Zum Tod von Jeff Beck und Tatjana Patitz

Daß sich Fetisch und Teetisch reimen, ist ein Zufall der deutschen Sprache – Gottfried Benn hat es in einem Gedicht fruchtbar gemacht.

Fetisch und Gitarrenhals reimen sich leider nicht. Eine meiner Lieblingsszenen – Lieblingsszene eben weil: vielsagend – in Antonionis „Blow up“ ist es, als der Photograph Thomas in ein Konzert der Yardbirds gerät – wunderbar das London der 1960er Jahre eingefangen, mit den bunten, nein, buntbraven Leuten (ein einziger Schwarzer, die Kamera streicht das heraus, indem sie beim Schweif durch die Menge für eine Millisekunde innehält), die diese neue, wilde Musik hören, und wie dann in Wut und Ekstase oder inszenierter Ekstase der Gitarrist Jeff Beck sein Instrument zerlegt, zerhackt und zerkloppt, weil es Rückkopplungen und Verzerrungen erzeugt, zum Rock gehört eben auch die gestörte Elektronik, Beck zerrt und zieht an der zerstampften Gitarre und wirft dann den Gitarrenhals in die Menge. Die hysterische Gruppe der Fans rauft sich um diesen Gitarrenhals des Stars.

Wer den Hals aber erwischt, ist der Photograph Thomas. Er entflieht mit diesem obskuren Objekt der Begierde, während eine Horde Fetischisten ihm nacheilt. Auf dem Straßengeschehen eines modernen Londons jedoch wirft Thomas den Gitarrenhals weg. Er ist nutzlos geworden, er ist kein Fetisch mehr, sondern ein gewöhnlicher Gitarrenhals, von einer kaputten Gitarre, wie es sie überall gibt. Keiner der vorbeieilenden Passanten würde diesen Gitarrenhals als bedeutungsvolles Objekt, als Fetisch gar, als den Gitarrenhals von Jeff Beck, dem Gitarristen der Yardbirds erkennen. Ich habe diesen großartigen Film wohl 1983 oder 1984 erst im Fernsehen und dann im Kino gesehen. Und dann immer wieder.

Jeff Beck war natürlich nicht nur (Neben)Akteur in einem hochgenialen Film, der das London der 1960er Jahre, die Welt von Illusion, Glamour, Drogen, Fragen der Wahrnehmung und der Abbildbarkeit von Realität in Medien zum Thema hatte – seltsam, daß fast zeitgleich mit Beck das mir immer sehr liebe und wunderbare Modell Tatjana Patitz gestorben ist -, aber diese Yardbird-Szene ist mir als eine der eindringlichsten in Erinnerung geblieben – von denen „Blow up“ freilich viele hat. Erst durch „Blow up“ stieß ich überhaupt auf die Yardbirds und erstand mir dann ihre Platten – damals gab es noch Schallplatten, teils auch als Fetischobjekte, gehortet von machen. Und auch pflegte ich den Habitus, eine weiße Hose und hellblaue Hemden zu tragen, kombiniert freilich mit einer schwarzen Lederjacke, die oberhalb der Hüften bzw. etwa auf Hüfthöhe endet. (Zum Leidwesen jener Diva, einer gewissen Dame, die das als gockelhafte Allüren abtat und die schwarze Lederjacke eine Stasijacke nannte, weil eben bei den Stasis damals in der DDR viele der Firma-Bediensteten solche Lederjacken trugen. Ich für meinen Teil kann im Leben der anderen nur sagen: wir trugen mittelbraune Lederjacken, als ich noch Oberleutnant Jäger war.)

Leider weiß ich ansonsten von Jeff Beck nicht allzu viel. Nur eben, daß manche sagen, er sei ein guter, wenn nicht einer der besten Gitarristen.

Von Tatjana Patitz läßt sich sagen, daß ich sie in den 1990ern sehr mochte, sie war eines meiner Lieblingsmodels, wenn sie auf einem Cover oder mit einer Photostrecke erschien, in jenen Jahren der großen Photomodels auf den Laufstegen und in den Magazinen: ich sah auf Photographien gerne Patitz‘ besonderen Ausdruck, ihre Art zu posieren und Haltungen einzunehmen. 1993 schaffte Tatjana Patitz es sogar aufs Cover der Kunstzeitschrift „Parkett“. (Die leider 2017 eingestellt wurde.) Die Zeitschrift mit ihrem Bild bekam ich, vermutlich ob meiner Schwärmereien, von einer Freundin zu Weihnachten 1993 geschenkt, auch jene Freundin war sehr blond und auch sehr schön – zumindest in meinen Augen. Auch sie fand, daß Tatjana Patitz eine besondere Aura umgab.

Karl Kraus hat in bezug aufs Besetzen von Objekten und Menschen in der „Fackel“ einen schönen Satz in seinen Nachtgedanken und in die Nacht hinein geschrieben:

„Liebe und Kunst umarmen nicht was schön ist, sondern was eben dadurch schön wird.“

Es weihnachtet sehr: „Die merkwürdige Lebensgeschichte des Friedrich Freiherrn von der Trenck“

Aus der Rubrik „Schöne Weihnachtsgeschenke“, zweiter Teil: Diesmal ist es eine DVD, im Internet oder anderswo kaufbar, und zwar handelt es sich um eine Serie in fünf Teilen: Es ist „Die merkwürdige Lebensgeschichte des Friedrich Freiherrn von der Trenck“, gedreht in einer Zeit, bevor es überhaupt den Begriff Serie in dieser Art gab, wie wir ihn seit einigen Jahren gebrauchen. „Die merkwürdige Lebensgeschichte des Friedrich Freiherrn von der Trenck“ wurde 1973 im Fernsehen gesendet, in unserem „Zett Deee Effff“ wie Dieter Thomas Heck und im Anschluß daran Harald Schmidt den damals noch gut funktionierenden öffentlich-rechtlichen Sender ostentativ betont aussprach. Und so mußten die Zuschauer voll von Spannung warten, bis die nächste Folge gesendet wurde. Das freilich ist heute bei anderen Serien nicht anders. Was sich geändert hat, ist die Verfügbarkeit solcher Filme. Trenck erschien in der Zeit des gemütlichen deutschen Fernsehabends. Fünf Folgen Spannung und Geschichte(n).

Der Trenck-Film spielt zur Zeit der Schlesischen Kriege, also Mitte des 18. Jahrhunderts und reicht bis ins Jahr 1794, in die Französische Revolution. Wie diese Lebensgeschichte des sonderbaren und ungestümen Adeligen ausgeht, sei nicht verraten, nur soviel: der letzte Teil wirkt dahingehetzt, als sei der Produktion das Geld ausgegangen. Dieser Eindruck mag auch darin gegründet liegen, daß die Lebensgeschichte zugleich doch sehr auf Friedrich II. fokussiert ist. Der Serie hätte ein sechster, wenn nicht ein siebter Teil gutgetan. Aber worum geht es überhaupt?

Jener Friedrich Freiherr von der Trenck (Matthias Habich) ist eine Person der realen Geschichte, seine wilde und bewegende Vita hat er in mehreren Büchern aufgeschrieben und insofern handelt es sich um einen biographischen Film, und derart wird der Film auch aus der Perspektive des von der Trenck erzählt. Trenck ist ein intellektuell hoch begabter, aber auch duellfreudiger und manchmal ebenso bolliger Heißsporn adeliger Herkunft – freilich niederere Adel -, mit einem Hang zu schönen Frauen. Der Preußenkönig Friedrich II. (gespielt von dem noch jungen Rolf Becker) wird auf Trenck in Königsberg aufmerksam, holt ihn für sein Militär an den Preußischen Hof, und zwar für das 1740 neu gegründete Gardes du Corps, ein Kürassier-Regiment der Gardekavallerie. Solche Armee braucht er, um Maria Theresia Schlesien abzutrotzen – insofern ist es auch ein Historienfilm, mit schöner Ausstattung, barocken Gewändern, Uniformen, Ballsälen und Schlössern. Aber all das wirkt in der Inszenierung jedoch nicht übertrieben – und gerade dies macht den Reiz der Serie aus.

Am Hofe Friedrichs geht Trencks Beförderung zum Rittmeister schnell vonstatten, schneller als manch anderem Adligen allerdings lieb ist. Im ersten Schlesischen Krieg verdient sich Trenck den von Friedrich gestifteten Orden Pour le Mérite, die höchste Tapferkeitsauszeichnung. Auch das zieht Neider. Was dem tapferen, aber ebenso des Wortes mächtigen, spottlustigen wie auch wilden Trenck jedoch am Hofe Friedrichs das Genick brach und eine glänzende Karriere vereitelte, das war des Trencks Liebe zur Schwester Friederichs, nämlich Anna Amalie von Preußen (gespielt von Nicoletta Machiavelli). Beide können von ihrer Liebe zueinander nicht lassen, aber doch dürfen sie nicht. Und am Hof gibt es Intriganten und Lauscher, die es dem König zutragen. Friedrich verfolgt den von der Trenck von nun an mit gnadenlosem Haß, fühlt sich betrogen, läßt ihn unter einem fadenscheinigen Vorwand verhaften, ohne Anklage, auf die Weise des absoluten Herrschers. Auf den Hinweis seines Generaladjutanten von Bork (Alf Marholm), daß solcher Akt aber Willkür sei, antwortet Friedrich, daß es in Frankreich und anderswo nicht anders sei, dort habe man jene Lettre de cachet und hier sei es der Wille des Königs, der umgesetzt werden müsse.

Trenck wird auf der schlesischen Festung Glatz eingekerkert, von wo aus er jedoch, durch Bestechung einiger Offiziere, mit denen er sich gut versteht, denn Trencks Wesen ist einnehmend, er ist gesellig in Spiel und Spaß auch in Festungshaft, nach Österreich an den Hof Maria Theresias flieht. Doch hören die Verwicklungen dort nicht auf. In Wien geht es deutlich intriganter als in Preußen zu. Trenck muß nach Moskau an den Hof der Zarin Elisabeth fliehen, ob der Intrigen, die gegen ihn in Wien gesponnen werden, auch weil ihm in Österreich als Preuße ein gewaltiges Erbe zufällt, nämlich die umfangreichen Landgüter seines Vetter Franz von der Trenck. Dieser ist ein ungarischer Pandurenoberst und Befehlshaber eines Korps von 1000 Panduren, welche meist vom Galgen geschnittene Strolche und Wegelagerer sind, die er auf eigene Kosten ausrüstete, um Maria Theresia im Schlesischen Krieg gegen Preußen beizustehen. Franz von der Trenck, großartig gespielt von Glauco Onorato, ist das genaue Gegenteil seines Vetters: Grob, ordinär und brutal und er scheißt auf den östereichischen Standesdünkel und auf all das „Gnädiger-Herr“-Gerede im Wiener Schmalz. Verhaftet wird er wegen Unterschlagung von Beute und Insubordination und damit zu langer Haft verurteilt. Dort richtet er sich selbst und nimmt sich das Leben. Das Erbe geht nun an Friedrich von der Trenck. De jure. Aber leider nicht de facto.

Nicht nur, daß der Trenck seine Schwierigkeiten mit Österreich hat und es ihm nicht gelingt, an sein Erbe zu kommen: auch der Preußenkönig verfolgt ihn immer noch mit unbändigem Furor. Bei einer Reise von Östereich nach Danzig wird er mit List auf ein vermeintlich östereichisches Schiff gelockt, was sich jedoch dann auf der Ostsee als preußisches erweist. Und so wird Trenck verhaftet und auf die Festung Magdeburg verbracht, wo er in Ketten und an die Wand geschmiedet neun Jahre seines Lebens verbringen muß. Deutlich weniger angenehm als in der Festung Glatz. Keine Gespräche, keine Kontakte. Dennoch versucht Trenck einen Ausbruchsversuch, der freilich mißlingt. Im Film wird er auf das Einwirken von Amalia entlassen – was historisch wohl falsch ist und eher aus dramaturgischen Gründen eingebaut wurde, denn tatsächlich wurde Trenck auf die Intervention Maria Theresias freigelassen. Vor Amalias Tod sieht er sie noch einmal. Erinnerungen an eine vergangene Zeit und eine Liebe, die zu solcher Zeit nicht möglich war. Trenck verschlägt es in die Welt und zuletzt nach Frankreich. Diese Episode ist leider, wie anfangs angemerkt, elliptisch beschreiben. Aber das schmälert freilich das Vergnügen an dieser Serie keineswegs.

Ich habe die fünf Folgen in den 1990er Jahren in einer Wiederholung im Fernsehen geschaut und fand sie begeisternd gut und gelungen inszeniert und ich finde das auch heute noch, als ich sie mir nun auf DVD besorgte. Die Serie vermag es, eine spezielle Atmosphäre dieser Zeit zu erzeugen. Herrlich der österreichische Dialekt der Kaiserin Maria Theresia (Elfriede Ramhapp) und das ganze Szenario am Wiener Hof, die hinterfotzige Freundlichkeit, das österreichische Singsangsprechen, dazu eine pragmatische Kaiserin, während die russische Zarin Elisabeth in Moskau ein recht freizügiges Leben führt. Aber auch dort lauern Intrigen, die der Preußenkönig gegen Trenck spinnt.

