Roland Barthes, zum 100. Geburtstag. Das fragile Subjekt

„Man scheitert stets, wenn man von dem spricht, was man liebt“
(R. Barthes, auf einem Notizblatt vom 25. März 1980,
das in seiner Schreibmaschine steckte. Wenige Stunden
später wurde er nahe seiner Pariser Wohnung
von einem LKW überfahren und starb am 26. Mai
im „Hôpital de la Pitié-Salpêtrière“.)

„Schreiben heißt, den Sinn der Welt erschüttern,
eine indirekte Frage in ihr aufwerfen, auf die zu antworten
der Schriftsteller wie in einem letzten Aufschub
sich untersagt.“
(R. Barthes)

Auf den ersten Blick sind es insbesondere die Buchtitel, die verheißend hervorstechen und neugierig auf Barthesʼ Text machen: „Am Nullpunkt der Literatur“, „Kritik und Wahrheit“, „Mythen des Alltags“ (das Buch, mit dem Barthes einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde), „Die Lust am Text“, „Im Reich der Zeichen“, „Fragmente einer Sprache der Liebe“, jenes Buch, das ob des Titels zum Topseller geriet und sein letztes, 1980 erschienenes Buch: „Die helle Kammer“. Eine Elegie, ein Abschiedsbuch. Es handelt vom Tod, vom Verschwinden des geliebten Menschen, der in einem Bild verlöscht, unsichtbar fast wird, in die Ferne des Vergessens treibt und dort in der Photographie ebenso wiedergefunden wird. Die Photographien bilden in diesem Sinne für Barthes ein Ausdrucksmedium, an dem er sich entlangschreibt, um Verschwinden zu bannen, zu begreifen auch, etwas an ihr zu evozieren, insofern der Proustschen Madeleine ähnlich, aber ebenso geht es ihm darum, diesen Zustand des Entzuges in eine Sprache zu versetzen, aufzuschreiben, ihm eine ästhetische Form zu verleihen: auf dem Einzigartigen zu beharren, es in diesem So-Sein zu belassen und mit den Mitteln von Essay, Zeichenlehre, Bedeutungsanalyse und einer an Montaigne ausgerichteten Weise der Meditation, einer Erfahrung teilhaft zu werden. Differenz und Wiederholung, Einmaliges und Struktur, Reproduktion und Aura zusammenzudenken.

Jene eine Photographie, die in diesem Buch nicht gezeigt wird – es ist das Bildnis der Mutter als Kind. Barthesʼ Text berührt und rührt auf eine eindringliche Weise an,  ein Rest an Glück und ein Blick des Melancholikers im Akt des Erinnerns. Es paart sich in dieser Schrift das Ausmaß an verschachtelter Subjektivität und Empfindungsfähigkeit mit dem Willen zur Analyse, auch der des Selbst. Kehrt Barthes mit seiner letzten Schrift nicht vielmehr dem Poststrukturalismus endgültig den Rücken, reist wieder an die Anfänge zurück, hin zur Bewußtseins- und Subjektphilosophie, zu Bergson, zu Sartres „Transzendenz des Ego“, zum „Imaginären“? Wäre da nicht ebenso die Tendenz, jegliche Fixierung aufzubrechen und eine neue Schreibweise auszuprobieren, in einer neuen Maske aufzutreten, an Nietzsche geschult, wie auch an Brechts distanzierendem, Schnitte legenden Verfremdungseffekt, könnte man sicherlich eine Art Revozierung annehmen. Dennoch bleibt bei Barthes dieser unauflösbare Rest – Anlaß seiner Sprache und seines Schreibens.

