Söhnlein, Ensslin, Baader, Proll: Subversion und Protest
„Das Warenhaus ist der letzte Strich des Flaneurs.“
(Walter Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts)
„Illusionär ist, Schreiben als etwas anderes anzusehen als den Versuch zur extremen Individualisierung. Das gilt unabhängig vom Thema, es gilt also auch für das politische Thema, an dem sich der Autor – scheinbar über sich hinausgehend – ‚engagiert‘.“
(Karl Heinz Bohrer, Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror)
Bohrer schrieb diesen Part im März 1968 unter dem Titel „Revolution als Metapher“. Was also von der Überschrift her ganz unmittelbar bereits auf einen Akt der Sprache wie auch der Kunst deutete und zugleich eine Provokation für die Engagierten bedeutete, denn die Revolutionäre verstanden ihre Aktionen keineswegs als Metaphern, sondern ganz real sollte der Kampf in die Metropolen des Westens getragen werden.
Allerdings kommen nicht nur in der Kunst Metaphern zum Einsatz, diese Gewißheit zumindest werden all jene in sich tragen, die ein wenig sich mit politischer Ikonographie befassen. Carl Schmitts Seeschäumer und Landtreter im Kampf um Räume sind da ein Beispiel. Metaphern können insofern genauso politisch sich gestalten, sogar bis in die Bildtheorie hinein. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. 1972 – das Mädchen aus dem vietnamesischen Dorf, das auf der Illustrierten-Seite nackt vor einem Napalm-Angriff floh, keiner wußte ihren Namen: Phan Thi Kim Phuc, alle aber kannten dieses eine Bild, das exemplarisch für den Krieg in Vietnam und seine Unbarmherzigkeit stand, mit der ihn die USA führte. Nackt, weinend, rennend, die Furcht ihr ins Gesicht geschrieben und mit nichts als ihrer Haut bedeckt, der Blick auf die Scheide des Kindes. Unschuldig, unbehaust, voller Angst. Trostloser kann eine Nation keinen Krieg verlieren. Die einstigen Befreier von Nazideutschland erwiesen sich als doch irgendwie auch problematisch. Ein Bild, pars pro toto.
Auch ein Warenhaus ist eine solche Metapher. Oder genauer gesagt ein Gebäude, eine Möglichkeit, ein Ort, der Dinge versammelt, die nicht einfach nur gemachte, schöne oder nützliche Dinge sind, sondern Dinge, die wir uns kaufen. Und damit auch ihre Nützlichkeit, ihre Schönheit, ihr Gemachtsein durch andere. Objekte, die sich durch Geld erwerben lassen. Ich will an dieser Stelle nicht Marxens Wert- und Warentheorie wiederholen. Es geht mir vielmehr um die Bilder und Ideen, die sich ans Warenhaus knüpfen – so wie schon Walter Benjamin die Vorläufer der Warenhäuser, die Pariser Passagen, ins Philosophieren versetzten.
Der Weg von der Warenwelt bis zu ihrem Inferno ist so vertrackt wie steinig. Der Weg von der Imago der Ware insbesondere im 20. Jahrhundert, ihrem Fetischcharakter, den Phantasmagorien der Warenwelt, die Walter Benjamin fürs 19. Jahrhundert nicht nur in seinem Fragment gebliebenen Passagenwerk illuminierte, den Revolutionstheorien, den Traumtänzen und den subversiven Aktionen, die mit dem Kaufhausbrand im April 1968 als eine Art gesteigerter Kunst begannen und im Terror mit unzähligen Toten und in der Nacht in Stammheim endeten: waren das mit Notwendigkeit zu gehende Wege, den die vier beschritten? Hatte es in dieser Geschichte genau so kommen müssen oder wären auch andere Möglichkeiten denkbar? Horst Söhnlein und Thorwald Proll gingen andere Wege, das Liebespaar Ensslin und Baader entschied sich für den Kampf. Aus Zwang heraus, weil nichts anderes blieb, oder aus freien Stücken. Schwer zu sagen. Der Möglichkeitssinn ist in solchen Fragen eher ein ästhetisches Spiel mit der Revolte sowie der Politik. Mich hat diese Haltung damals mit 16 beeindruckt. Daß dieser Staat niemals durch Wahlen verschwinden würde, war mir früh klar. Nicht ganz klar war dem jungen Mann, daß sich gesellschaftliche Veränderungen eher evolutionär ergaben, sofern keine revolutionäre Klasse oder kein Subjekt der Revolution zur Verfügung stand. Und selbst da wurde es problematisch, wenn man an Länder wie Kuba, Vietnam, Nicaragua dachte: Revolutionen fressen bekanntlich ihre Kinder.