Fein auch die markigen Sprüche von Friedrich II. Auf die Frage seines Generaladjutanten von Bork, ob ein im Armeedienst stehender Graf Sowieso heiraten dürfe: „Er muß warten. Meine Soldaten dienen dem Degen und nicht der Scheide!“ Allein für diesen Satz und wie er von Friedrich dahingesagt wird, in jener herrlichen Lakonie, lohnt der Kauf. Becker spielt diesen teils genialen, teils entsetzlichen König in aller Härte, in Ideen und Spleen großartig, weil er das Wesen dieses Charakters zum Ausdruck zu bringen vermag: Stolz, Eigensinn, Wagemut, aber auch Begabung stellt Becker gekonnt dar. Es ist dieser Friedrich II. in seiner Härte gegenüber dem Trenck ein gnadenloser Mann. Das Motiv der verdeckten Homosexualität des Friedrich deutet sich in diesem Film von 1973 ebenfalls an, was zu dieser Zeit, nebenbei gesagt, ein veritabler Skandal gewesen sein muß: ein schwuler Friedrich. Oder wie es seine Schwester in einer Bemerkung fallenläßt: Das Problem liegt nicht darin, daß Friedrich den von der Trenck zu sehr haßt, sondern ganz im Gegenteil, daß er ihn zu sehr liebte. Trencks Liebe jedoch galt dem König nur auf dem Felde und am Hof in Hierarchie und Zeremoniell. In Bett und Leben galt sie, ganz körperlich, der Amalie. Auch der Trenck in seiner offenen, wagemutigen Art ist von Matthias Habich großartig dargestellt und eine geradezu ideale Besetzung. Diese Rolle brachte ihm seinen ersten Erfolg als Schauspieler und dies ganz zu recht, denn diese Mischung aus Wagemut, Eleganz und Tapferkeit, sich immer wieder neue aufrappeln und nicht zu verzweifeln, spielt der junge Habich mit Grandezza. Man achte nebenbei auch auf das Motiv der Spiegel in dieser Serie – gerade auch, wenn immer wieder eine der Gestalten, vor allem der Trenck, in solchem Spiegel gebrochen gezeigt wird, oder wenn der Franz von der Trenck im Salon all die Spiegel zertrümmert.

„Die merkwürdige Lebensgeschichte des Friedrich Freiherrn von der Trenck“ schafft es in diesen fünf Folgen und vor allem durch die Schauspieler, die Inszenierung, aber auch durch Außenaufnahmen und das Interieur, eine besondere Atmosphäre dieser Zeit zu erzeugen. Sie zeigt, wie ein Mensch von edlem Geblüt, dem in solcher ständischen Gesellschaft alle Wege offenstehen, vom Leben hin und her geworfen wird. Von Preußen nach Wien und von dort ins prachtvolle Moskau, eine Welt in Barock und der strengen Hierarchien sowie der Hofintrigen, ein hartes Preußen, mit einem strengen Regiment des Alten Fritz und dazu ein morbides Österreich, immer ein wenig schlampert und darauf läßt es sich gut herausreden, wenn dann auch Akten verschwunden sind, die die Alleinerbenansprüche des Freiherrn von der Trenck auf die Landgüter seines verstorbenen Vetters Franz sichern sollen. Auch die von außen leicht verfallenen Gebäude üben ihren Reiz aus. Nichts ist auf Hochglanz poliert, wie man es heute von Serien kennt oder wenn man Filme über Maria Theresia oder Marie Antoinette schaut.

Alle, die solche Historienfilme mögen, dazu viel Action, Spannung (und Liebe freilich auch ein wenig, aber nicht zu viel): all diese werden an jener Serie ihre Freude haben. Auch filmisch ist die Lebensgeschichte des Freiherrn von der Trenck fein gemacht, weil man darin eine aus der Mode gekommene Art der Kameraführung sieht: Ruhig, aber nicht langweilig, erzählend, ohne aufdringliche Schnitte und hektisches Herumgefuchtel mit der Handkamera und vor allem Schlachtszenen, die ohne die heute üblichen Computeranimationen auskommen, was diese Szenen, seltsame Dialektik, sehr viel wirklicher macht als alles das, was heute mit der perfekten Technik aufgenommen wird. Krieg, so zeigen diese Schlachtszenen, ist grausam und es ist nicht nur die pompöse Marschmusik. Wer heil davonkam, hatte großes Glück. Das Problem solcher Computerästhetik – es ist auch in „Babylon Berlin“ zu beobachten – liegt darin, daß das, was besonders lebensecht und realistisch erscheinen soll, mittels solches Verfahrens geradezu einen kalten und leblosen Anstrich erhält. Es wirkt nicht wie ein Film, sondern wie die gute und gelungene Grafik eines Computerspiel – besonders auffallend zu sehen in den Bildern von „Die Ringe der Macht“. All das fehlt in dieser Serie gottseidank. Es ist, um es auf einen Tendenzbegriff zu bringen, sicherlich einer Film- und Fernsehästhetik der 1970er Jahre, aber sie ist, wie in so vielen Filmen dieser Zeit, gut gemacht. Von der Bildästhetik hat dieser Film, obwohl er unterschiedlicher wohl nicht sein kann, deutlich mehr mit Klaus Lemkes „Rocker“ (1972) oder mit Roland Klicks „Supermarkt“ (1974) gemeinsam als mit heutigen Kostumfilmen. Es ist ein Film ohne Puderzucker, wie man es etwa in den 1950er Jahre-Produktionen bei Sisi und anderen Filmen noch findet. „Die merkwürdige Lebensgeschichte des Friedrich Freiherrn von der Trenck“ kommt ohne Kitsch aus und wird von einer guten Dramaturgie getragen. Etwas, das man sich auch von heutigen Fernsehfilmen aus Deuschland wünscht, die eher das Prädikat „bemüht“ verdienen. (Eine der wenigen Ausnahmen ist die Serie „Weißensee“.) An der Kamera beim Trenck übrigens Joseph Vilsmaier.

Wer über die Feiertage eine spannende Serie schauen möchte, der greife zu dieser DVD!

Zum Tod von Jean-Luc Godard. Fragment und Lust: jene Kraft der Bilder

Einer der letzten großen Pioniere des Kinos, einer jener, die man mit Fug und Recht „Avantgarde“ nennen konnte, ist nun tot: Jean-Luc Godard. Ich habe seine Filme geschätzt und geliebt, egal ob jene „Geschichte(n) des Kinos“, ob den Gangster-und-Paris-Film „Außer Atem“ mit seiner atemlosen Kameratechnik und vor allem den heiter-kritisch-tragischen Film „Masculin-Feminin. Die Kinder von Marx und Coca Cola“ – zugleich auch ein wunderbarer Parisfilm, der das Flanieren und das Hocken in herrlichen Café uns zeigte. Godard gehörte zu den Regisseuren, die meinen Kinoblick maßgeblich prägten. „Die Verachtung“ habe ich wohl an die sieben oder acht Mal bereits gesehen: Allein wie die Kamera zum Anfang des Filmes die Haut Brigitte Bardots abfährt, ist großartiges Kino: Es war im übrigen dieses Repräsentieren, bei dem der Körper in diesem seltsam-roten, flackernden Licht nie ganz und nie im ganzen nackt zu sehen war, als eine Antwort auf den Produzenten Carlos Ponti gedacht. Er stellte als Maßgabe zur Finanzierung des Films auf, daß man die Haut der Bardot sehen müsse, wenn sie schon mitspiele. Godard löste dieses Problem auf eine ästhetische stimmige, gelungene und zugleich ansprechende Weise: Zeigen, ohne zu zeigen: es war die Haut, die Bardot war nackt, aber eben alles fragmentiert. Aber der Film ist eben auch viel mehr noch als eine Liebesgeschichte, die tragisch endet. Es ist eine kleine Geschichte des Kinos, vor allem der Produktionsbedingungen. Schön vor allem, wie Fritz Lang dort das Hölderlinwort über die Abwesenheit des Gottes spricht. Und vor allem die großartige Malaparte-Villa als Blickfang. Und natürlich und auf alle Fälle dieser wunderschöne, rote Alfa Romeo: Nomen est omen. Diese Mischung aus Ästhetischem im Sinne der Schönheit und einem Ästhetischen als Selbstreflexion des Kinos begeisterten mich bereits beim ersten Sehen, als ich irgendwie noch sehr jung war.

Allein die Musik setzte erhebliche Effekte und das Spiel mit Sprachen, Blicken, Begehren, Ästhetik und Geschichtsphilosophie und vor allem das, was wir immer auch im Kino uns wünschen: Das Begehren.

„Das Kino schafft für unseren Blick eine Welt, die auf unser Begehren zugeschnitten ist. Die Verachtung ist die Geschichte dieser Welt.“ (André Bazin in: Die Verachtung, Vorspann)

Eine Würdigung, die ich vor einigen Jahren zu Godards 88. Geburtstag schrieb, habe ich hier als Hommage ein wenig umgearbeitet

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Kino – das ist die große Täuschung der Sinne, und es ist die wunderbarste Lüge, sieht man einmal von geliebten oder begehrten Objekten ab, die wir assoziativ mit Bedeutungen aufladen – wir Fetischisten wissen, wovon wir sprechen. Bilder sagen: Es ist so. Bilder zeigen, daß es nicht so ist. Film ist ein inzwischen altes, etabliertes und nach wie vor komplexes Medium der Kunst, das wesentlich dazu beitrug, unsere Sehgewohnheiten und Wahrnehmungen aufzubrechen und sie im selben Zug auch wieder zu zementieren.

Film ist ein Medium, das nicht mehr nur im Kino seinen Ort besitzt, sondern inzwischen auch auf kleinen Bildschirmen, die wir bei uns zu Hause aufstellten. Denn es spielt eine bestimmte Sorte Film das Geld nicht mehr ein, wenn sie nur im klassischen Verleih gezeigt würde. David Lynchs skizzenhaftes Material zu „Mulholland Drive“ geriet so umfangreich und ausufernd, daß es selbst eine Fernseh-Serie wie „Twin Peaks“ übersteigt: mit immerhin 30 Folgen in zwei Staffeln. Kein Produzent ist bisher bereit gewesen, ein solches Film-Vorhaben „Mulholland Drive“ zu finanzieren, weder als Serie noch als Mehrteiler im Kino. So blieb nur eine Bilderauswahl übrig, ein Bildrest, welcher 2001 in die Lichtspielhäuser kam. Kino hat seine Tücken.

Kino ist nicht Film. Im Französischen existiert neben „film“ das wunderbare Wort „cinéma“. „Ich mache keine Filme, ich mache Kino“, so sagte Godard einmal.

Die erste Filmvorführung der Welt fand bekanntlich in der Antike in einem ungastlichen Hinterhofkino statt: in Platons Höhle. So erzählt es der Mythos, so erzählt es eine Schrift zum Staats- und Gemeinschaftswesen, die sich mit der Frage nach der Gerechtigkeit befaßt. Neorealismus? Wir nehmen Schatten wahr, wir mit der Leidenschaft wollen aber zugleich bessere beseelte Bilder, die wahren, die „richtigen“ Bilder. Wir gieren nach mehr und wir glauben zugleich. Der Aufstieg ist voller Mühe. Manche wollen die gewohnten Bilder, sie halten die Schatten fürs Wesentliche. Unerkannt, unbekannt. Und dahinter ist nichts, nichts, nichts. Nichts als das ewige Feuer: „Kalt modern und teuer“, wie Tocotronic auf ihrer LP „Schall und Wahn“ dichteten. Wie die wahre Welt zu einer Fabel wurde. Manche freilich wollen ein ganz anders Bild. Das Unerhörte wagen. Westwärts zu, Worstward ho: man kann auch in die Höhe fallen. Wie Lenz im Gebirg. Wir nehmen den für diesen Weg der Reinigung mühsamen Aufstieg in Kauf. Wir existieren inmitten von Bildern, die uns umgeben, wir existieren inmitten von Deutungsanforderungen: wie ein Bild zu lesen sei. Und wir glauben es kaum, aber der Meister solcher Bildfolgen ist nun tot. Er lebt und er lebt nicht mehr.

Die Geschichte des Films ist im selben Atemzug auch die Geschichte einer bequemen Verstumpfung. Sie erzählt von den Verschattungen und sie zeichnet uns die wunderbare Überblendung der Sinne. Gerne verheddern wir uns in der zerstreuten Rezeptionshaltung und wollen zugleich die radikale Aufklärung über die Welt – in Bild-Sequenzen, die keine Worte sind, wohl aber eine eigene Sprache, in Bild-/Tonspuren als lector in fabula arbeiten wir an den Verstrickungen. Diese Aspekte laufen in dieser Geschichte des Films wie auch in der seiner Wahrnehmung in paralleler Spur. Verzauberung und Lüge. Entgrenzte, verdichtete Wahrnehmung, Zauberbilder. Im Reich der Sinne und auf dem Gebiet der Anschauungen, für die uns noch die Begriffe fehlen, um zu kartographieren, wie auch die Konfektionsware von der Stange: sie alle tummeln sich im Reich des Bildes. Es gibt Filme, die sind sowohl für die Unterhaltung, aber genauso für den Diskurs des Theoretikers geschaffen: Chaplin und Hitchcock, Griffith und de Palma gehören etwa dazu. Dann wiederum existieren Filme, die übersteigen den kontemplativen, versunkenen Blick des Zuschauers und brechen das Auratische der Unterhaltung auf, wie seinerzeit jener Schnitt durchs Auge in Buñuels/Dalis „Ein Andalusische Hund“. Zu dieser Reihe exzeptioneller Werke gehören auch die Filme Jean-Luc Godards. Und zugleich auch nicht, wie uns sein 1960 gedrehtes Manifest „À bout de souffle“ lehrt.

