelstuhl aus gelbem Rohr, wo er eines Tages vier volle Stunden lang mit wachsender Ergriffenheit in einem Buche las, das halb gesucht, halb zufällig in seine Hände geraten war …“ (S. 667, Frankfurter Ausgabe) Sie kennen diese Passage, liebe Leser, es ist aus den „Buddenbrooks“, und sie zeigt Thomas‘ erste Begegnung mit dem Hauptwerk Schopenhauers, genauer mit jenem Kapitel, das den Titel trägt „Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich“. Treffender kann man die Motive von Niedergang und Dekadenz nicht anspielen. Natürlich nennt Thomas Mann den Namen Schopenhauers nicht.

Eine ungekannte, große dankbare Zufriedenheit erfüllte ihn. Er empfand die unvergleichliche Genugtuung, zu sehen, wie ein gewaltig überlegenes Gehirn sich des Lebens, diese so starken, grausamen und höhnischen Lebens, bemächtigt, um es zu bezwingen und zu verurteilen … die Genugtuung des Leidenden, der vor der Kälte und Härte des Lebens sein Leiden beständig schamvoll und bösen Gewissens versteckt hielt und plötzlich aus der Hand eines Großen und Weisen die grundsätzliche und feierliche Berechtigung erhält, an der Welt zu leiden – dieser besten aller denkbaren Welten, von der mit spielendem Hohne bewiesen ward, daß sie die schlechteste aller denkbaren sei.“ (S. 667)

Schopenhauers Wirkung auf die Literatur kulminiert dann sicherlich noch einmal bei Samuel Beckett – insbesondere an seinem großartigen Essay zu Proust ließe sich das gut zeigen – sowie bei Thomas Bernhard, vor allem über jenes Motiv, daß ein einziger Gedanke zu Tage gefördert bzw. in eine ästhetische oder musikalische Anordnung gebracht werde. Bernhards beständiges Umkreisen dieses Gedankens mittels einer hochmusikalischen, sich überschlagenden Sprache.

Schopenhauers Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ sollte dieser einzige Gedanke sein. „Was durch dasselbe [eben dieses Buch, Bersarin] mitgetheilt werden soll, ist ein einziger Gedanke“ (S. 7). Aufgefächert wurde dieser eine Gedanke in eine theoretische Philosophie (innerhalb der Welt der Vorstellung und hier ganz Kant verhaftet), in die Ethik sowie die Ästhetik.

Vieles mag an Schopenhauer heute nicht mehr recht tragen, und eine Metaphysik des Willens funktioniert so kaum, auch wenn sie wie bei ihm ohne dieses Jenseits auskommt. (Seine Prägung durch die indische Philosophie lasse ich außen vor, obwohl sie für Schopenhauer eine Erweckung und zentral war.) Interessant scheint aber immer noch seine Konzeption einer (nicht-diskursiven) Ethik des Mitleids, die eben nicht über theoretische Modi der Reflexion und diskursive Verständigung oder über Metaebenen funktioniert. Für eine solche Ethik, die im Grunde lediglich eine Variante theoretischer Philosophie abgibt, hatte Schopenhauer nur Spott übrig.

Diese Mitleidsethik ist insbesondere im Hinblick darauf interessant, daß sie aufgrund der Willenskonzeption nicht nur für Menschen gilt, sondern gleichfalls Tiere unter sich befaßt, was für eine philosophische Position des 19. Jahrhunderts nachgerade ungewöhnlich ist. Tugendhat greift Schopenhauers Mitleidsethik in seinen „Vorlesungen über Ethik“ auf. Etwas simplifiziert könnte man dieses Konzept Schopenhauers im nachmetaphysischen Zeitalter auf den Begriff der Empathie bringen, und es ergeben sich hierbei sicherlich einige Berührungspunkte zur Kritischen Theorie nicht nur Adornos, sondern auch Max Horkheimers, der immerhin einen Aufsatz zu Schopenhauers Mitleidsethik schrieb. Diesen Bezügen, insbesondere über die „Dialektik der Aufklärung“, müßte auf der Ebene individualistischer Ethik im Rahmen von Praktiken nachgedacht werden.

Mit Adorno ist Schopenhauer vor allem über die Kunst zutiefst und vielfältig verbunden. Es gibt kaum eine Philosophie des 19. Jahrhunderts, in welcher die Kunst und dabei vor allem die Musik einen derart hohen Stellenwert besitzt. Dies klingt bis ins 20. Jahrhundert samt seinen unterschiedlichen ästhetischen Bewegungen nach.