IMG_20151112_0001_Kopie

Wie kann man sprechen, wie schreiben von dem, was sich jedem Diskurs entzieht? Subjekt, Liebe, jenes Dies-da und was es ist, dies-da zu sein. Barthesʼ Thema waren, in diskontinuierlichen Wendungen und differierenden, umkreisenden Text-Anläufen, einerseits die Strukturen von Gesellschaft, ihre Lebenswelt samt den daran gekoppelten Bedeutungssystemen, ihre zur Natur geronnenen Projektionen, die Barthes als Mythen benannte. Ideologiekritik setzte sich bei ihm mit den Mitteln des Strukturalismus fort. Andererseits und damit korrespondierend das lesende und vor allem das schreibende Subjekt wie auch das Subjekt als Schrift, als Texteffekt, wie man es in den neumodern-postmodernen Zeiten einer wilden Sprache in flapsigem Slogan der 80er Jahre zum besten gab, diese Effekte des Diskurses und der Macht auf dem Marktplatz neuer Theorien in der BRD, hochpreisig im Jargon gehandelt, und in wilden Träumen wie Textszenen, die manchmal nach einem Seminar als Sexszenen sich erwiesen, taumelten manche als fragmentierte Subjekte und hockten, wenn der Sprachrausch auf hartem Boden aufschlug, trauernd hinterm Bartresen oder verschimmelten in den Bibliotheken der öden, sozialdemokratischen, aus Beton gebauten, bundesdeutschen Universitäten.

Barthes gehörte nicht zu den in ihrem Habitus und Auftritt schillernden Figuren wie Lacan, Foucault, Derrida oder Deleuze, und er pflegte, anders als diese, keine extravagante Theorie-Sprache. Sprache stach bei Barthes zwar ebenfalls heraus, und es blieben Wendungen wie die der Écriture, des Diskurses, die Rede vom „Tod des Autors“ oder vom „Nullpunkt des Schreibens“ im kollektiven Gedächtnis haften, doch am Ende stand Barthes immer ein wenig im Schatten seiner Kollegen. Die Kontinuität eines Différance-Geschehens fehlte – man könnte fast sagen, daß Barthes in manchen seiner Textrandzonen noch mit dem Spiel dieses Spiels sein Spiel trieb. Der Machtbegriff war in Barthesʼ Theorie zwar tragend, blieb aber, sieht man von seiner 1977 am „Collège de France“ gehaltenen Antrittsvorlesung „Lektion/Lecon“ ab, eine von vielen philosophischen denkerischen Antriebswellen in seinem Theoriebau. Anders als Foucault, der Macht bis in die kleinste Pore hinein ausbuchstabierte. (Dabei ebensowenig die positiven Aspekte von Macht ausklammernd.)

Barthes war in den Seminaren bundesrepublikanischer Philosophie der 80er und 90er Jahren als Theoretiker deutlich weniger präsent als die oben genannten Recken (post)strukturalistischer Philosophie, denen regelmäßig komplette Veranstaltungen gewidmet waren. Und anders als in Derridas oder Foucaults Texten fiel sein Ruf nach dem Tod des Subjekts verhaltener aus. Daß der Autor tot sei, schuldete sich bei Barthes nicht primär dem Umstand agonaler Subjekte, die im Zuge postheideggerscher französischer Metaphysikkritik am dualen Denken untergingen, sondern dieser mortale Effekt sollte schlicht Platz für den Leser schaffen. Wenn nicht sogar für eine emphatisch verstandene Subjektivität, die den Begriff des Ichs durchaus im Titel zu führen gewillt war. Barthesʼ  Ästhetik ist zu großen Teilen eine der Rezeption – erweitert freilich um das Vokabular des Strukturalismus, der Semiologie wie der Psychoanalyse. Was dann im Kontext von Barthesʼ  Text-Gewebe ebenso dem Subjekt eine andere Form verleiht.