Godards noch vor diesem ersten veröffentlichten Spielfilm gedrehtes Werk „Der kleine Soldat“ (ebenfalls 1960) bezeichnete er im Rückblick als faschistisch. Dies mag – auch im Rahmen des Politischen –, übertrieben erscheinen, zumal der Film für keine Seite Partei nimmt. Denn die algerische FLN und die französische Armee samt ihren Geheimdiensten standen sich in ihrer Brutalität in nichts nach. Diese strukturell so ähnliche Form der Gewalt vermerkt der Film lakonisch. Die landläufige Identifikation mit den Filmhelden allerdings fällt hier schwer. Es gibt nur kalte Charaktere. Allenfalls die Anspielungen auf Kunst, wenn von dem Protagonisten Bruno die Komponisten Bach und Beethoven oder der (freilich politische) Autor Louis Aragon genannt werden, mag als Relikt des bürgerlichen Ästhetizismus durchgehen. Im Laufe der (nicht immer glücklichen und klugen) Politisierung Godards erschien ihm dies im Rückblick womöglich als Schwäche. Das Revolutionäre bleibt in diesem Film Einsprengsel; es wird im Modus des Verweisens lediglich gestreift. Etwa wenn einer der arabischen Kombattanten in zwei kurzen Einblendungen die Schriften Maos liest. Darin gerade liegt die Stärke des Films: er nimmt nicht Partei und gerät gerade durch diese Enthaltung zur Parteinahme. Revolution im Film ohne Polit-Trara. Aber die Revolution ist am Ende eine der Bilder, eine des Sehens. Und das ist gut so.

Ästhetisch setzen „Der kleine Soldat“, vor allem aber „Außer Atem“ in der Anordnung von Montage und Mise en Scène neue Maßstäbe. Und bereits in diesem frühen Werk weist der Film auf sein eigenes Medium, wenn da in „Der kleine Soldat“ vom Protagonisten Bruno der Satz folgt: „Die Fotografie, das ist die Wahrheit. Kino, das ist die Wahrheit 24 Mal in der Sekunde.“ Einschuß der Bilder. Aber ist das die Wahrheit? Oder eben doch nur eine bestimmte Perspektivierung? Oder eben das, was der Filmkritiker André Bazin im Vorspann zu „Le Mepris“ sagt? Oder wenn in „Bande à part“ aus dem Jahr 1964 die Protagonisten durch das bürgerliche Louvre-Museum, durch den großen Saal laufen: auch das ist eine Referenz aufs Medium Bild und auf einen neuen ästhetischen Umgang mit jenen klassischen und überlieferten Bildern.

Ein ganz anderer Rhythmus, ein wilder Bildsound bestimmten mit einem Male das Genre Film, obwohl diese beiden frühen Werke Godards von der Story her klassische Sujets aufgriffen. „Der kleine Soldat“ entstammt dem Genre des Agentenfilms. Was den Plot beider Filme anbelangt, ist die primäre Quelle Hollywood: der klassische, düstere Kriminalfilm, wie in „Außer Atem“ – ohne Happy End, Film noir eben, aber technisch und in ihrer Form treiben diese beiden Filme weit über Hollywoods Standardware hinaus. Insbesondere „Außer Atem“ ist zwar eine Hommage, wie ja auch Truffaut und Wenders einer bestimmten Sorte des amerikanischen Kinos ihre Aufwartung darbrachten. Noch in der Anordnung der Szenen, wenn der Protagonist in „Außer Atem“ vor einem Bogart-Plakat sich vergleicht, an seiner Zigarette ziehend, oder wenn kurz der Schriftzug eines Filmplakates von Aldrich auftaucht, der für einen Augenblick zu lesen ist: „Gefährlich leben bis zum Schluß“, was wohl gut als Motto des Films fungieren kann, dann ist solches Verweisen Anspielung und Programm dieses Filmes. (Und auch die Lichtgestalt des Film-Noir, Jean-Pierre Melville kurz spielt mit.) Und doch verläßt „Außer Atem“ vermittels seiner Konstruktion die B-Movie-Ecke der Kriminalfilme als Konfektionsniveau. Darin kein kulturindustrielles Produkt, sondern Reflexion aufs eigene Medium.

Die Schnitte in „Außer Atem“ – so der von Godard erfundene Jump Cut – und die Kameraführung sind exzeptionell: rasant, ungewöhnlich, neu. Der Blick ist irritiert. Die Geburt eines anderen Kinos (aus dem Geist des aufkeimenden Pop). Während des Dialogs zwischen Michel (Jean Paul Belmondo) und Patrica (Jean Seberg) bei einer Autofahrt durch Paris: die Kamera ist immer seitlich von schräg hinten auf den Hinterkopf Patricias gerichtet, ihr kurzes blondes Haar im Blick, während Michel nicht zu sehen ist. Godard schrieb in seinem lesenswerten Buch „Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos“:

„Ich erinnere mich noch sehr gut, wie dieser berühmte Schnitt zustande kam, der heute immer in Werbefilmen verwendet wird. Wir haben uns alle Einstellungen vorgenommen und systematisch das geschnitten, was wegkonnte, uns dabei aber bemüht, einen Rhythmus einzuhalten. Zum Beispiel gab es da eine Sequenz mit Belmondo und Seberg im Auto – das war gedreht: eine Einstellung auf ihn, eine auf sie, sie antworten einander. Als wir zu dieser Sequenz kamen, die gekürzt werden mußte wie alle anderen auch, haben wir mit der Cutterin Kopf oder Zahl gespielt. Wir haben uns gesagt: Statt ein Stückchen bei ihm und ein Stückchen bei ihr zu kürzen und lauter kurze Einstellungen von beiden zu machen, kürzen wir vier Minuten, indem wir entweder ihn oder sie ganz rausnehmen, und dann schneidern wir einfach eins ans andere, als ob es eine einzige Einstellung wäre. Dann haben wir gelost um Belmondo und Seberg, und Seberg ist dringeblieben.“

Der Einsatz des Lichts (keine Kunstlicht) und die unkonventionelle Kameraführung, die Arbeit mit einer Handkamera nehmen das Dogma-Manifest von 1995 vorweg. Straßen- und Innenszenen wurden weitgehend ohne künstliche Ausleuchtung gedreht. Bei den (wenigen) Nachtszenen wurde ein hochempfindlicher Film verwendet. Das alles hat es in Filmen, die für ein breiteres Publikum gedacht waren, in dieser Form bisher nicht gegeben.

Wie die Kamera auf die Darsteller gerichtet ist und sie in den Blick nimmt, etwa wenn Michel durch das Hotel schreitet, das ist göttlich wie die Citroën Déesse, welche in manchen Einstellungen (leider kurz nur) zu betrachten sind:

„In der D.S. Steckt der Anfang einer neuen Phänomenologie der Zusammenpassung, als ob man von einer Welt der verschweißten Elemente zu einer solchen von nebeneinandergesetzten Elementen überginge, die allein durch die Kraft ihrer wunderbaren Form zusammenhalten, was die Vorstellung von einer weniger schwierig zu beherrschenden Natur wecken soll.“ (Roland Barthes, Mythen des Alltags)

Man kann sich am Blick der Kamera nicht sattsehen. „Außer Atem“ ist in diesem Sinne ein Titel, der zugleich auf unsere Reaktion beim Mitfiebern in Bildern weist. Er nennt, wie es uns beim Zuschauen ergeht. Aber dieses neue Verfahren, Schnitt und Szenen in eine veränderte Anordnung zu bringen, reicht über das bloß subjektive Moment heraus und hat sein Motiv in der Logik der Sache. Es ist keine bloße Gangstergeschichte, der Plot ist im Grunde nur Aufhänger und Köder. Godard wird dieses Montage-Verfahren weiter ausbauen – und insbesondere in seinen späteren Filmen gesellen sich jene Texteinblendungen dazu, die wesentlicher Bestandteil des Films sind.

Godards Filme sind mehr als Filme, es sind, neben dem Erzählen und dem Technischen, gleichzeitig theoretische Essays: verfilmte Filmgeschichte, aber solche vor allem, die den Bereich der bloßen Wissenschaft verlassen. Bei Godard gelingt auf wunderbare Weise die Selbstreferenz des Mediums, ohne dabei in staubtrockene Theorie abzugleiten, Spannung bricht nicht ab. Immerzu telefoniert Michel, beständig ist er in Bewegung und in Unruhe, um an Geld zu kommen. „Außer Atem“ ist, zumindest im Ansatz, bereits ein solcher Film über das Filmen. Die dem ersten Anschein nach seichte Geschichte mag zunächst darüber hinwegtäuschen. Der Plot von „Außer Atem“ ist freilich trivial, eine B-Movie-Gangstergeschichte: die letzten Tage eines kleinen Ganoven, der einen Polizisten erschoß, werden uns gezeigt. Das Außerordentliche dieses Films, sein Spezielles in der Komposition der Bilder erschließt sich insbesondere, wenn man das Remake von 1983, mit Richard Gere und Valérie Kaprisky als Kontrastmittel schaut: „Atemlos“. Es handelt sich bei diesem Stück um filmischen Dreck, Popscheiße, die auf den Geschmack eines breiten Publikums zugeschnitten ist. Allerdings taugt dieses Machwerk unbedingt als Anschauungsmaterial, was in einem Remake alles schiefgehen kann. Weshalb es zuweilen jedoch ganz gut ist, sich einen schlechten Film anzuschauen. Das Gute tritt umso stärker in den Blick.

Zudem: wer „Außer Atem“ nur als einen Film noir wahrnimmt, übersieht Wesentliches. Der Film ist zwar einerseits kinotypische Unterhaltung, aber über den Aspekt der Form bereits viel mehr. Deutlicher noch und verdichteter geschieht diese Selbstreferenz des Mediums dann in „Die Verachtung“, welchen man als den wohl klassischsten seiner Filme bezeichnen kann. Modern und avanciert, aber in den Bildern zugleich ruhig – eine italienisch-antike Aura umgibt diesen Film: das Licht des Südens.

Allerdings ist „Außer Atem“ ebenso ein Film, der den Klang von Paris einfängt. Aber ist dieses Paris noch jenes Ort der langsam verbleichenden 30er Jahre-Moderne, welche sich residual in die 50er Jahre rettete, die Sartresche Subjektmoderne als filmischer Mythos? Oder aber handelt es sich bereits um den Rhythmus einer ganz anderen Moderne, einer des (Post-)Strukturalismus, der Dekonstruktion von Wörtern und Bildern, wo diese in Auflösung sich befinden? Musikalisch wäre hier sicherlich an den Jazz anzuknüpfen. Kein Ausgang aus der Höhle, aber eine Referenz an die Schatten, ohne dabei aber in die Ausweglosigkeit zu gleiten, daß es kein Licht, keine Sonne gäbe.

Wenn die Photographie die Wahrheit ist und wenn das Kino die Wahrheit 24 Mal in der Sekunde bedeutet, dann heißt das für unsere Epoche, daß die Wahrheit sich beschleunigte. Und wir müssen in dieser Schnelligkeit – heute bürgerte sich dafür philosophisch der Begriff der Akzeleration ein – eine neue Art des Auffassens angewöhnen. Auch im Blick auf die Flut der Bilder aus dem Internet, die kommen und schnell wieder vergehen. Bahn verschafft sich diese Wahrheit jedoch, das bleibt festzuhalten, in einem illusionären Medium. Die Wahrheit nistet sozusagen in den Falten des Scheins. Diese Wahrheit gerät in den weiteren Filmen Godards zunehmend komplexer und sie wird politischer. So in „Masculin – Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca Cola“.

Godard machte ein Kino, das manchmal aufdringlich war, wenn es sich zu sehr politisierte und doch fand Godard im Sinne Brechtscher Verfremdung zugleich die Distanz, so daß diese Bilder eine ganz eigene Sprache, eine eigene Poesie entwickelten. Auch in ihrer Härte.

Grausig gülden gutzt der Golz: „Die Ringe der Macht“

Am Freitag wurden auf Amazon Prime die ersten beiden Folgen der ersten Staffel von „Die Ringe der Macht“ gezeigt. Sozusagen die Vorgeschichte zu dem, was in J. R. R. Tolkien „Herr der Ringe“ geschah, viele tausend Jahre vor den Ereignissen des Romans. Die Ankündigungen waren groß und die Werbetrommeln erschallten – natürlich nicht indigen, das wäre mißlich und arg aneignend. Da mir bereits die drei Herr-der-Ringe-Filme zum Beginn der 2000er Jahre gut gefielen und ich sie mit Freude sah, bei der herrlichen Elbenarmee mitfiebernd, schaute ich also auch das, was da am Freitag, leider teils arg ruckelnd übers Wlan, auf der Plastikleinwand der Glotze lief. Unwillkürlich vergleicht man bei solchem Großprojekt, das mit über einer Milliarde Dollar angesetzt ist, mit anderen Serien und auch mit jenem Film. Doch leider reichten diese ersten beiden Folgen bei weitem nicht an jenen wunderbaren und spannenden Dreiteiler und schon gar nicht an „Game of Thrones“ heran. Zu zerfasert der Auftakt, zu gewollt die Geschichte, es wirkt konstruiert und teils belehrend – „Seht her es gibt hier sogar schwarze Elben!“ Die „Diversity“ wirkt, anders als bei GoT, aufgesetzt: „Jetzte müssen wir aber mal divers sein, weil das besser ankommt, das Publikum es so will und die Woko Haram sonst unseren schönen Konzern madig macht“. In der Kulturindustrie wird jeder nach seiner Facon bedient und abgespeist – auch die Woko Haram.