Ästhetik ist der philosophische Blick in die Welt, weil er vom Willen losgebunden ist“, schreibt Rüdiger Safranski in seiner großartigen Schopenhauer-Biographie (ich lege sie jedem ans Herz.) Eine solche Passage läßt sich auch gesellschaftstheoretisch und -kritisch verlängern, wenngleich man das Konservativ-Reaktionäre in Schopenhauers Philosophie und seine schräge Vernutzung, ähnlich wie bei Nietzsche, nicht wird ausschalten können. Dennoch: Die Anordnung Hegel–Marx–Schopenhauer–Adorno sollte zuweilen in Bewegung gehalten und in immer neue Denkbilder gebracht werden.

Schopenhauer, der zunächst verkannte Philosoph – der Antipode Hegels, einig womöglich nur in der holistischen Konzeption von Philosophie –, Schopenhauer, dessen Wirkung erst sehr viel später einsetzte: Im Berlin des Jahres 1820 legte er seine Vorlesungen zeitgleich zu denen Hegel: ein provokativer Vergleich, der für Schopenhauer allerdings schlecht ausging. Während Hegels Hörsaal überfüllt war, saßen bei Schopenhauer gerade einmal ein paar Menschen, die ihm zuhörten. Glücklicher geriet die Lage für Schopenhauer im Jahre 1831, als er vor der Cholera aus Berlin nach Frankfurt floh. Sein Antipode Hegel verstarb.

Drum besser wär‘s, daß nichts entstünde“, so ließe sich im Sinne Schopenhauers mit Goethe sicherlich schreiben. Der Wille käme zur Ruhe, verglühte, erlösche. Und so ist auch das letzte Wort seines einzigen Hauptwerkes „Die Welt als Wille und Vorstellung“: „Nichts“.

Aber es ist im Leben der Tod allgegenwärtig, und so gehörte auch Schopenhauer zu jenen Schülern Montaignes, die beizeiten seinen Rat befolgten: „Philosophieren heißt sterben lernen.“ Er tat alles, um in dieser letzten Kunst zu reüssieren. Am 21. September 1860 verstarb bzw. entschlief Arthur Schopenhauer friedlich an einer Lungenentzündung. Schließen wir mit einem Zitat, das ich in meiner Jugend sehr apart fand, und mit dem auch Ludger Lütkehaus seine Schopenhauer-Würdigung in der „Zeit“ beschloß:

Sitzen ist besser als stehen, und liegen ist besser als sitzen: Besser als liegen ist schlafen, und besser als schlafen ist todt seyn.“

Erste Bestimmungen einer philosophischen Postmoderne (5)

Nietzsches Wahrheit (4. und letzter Teil) 

Vorbemerkung

 Manchmal, so sagt man, muß ein Mann das tun, was er tun muß. (Eine Frau sicherlich auch.) Ich muß, bevor ich mich, wie mit den Blogs Exportabel und Metalust verabredet, mit Adornos Musiktheorie auseinander setze, meinen Nietzsche-Text zum Ende bringen, um mich dann unbeschwert an den Aufsatz Adornos „Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens“ heranzubegeben.

 „Es ist der Mensch“ – nur anders

 Übertragungen und Verschiebungen sind die häufig verwendeten Topoi in diesem Aufsatz von Nietzsche, ein immer wiederkehrendes Motiv:

„… so nimmt sich das räthselhafte X des Dinges an sich einmal als Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut aus. Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkukuksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge.“ (S. 879)

Darin steckt eine vehemente Kritik des Essentialismus und der kantischen Transzendentalphilosophie gleichermaßen. Zwar wird, noch im Kantischen Sinne, ein „räthselhaftes X des Dinges an sich“ angesetzt. Doch fungiert es eher als sich verschiebender blinder Fleck, weniger jedoch als erkenntnistheoretischer Grenzbegriff, und in diesem Sinne kann man bereits mit Nietzsche sagen, daß die Grenzen meiner Sprache zugleich die Grenzen meiner Welt sind. Wir sind in der Sprache, nicht jedoch am Wesen der Dinge.

Wir begegnen in diesem Zitat einer von vielen Reihung im Text Nietzsches, die eine Perspektiviät in der Philosophie nötig machen, ist doch der Blickwinkel von diesen unterschiedlichen Sphären her sehr verschieden: Nervenreiz, Bild, Laut. Bei jedem Mal ein anderer Bereich, der am Ende in Sprache übergeht und dennoch einen eigenen Referenzrahmen erforderlich macht.

Doch kommen wir gleich zum Beginn des Essay zur Sache und gehen in die entscheidende, vielzitierte Passage des Wahrheitsaufsatzes hinein:

„Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“ (KSA 1, S. 880 f.)