Ursache dafür, daß Barthes am Ichbegriff festhielt, mag sein, daß es ihm darum ging, jenes abendländische Subjekt nicht tilgend durchzustreichen, sondern zu transformieren: es als Diskurseffekt und als leere Stelle zwar zu markieren, aber es zugleich in einer anderen Sprache wieder in die Rede zu bringen: ein immer neu sich erfindendes und sich den Zuschreibungen entwindendes Subjekt, das kein Subjectum kennt. Barthesʼ Essays beginnen häufig in der ersten Person Singular. Fast wie ein Auftakt von Proust Recherche (ein Referenzautor Barthesʼ  nebenbei) nimmt sich der Anfang von „Die helle Kammer“ aus: „Eines Tages, vor sehr langer Zeit, stieß ich auf eine Photographie des jüngsten Bruders von Napoleon, …“. Oder der Beginn von „Im Reich der Zeichen“: „Wenn ich mir ein fiktives Volk ausdenken will, kann ich ihm einen erfundenen Namen geben, kann es erläuternd als Romangegenstand behandeln, …“

Aber wer spricht in den Texten Barthesʼ , und wer ist dieses Ich, das da spricht, schreibt, beobachtet und Aussagen formuliert? Zu behaupten, es wäre der Autor „Roland Barthes“ macht es zu einfach. Roland Barthes verstand sich selber primär zwar als Schriftsteller, was in Anbetracht der doch umfangreichen Produktion an theoretischen Texten zunächst erstaunt. Liest man aber seine Ausführungen zur Kunst des Romans, seine Vorlesungen über Literatur wie auch seine „Mythen des Alltags“ und seinen ersten freien Text „Im Reich der Zeichen“ scheint dieser Befund nicht mehr ganz so phantastisch anzumuten. Immer wieder sind es diese Beobachtungskontexte, die er, sei es auf Reisen oder in Paris, seiner Lebensstadt, fruchtbar machte und mit dem Blick eines schreibenden Ichs auflud. Ihn an bestimmten Theoremen festzumachen, verfehlt das Theoriespiel Barthesʼ wie auch seine Vielstimmigkeit im Schreiben. Selbst das Schlagwort der Semiologie, der Lehre von den Zeichen, greift bei Barthes zu kurz.

Die Figuration der (Autor)Figur, des Schreibsubjektes Barthes, des Roland Barthes, der sich als Barthes in jenem Eigennamen „Roland Barthes“ ebenfalls niederschlägt, entfaltet sich als semantischer und schriftstellernd-philosophischer Trick wohl am wirkungsvollsten in seinem Text „Roland Barthes par Roland Barthes“. Bereits die Kombination von Autorenname und Buchtitel, der uns auf zwei Funktionen des Eigennamens verweist, illustriert dieses Gleiten und die Brüchigkeit von Zuschreibung. Ist dies noch eine klassische Autobiographie, ein Essay oder bereits eine Form von Literatur?

Schreiben heißt tilgen. Nicht nur eine Schuld oder gar die monetären Schulden zu begleichen, wie dies beim ständigen klammen Honoré de Balzac der Fall war, der in Paris heimliche Verstecke und Fluchtwege vor seinen Gläubigern suchte, sondern Schreiben bedeutet einen Prozeß radikaler Transformation, der bis zur Auslöschung, bis zum Tod hin reicht, dem der Sprache, dem des Schreibenden: „Der Roman ist der Tod; er macht aus dem Leben ein Schicksal, aus der Erinnerung eine nützlichen Akt und aus der Dauer eine gelenkte bedeutungsvolle Zeit.“ (R. Barthes, Am Nullpunkt der Literatur) Literatur setzt in diesem Sinne nicht nur frei, sondern ihr wohnt ebenso die Fähigkeit inne, zu fixieren und stillzustellen. Ihr Todesmoment, ihr degré zero. Das, was in Deutschland die literarische Romantik in Bilderfunken, in Transzendentalpoesie, im unendlichen Poetisieren und Fragmentierungen aufzubrechen gewillt war.

Unter dem Kapitel „Die Lektüre“ schreibt Barthes im Schluß von „Kritik und Wahrheit“: „Und schreiben heißt, auf eine bestimmte Weise die Welt (das Buch) zerspalten und wieder zusammensetzen.“ Dieser Bezug mag von der Überschrift her zunächst widersprüchlich anmuten, denn Lektüre bedeutet gerade nicht: zu schreiben, sondern sich einem Text im Lesen auszusetzen, sich ihm über-lassen, auch mit seinem eigenen Körper. Was uns auf den Akt des Lesens selbst und damit auf „Die Lust am Text“ verweist. Doch ebenso muß man, um schreiben zu können, gelesen haben. Also dem Textkörper anheimgegeben.