Aber auch inhaltlich mangelt es in vielen Stellen, selbst wenn manche technischen Effekte sicherlich gekonnt sind – was ich freilich von einer Serie, die einige Millionen Doller kostete, auch erwarte. Während „Game of Thrones“ – dramaturgisch gut gelöst, weil reduziert – mit einer pointieren Szene ins Geschehen einführt, nämlich der Patrouille der Nachtwache an der Nordwand, und von dieser Begegnung mit den schrecklichen weißen Wanderern her mit einem guten Spannungsbogen in das übrige Geschehen und in die Komplexion der Geschichte überleitet und von dieser Einzelszene her also die Szenarien sich entwickeln läßt, fällt das bei „RdM“ auseinander. Zu viele Stränge, zu unvermittelt tauchen Figuren auf, von denen man nicht weiß, was sie sollen. Sicherlich werden sie im Laufe der Serie noch eine Rolle spielen, aber leider werden sie, wie etwa die beiden Wanderer mit den lustigen Elchgeweihen auf dem Rücken, nicht derart eingeführt, daß sie interessant wirken und man gerne wissen möchte, wie es mit ihnen weitergeht. Während in „Game of Thrones“ bereits am Anfang Charaktere auftauchen, von denen man vermutet, daß sie eben nicht nur gut sind, sondern womöglich auch eine böse und abgründige Seite in sich tragen, scheint mir „Ringe der Macht“ zu sehr nach einfachem Schema gestrickt. Nun muß aber ein einfaches Schema nicht per se schlecht sein, sondern kann künstlerisch herausfordern und den Zuschauer zum Denken reizen, selbst – oder gerade – im Segment Unterhaltung. Und auch Kitsch kann seine Funktion haben, wenn er mit doppeltem Boden oder Witz daherkommt und nicht einfach nur gülden glänzt.

Daß eine Serie mit vielen Strängen auftaktet, muß dramaturgisch nicht schlecht sein, aber bei RdM funktioniert das in meinen Augen leider nicht, es wirkt teils hölzern, teils bemüht – und auch die Darstellung der Hobbits gefällt mir ganz und gar nicht: sie treten auf wie eine Mischung aus Kasperletheater und einer Gemeinschaft von Torfköpfen, die aus der Behindertenwerkstatt rekrutiert wurden Die Elbenmänner erinnern teils an König Drosselbart. Man mißverstehe mich nicht: sowas muß nicht schlecht sein, auch Menschen mit Einschränkungen spielen zu lassen, und ich finde solche Projekte genau dann gut, wenn die Realiserung stimmt und nicht bemüht wirkt, so als setze da jemand einen Leitfaden um. Und hinterher erfahre ich dann, wie bei „RdM“, daß es extra einen Amazon-Leitfaden gibt, wie in Zukunft möglichst divers zu besetzen sei. Ich wußte es vorm Schauen der Serie in der Tat nicht. Schwule spielen dann Schwule und Josef Goebbels in neuen Nazifilmen oder oder Putin werden nur noch mit Björn Höcke, Sebastian Schmidtke oder Tom J. Wellbrock besetzt werden dürfen und Massenmörder dürfen nur noch Leuten wie Anders Behring Breivik und Brenton Tarrant spielen: die müssen am besten wissen, wie es sich in in so einer Rolle anfühlt und Minderheiten sind es auch. Nach solch einem Leitfaden gefertigt, von wohlmeinenden für wohlmeinende Menschen gestrickt, wirkt diese Serie in ihrer Durchführung. Nicht mehr die Qualität der Plots sowie Dramaturgie und Spannungsbögen bilden das Gerüst für einen Unterhaltungsfilm, sondern „Diverity“-Vorgaben. Diesen Zug aus Belehrbärhausen merkt man dieser Serie leider bereits nach den ersten Bildern an.

Hinzu kommt eine kitschbunte Disney-Ästhetik. Der Walt Disney-Konzern hat mit vielen seiner Produkte nicht nur Millionen von Kindern (und Eltern) die Wahrnehmung versaut, sondern auch die Serienlandschaft: güldene Elbenwelt und es fällt das Herbstlaub bedeutungsschwer: sieh Herr, wer jetzt kein Elbenheim hat, baut sich keines mehr und wird zur Strafe oder zur Belohnung, je nachdem, zu den Unsterblichen Landen von Valinor verbracht. Doch die Protagonistin Galadriel, auf der Suche nach Sauron, will nicht recht ins gelobte Land zu den Inseln der Seligen segeln und springt von Bord. Ich erhoffte mir von diesem Wassersprung wenigstens ein schön transparentes Gewand, das herrliche weibliche Elbenformen vertieft sehen läßt, so daß Elbenbrust und Flimmerhärchen auf Haut vorschienen und den Betrachter entzückten. Doch dem war nicht so. Denn auch hier greifen Amazons Richtlinien. Es wird in der Serie, anders als im herrlichen „Game of Thrones“, wenig Haut geben und schon gar nicht wird, wie in GoT, übereinander mit Sinneslust und erotisch hergefallen.

Ja, ich hatte mir von diesem Auftakt deutlich mehr versprochen. Der Dreiteiler-Film „Herr der Ringe“ machte es dramturgisch besser. Nun soll man Serien nicht vergleichen und die ersten beiden Folgen sind kein Maß fürs Ganze, wenn man das Ganze noch nicht kennt. Aber es hat mich dieser Auftakt lange nicht so gepackt wie GoT oder die herrliche, freilich eher in der Realität von uns Menschen angesiedelte Serie „Vikings“ oder auch die drei Teile der HdR-Verfilmung. Bleibt abzuwarten, wie es weitergeht, aber ich ahne nichts Gutes.

Von der US-Punkband „The Dickies“ gibt es einen schönen Song namens „Stukas over Disneyland“. Ich fürchte aber, wir werden die fünf Staffeln dieser Serie weitersehen müssen – es sei denn, eine gräßliche Finanzkrise ließe die One-Billion-Dollar-Production crashen oder russische Orks (statt Sauron eher Sau Putin) fielen in Hollywood ein. Letzteres will man denn doch nicht wünschen und so schaue ich weiter, was in Mittelerde und in den anderen Kontinenten sich so zutragen mag. Voll divers natürlich. Notfalls gibt es den Ausknopf und ich kehre in die Realität zurück oder zu Vikings oder zu The Wire. Serien müssen einen packen und mitreißen, ansonsten ist es vertane Zeit 20 Stunden seines Lebens vorm Fernseher zu verbringen.

Wenn es übrigens um Wokeness geht, interessieren mich bei solchen Produkten und bei einem Konzern wie Amazon, neben den Aspekten der Dramaturgie einer Serie, doch mehr jene Fragen nach den Arbeitsbedingungen in Verteilerzentren wie Leipzig und anderswo, es interessiert mich die Frage nach gerechten Löhnen bei Amazon, auch für jene, die nicht im Rampenlicht stehen und den Kunden DVDs und Radiatoren frei Haus liefern und vor allem die Steuern, die ein Konzern in Deutschland zahlt. Daß im Woke-Kapitalismus „Diversität“ und Grünwaschen teils Maskerade sind, um einem Unternehmen ein gutes Image zu verpassen, damit es mit den Geschäften läuft, sind freilich Erkenntnisse, die nicht neu sind. Auch gut gemachte Serien rechtfertigen keine Ausbeutung. Um so schlimmer, wenn die gelieferte Ware mangelhaft ist. Die zweite Staffel der Serie könnte dann vielleicht heißen „Die Gefährten des Zeitgeists“

Irgendwo in Neuseeland.
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Putins Tote: Mantas Kvedaravicius. Oder von den russischen Massakern in Butscha, Maripol, Charkiv, Irpin, Borodjanka

Der litauische Regisseur Mantas Kvedaravicius ist in Mariupol von Russen hingereichtet worden. Die FAZ schreibt: „Sein Film „Mariupolis“ war 2016 auf der Berlinale zu sehen. Nun drehte der litauische Filmregisseur Mantas Kvedaravičius wieder in der belagerten Stadt. Er wurde von russischen Soldaten gefangen genommen und dann getötet.

Der Film ist auf Youtube zu sehen. Dort heißt es: „Mantas Kvedaravicius‘ Dokumentarfilm ist eine bildgewaltige Hommage an eine Stadt in der Krise, die Widerstand leistet, mit Waffen und ungebrochenem Lebenswillen. Obwohl sich der Krieg längst in den Alltag eingeschlichen hat, gehen die Arbeiter der Stahlfabriken und Kohlebergwerke weiter ihrer Arbeit nach. Die meisten der rund 500.000 Einwohner arbeiten in der Stahlindustrie. Nach Feierabend angeln viele, um ihre Teller zu füllen oder zum bloßen Zeitvertreib. Laut den Behörden der in der Ostukraine neu ausgerufenen, prorussischen Republik herrscht hier Waffenstillstand – Peremirja, wörtlich: „der Frieden dazwischen”.

Mariupolis – ARTE Doku – Ukraine Krieg

Ein gewichtiger Unterschied übrigens zwischen dem faschistischen Rußland und westlichen Demokratien ist dieser: In den USA und in Deutschland berichtet die Presse über Massaker wie in My Lai, berichtet über den Folterskandal in Abu-Ghuraib, berichtet über Guantanamo. Ob es wohl möglich ist, daß die russische Presse frei und offen über das berichtet, was in Butscha, was in Mariupol geschah, was in Charkiw geschah, was in den Vororten von Kiew geschah? Natürlich wird sie nicht über die russischen Kriegsverbrechen berichten. Das ist der gewichtige Unterschied zwischen freien Ländern und solcher Diktatur wie Rußland – die hier vom Team Zarenknecht in allen Spielarten hoffiert wird, wenn es nur gegen den Westen geht und man dort den Schuldigen ausmachen kann. Pflichtschuldig werden ein paar Worte gesagt, daß das, was Putin tut, nicht gut ist, um dann sofort in die Äquidistanz zu gleiten. Hätten sich die USA das geleistet, was Rußland in diesem Ausmaß tut, was noch die Verbrechen der USA im Irak bei weitem übersteigt: Menschen massakrieren, ermorden, foltern, Frauen vergewaltigen, Zivilisten auf offener Straße erschießen: Es gäbe jeden Tag wütende Demos vor der Botschaft der USA. So aber: Schweigen, schweigen, schweigen. Denn es ist ja Rußland. Nach dem Motto: der Feind meines Feindes ist mein Freund, so denkt das Team Zarenknecht und die Verschwörungsideologen von Nachdenkseiten bis Rubikon. Man lese nur die Propaganda eines Tobias Riegel. Diese Leute, wie auch Tom Wellbrock, Dirk Pohlmann und andere sind Teil von Putins Desinformationskampagne und damit auch von Putins und der russischen Mordmaschinerie und sie müssen sich auch die russischen Massaker an Zivilisten, diese Morde an Zivilisten in Butscha durch die russischen Soldaten zurechnen lassen, wenn noch am 7.4. nach dem eindeutigen Vorliegen von Beweisen gelogen und geleugnet wird. Wellbrock, Riegel, Albrecht Müller, Pohlmann, Uli Gellermann und viele andere sind Mittäter beim Morden, weil sie vom Schreibtisch aus diese Massaker beschönigen oder gar leugnen. Nicht anders als große Teile der übriggebliebenen deutschen Eliten nach 1945 die deutschen Vernichtungslager leugneten oder beschönigten. Die Namen der deutschen Schreibtischtäter heute. Sie sind laut und vernehmlich und immer wieder zu nennen.

Der Ausdruck Spezialoperation hat einen seltsam-wahren Klang bekommen. Er erinnert an die Sonderkommandos der SS und der Wehrmacht, die seit 1941 hinter der Frontlinie in Rußland ihre Kriegsverbrechen verübten: Massenerschießungen von Zivilisten, Massaker. Genau das, was Putins und was Rußland gegenwärtig in der Ukraine tun. Dinge, die vor 80 Jahren in Europa passierten, geschehen nun wieder: systematisch verübte und vermutlich auch angeordnete Kriegsverbrechen von ungeahntem Ausmaß an der Ukrainischen Bevölkerung: an Frauen, Kinder und Männer.

Pier Paolo Pasolini zum 100. Geburtstag

Bei all dem Schrecklichen, was den Menschen in der Ukraine widerfährt, will ich den 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini nicht vergessen. Und vielleicht gerade deshalb, wegen dieser Kraft zum Widerstand gegen Unrecht und Diktatur und seinem Plädoyer für Freiheit ist an Pasolini zu erinnern. Ich habe seine Filme in den 1980er Jahren mit Lust und mit Begeisterung gesehen, den rätselhaften Film „Teorema – Geometrie der Liebe“ und auch seine Dramen aus der borgate: „Accattone “ und „Mamma Roma“ und ich habe mir auch sogleich damals die Romane gekauft – in dem hellkaffeesahnebraunen Einbänden, wie es zu dieser Zeit Mode war. Pasoline machte das, was jemand wie Adorno perhorreszierte: eine Mischung aus Dokumentation und Kunst. Aber er tat es so, daß es ob der Kraft der Bilder, der Darstellung und der Dialoge Adorno vielleicht doch ästhetisch gefallen hätte, so wie in „Gastmahl der Liebe“: jener Befragung der Menschen zu Liebe und Sex.

Wie der Tagesspiegel-Artikel richtig schrieb, schätzte ich Pasolini zunächst und primär als Künstler und dann erst als Intellektuellen. „Pasolini war in erster Linie Dichter und Erzähler, in zweiter Filmregisseur und in dritter Intellektueller und Publizist.“ Über die 1968er und an die Studenten gerichtet, schrieb er ganz richtig (sinngemäß und aus dem Kopf zitiert): „Was protestiert ihr für die Befreiung der Arbeiter? Die Arbeiter, die ihr befreien wollt, stehen euch gegenüber, wenn ihr auf die Polizisten Steine werft.“ Dieses Unkonventionelle schätze ich an Pasolini. Aber dennoch blieb er trotz unkonventionellem Denken, linker Politik treu, schrieb für den Klassenkampf und konnte doch keine Arbeiterklasse mehr finden. Die Vorstadtjugend in den borgate machte ein anderes Ding. Mit Marx gesprochen war dies eher das Lumpenproletatiat oder wie man heute sagt: Abgehängte. Klassenkampf ohne Klasse gleichsam.