Der in die Verborgenheit geratene Ursprung, von dem sich in der Lesart Nietzsches eigentlich gar nicht ausmachen läßt, ob es ihn gibt oder ob da nicht vielmehr nichts sei. Allenfalls noch als (notwendige) Fiktion eines Ursprungs mag da etwas vorliegen, und Aussagen über Wahrheit und über die Bedingungen ihrer Konstitution lassen sich höchstens noch in einer genealogischen Perspektive treffen. Die Wahrheit selbst jedoch zielt nicht mehr auf diesen Ursprung oder auf einen wesenhaften Objektbereich ab.

Was ist also Wahrheit: Diese Frage wird in diesem zentralen Satz lakonisch beantwortet, elliptisch, fast beiläufig. Nicht mehr die Übereinstimmung des Objekts mit dem Denken, der Sache mit dem Intellekt oder irgend eine der klassischen Antworten wird genannt. Wahrheit wird zu einem Phänomen in und durch die Sprache. Übertragungen und Verschiebungen, Interpretation, mithin relative Sichtweisen, lassen eher von einem Wahrheitsgeschehen sprechen, als daß man hier noch einen festen Begriff von Wahrheit ansetzten könnte.

Diese Sicht auf Wahrheit wird die spätere Philosophie Nietzsches dann virtuos und in den verschiedenen Ausprägungen und Schattierungen entfalten. Mit Günter Abel läßt sich dann durchaus von „Interpretationswelten“ sprechen. Es gibt keine wahre Welt, sondern diese gerät am Ende zur Fabel. (Siehe hierzu den einschlägigen, von mir bereits angeführten Aphorismus aus der „Götzendämmerung“.) Was dann gut in den postmodernen Slogan mündet, daß es eben keine Wahrheit, sondern nur Interpretationen, mithin plurale Sichweisen auf „Welt“ gibt, nichtessentialistische „Wahrheiten“ im Plural: verschiedene Sprachspiele, Diskurse, die kaum noch kompatibel sind, funktionale Ausdifferenzierungen, verschiedene Geltungssphären, die mal von einer kommunikativen Vernunft zusammengehalten, dann wieder als vollständiges Differenzgeschehen gedacht werden. Doch sind diese Dinge allerdings eine bereits sehr moderne Erfahrung. Sie sind geradezu das Spezifikum einer plural entfalteten Moderne. Insofern sind die Einsichten Lyotards, etwa im „Widerstreit“ und im „Postmodernen Wissen“ sicherlich nicht vom Himmel herabgefallen, sondern sie stehen in einer philosophischen Tradition, die von Lyotard dann allerdings sehr spezifisch gedreht wird. Nietzsche zumindest liefert für diese Drehungen und Wendungen der Moderne (hin zur Postmoderne), und insbesondere mit diesem Wahrheitsaufsatz eine Menge an Munition. Insofern auch dürfte der Ansatz nicht ganz falsch sein, Nietzsche als einen der ersten Philosophen des 20. Jahrhunderts zu titulieren.

Diese „Interpretationswelten“, diese Konstruktionen von Wirklichkeit mittels Sprache (1) erheben bei Nietzsche zugleich jedoch den Anspruch auf die Strukturierung eines ausgedehnten Feldes namens Gesellschaft. Gleichsam an einem einzigen Faden wird aus einigen anthropologischen bzw. biologischen Grundlagen die Konstruktion einer ganzen Begriffs-Welt herausgezogen:

„Alles, was den Menschen gegen das Thier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen; im Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen, die nun der anderen anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulirende und Imperativische.“ (S. 881 f.)

Der Mensch, das noch nicht festgestellte Tier, wie Nietzsche es in „Jenseits von Gut und Böse“ formuliert, das mit Sprache begabte Tier. Dieser Abbau des Anschaulichen zugunsten des Begriffs, als Akt identifizierenden Denkens und reifizierender Sprache, ist allerdings mit Verlusten erkauft. Und hier berühren sich die Ausführungen Nietzsches mit der Kritik Adornos/Horkheimers in der „Dialektik der Aufklärung“ und insbesondere mit den Ausführungen Adornos in der „Negativen Dialektik“ zur Logik des Begriffs (S. 23 ff.).