Die am Ende bewaffnete deutsche proletarische Revolution aus dem Geist der Studentenbewegung begann mit einem Happening, einem bisher so nicht dagewesenen Zeichen, kein Geschichtszeichen zwar, aber doch ein deutliches Statement zur politischen Lage. Eine Aktion, eine Reaktion – konkret eben. In Vietnam brannten die Kinder, die Frauen, die Dörfer, die Männer, die Palmen, den Dschungel entlaubten sie mit Agent Orange, wir erinnern uns ans Massaker von My Lai am 16. März 1968, knapp drei Wochen vor dem Kaufhausbrand. Hier in Frankfurt brannten nur die Waren, keine Menschen. Doch Aufregung wie Überraschung waren groß. Die Studentenunruhen schienen zu eskalieren. Um wieviel erträglicher und entspannter nahmen die Bundesbürger vor ihren frisch erworbenen Fernsehgeräten die Opfer in Vietnam. Das ist heute nicht anders als damals. Aber all das, diese Stufen der Gewalt und ihre Eskalation rechtfertigen nichts. Sie zeigen aber, wie Geschichte läuft und das manche Begebenheit und manches Leben, wie schon Kleist 1801 in einem Brief an Brief an Karoline von Schlieben wußte, am Schrei eines Esels hängt. In der Bundesrepublik wurde das Farbfernsehen am 25. August 1967 um 10:57 Uhr auf der 25. Großen Deutschen Funk-Ausstellung in West-Berlin eingeführt – vom damaligen Vizekanzler und ehemaligem Bürgermeister von Berlin Willy Brandt. Man konnte also die Haut wie auch die Tarnfarben der Jeeps, Uniformen und Hubschrauber und genauso das Jacket von Peter Frankenfeld nun auch in Farbe sehen.
Ja, ja, nein, nein – bei jener Aktion von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein ist einerseits nichts zu beschönigen. Profis jedoch waren sie ganz sicher nicht und geniale Dilettanten ebensowenig. Aber dennoch speiste sich – andererseits – diese revoltierende Tathandlung wesentlich auch aus jenem Kunstgeist von „Spur“ und „Subversiver Aktion“ in den frühen 60er Jahren in München; und ebenso im Sinne der Situationistischen Internationale. Überspitzt gesagt: Die Revolution begann als ein Kunsthappening, vielleicht ein wenig auch als Spiel aus Übermut und Wut: Etwas mußte nun geschehen. Nur das hier eine Grenze überschritten wurde, die keine Kunst bisher überschritt. Das Als-ob, der Illusions- und Spielcharakter der Kunst nämlich. Dennoch war auch diese Brandstiftung, zumindest für mich damals in den frühen 80er Jahren, als ich mich mit der RAF befaßte, ein Akt der Phantasie, ein Form der Kunst. Allein vom Dilettantismus, mit dem die Akteure das ausführten. Läppische Perücken und Verkleidungen, so daß die Täter einen Tag später schon festgenommen werden konnten. Nach einem anonymen Hinweis. Dieses Unbeholfene bei gleichzeitigem Aufruhr und Widerstand gegen dieses System hatte mich an diesem wilden und vollkommen unorganisierten, dilettantischen Anfang interessiert. Als sozusagen ästhetisches Projekt.
Allein die Bilder von Baader und Ensslin nach ihrer Flucht aus Paris: Sahen die nicht eher aus, wie ein französischer Film mit Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg – nur daß die Seberg diesmal auf der Seite der Wilden stand? Das waren Gedanken, die ich Mitte der 80er Jahre hegte, lange bevor es modisch wurde, irgendwie einem Prada-Meinhof-Schick in Ausstellungen zu huldigen und diese Revolte der Wenigen als Photokunst zu sehen. Natürlich – Mythos RAF: er lebt von den Bildern und von den Geschichten. Das war mir schon damals Anfang der 80er klar, als die Lage in der BRD noch sehr viel ernster war. Mein Photographieren auf Demos war nicht nur ein politischer, sondern auch ein ästhetischer Akt.
Die vier Brandstifter bezogen sich auf ein konkretes Objekt, an dem sie ihre Theorie ausprobierten und praktisch werden ließen. Diesen Bezug zur Realität besaßen auch die Surrealisten. André Breton meinte es nicht bloß als Spaß, wenn er in Anlehnung an die russischen Anarcho-Nihilisten im zweiten Surrealistischen Manifest postulierte:
„Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen, der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schußhöhe.“
Die RAF ging nie so weit, blind in die Menge zu feuern. Sie wollte keinen Krieg gegen das Volk. Anders als die islamischen Attentäter, die wahrscheinlich niemals dieses zweite Surrealistische Manifest aus dem Jahr 1930 gelesen hatten, aber doch insgeheim und ohne jedes Bewußtsein in dessen Geist des Aufruhrs handelten. Nur daß diese Antibürgerlichkeit, der Haß auf diese okzidentale Gesellschaft die Kunst inzwischen restlos verlassen hatte und an die Peripherie des Westens gewandert war, wo sie dann mit den Migrantenströmen aus ehemaligen Kolonialgebieten wieder ins Herz des Westens stieß, bis nach Paris, Nizza oder Marseille.