Und wie zu jedem Osterfest muß man, so auch bald wieder, „Das 1. Evangelium – Matthäus“ sich anschauen. Wie da eine biblische Landschaft und Geschichte mitten nach Italien verlegt war und in was für gewaltigen, teils stillen Bildern in Schwarzweiß: eine reduzierte Ästhetik, die zugleich überwältigte – auch durch die Gesichter und die Züge der Schauspieler. Die Rollen – gespielt von Laien. Das ist wahrlich eine große Regiekunst.

Candy-colored pictures mit Bittermandelgeschmack: David Lynch zum 75. Geburtstag

Es gibt Menschen, die glauben, man könne Ungewöhnliches nur erleben, wenn man sehr weit fortreiste oder in seinem von der Arbeit abgetrennten Freizeitalltag außergewöhnliche Dinge betriebe, die nur wenige Menschen tun. Das reicht von Fallschirmspringen bis Hegellesen. Ich tat in meinem Leben beides: das eine nur kurz, das andere über die Lebenszeit hin. Vor zehn Jahren, in den letzten Tagen des Dezember, in den Rauhnächten,  zum späten Abend, regnerisch war es und schon der Gang aus dem Taxi zur Tür des Restaurants beschmutze die schwarzen Lederschuhe, traf ich mich mit einer Frau, die ich im warmen Spätsommer im September in Hamburg auf einer Garten-Party kennenlernte und die mein Interesse geweckt hatte, in einem In- und Schicki-Micki-Restaurant in Hamburg  namens „Bullerei“. Wir begrüßten uns, leicht verlegen und doch auch beschwingt, bestellen Rotwein, tranken und speisten eine Kleinigkeit Beefsteak Tatar. Für die linksszenige Hamburger Sternschanze ein ungewöhlicher Ort. Wo es früher wild-bewegt zuging, nun gediegenes Ambiente für Betuchte, die Bier nicht aus der Dose süffeln. Alles anders als früher in den 1980er Jahren.

Irgendwann im Fluß dieses Gesprächs fragte mich jene Frau, was die weiteste Flugreise in meinem Leben gewesen sei. Ihre Augen schimmerten und ebenso ihre schönen blonden langen Haare. Wir saßen da, nicht, wie ich es mir gewünscht hätte, gepflegt an einem gedeckten Tisch aus grob-edlem Holz, sondern in seltsamen Sitz- und Knautschkissen, die vom Stoff zwar gediegen anmuteten, mich aber an eine Kindertagesstätte erinnerten, wo die Erzieher mit einer gewissen Zwanghaftigkeit die Kinder zu antiautoritärem Verhalten ermuntern wollten, was am Ende dazu führte, daß diese Kinder den Erzieherinnen heillos auf der Nase herumtanzten.

Beim Fragen jedoch hatte jene Frau in einer ausladenden Geste ihr Weinglas umgestoßen, was mir unangenehm war. Rotwein ergoß sich. Sie wieselte da auf den Knien am Boden herum und wischte mit einer Stoffserviette. Es eilte die Bedienung heran und half, während ich mir, unschlüssig daneben stehend, das Treiben ansah und auf ihren gut geformten Arsch blickte, der da in die Höhe ragte, und ihn mit dem Hinterteil der Bedienung verglich. Der von Lovely Linda war umwerfend. Ich hätte gerne geholfen, doch ich konnte nicht. Es ist ein schwerwiegender Nachteil, wenn jemand eine Existenz im Ästhetischen führt und zum Handeln nicht fähig ist. Ich helfe dann nicht, sondern schaue auf Körperteile. Nicht korrekt, aber, wie Deichkind singt: „Leider geil!“ Jene blonde mittelgroße Frau besaß zwar keine besonders langen Beine – große Attraktoren haben kurze Beine, so pflege ich zu sagen –, zudem erschienen sie mir dünn, so daß ich eher von Beinchen sprechen möchte, aber dafür diesen ganz wundervollen Arsch und einen von Zeit zu Zeit witzigen und spritzig-kreativen Geist. So ist das mit Menschen aus der Werbe- und Internetbranche. Und ich mag Frauenbeine, die in Stiefeln und engen Jeans stecken. Was will man mehr: gesunder Körper, gesunder Geist. „Beten sollte man darum, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist sei“ schreibt der römische Satiriker Juvenal. Diese Dinge sind allerdings wandelbar und zeigen sich ausgesprochen fragil. Ich überlegte mir beim Voyeurieren eine ausgefallene Antwort auf ihre ausgefallene Frage und versank dann wieder im Betrachten zweier Ärsche.

Und als wir nach getaner Aufräumarbeit von Damenseite in den eigenwilligen, unförmigen Sitzkissen, die eben dazu führen, daß auf dem Boden abgestellte Weingläser irgendwann zwangsläufig umkippen, hockten oder eher: preßten, und nachdem sie von ihrer Reise nach Japan erzählte, stellte sie mir diese Frage noch einmal. Eine Frage, die, so vermute ich, nicht auf Interesse abzielte, sondern auf das Exorbitante als solches aus ist. Ich hätte ihr als Ziele Anchorage (wie schön auch: Michelle Shocked), Neuseeland oder Feuerland nennen oder besser herlügen müssen. Ich erzählte ihr dann jedoch – wahrheitsgemäß – von einem Flug, wo der rechte Propeller brannte und der linke kurz vor dem Ausfallen war. Die Maschine landete irgendwo auf einem Militärflughafen namens Varna, in einem Ostblockland namens Bulgarien. Ich selber habe die Angelegenheit, das Gewitter, den Blitzeinschlag, den Brand, diese Notlandung eher unbeteiligt gesehen, während andere Menschen an Bord schrien und weinten. Allen voran meine Schwester, die ständig kreischte: „Jetzt stürzen wir ab, .jetzt stürzen wir ab!“, was wiederum die übrigen Fluggäste noch unruhiger machte.

Man kann Ungewöhnliches aber auch an einem Ort erleben, und der liegt keine zwei Nanometer von einem selbst entfernt: dazu bedarf es keiner weiten Reise, sondern lediglich eines hyperaktiven, mit viel Phantasie, Leidenschaft und Zerrissenheit ausgestatteten Bewußtseins. Es geschehen solche die herkömmliche Logik und den Verstand sprengenden Dinge – wenn es gut läuft: oder soll man besser sagen, wenn es schlecht kommt? – im eigenen Kopf, sofern sich verschiedene Stränge des Denkens, Fühlens, Bemerkens kreuzen und die Linien der Wahrnehmung sowie das im Bewußtsein Abgelagerte und Sedimentierte sich verquicken, durchdringen und überlagern und zu einem neuen Bild formen. Und wenn diese Szenen, welche sich in diesem Innenraum abspielen, von einem Menschen visualisiert und zudem kompositorisch geformt ins Bild gebracht werden, wir nennen dies für gewöhnlich Malerei, Kino und Photographie, dann benötige ich keine weiten Flugreisen.

Das Außerordentliche zeigt sich im Film. Die einzige Bewegung, die ich als Nichtkreativer und passiver Betrachter solcher Fernreisen vornehmen muß, ist der Gang ins Kino oder aber, was die deutlich schlechtere Option ist, hin zum Schrank mit den DVDs. Und in jenes Kino, in das ich mich bewege, da läuft ein Film von David Lynch. Wie zum Beispiel im Jahre 1986 „Blue Velvet“ oder im Juni 1997: „Lost Highway“. Am besten schaut man einen Lynch-Film in jenem halbbetäubten und zugleich hochempfindlichen Zustand, der sich einstellt, wenn dem Zuschauer von einem Arzt ein narkotisierendes, mithin schmerzbetäubendes Mittel per Spritze injiziert wurde und wenn diese Spritze, nachdem der operative Eingriff schon vorüber ist, ein wenig zwar noch nachwirkt, aber zugleich bereits der pochende Schmerz der Wunde einsetzt. Wenn Betäubung und Schmerz sich überlagern. Zum Beispiel nach einer Wurzelresektion. Die ist nicht schön, aber man kann sich hinterher belohnen.

„Lost Highway“ zeigt eine Welt, in der eine Zeit herrscht, die zugleich nicht mit unserer Lebenszeit in Deckung gebracht werden kann: Chronos frißt seine Kinder und auch seine Betrachter; ein verschleiftes Bewußtsein, in welchem sich Anfang und Ende durchdringen, wo die Chronologie von Ereignissen und die Linearität der Zeit aufgebrochen wird. Kritiker verglichen diesen Film mit dem Möbiusband. Und es gibt im Hinblick auf die Ungewöhnlichkeiten des Lebens sicherlich nichts Amüsanteres, als von einem Fremden Videokassetten ins eigene Heim zugeschickt zu bekommen, auf denen das eigene Haus zu sehen ist, und wenn der Betrachter dieser Kassetten bemerken muß, daß die, welche filmten, zugleich in die eigene Wohnung eingedrungen sein müssen. Oder sich auf einer Party aufzuhalten, dort mit einem Mann ins Gespräch zu kommen, der einem erzählt, daß er sich gerade in deiner Wohnung aufhielte – auf deine Einladung hin versteht sich – und diese Anwesenheit auch durch einen Anruf von einem Mann beweist, der dir mitteilt, daß er sich momentan in der Wohnung des Angerufenen befinde.

Generell verschieben sich in sämtlichen Filmen Lynchs die Exteriorität und das Innen. Der Raum einer Welt stellt zugleich den Binnenraum jener kleinen, vertrackten Welt des Bewußtseins bzw. des zutage tretenden Unbewußten dar. Der amerikanische Traum ist immer und im selben Augenblick auch der amerikanische Alptraum. „A candy-colored clown they call the sandman“. Das ist nicht neu, das ganze Horror-, Western-, Action- und Abenteuerfilmgenre Hollywoods knüpft an diesen Aspekt an. (Der Sandmann der literarischen Romantik ging weniger süß vor. Doch ebenfalls tückisch.) Lynchs Kino produziert und injiziert zugleich das paradoxe Bild, welches der herkömmliche Film der Hollywoodästhetik aufschiebt und verdrängt – was Hitchcock uns als Möglichkeit andeutet, wird bei Lynch filmische Wirklichkeit. Und mit „Lost Highway“ tritt das Lynch-Kino zudem in eine völlig neue (philosophische) Phase ein.

Spielte sich in den früheren Filmen von Lynch – seien dies nun „Blue Velvet“, „Wild at Heart“ oder die wundervolle Serie „Twin Peaks“ – das Grauen und das Unheimliche innerhalb einer zwar überzeichneten, karikierten und sogar ein wenig verkitschten Welt ab, die jedoch mit der Lebenswelt relativ kompatibel erscheint und die sich noch mit den halbwegs realistischen Maßstäben jenes American Way of Life messen läßt, so sind jene in die Darstellung gebrachten Räume der späteren Lynch-Filme völlig andere. In rein realistischen Kategorien und in den Modellen einer herkömmlichen Lebenswelt fassen sich diese Räume nicht mehr, und in dieser brutalen, grotesken Innen-Außen-Welt knüpft Lynch wieder an seinen früheren Film „Eraserhead“ an. Es eröffnet sich eine Welt der Spiegelungen und des Spiels mit dem Bewußtsein, welches zu Ausfallerscheinungen und Interferenzen neigt: so in „Mulholland Drive“: hier seziert sich Hollywood in einer psychoanalytisch-semiotischen Weise selber, freilich nicht mehr in jenem noch stringenten Rhythmus wie das noch Wilders „Sunset Boulevard“ macht. (Auf eine eigentümliche Weise fällt aus dieser Weise der Komposition jedoch der fast anrührende Film aus dem Jahre 1998 „Eine wahre Geschichte – The Straight Story“ heraus, der ein ganz anderes Erzählmuster hat, wenngleich auch dort eine ungewöhnliche Reise das Thema ist.)

In „Blue Velvet“ und in „Twin Peaks“ bricht das Grauen und das Unheimliche unvermittelt ins Alltäglich ein, und das Alltäglich ist auch als ein solches Alltägliches der gewöhnlichen (amerikanischen) Lebenswelt gekennzeichnet. Wenn im Auftakt zu „Blue Velvet“ diese idyllische, amerikanische Vorstadt gezeigt wird, wo der Wagen mit den winkenden Feuerwehrmännern entlangfährt und die gepflegten, geputzten Vorgärten und die adretten Häuser wie am Spalier friedfertiger Kleinbürgerlichkeit sich aufreihen, wenn die Blumen in den Gärten sprießen und blühen, dann ist dies hübsch anzusehen, und der Betrachter ahnt zugleich, daß hier jeden Moment etwas anderes hervorbrechen wird, was als Schattenseite derselben Medaille sowie als Verdrängtes und Vergrabenes zutage tritt. Der plötzliche Tod durch einen Herzschlag, der den weißen Vorstadtmann beim Sprengen seines schönen Rasens befällt, mag noch dem Leben geschuldet sein; auch, daß der Gartenschlauch während dieses Todesaktes aus der Hand glitscht und Wasser umherspritzt. Dann aber geht die Fahrt der Kamera ins Innere, ins Gebüsch hinein und an die Erde heran und da wimmeln die Insekten, bilden eine Welt, die zwar organisiert und strukturiert, doch uns zugleich fremd ist. Aliens.

Das abgeschnittene Ohr dann, welches der unbedarft-träumerische Collegestudent Jeffrey Beaumont (gespielt von jenem großartigen Kyle MacLachlan, der in Twin Peaks den verschrobenen und zugleich super-coolen Special Agent Cooper vom FBI gibt) in einer Wiese aufliest, scheint da bereits auf Seltsameres zu deuten. Ebenso die Leiche der Laura Palmer, die der Fluß in den Tannenwäldern ans Land gespült hat und die der kauzige Pete Martell inmitten der Wald-Idylle findet – eingepackt in einen Plastiksack. Aber all dies geschieht inmitten einer scheinbar heilen Welt, irgendwo im Nordwesten der USA.