„Während jede Anschauungsmetapher individuell und ohne ihres Gleichen ist und deshalb allem Rubiciren immer zu entfliehen weiß, zeigt der grosse Bau der Begriffe die starre Regelmässigkeit eines römischen Columbariums und athmet in der Logik jene Strenge und Kühle aus, die der Mathematik zu eigen ist.“ (S. 882)

Bereits einige Passagen vorher hielt Nietzsche fest, daß jeder Begriff durch die Gleichsetzung des Nicht-Gleichen (S. 880) entsteht. Sprache erzeugt die Fixierungen, welche allerdings nur mit (philosophischer) Sprache oder aber vermittels der Kunst wieder aufzubrechen sind. Im ganzen ist dieses „Begriffshimmel“, jenes Gerüst, was über die Dinge gewebt wird – „ein Bau, wie aus Spinneweben“ –, hochartifiziell konstruiert, hat dabei aber in seiner Selbstreferenzialität nichts mehr mit den Dingen als solchen und an sich selbst betrachtet zu schaffen. Es ist für Nietzsche die reine Konstruktion:

„Wenn Jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben dort sucht und auch findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen: so aber steht es mit dem Suchen und Finden der „Wahrheit“ innerhalb des Vernunft-Bezirkes.“ (S. 883)

So ist das Rätsel im ersten Teil des Wahrheitsaufsatzes fast gelöst, und man kann wie Ödipus gegenüber der Sphinx aussagen: „Es ist der Mensch“, protagoräisch als Maß aller Dinge gesetzt. Das Verfahren des Philosophen „ist: den Menschen als Maass an alle Dingen zu halten, wobei er aber von dem Irrthume ausgeht, zu glauben, er habe diese Dinge unmittelbar als reine Objekte vor sich. Er vergisst also die originalen Anschauungsmetaphern als Metaphern und nimmt sie als die Dinge selbst.“ (S. 883)

Nietzsche steht hier ganz in der Tradition eines Anti-Platonismus, vorgängerisch sozusagen im Bezirk des sophistischen Homo-mensura-Satzes. Der Anti-Essentialismus Nietzsches geht hier zum einen in Anthropologie zum anderen aber auch in eine genealogisch-kritische Perspektive über. Beides muß man in den Details rekonstruieren. Von diesem Aufsatz Nietzsches ausgehend lassen sich also viele (Ariadne-)Fäden in die Moderne oder aber in die Postmoderne spinnen. Interessant ist hierbei, sozusagen am Vorabend der Psychoanalyse, der Aspekt des „Vergessens jener primitiven Metaphernwelt“ (S. 883) sowie die „strömende Bildermasse“, die bei Nietzsche durchaus als ontologischer Prius angesetzt wird, weshalb er eben noch in der Metaphysik des Ursprungsdenkens verbleibt, allerdings mit verkehrten Vorzeichen. Noch steht Nietzsche im (schopenhauerschen) Dualismus von principium individuations und (rauschhaftem) Willenswirken, jenem Strömenden, als dunklem Seinsgrund, schon konstatiert er jedoch die reine und zugleich relative Immanenz, die uns einzig noch verbleibt, und die in der entfalteten Moderne dann zur Beckettschen (Spiel-)Hölle geworden ist, was Georg Lukács dann in anderem Zusammenhang als die „transzendentale Obdachlosigkeit“ bezeichnete, welche das Signum der (kapitalistischen) Moderne ist.

„… kurz nur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einige Ruhe, Sicherheit und Consequenz; wenn er einen Augenblick nur aus dem Gefängnis dieses Glaubens heraus könnte [und hier ist sie wieder die schopenhauersche Dualität sowie die Unvermitteltheit des Übergangs, Anm. Bersarin], so wäre es sofort mit seinem ‚Selbstbewusstsein‘ vorbei. Schon dies kostet ihm Mühe, sich einzugestehen, wie das Insekt oder der Vogel eine ganz andere Welt percipiren als der Mensch, und dass die Frage, welche von beiden Weltperceptionen richtiger ist, eine ganz sinnlose ist, da hierzu bereits mit dem Maassstab der richtigen Perception d. h. mit einem nicht vorhandenen Maassstab gemessen werden müsste.“ (S. 883 f.)

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(1) Schöne Fälle hierfür liefern uns beständig die PR-Agenturen und die Spin-Doctors mit Begriffen wie „Neiddebatte“, wenn es einer wagt, auf die immer extremer werdenden soziale Unterschiede hinzuweisen. Oder eine schöne Umetikettierung: statt Managerboni wird „Halteprämie für Führungskräfte“ gesagt, um exorbitante Zahlungen zu kaschieren.