Der Abgesang der RAF war freilich ein anderer, eine Art (revolutions)metaphysische Ewigkeitserklärung, durch und durch, fast im Geist hegelscher Wesenslogik konzipiert, einerseits, und von der Sprecherposition Fichtes Tathandlung andererseits, denn wie es in der letzten Erklärung der RAF vom März 1998 hieß:
„Die Revolution sagt:
ich war
ich bin
ich werde sein“
Ein sich perpetuierendes Prinzip. Das kann man als (benjaminschen) „Traumkitsch“ nehmen oder aber als Möglichkeitssinn. Das ist, trotz des Charakters eines politischen Flugblattes eine durchaus poetische Sprache, eine Form des ästhetischen Ausdrucks, die sich zum Teil auch in der Härte der Gefängniskassiber und der RAF-Erklärungen findet. Die sprachpoetischen Parallelen zu dem Manifest „Der kommende Aufstand“ wären interessant zu untersuchen. Mich interessieren diese RAF-Schriften aus dem Geist der Kunst, dem Geist des Surrealismus heraus, der im Unterschied zum Dadaismus sehr viel politischer in einem ganz unmittelbar genommenen Sinne revolutionär gesonnen war, um eine bestehende Gesellschaft zu kippen. Ob solcher Aufruhr real allerdings zum Gewünschten führt: auch daran zweifelte der Ästhetiker im Grandhotel Abgrund schon damals und wußte sich eher auf der Seite Adornos und Horkheimers.
Vor 50 Jahren brannte als eine Art Fanal, als Zeichen, als Bild und Metapher ein Kaufhaus in Frankfurt. Eines von diesen inzwischen altmodischen Gebäuden, mit Rolltreppen und Aufzügen vermutlich, worin noch ein Fahrstuhlführer die Etagen und die Waren ansagte. Alles automatisch: Rollentreppen und Aufzüge die die Besucher, nein, Käufer anfangs staunend befuhren und irgendwann dann, nach dem verlorenen Krieg doch wieder wie selbstverständlich und als ob es nie anders gewesen wäre.
„Alle diese Produkte sind im Begriff, sich als Ware auf den Markt zu begeben. Aber sie zögern noch auf der Schwelle. Dieser Epoche entstammen die Passagen und Interieurs, die Ausstellungshallen und Panoramen. Sie sind Rückstände einer Traumwelt. Die Verwertung der Traumelemente beim Erwachen ist der Schulfall des dialektischen Denkens. Daher ist das dialektische Denken das Organ des geschichtlichen Aufwachens. Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin. Sie trägt ihr Ende in sich und entfaltet es – wie schon Hegel erkannt hat – mit List. Mit der Erschütterung der Warenwirtschaft beginnen wir, die Monumente der Bourgeoisie als Ruinen zu erkennen noch ehe sie zerfallen sind.“ (Walter Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, in: Passagen-Werk)
Warehouse – das kann man passend zum Krieg in Vietnam mit den verbrannten Menschen, mit Körpern, die im Napalm verglühten, eben auch als War-House, als das Schlachthaus lesen. Kurt Vonneguts Roman Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug kommt mir in den Kopf. Auch im Sinne des Fiktionsmodus einer surrealen Phantasie, die im Kontext RAF dann – also nicht der Dresden bombardierenden Royal Airforce diesmal, sondern der Roten Armee Fraktion – als Aufbruch und Ausbruch plötzlich losging. Das Verhängnis ging immer weiter, auch wenn die Ursachen und die Gründe ganz und gar unterschiedliche waren. US-Amerikaner oder Europäer, die so sehr auf die westlichen Wert pochen, wenn sie mit erhobenem Finger auf Diktatoren oder auf autoritäre Regierungen wie in China oder in Rußland zeigen, sollten sich ihrer eigenen Geschichte gut besinnen. [Und beim Tonkin-Zwischenfall denke ich auch ein wenig an Großbritannien und das britische oder russische oder das von sonstwo her stammende Gift. Aber das ist wieder ein anderes Thema.]
Das, was vor 50 Jahren in Frankfurt begann, endete zwar nicht in Stuttgart-Stammheim, aber dort hatten zwei der vier Protagonisten ihr Finale. Man fand sie am 18. Oktober tot in ihren Zellen. Man betrachte sich zu diesen Stammheim-Szenen im Knast – die RAF bezog übrigens ein wesentliches Potential und viele ihrer Mitstreiter aus dem Gefangenenmythos, aus Aktionen rund um die Gefangenen: von Hungerstreik bis Befreiung – man besehe sich also jene Stammheim-Bilder des Photographen Andreas Magdanz in dem Bildband Stuttgart Stammheim. Und sie weben am Mythos, allerdings mit dem Sezierbesteck des photographischen Blickes. Mit all den Spielen in Gedanken, die Bilder auslösen können, wenn ich die Kälte des Traktes mir anschaue, der genauso woanders sein könnte.
„Chaque epoque rêve la suivante.“
(Michelet: Avenir! Avenir!, zit nach: Walter Benjamin, Passagenwerk)