Twin Peaks ist, von außen betrachtet, eine amerikanische Kleinstadt in den Wäldern und Bergen, nahe der Grenze zu Kanada. Und doch wohnt in diesen Wäldern noch etwas anderes. Teils (und besonders ab der Folge 16) ragt das zwar an den Kitsch der Esoterik heran. Aber da Lynch mit diesen Momenten gekonnt spielt und die Story  unterhaltsam bleibt, stört das Wirre im Grunde nicht, sondern trägt zu dem Effekt bei, daß die Geschichte immer mehr in jene Innenräume gleitet. Schon die Auftaktmusik jeder einzelnen Folge hat etwas seltsam Anrührendes, weil diese Intro-Szenen auf ein Urvertrauen und ein Grundbedürfnis im Menschen anspielen, was zugleich in die Erschütterung gerät. Die gezeigte Natur ist nicht die wahre, schöne und unberührte Natur. Nichts ist so wie es scheint – was auch eines der Motive dieser Serie ist. Der Ort Twin Peaks stellt zugleich einen Mythos dar.

Nein, anders als Twin Peaks oder Blue Velvet, sind Lost Highway und Mulholland Drive aufgrund ihrer Zeitstruktur und einer Logik, die der des verwirrten psychischen Apparates oder eines Traumes gleicht, nicht unbedingt leicht nachzuerzählen, und wenn der Film zuende ist, dann wissen Betrachterin und Betrachter, sobald sie aus dem Kino schwanken, zunächst gar nicht mehr, was sie eigentlich gesehen haben und spüren doch, daß es gut war, was sie da sahen. Man kann das als Intensität fassen, die es dann gilt, mit Sprache einzuholen. Fast meinte man, sie stehen unter dem Schock. Und der Mann blickt im Jahre 1997 jene Frau an, die schaut ihn an, und beide steigen auf ihre Fahrräder, rauchen, obwohl der Mann nicht rauchen darf. Sie fahren in die Nacht und halten noch an einer Kneipe, schließen die Räder ab, trinken, sprechen, trinken. Rauchen. Und trinken und reden. Alkohol ist gut.

Ich reiße David Lynchs Ästhetik in diesem  Beitrag nur grob an, und es scheint mir irgendwann hier im Blog eine Darstellung seiner Filme schon lange fällig zu sein – spätestens wenn ich meine immer aufs neue und seit zehn Jahren aufgeschobene Serie zu den 10 oder 20 Filmen schreibe, die ich für sehenswert halte: aber das bleibt eine willkürliche Auswahl. Was bleibt übrig, als zu gratulieren und auf einen neuen Lynch-Film zu hoffen?

Lose Notizen zu The Big Lebowski – Die Tonspur zum Sonntag

Einer der schönsten 20 Filme auf meiner Liste der Gelungenen: The Big Lebowski (1998), von Ethan Coen und Joel Coen. Letzte Woche auf Arte zu sehen. Die Juden machen nicht nur effektive Waffen, um sich zu verteidigen, sondern einfach auch gute Kunst. Zum Weinen und zum Lachen schön ist dieser Film, der die Geschichte vom Dude erzählt und das, was er in den Weiten von Los Angeles zum Anfang der 1990er Jahre erlebte.

Wenn man freilich die Geschichte vom Dude schildern oder in eine Erzählung bringen will, ist es im Grunde kaum möglich, dies derart konsistent zu machen, daß das Erzählen dieser Story überzeugt und der Witz der Sache dem Außenstehenden irgendwie vermittelt wird und in der Beschreibung nicht verloren geht. Im Film aber gelingt das Erzählen, gleichsam performativ, gerät ästhetisch stimmig, auch wenn man sich hinterher nach dem Verlassen des Kinos fragte: „What the fuck geschah hier eigentlich und warum gucke ich mir diese seltsame Story über drei seltsame Bowler eigentlich an?“

Die Arten der Narration sind je nach Medium unterschiedlich. Im literarischen Erzählen oder gar in der Kunst der gelungenen Nacherzählung – auch eine Übungsrubrik für das Feuilleton, wo das Reproduzieren der Story (sprich: Inhaltsangabe) meist dröge gerät – muß man sich – trivialerwerise – anderer Möglichkeiten bedienen als im filmischen, um unterschiedliche Ebenen in einen (in diesem Falle geistreichen) Schwung zu bringen. Der Film kann das durch Musik, durch Einblendungen, Montagen, durch Mise en Scène und indem er verschiedener Ebenen über- oder ineinander legt: hier sei die Bowlingkugel für The Big Lebowski nur erwähnt oder indem da in der Anfangssequenz in Lonesome Cowboy-Manier das Steppengras als Tumbleweed durch die Stadt rollert und aus dem Off eine Stimme spricht, die die Erzählung von einem außergewöhnlichen Menschen ankündigt und einleitet.

Wobei sich diese „außergewöhnliche Begebenheit“ im Lauf der Story andererseits als ziemlich trivial erweist, gleichzeitig aber doch genügend abgedreht, um den Zuschauer zu packen – und genau dieses Spiel mit vermeintlicher Bedeutsamkeit macht bei The Big Lebowski den Witz. Es ist eine klassische Verwechslungskomödie: der eher arme, vom Arbeitslosengeld oder von sonstwas lebende Dude wird von Gangstern mit dem reichen Big Lebowski verwechselt und daraus resultieren die darauf folgenden Effekte und Verwicklungen im Stil einer Screwball Comedy.

Die Verdoppelungen im Witz beim literarischen Erzählen laufen anders – man denke nur an Jean Paul und dessen Digression und wenn im Ungewöhnlichen das Gewöhnliche, im Gewöhnlichen das Ungewohnte entdeckt wird, und in diesem Sinne zählt auch der Witz, wie Friedrich Schlegel schrieb, zur romantischen, progressiven Universalpoesie. Jean Paul kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, er schäumt vor Erzähllust über, Erzähler und Romanpersonal verdoppeln oder vertauschen sich, Vorworte werden weitere Vorworte mal nach-. mal vorangestellt, und man spottet in der Clavis Fichtiana über Fichtes sich setzendes und das andere Ich setzende Ich: eine Frage des Subjekts und nicht ohne Grund heißt dort wie auch in dem Roman „Siebenkäs“ eine Dopplerfigur Leibgeber. Die Frage nach dem Grund eben, und dahin kann man genauso über den Weg des Humors gelangen. In der Überspitzung liegt Wahrheit – das gilt für den Aphorismus und für die Kunst. Nur muß es eben gekonnt sein – da liegt die Crux, da liegt die Schwierigkeit.

The Big Lebowski leistet diese Digression auf andere Art. Voll von Meta, Meta, Meta: Metaebene eben und vor allem diese Art von Witz – der White Russian, die absurde Gangster-Geschichte samt Verwechselung, die Mischung aus Krimi, Komödie, Western-Einsprengseln, Film Noir und dessen Persiflage, die Stadt der Engel, Irakkrieg, Vietnamkrieg, US-Kleinbürger, eine Parodie auf die Westcoast-Kunstszene, böse Bullen und die Metaebene von US-Geschichte, Judentum, ein Nichtjude, der sich orthodoxer als die meisten weltlichen Juden gibt, die Westküste und ihre Riten – dies alles in der Art zu erzählen, auf eine Weise, daß es nicht verquast, als Quatsch und bemüht wirkt, wie wenn in Seminaren irgendwo in der Bundesrepublik manche Studenten und bis heute hin Schreiberlinge versuchen, den Poststrukturalismus nachzuahmen und Jargon zu reden: da wird die Metaebene und das Beziehungsreiche ungemein lästig, frei nach Gernhardt: „Mein Gott, ist das beziehungsreich, / ich glaub‘, ich übergeb‘ mich gleich.“ 

Hier aber, aber bei den Cohen-Brüdern kommt die Metaebene der cineastischen Verweise auf Taubenfüßen daher und das machen die Coen-Brüder ganz und gar großartig. Das  Gelingen des Films besteht darin, nicht bemüht sein zu wollen, sondern einem Ingenium zu folgen und das Mannigfaltige westlicher Kultur derart (und zudem noch mit Humor) in Szene zu setzen, daß diese Anordnung nicht überstrapaziert wirkt und trotzdem ist das Erzählte derart outriert und irre: es paßt, es ist ästhetisch stimmig. Wir lachen, wir hoffen sogar mit dem stinkefaulen Dude, der andauernd in Boxershorts herumläuft, von Gangstern bedroht wird, kifft und auf der Straße noch White Russian schlürft. Fortan war das Getränk Kult. 

Mit dem Witz ist es wie mit der Anmut: man hat sie oder es ist sinnlos und wirkt lächerlich oder bemüht, wenn man sie zu imitieren versucht. Kunst ahmt nach – aber eben nur bedingt sich selbst und wenn sie es tut, wird es komplex, schwierig, oft auch heikel. Kleist lieferte dafür – fast cineastisch schon – in einer Narration („erzählte ich“) ein schönes Bild und schilderte dieses Verhältnis von Anmut und Komik in seiner Schrift „Über das Marionettentheater“:

„Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Mann, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ohngefähr in seinem sechszehnten Jahre stehn, und nur ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken. Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue [der Dornauszieher, Hinw. Bersarin] ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch eine Entdeckung er gemacht habe. In der Tat hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister! Er errötete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehen lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst er war außerstande dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: –

Von diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine uns ichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte. Noch jetzt lebt jemand, der ein Zeuge jenes sonderbaren und unglücklichen Vorfalls war, und ihn, Wort für Wort, wie ich ihn erzählt, bestätigen könnte. –“

So auch in der Kunst:

„[D]as Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.“

Kunst ist der Weg und der Versuch solcher Reisen. Und wenn sie gelungen ist, mögen wir – zumindest für eine Zeit lang – einen Blick in jenes Arkanum, ins Adyton zu  erhaschen. Kunst ist der Versuch, jenes Unaussprechliche darstellbar zu machen. Freilich will ich hier keine Ausführungen zum Absoluten geben.  Es geht hier nur um einen sehr heiteren und bewegenden Film.

Das schöne an diesem Film: Man kann all diese cineastischen und kulturellen Verweise in The Big Lebowski wissen und genießen, aber man muß es nicht. Der Witz und die Geschwindigkeit des Films wirkt auch ohne die Kenntnis dieser Dinge. Und wer will, kann hinterher über all das nach dem Kinobesuch palavern und Szenen dekodieren. Ich gehöre, wie schon bei Arno Schmidt, nur bedingt solchen Dechiffriersyndikaten an, wenngleich zuweilen das Verrätseln samt dem Schlüssel dazu witzig sein kann und im Gespräch die Phantasie beflügelt. Dennoch sind Anspielungen eben nur ein Teil im Gesamt des Kunstwerks, für die ästhetische Stimmigkeit des Werkes, für sein Gemachtsein reichen solche Bezüge, gar als Selbstzweck gebraucht, nicht hin. Wenn sie technisch nicht gut sind und wenn man die Absicht zu leicht durchschaut, ist der Betrachter verstimmt. Es verhält sich ähnlich wie beim engagierten Kunstwerk: da schreiben wir heute mal einen Roman zum Thema Gentrifizierung oder zu irgendeinem anderen Thema, das gerade angesagt ist, und dann bekommt das Ding bestimmt auch noch einen Preis. „Mein Gott, ist das beziehungsreich, / ich glaub‘, ich übergeb‘ mich gleich.“

Die Aktualität und die Politik der Kunst bemißt sich nicht an ihrem unmittelbaren Engagement und daß sie direkt Partei nimmt, uns irgendwelche rührenden oder bösen Geschichten erzählt, die mit dem Zeigefinger kommen und sich als Gewissen gerieren, sondern darin, daß da eine Geschichte gut und in avancierter Form auf kluge Weise erzählt wird. Im Zweifelsfall ist mit Aussparen mehr getan als mit einem Zuviel. Machen und nicht proklamieren. 

The Big Lebowski hat bei all dem nichts Verklemmtes oder Verdruckstes, nichts Gewolltes. Anspielungen laufen wie von selbst, der Fluß und die Schnelle der Story tragen sie. Diese Leichtigkeit gefällt mir gut. Leider schien es, daß in der Gemeinde der Cineasten damals 1998 die Cohen-Brüder neben der Brachial-Referentialität eines Quentin Tarantino zuweilen ein wenig zu kurz kamen. Es ist Kunst, es ist große Kunst, dieses Kino der Gebrüder Cohen. Und dazu, zum Ende hin diese wunderbare Musik von Townes Van Zandt. Mit oder ohne White Russian. Für den kulturkritischen Fiesling lieber ein kalter Riesling.

(In unregelmäßigen Abständen also mache ich hier ein paar Essays und Geschichten übers Kino und zu jenen legendären Filmen, die mich bewegen: Blow Up etwa, Sein oder Nichtsein von Ernst Lubitsch, Die freudlose Gasse von Georg Wilhelm Pabst, Zabriski Point als Explosion der Bilder. Eine Serie, womöglich regelmäßig erscheinend, will ich daraus lieber nicht machen. Dafür sind hier noch zu viel Serien unvollendet. Z.B. jene über jene drei Bücher, die mein Lesen wie mein Denken prägten, wovon erst Teil 1 erschien, was mich daran erinnert, sofern es die Zeit bei mir zuläßt, mit den Teilen 2 und 3 fortzufahren. Nun aber zurück zu Film und zu Musik: ein schönes, wunderschönes feines Stück, um den Sonntag einzuleiten und nächtens mit einem Drink in der Hand auf der Terrasse in den Abendhimmel nach Westen zu blicken.)