Erste Bestimmungen einer philosophischen Postmoderne (3)

Nietzsches Wahrheit (1)

Als Unterbrechung der Adorno-Lektüren, die nächstens weitergeführt werden, und damit auch als Schnitt innerhalb der „Meditationen zur Metaphysik“ sei im Rahmen der Postmoderne-Texte auf einen der schärfsten Kritiker abendländischer Philosophie samt ihrer Metaphysik eingegangen, und zwar auf Nietzsche. Mochte bei Nietzsche anfangs noch, im Banne Wagners, die Metaphysik, zumindest als Ersatzstoff in der Kunst, als Kunstreligion gewissermaßen, eine tragende Rolle im theoretischen Konzept gespielt haben, so wechselte die Perspektive, verschob sich die Optik endgültig mit „Menschliches, Allzumenschliches“ zu einem ganz anderen Blick hin, der die Annahmen von „Die Geburt der Tragödie“ hinter sich ließ. Die „Verzückungsspitze“ des Daseins war nicht mehr durch die Kunst motiviert. Man könnte diesen neuen Blick des Textes fast schon positivistisch nennen; zumindest sah sich Nietzsche so, der die Welt nun nicht mehr in der Optik des Künstlers, sondern in der des Wissenschaftlers betrachtete.

Aber bereits in einem seiner frühen Aufsätze, der zeitlich im Umkreis des Tragödienbuches verfaßt wurde, sieht es wieder ganz anders aus als in jenem Werk, und es deutet sich ein Wechsel der Perspektive in Nietzsches Text nicht nur an, sondern dieser Wechsel wird ganz deutlich proklamiert. (Über die Perspektivität nicht nur als philosophisches Erkenntnismittel, sondern auch innerhalb von Nietzsches Text-System, was dann zu Verschiebungen und Blickwechseln im eigenen Theorierahmen – selbst innerhalb eines einzigen Werkes – führt, muß irgendwann gesondert geschrieben werden, es ist dies ein eigenständiges Thema, das sich mit einem (postmodernen) Multiperspektivismus und dem Konzept von Vielheiten, aber auch dem poststrukturalistischen (derridaschen) Aufbrechen eines einheitlichen Zusammenhangs und der hermeneutischen Sinnkohärenz verschiedentlich deckt.)

Und so soll als philosophischer Gründungstext eines postmodernen Denkens, welches in seinem Schlummer noch gar nicht wußte, daß es solches war, Nietzsches „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ genannt werden. Womöglich mag dieser Sicht insofern etwas Willkürliches innewohnen, als es doch andere Texte gibt, die bis in die Romantik hinein- oder zu Herder und Hamann zurückreichen, in denen man ein Potential gegen- oder andersmodernen Denkens oder wenigstens das Denken eines Gegenparts zur puren Rationalität ausmachen kann. Doch was diesen Text von Nietzsche gegenüber allen möglichen anderen Kandidaten auszeichnet, ist, daß dort in komprimierter, allerdings auch fragmentierter Form bereits im Jahre 1873 verschiedenste, fast bin ich etwas überteiberisch geneigt zu sagen sämtliche Motive eines „postmodernen Denkens“ anklingen, die dann in unterschiedlichsten Positionen postmoderner Philosophie wieder auftauchen und variiert werden. Was in diesem Text als Motiv angespielt wird (natürlich nicht nur in diesem Text, sondern in einer Vielzahl anderer Nietzsche-Texte genauso), entfaltet sich fast 100 Jahre später in komplexen, mehr oder weniger explizit auf Nietzsche bezugnehmenden Denkräumen.

„In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben, –“ (KSA 1, 875)

So beginnt der Text Nietzsches, und um sogleich den konstruktivistischen Charakter der Erkenntnis zu bestätigen, wird der Auftakt als eine Erfindung gesetzt, wir befinden uns bei der Lektüre im Modus des fiktionalen Erzählens, im Reich der Dichtung: Denn „So könnte Jemand eine Fabel erfinden …“ heißt es im nächsten Satz des Textes. (Zum Motiv der Fabel auch aus der „Götzendämmerung“: „Wie die wahre Welt endlich zur Fabel wurde“.) Damit jedoch ist es nicht genug: es ist die Erkenntnis nicht nur ein Fabulieren und eine „Erfindung“ – Nietzsche eröffnet die erkenntnistheoretische Passage literarisch, der Text verfährt insofern performativ –, sondern das Wesen, welches als Subjekt erkennt (oder zu erkennen glaubt), darf sich nicht einmal als Herr im eigenen Hause fühlen und steht mitnichten im Zentrum. Weder im Zentrum des Denkens noch des Handelns. Erkenntnistheorie und praktische Philosophie sind weder an ein Subjektzentrum und schon gar nicht sub specie aeternitatis konzipiert. „… und wie jeder Lastträger seinen Bewunderer haben will, so meint gar der stolzeste Mensch, der Philosoph, von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf sein Handeln und Denken gerichtet zu sehen.“ (S. 875 f.)