Texte reagieren – bewußt wie auch in einem sozial Unterbewußten – auf eine Welt als Text- und Zeichensystem, auf andere Texte, zerlegen sie, setzen sie neu zusammen, so wie ich zersetzend im Text Kafkas lese, Tagebücher, die Literatur sind, Briefe als Romane wahrzunehmen, um eine Schrift des Weiblichen wie auch der Abstoßung zu erhalten. Nicht den reinen Sinn eines Texten evozieren, schon gar nicht den vom Autor gemeinten Sinn – Derrida zeigt dieses Verfahren anhand von Nietzsche, indem er diesem ein Schreiben als Frau attestiert –, sondern Konstellationen aufzeigen, ein Moment explizieren, das ins Auge sticht. Jenes punctum der Photographie siedelt sich ebenso im Text, oder genauer, beim Lesen des Textes erzeugt es sich im Leser. Interpretieren und Lektüre sind in der Diktion Barthesʼ  Akte der Konstruktion. Es gibt nicht die eine Wahrheit der Lektüre. Aber es ist ein Text ebensowenig im Reigen der Deutungen relativ. Kriterium solcher Lektüren bleibt, wie auch im Kunstwerk selbst, die Stimmigkeit wie auch die Anordnung der Elemente.

Eine Frage der Lust, einer Lust, die sich dem bloßen Begehren wie auch der dyadischen Beziehung entzieht.

„On échoue toujours à parler de ce quʼon aime“

Am 12. November 1915 um 9 Uhr morgens wird Roland Barthes in einem Krankenhaus in Cherbourg geboren.

IMG_20151111_0006_Kopie

2 Gedanken zu „Roland Barthes, zum 100. Geburtstag. Das fragile Subjekt

  1. Ein sehr schöner Text zu Barthes!

    Rückblickend kann man wohl sagen, dass es den Kultur- und besonders den Literaturwissenschaften nicht unbedingt gut getan hat, weit mehr als Barthes einen trivialisierten Foucault rezipiert zu haben. Aber vielleicht ist das auch kein Zufall: Barthes’ Schreiben und Denken entzieht sich der ›Theoriefähigkeit‹ vielleicht mehr als das aller anderen einschlägigen Franzosen (einmal abgesehen von Bataille und Blanchot …)

  2. Vielen Dank! Ich hätte den Text vermutlich noch um 30 Seiten erweitern können. An Barthes ist seine Vielfalt der Ansätze und der theoretischen Referenzen spannend: daß man ihn auf keine Theorieposition festlegen kann. Weder ganz Sartre noch ganz Poststrukturalist, noch ganz Subjektdekonstruktion. Bei den „Mythen des Alltags“ denke ich von der Art der Kritik her zugleich an Adornos Beobachtungen in den „Minima Moralia“. Wobei sich zur Ideologiekritik der Strukturalismus gesellt.

    Es ist für die Literaturwissenschaften in der BRD in der Tat ein Problem: selten nur kommen Blanchot und Barthes vor. Selbst Derrida ist eher schmal vertreten – zumindest zu meiner Zeit war dies so. Ob es heute anders ist, kann ich nicht sagen. Zu wünschen wäre, wenn man sich mehr wieder in die komplexen Theorien wagen würde. Aber wie geschrieben: ich weiß nicht, was momentan in den Seminaren so geschieht. Vermutlich lernen die Leute nicht mehr, was Dialektik, Poststrukturalismus und Hermeneutik sind, sondern wie man bar jeder Ahnung originell schreibt. Und alle so: „Yeah, wir sind ungeheuer kreativ und gehören bald zum Berliner Medienprekariat!“ (Mal so böse geschrieben.)

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..