 

 

„Stop! In the Name of Love“ – Zum Ende von Game of Thrones

„Nichts auf der Welt ist mächtiger als eine gute Geschichte.
Nichts kann sie aufhalten, kein Feind vermag sie zu besiegen.“ (Tyrion Lennister)

Es war bewegend, es war aufregend, es war eine herrliche Zeit. Spannung immer wieder, und mit jeder Folge steigerte sie sich, geniale Cliffhänger, Wendungen, Volten, Exzesse. Über Monate, über Jahre. Eine der erfolgreichsten und spannendsten TV-Serien ging am Montag zu Ende. Seit 2011: Acht Staffeln, fast 80 Stunden Aktion, Intrige, Verrat, Liebe und Blut. Herrlich erzählte Geschichten und Handlungsstränge, anfangs oft verwirrend die vielen Personen, aber dranzubleiben lohnte. Ein Spiel aus Betrachtungslust und Decodierungen: War das nicht gerade eine Anspielung auf Florenz, auf die Ponte Vecchio? Ist das Lennister-Wappen neben einer Venedig-Assoziation nicht auch der Löwe von England und sieht nicht überhaupt der Kontinent Westeros von seiner Gestalt her aus wie England? Europäische Geschichte, Indien und die Steppen des Ostens. Die Statue im Hafen von Braavos: Ganz klar eine Anspielung auf den Koloß von Rhodos, nur deutlich wehrhafter und massiver. In Braavos schützen nicht nur die Götter vor Angreifern, sondern auch die Menschen selbst erwehren sich.

Man kann ein Decodierspiel an diese Serie knüpfen und Referenzen, Bezüge, Zitate entziffern. Auch das macht Spaß. Aber nur deshalb schauen wir „Game of Thrones“ nicht. Wir wollen eine Erzählung, die trägt, wir wollen Intrigen, wir wollen vielleicht sogar unseren Lieblingscharakter scheitern sehen. „Game of Thrones“ bot vieles: List, Klugheit, Böses, Schönheit, Gewalt, Sex, nackte Körper: ja es gab dort manche Lustszene und am Besuch in Bordellen wurde nicht gespart. Schöne Brüste, Schwänze und Muschis. Wir sahen die Kunst der Politik und die Kunst des Verrats: wer von uns war nicht von Kleinfingers Geheimdienstarbeit irgendwie doch fasziniert, wenn er geschickt neue Intrigen am Königshof einfädelte oder einfach die Seiten wechselte, sich bei Sansa Stark einschmeichelte, die am Ende sein Doppelspiel durchschaute und dieses Ränkespiel beendete. Und auch das radikal Böse, der Sadist Ramsay Boldon, faszinierte in seiner perfiden Art Menschen zu Sklaven zu degradieren, sie auf das Niveau eines Hundes herabzubiegen. Und meinen beiden Lieblingsfiguren, die mich von der ersten Folge ab faszinierten und die ich lieb gewann: Arya Stark, die Tochter von Ned Stark, dem Lord von Winterfell und Wächter des Nordens, sowie Tyrion Lennister, der kluge und witzige Zwerg: „Ich trinke und weiß Dinge“. Ein Spruch, der es auf T-Shirts schaffte. Überhaupt wurde in dieser Serie und insbesondere bei den Lennisters Unmengen an Wein getrunken. Was Sex, Drogen und Lust betrifft dürfte diese Serie der evangelikalen Linken sauer aufstoßen, was mich wiederum an die Sekte des Hohen Spatzen in jener Serie erinnert. Aber zu der komme ich weiter unten.

Spät bin ich zu „Game of Thrones“ zugestoßen. Eigentlich erst ab dem Start der achten Staffel, Mitte April. Und von Ostern ab bis Anfang Mai sah ich in einer Tour de Force sämtliche Folgen aus allen sieben Staffeln und bin seit drei Wochen auf dem aktuellen Stand. Es war dieses Schauen wie ein Rausch, geniale Geschichten, überraschende Wendungen, und es war keine Sekunde davon langweilig. Ja, solche Serien sieht man auch identifizierend, und zugleich eben, das ist ja die Stärke des Reflektierens, denkt man über diese Mechanismen nach – spätestens dann, wenn einem der vermeintliche Lieblingscharakter umkippt oder Züge entwickelt, die immer unangenehmer werden. Bis auf Jon Schnee, den heimlichen Helden, der in seinem Handeln durch alle acht Staffel eigentlich zu den grundguten Charakteren gehört – bis auf seinem Verrat an der herrlichen, der liebenden und wunderschönen Ygritte vom freien Volk. Eine Liebe, die nicht hatte sollen sein.

Anfangs, als ich von „Game of Thrones“ hörte und man mir vorschwärmte, war ich skeptisch. Ich bin kein Serienfan, schon gar nicht, wenn die Serie ein derartiges Ausmaß hat. Eine Freundin wollte mich 2017 immer wieder überreden, ebenfalls mit „Game of Thrones“ anzufangen. Sie schwärmte von Schlachten und von Drachen, von Kriegervölkern, daß ich mich wunderte, denn mit ihr konnte man eigentlich keinen Western, keinen Kriegsfilm sehen, ohne daß sie sich die Augen zuhielt, weil sie Blut nicht mochte und schon gar keine Schlachtexzesse. Wenn ich ihr vorschwärmte, wie wir 1969 in der Festung von Nha Trang den Vietcong abwehrten und wie wir im Bell uh 1 Iroquois luftlandeten, verschloß sie schnell ihre Ohren. Meine alten Frontgeschichten aus der US-Army wollte sie nicht und ebensowenig meine seltsamen Filme. „Apokalypse Now“ brauchte ich ihr niemals vorzuschlagen. Hier aber, bei „Game of Thrones“ war es anders.

Analysen und Interpretationen zu dieser genialen Serie, die wohl ein Meilenstein im TV-Programm sein wird, gibt es viele. Aber was war es, das mich faszinierte? Warum blieb ich am Ball? Es waren vor allem die Bilder, diese Kameraführung samt der daran knüpfenden Bildästhetik: wenn da die Lenneisterarmee oder die Untoten des Nachtkönigs aufmarschierten, das Dunkel der Wälder oder wenn in ihrem ersten Auftritt die Drachen wie aus dem Nichts böse Angreifer vernichteten. Und man muß sich diese Winterbilder vorstellen, die Kälteszenen und wie oft in diesen Folgen der Schnee fiel.

Der Funke sprang bereits nach den ersten zwanzig Minuten zusehen über, als da eine Patrouille der Nachtwache, von der große Mauer her aufbrach – jene Mauer aus Eis und Schnee, die die Zivilisation vom wilden, unzugänglichen Norden trennt. Bei ihrem Gang durch die Wildnis stießen sie auf Seltsames. Das Dunkel des nordischen Waldes, der Schnee und der Zombie-Schock dann. Vor allem faszinierte mich dieses Auftakt-Szenario, weil es spannend bis ins Mark gemacht war, ohne billigen Zombie-Kitsch zu produzieren oder ein Genre zu persiflieren. Ins vermeintlich Normale einer mittelalterlichen Welt brach das Anderes, brach ein Außen ein, das nichts Menschliches mehr in sich hatte und wogegen all die Kriege und der Zank der Menschen untereinander, in Westeros und auf dem östlichen Kontinent Essos, klein wirkten.

Aber auch Kleines kann sich zu Großem und zu entsetzlichem Krieg aufsteigern: das eben zeigte diese Serie. Es ist die Gewalt der Geschichte. Man sollte parallel zum „Game of Thrones“ Tamás Miklósʼ geschichtsphilosophische Studie „Der kalte Dämon“ lesen. Es paßt schon vom Titel her und auch in bezug auf den darin dargestellten Walter Benjamin und sein theologisch-materialistisch-geschichtsphilosophisches Bild von jenem seltsamen Engel der Geschichte, den ein Sturm in die Zukunft treibt. Der sich perpetuierende Kreislauf unendlicher Gewalt, noch im Paradies, bei den ersten Menschen, wo in GoT bereits die finstere Macht des Nachtkönigs sich Bahn brach. Die Macht der Liebe siegt in dieser Serie nicht – oder zumindest nur als Spiel in Gedanken. Weil wir alle, auch die Charaktere der Serie, sofern sie nicht grundböse sind, von ihr wissen. Insbesondere der weise und oft listenreiche Lord Varys und Tyrion.

Die Art wie „Game of Thrones“ filmästhetisch genommen Schlachten darstellte, war verstörend. Und neu. Bilder, die den Schrecken zeigen und die in aller Grausamkeit nichts ästhetisieren oder zukleistern – und trotzdem waren diese Bilder in ihrer Art schön. Schön in einem ästhetisch erweiterten Sinne: nämlich als in sich stringent gefaßt. Genau deshalb waren es die richtigen Bilder: sie waren brutal, sie bluteten gleichermaßen. All das Heldentum vom Kampf Mann gegen Mann verblasste bei der Schlacht der Bastarde zum Ende der sechsten Staffel: Da schaute die Kamera plötzlich aus der Sicht des Kämpfers, der – überlebend – unter den Leichenbergen lag, und wie er sich zwischen totem Gebein und Blut-Rüstungen wieder an die Oberfläche scharrte. Dunkel, wie lebendig begraben und dann etwas Licht und der Blick aus dem Tod, in den Tod. Oder die Endschlacht um Königsmund in der letzten Staffel: sie erinnerte an die Bombardierung von Städten im Krieg, an Feuersbrunst und man sah jene, die nichts für diesen Krieg konnten und die dennoch verbrannten. Alles retten, rennen, flüchten half nichts.

Es waren die Schlachten, es waren die Körper, die die Kamera einfing, die mich faszinierten, und für mich freilich auch die herrlichen Brüste der Khaleesi, Daenerys Targaryen, die Mutter der Drachen: wie sie da in der ersten Staffel dem Feuer entstieg. Nach dem Tod ihres Mannes, des wilden Steppenreiters Khal Drogo, baute man für ihn den Scheiterhaufen und die Khaleesi schreitet zusammen mit ihren drei Dracheneiern in die Flammen, um mit ihrem geliebten Mann zu sterben. Doch am nächsten Morgen, unversehrt und mit drei Drachenkindern im Arm, entsteigt die Khaleesi nackt dem Feuer. Ein göttliches Bild, ein eindringliches Bild. Und trotzdem Daenerys Targaryen immer wieder dem Tod nahe ist, hält sie durch, bis zur letzten Folge, auch wenn es das eine oder das andere Mal für sie brenzlig ausschaut. Am Ende der siebten Staffel gar schien ihr nichts mehr zu bleiben: einer ihrer Drachen tot, Ser Jorah Mormont, der gute, treue Vertraute, der sie über alles liebte, auf dem Schlachtfeld im Kampf gegen den Nachtkönig gefallen. Sie aber konnte ihn nicht lieben. Auch wieder eine dieser Szenen des Scheiterns.

Allerdings: all die Sympathie, die man Daenerys Targaryen im Lauf der Serie, bis zum Ende der siebten entgegenbringt, weil sie für eine menschlichere Welt einzutreten scheint, ohne Sklaven, ohne den Zwang, der auf den Menschen lastet, schwinden in der letzten Staffel. Auch wieder einer dieser genialen Umschlagpunkte, wo gekonnt mit den Emotionen der Zuschauer gespielt wird, die sich an eine liebgewonnene starke Frauengestalt gewöhnt hatten.

Und überhaupt all die starken Frauen in dieser Serie. Sie sind ein Thema für sich, angefangen bei der wunderbaren Arya Stark, die sich an all jenen rächt, die ihre Familie verrieten, oder die so hübsche wie grausame Cercei Lennister oder die tapfere und gerechte Brienne von Tarth. Kennen wir Frauen in herkömmlichen Ritter- und Kriegsfilmen als Beiwerk, so sind sie hier genauso wild, genauso sanft, genauso frech wie es die Männer sind.

Bei Daenerys jedoch ist es der Fluch der guten Tat. Das Rad ein für allemal zu brechen, so Daenerys; jenes Rad der Geschichte und der Gewalt, des Mordens und Schlachtens, das Rad des Ixion, an das wir in der Gewaltwiederholung, wo sich der Zwang perpetuiert, gefesselt sind. Wer aber das Gute will, schuf häufig am Ende doch das Böse und brachte den Tod über die Menschen. Aus der Erlösung, aus dem Schein der schönen Utopie wurde der Irrsinn, eine Idee von Befreiung, die sich in Zwang verkehrt. Daß da ein Wahnsinn in Daenerys wohnt, deutet sich bereits in manchen Zeichen an. In sämtlichen Staffeln. Immer einmal wieder. Der kluge und brave Lord Varys ahnte es zum Ende hin und mußte sterben. Am Ende einer langen Reise, die wir Zuschauer zusammen mit Daenerys und ihren drei Drachen taten, nachdem sie sich als die Sprengerin der Sklavenketten erweis und die Städte des Ostens von Unterdrückung befreite, hinterließ sie zum Abspann zwar nicht Sodom, aber doch die Operation Gomorrah. Köngsmund, dort, wo der Eiserne Thron steht, auf dem der König über die sieben Königslande herrscht, lag in Asche.

„Dracarys!“ hieß es da aus Daenerys Mund und das war, nachdem Königsmund schon kapituliert hatte, der Befehl für den Drachen, jene Stadt ins Feuer zu legen, den Ascheregen zu bringen, der am Ende in Schnee übergeht. Fire walk with me! Beeindruckend, erschreckend und reduziert im guten Sinne, jene Folge 5 der Staffel 8. Eine nicht enden wollende Apokalypse vom Himmel her. Fast eine Stunde lang, so kam es mir vor, den Menschen damals unter den Trümmern muß es wie die Ewigkeit erschienen sein. So sehen also zerstörte und verbrannte Städte aus, Trümmer, die vom Himmel regnen, Feuer, das von irgendwoher fließt – damit wir es einmal wieder wissen beim Klagen einiger Enttäuschter über jene 5. Folge, die angeblich unangemessen sei. Nicht nur Hamburg, Bagdad, Dresden („Nun Volk steh auf und Sturm brich los!“), Warschau, Coventry, Rotterdam, Hiroshima, Hanoi, Operation Rolling Thunder. Zurück blieb ein schreckliches Grauen. Verstörende Bilder.