Die dritte dem Subjekt zugefügte narzißtische Kränkung, welche so Freud, von der Psychoanalyse betrieben wurde, fand um ein weniges vor ihm statt. (Ähnliche subjektdezentralisierende Motive lassen sich allerdings bereits bei Schopenhauer ausmachen. Sie kommen dort aber auf etwas leiseren Füßen als bei Nietzsche und im Banne der Metaphysik daher.) Das Ich ist nicht Herr im eigenen Hause. Der stolzeste Mensch, der Philosoph, verkennt dies in all seinen Reflexionsspiralen und in seinen konstruierten Systemen.

Doch der Text sistiert in seinem Beginn, gewissermaßen naturgeschichtlich, nicht nur das Erkennen anders als wir es gewohnt sind und als die Philosophie dieses Geschäft betrieb, sondern er ist, ganz Kind seiner Zeit, genauso vom Biologischen durchzogen. Das Denken Nietzsche bewegt sich hier im Banne Darwins, und eine lebensphilosophische Konzeption, die an der Biologie ausgerichtet ist, deutet sich an.

Erkenntnis, der Intellekt, wird zum Mittel, das dazu dient, das Individuum zu erhalten. Es sind keine heheren Ziele, daß da Wissen vermehrt werde, Erkennen um seiner selbst betrieben würde oder weil alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, sondern die biologische Notwendigkeit, die Art zu erhalten, wird im Sinne einer Verschiebung und einer konstitutiven Verkennung sowie Leugnung vom Subjekt umgedeutet zu einem höheren Wert. Der Intellekt hält das Individuum im Dasein, mehr nicht. Er ist der Ausgleich dafür, daß der Mensch, anthropologisch gesprochen, ein Mängelwesen ist. „Jener mit dem Erkennen und dem Empfinden verbundene Hochmuth, verblendende Nebel über die Augen und Sinne der Menschen legend, täuscht sie also über den Werth des Daseins (Herv. Bersarin), dadurch dass er über das Erkennen selbst die schmeichelhafteste Wertschätzung in sich trägt.“ (S. 876) Schein ist hier nicht mehr als Vorschein von einer irgendwie gearteten und auf bestimmte Weise zugänglichen Wahrheit konzipiert, sondern er wird einzig als Pseudos verstanden.

Doch dient der Intellekt nicht nur als Mittel zur Erhaltung des Individuums, sondern er entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung. (S. 876) In einer Reihe von Verschiebungen und Umdeutungen, die vom ursprünglichen Zweck der Erkenntnis abrücken, wird der Bereich dieses Natürlichen, Biologischen verdeckt. Mittels dieser Verstellung erhalten sich die weniger robusten Individuen/Lebewesen, denen der Kampf mit Hörnern oder Raubtiergebiß nun einmal versagt ist (S. 876).

„Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentiren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.“ (S. 876)

Woher kommt diese Härte, dieser Blick, der unter der Oberfläche der Kultur dieses Grauen einer Natur, die kein gut und böse kennt, wahrnimmt? Eine Konzeption, die anmutet wie der Auftakt von Lynchs „Blue Velvet“. Hegel und überhaupt die Epoche, welche dem Geist der Goethezeit verhaftet war, hätte angesichts einer solchen Konzeption des Subjekts vom geistigen Tierreich gesprochen, und weiter weg von einem aufklärerischen Konzept könnte man sich eine theoretische Konzeption nicht denken. Die Frage ist, was Nietzsche da in seinem Aufsatz veranstaltet, worauf er hinaus will.

Und was hat dies mit einem Denken zu tun, das sich teils in postmodernen Positionen fortsetzen wird? Auch ist festzustellen, daß dieser Auftakt Nietzsches hypothesenhaft bzw. einfach nur behauptend daherkommt. Eher rhetorisch, literarisch, erzählerisch motiviert, als argumentativ gefestigt, womit wir ein erstes postmodernes Motiv in diesem Text Nietzsches, zumindest in seiner Darstellungsform, bereits hätten. (Man müßte jetzt so einen Jargon wie die Performanz des Performativen gebrauchen, um ein wenig diese Tonlage eines bestimmten Poststrukturalismus, wesentlich seiner Adepten, zu konterkarieren.) Sprache und Erkennen werden in diesem Aufsatz ein eigenwilliges Verhältnis eingehen. Erkenntnis und Wahrheit werden zu Effekten und stellen keine Werte an sich dar. Nietzsche koppelt sie an verschiedene Bedingungen. (Davon im 2. Teil mehr.)

Woher nimmt Nietzsche diese Einsichten? Sicherlich: ein guter Teil ist der Biologie, der Evolutionstheorie entnommen, die philosophische Prämisse vom dunklen, irrationalen Grund des Seins geht auf Schopenhauers Philosophie zurück. Diese beiden Positionen, die eine naturwissenschaftlich grundiert, die andere einer Metaphysik des Willens entnommen, die es derart in der europäischen Philosophie nicht gab, in einer denkerischen (oder textuellen) Konstellation zusammengefügt, geht dann eine eigentümliche Mischung ein, die fürderhin etwas recht Explosives erzeugen wird, weshalb Nietzsches Satz in „Ecce Homo“, daß er ein Dynamit sei, nicht ganz verkehrt ist. (Eine seiner letzten Schriften nebenbei, die in einem hellsichtigen Wahnsinn geschrieben wurde.)

Als eine erste Bewegung des Textes bleibt festzuhalten, daß das Subjekt hier in eine Position versetzt wird, die, zumindest im Rahmen der Erkenntnistheorie und der Ethik, nicht mehr im Zentrum situiert ist. Und es gibt ein Vorgängiges, das in der Reflexion des Subjekts nicht einzuholen ist. Ganz im Gegenteil, diese Reflexion ist – fast notwendig – beständiger Scheinproduzent, die ihre Produkte jedoch als Wahrheit ausgibt und zurechtschneidet. Es reicht nicht einmal mehr zum Γνῶθι σεαυτόν hin:

„Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst! Ja, vermöchte er auch nur sich einmal vollständig, hingelegt wie in einen erleuchteten Glaskasten, zu percipiren? [Der Verurteilte, auf den Apparat gelegt, in Kafkas „Strafkolonie“, mit der zukünftigen Inschrift im Körper, vermag es vielleicht.] Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluß der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschließen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtseinszimmer heraus und hinab zu sehen vermöchte und die jetzt ahnte, dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Woher in aller Welt, bei dieser Constellation der Trieb zur Wahrheit!“ (S. 877)

Zweimal wird eine Frage gestellt, die von der Interpunktion her dann jedoch in Ausrufezeichen terminiert.

Im Einzugsbereich der Metaphysik verbleibt, wie schon Heidegger zeigte, Nietzsches Text innerhalb dieses frühen Konzeptes allerdings immer noch. Er dreht hier lediglich die Vorzeichen um. Trotzdem deutet sich in diesem kurzen Text Nietzsches bereits eine Drehung innerhalb der Philosophie an. Sicherlich: Das Bild vom Bewußtseinszimmer ist in bester Schopenhauerischer Manier gesetzt und auch das des Tigers, auf dessen Rücken der Mensch sitzt, steht in dieser Linie, in der sich zwar nicht das Verschwinden des Subjekts zeigt, (dieses kann nicht verschwinden, weil dann nichts mehr da wäre, was seine eigene Dekonstruktion erkennen könnte), aber sehr wohl eine Umpolung des Subjektbegriffs: daß das Paradigma von Subjektivität und Subjektkonstruktion neu zu denken ist. Und hier eben sind wir mitten drin in einer Debatte, welche in verschiedenen poststrukturalistischen Ansätzen zum Thema wird, sei dies nun bei Lacan, Derrida, Deleuze oder Foucault. Interessanterweise wird dieses Motiv des Tigers, auf dessen Rücken wir sitzen, dann von Foucault in „Die Ordnung der Dinge“ aufgegriffen. Schließen wir also mit Foucault als Kommentar zu Nietzsche:

„Man begreift die Erschütterungskraft, die das Denken Nietzsches hat haben können (und für uns noch bewahrt), als es in der Form des bevorstehenden Ereignisses die Verheißung und Drohung anjündigte, daß der Mensch bald nicht mehr existieren werde, sondern der Übermensch. Das bedeutet in einer Philosophie der Wiederkehr, daß der Mench bereits seit langem verschwunden war und immer weiter verschwand, und daß unser modernes Denken vom Menschen, unsere Sorge um ihn, unser Humanismus heiter auf seiner grollenden Nichtexistenz schlief. Wir glauben uns an eine Endlichkeit gebunden, die nur uns gehört und die uns durch das Erkennen die Welt öffnet, aber müssen wir uns nicht daran erinnern, daß wir auf de Rücken eines Tigers sitzen?“ (O.d.D. S. 389)

Nächstens weiter in der Lektüre dieses Nietzsche-Textes.

Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie – eine Empfehlung

Da ich in meinem Posting vom Samstag auch einen Literaturtip für den oder die versprach, die eine Lösung für die Videofrage brächten, und den Tip noch gar nicht gegeben habe, so folgt hier der Nachtrag: Im Rausch all der Theorien und Texte sowie der vergangenen Zeiten und wunderbaren Jahre sei ein etwas älteres Buch aus den späten 80er Jahren anempfohlen, das ganz vorzüglich geschrieben und gar nicht veraltet ist, gibt dieses Buch doch einen spannend erzählten, instruktiven Einblick in eine philosophische Epoche, der auch den in der Philosophie nicht ganz so kundigen zufriedenstellen wird.

Es handelt sich um Rüdiger Safranskis Buch „Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie“. Ja, diese Epoche war in der Tat eine wilde, gedankengeladene, brausende Zeit: Die letzten Regungen der Kantischen Philosophie, auf die all die nachfolgenden Szenarien aufbauten: die Jenaer Romantik mit Novalis und den Schlegels, der Deutsche Idealismus, die Goethezeit, Hegel natürlich, den Schopenhauer als seinen großen Gegenspieler betrachtete. Einen Scharlatan, einen geistigen Caliban schimpfte er ihn. Während Schopenhauer in leeren Räumen der Berliner Universität und vor leeren Bänken sprach, wollte dort, nur einige Räume getrennt, alle Welt Hegel sehen und hören, um dadurch zumindest ein bißchen an den Bewegungen des Weltgeistes und des absoluten Wissens teilhaben zu dürfen. Doch Schopenhauers Zeit sollte erst ein wenig später, nach seinem Tode kommen. Ja, es ereignete sich in diesen Jahren historisch, politisch und literarisch sehr viel. Und in gewissem Sinne sogar brachte diese Epoche mit dem Ende der Goethezeit und dem Tod Hegels philosophiegeschichtlich auch das Ende der großen Systemphilosophien.

Safranksi entfaltet in diesem Buch in einer anschaulichen Weise und ungemein spannend geschrieben sowohl die biographischen Aspekte als auch die philosophischen Landschaften dieser Epoche samt den philosophischen Hintergründen, die für das Schopenhauerschen Denken bestimmend waren. Teils liest sich dieses Buch wie ein Krimi. Vor allem aber macht es durch eine starke sprachliche Bildlichkeit Philosophie erfahrbar, und zwar in genau dem Sinne des Wortes, daß Philosophie nicht nur von Theorie, sondern auch von Erfahrungen und eigenen Problemlagen handelt, die an einen Körper, an biographische, teils auch zufällige Momente geknüpft sind.

Gerade wer der Philosophie nicht so kundig ist und, wenn er Kant, Hegel und Deutscher Idealismus hört, den Buchdeckel aus Angst und vorauseilendem Gehorsam zuklappt, der ist hier gut bedient und aufgehoben. Und vor allem eines sollte man bei diesem Buch nicht gering veranschlagen: Safranski kann schreiben, er ist ein brillanter Essayist.

Nein, man darf es nie so ganz leugnen und sollte es nicht verschweigen: Die Philosophie ist auf die lange Sicht und will man sie intensiv betreiben, ein mühsames Geschäft, und auch solche Bücher wie das von Safranski entbinden natürlich nicht von der Lektüre der Originaltexte, die teils schwierig sind und eine gewisse Hermetik ihr eigen nennen. Philosophie hat etwas von der Zuhältersprache, schrieb Walter Benjamin. Sie ist nicht exoterisch; der Uneingeweihte und Nicht-Initalisierte versteht sie erst einmal nicht gut. Doch Bücher wie das von Safranski helfen, sich dem Komplexen zu nähern, einen Horizont zu gewinnen und die Scheu vor Übermächtigem zu verlieren. Zumal, dies soll zum Ende hin nicht zurückbehalten werden, Schopenhauer selber ein großer Stilist und ein durchaus gut lesbarer Philosoph war. Schopenhauer schrieb, dies teilte er etwas mit Freud, sehr verständlich. Das ist jedoch nicht immer und grundsätzlich ein Kriterium für gute Philosophie, denn auch sein großer Gegenpol brachte eine der größten Philosophien hervor. Nur schrieb der – für manche zumindest – nicht so verständlich, und auch die Gedankengänge waren um einiges verschlungener. Doch die Philosophie Schopenhauers ist, insbesondere im Hinblick auf die Kunst als „eigentlich metaphysische Tätigkeit“, nach wie vor aktuell. Insofern sei dieses Buch als Einstieg nicht nur zu Schopenhauer wärmstens empfohlen.

Rüdiger Safranski, Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie, Carl Hanser Verlag, München 1987, ISBN: 978-3-446-14490-3, Leinen, 560 S. 29,90 EUR oder als Taschenbuch bei Fischer: ISBN: 978-3-596-14299-6, 14,95 EUR