Und ebenso die Kriegsrede der Khaleesi nach jener großen Schlacht, die sie vor ihrer Armee aus den Dhotraki-Reitern und der Armee der Unbefleckten hält, wo sie zu einer Art Kreuzzug gegen die Unterdrückung und für die Freiheit aufruft. Aber nicht etwa in der Sprache von Westeros, um die Menschen dort zu gewinnen, sondern in ihrer eigenen. Daenerys Targaryen ist ein Eroberer. Wie andere auch. Semantisch offen bleibt, ob in ihrer Rede jene Freiheitsutopien eines Stalin oder eines ehemaligen Ölunternehmers namens Georg W. Bush jr. karikiert werden sollten. Der bessere, der neue Mensch jedoch wird niemals mit dem Schwert und mit der Gewalt über die Menschheit gebracht werden. (Zur Dialektik der Gewalt ließe sich über GoT eine eigenständige Abhandlung schreiben.)

An der 8. Staffel gab es einige Kritik: Zu wenige Folgen, nur sechs diesmal, ein zu schnelles Abspulen der Geschichte, zu rasch wurden die Charaktere durch die Folgen geschleust. Richtig ist, daß filmisch und im Erzählen das Tempo erhöht wurde. Aber da inzwischen alle Figuren weitgehend entwickelt sind, bedarf es der epischen Entfaltung, wie man sie anfangs in genialer und schöner Weise noch sah, nicht weiter. Die Ausführlichkeit der Schilderung lag diesmal beim Grauen und beim Schrecken im Showdown. Zu Recht. Auch filmisch gut gelöst: die Sicht aus dem Staub der Trümmer. Pathetisch und doch gut gespielt der Schluß mit Cersei und Jaime. Brüderchen und Schwesterchen, die sich so sehr liebten und im Tod zumindest wieder zusammenfanden. Auch ästhetisch ein schönes Bild, wie beide dort in den Steinen lagen und wie ihr Bruder Tyrion sie ausgrub und weinte. Allenfalls hätte man sich für den langsam sich entwickelnden Wahnsinn von Daenerys mehr Erzählzeit nehmen können.

Das Ende aber kommt, wie es kommen mußte: der eigentliche Held der Serie, Jon Schnee, muß seine geliebte Daenerys in den Ruinen von Königsmund töten. Dramatische Bilder in einer Todeslandschaft aus Stein und Rauch. Blut, das aus dem Herzen der Königin fließt und die blasse, schöne, bleiche Haut der Khaleesi im Schnee. So endet es, so endet eine Geschichte. Als Feuersturm im Ascheregen.

Ein Dialog zwischen Tyrion Lennister, dem wunderbaren, am Anfang zynischen und zum Ende hin immer weiser werdenden Zwerg, und Jon Schnee, dem offensichtlichen und immer guten Helden, wirft Licht. Er ging so:

Tyrion: Liebe ist viel mächtiger als die Vernunft!

Jon: Liebe ist der Tod der Pflicht!

Tyrion:  „Habt ihr euch das gerade ausgedacht?“

Lustig ist dies, weil der erste Satz eben auch ein Zitat der heiligen Teresa von Ávila war.

Jon Schnee, der eigentlich ein Targaryen und der rechtmäßige Erbe des Eisernen Throns wäre, tat diese Pflicht – zweimal sogar – und büßte sie (zweimal) mit dem Verlust der Liebe.

Ja, es sind all diese liebevollen Details in den einzelnen Szenen, die „Game of Thrones“ so großartig machen. Eine stringent erzählte Geschichte, bis in die Nebenfiguren hinein, und vor allem dieses Phänomen des Charakterwandels, das an „Game of Thrones“ gefällt: Wer eben noch böse erschien, wie Jamie Lennister, der änderte sich. Man mochte ihn plötzlich. Wenn der Zuschauer dessen Schwester und Geliebte Cercei für ihre durchtriebene Bosheit und ihre Machtgier haßte, wenn sie ihre Kinder oder sich selbst auf den Eisernen Thron zu bringen gedachte, so bekam man, als sie Gefangene jener Sekte des Hohen Spatzen wurde, doch Mitleid mit ihr, als sie diese Leute mit Bußübungen und Bekenntnisritualen traktierten. Religiöse Fanatiker, an Calvinisten, Bilderstürmer und Bettelmönche erinnernd, die rein dem Gott dienen wollten. Von Cercei Lennister ins Leben gerufen, und in ihrem Büß- und Sühnestolz versah der Hohe Spatz die Abweichenden und vermeintlich Sündigen, mithin alle andere Menschen, mit Daueranklagen. Es erinnerte diese Gruppierung fatal an bestimmte postkoloniale, intersektionale Linke. Evangelikales Milieu.

Vor allem aber fand diese herrliche Serie ein würdiges, ein schönes und ein kongeniales Ende. Das eben ist vielleicht die größte Schwierigkeit: Nach derartig hohen Erwartungen einen angemessenen Abschluß hinzubekommen. Sehr gut gemacht, auch angesichts dessen, daß man in der vierten Folge von Staffel acht noch dachte „Wie geht es weiter, wie in so kurzer Zeit all die Geschichten auflösen?“ Den Machern glückte dies. Und das Finale besitzt ebenfalls einen gewissen Humor, etwa wenn der einstmals analphabetische Zwiebelritter korrigiert, daß es nicht „kein“ sondern „niemand“ heißt. Es ist ein feiner Schlußpunkt, wie die Berater des neuen Königs Bran, ohne sentimental zu greinen oder unbezüglich zu witzelen, ihre Derniere geben. Ein Abschied mit einem gewissen Witz. Und für den ist immer gesorgt, solange Tyrion dabei ist.

„Ich bin der Schild, der die Reiche der Menschen schützt“. So hieß der Eid der Nachtwache, den Jon Schnee in der ersten Staffel leistete und wohin man ihn als unehelichen Sohn, als Bastard also verbrachte, um die sieben Königreiche vor dem freien Volk und auch jenen weißen Wanderern zu schützen. Am Ende der Serie landet Jon genau da, wo er begann und wo auch die Serie anfing, nämlich in der Verbannung bei der Nachtwache, und es enden die Bilder, wo sie begannen, in jenen düsteren Waldszenen: diesmal wenn Jon mit dem freien Volk von der großen Mauer her in die Wildnis des Nordens hinein zieht. Schnee, immerwährender Schnee. So wie zum Beginn der ersten Staffel eine Patrouille der Nachtwache hinauszieht. Es ist eine wunderbare, eine schöne und melancholische Verlorenheit, die da in den beiden Charakteren Jon Schnee und auch in Arya Stark liegt. Das Mädchen Arya, das sie am Anfang der ersten Staffel noch war, ist inzwischen eine junge Frau. Doch um in der normalen Welt von Westeros bleiben zu können,  gar an der Seite ihrer Schwester, um den Norden zu regieren, hat sie in ihrem kleinen Leben bereits zu viel Schrecken gesehen. Nämlich, wie ihre Familie, wie ihr geliebter Vater ermordet wurde. Ein Mädchen hat keinen Namen. Am Ende dieser wunderbaren Serie, mit ihren liebevollen Charakteren, sehen wir sie, wie auch Jon Schnee in jene unbekannte Welt aufbrechen. Ein trauriges, ein schönes, aber vor allem ein würdiges und angemessenes Ende einer meisterhaften Serie.

 

 

 

„Game oft Thrones“ – Die neue Staffel acht

„Ich bin Daenerys Sturmtochter vom Blut des alten Valyria, und ich nehme mir, was mein ist! Mit Feuer und mit Blut werde ich es mir holen!“ (Daenerys Targaryen)

Nun kommt sie also: Die endgültige, die letzte Staffel von „Game of Thrones“. Es wird sich zeigen, wer den Eisernen Thron besteigt. Es werden bereits Wetten angenommen.

Spät erst bin ich in diese Serie eingestiegen, nämlich vor einer Woche und eigentlich nur angefixt durch die Auflösung all der Verwicklungen von Macht, Liebe und Krieg, die sich in der letzten Staffel ergeben wird. Doch ich bin zu spät. Insofern ist mein Unterfangen, für die achte Staffel up to date zu sein, nicht realisierbar. Ich hätte die letzte Woche über 70 Stunden hintereinander „Game of Thrones“ schauen müssen – selbst für einen hartgesottenen Fan nicht ganz einfach.

Woher kommt es, daß mich diese Serie sofort ansprang? Ich komme nicht aus dem Bereich des Fantasy, ich bin nicht von der Serien-Sucht befallen. Aber bereits nach den ersten 20 Minuten war ich begeistert und wurde mit dem Voranschreiten der Serie immer euphorischer, ob der Geschichte und der Bilder. Man möchte sich da gleich mit ins Getümmel stürzen. Wieso? Da ist im Auftakt diese Bildästhetik: der dunkle Wald mit dem Schnee, grau in grau gezeichnet, zwischen den Bäumen dämmert es: da im Norden diesseits des großen Walls aus Eis geht eine Wächter-Patrouille. Und was die dort sieht, ist nicht besonders erfreulich. Ja, es ist sogar schrecklich, einer überlebt und desertiert aus lauter Angst heraus. Und überlebt deshalb nicht, sondern wird vom Fürsten Ed Stark geköpft. Schnell begreift der Zuschauer: Es wird blutig werden. There will be blood.

Es sind solche Details, die den Betrachter in die Serie einführen und Lust erzeugen. Spannend erzählt und gefilmt, wie die Patrouille dort im Schneewald schreitet. Mit solchen – aufregenden – Anfängen eröffnet man ein Szenario, denn es geht in einer Serie schließlich (auch) darum, Zuschauer zu gewinnen. Und wenn es gut gemacht ist, bedeutet dies eine hohe Handwerkskunst – in den ersten beiden Staffeln übrigens ohne großen technischen Schnickschnack, alles pur und einfach gedreht und dennoch spürt man in keiner Minute, daß es sich hier um schlechten Billigtrash handelt. Lieber eine (zunächst) kleine, feine und handwerklich gut gebaute Serie, anfangs mit wenigen Mitteln produziert, als etwa mit viel Budget so etwas wie das technisch hochgerüstete „Babylon Berlin“ auf den Markt geworfen, das in den ersten vier Folgen verheißungsvoll anfing, um dann stark nachzulassen. (Allerdings immer noch besser, als schwach anfangen und stark nachlassen.)

Aber solche filmische Stimmigkeit und eine Atmosphere noir mit Eis, Schnee und teutonischem, herrlichem Wald, daß man sich mal wie im Märchen mit Wölfen und mal wie in Hobbits Auenland fühlt: das allein reicht nicht aus, es muß auch die erzählte Geschichte stimmen, die Figuren müssen in sich schlüssig gezeichnet sein und dabei doch genügend Spiel bieten, auch den Charakter wechseln zu können. Und das geschieht in „Game of Thrones“ häufig. Man ist vor Überraschungen nicht sicher, jeder kann prinzipiell alles sein, der Zuschauer soll sich niemals auf seinen ersten Eindruck verlassen: Gute werden Böse, Böse gut. Wer einem als Charakter zunächst freundlich gegenübertritt, kann später als ein ausgemachter Erzschurke sich erweisen. Oder umgekehrt. Dieses Changieren trägt viel zur Spannung des Films bei.

Und ebenso macht die Musik ihren Teil aus. Etwa die von Ramin Djawadi komponierte Titelmelodie der „Games“. (Deren Ähnlichkeit zu der Serie „Westworld“ sticht – sozusagen – ins Ohr, aber selbst das ist weder für „Westworld“ noch für „Game of Thrones“ störend.)  Auch diese Musik trägt zur Atmosphäre von der Serie bei. Besonders ist dabei auf die unterschiedlichen Musikstücke im Abspann zu achten. Hier gefiel mir vor allem dieser fröhliche Punk-Song zum Ende der dritten Folge der dritten Staffel: „The Bear and the Maiden fair“ von der Indie-Band „The Hold Steady“. Solche kleinen, witzigen Details machen „Game of Thrones“ liebenswert.

Aber nicht nur das: es wird wie im griechischen Epos – nur deutlich verschlungener, mit vielen Göttern und Gestalten – eine komplexe Geschichte von Menschen und Macht erzählt. Von den Charakteren übertrifft dieses Menschengewimmel die Komplexität eins Romans von Tolstoi oder Dostojewski bei weitem. Aber trotz der Vielzahl an Figuren und Bezügen wird es bei ein wenig Kontinuität im Sehen eigentlich nie unübersichtlich.

Von den Spielen der Macht her, fühlt man sich an Shakespeares Königsdramen erinnert, an die Rosenkriege zwischen den Häusern York und Lancester, und, was das Ränkespiel samt Mord und Magie betrifft, an Shakespeares „MacBeth“. Mystisches wird in „Game of Thrones“ ebenfalls bedeutsam. Epische Konflikte, in die tiefe Vorzeit reichend. Auch staatspolitisch ist „Game of Thrones“ fast schon ein Lehrstück – nicht nur über jene Außengrenzen, über die immer auch eine andere Welt einbrechen kann, sondern auch über Könige, Feudalherren, Warlords und die Welt des Mittelalters, in der die Winter und die Sommer über mehrere Jahre dauern können.

Böse könnte man zu solcher Art von Serien sagen, die Produkte der Kulturindustrie machen Werke der Kultur fungibel. Herabgesunkenes Bildungsgut. Und sogar das bereits der Tradition entstammende herabgesunkene Bildungsgut wie der Grusel- und Zombiefilm findet hier noch ihren Anschluß. Aber solche Ideologiekritik wird einer fein gearbeiteten Serie wie „Game of Thrones“ nicht gerecht, verkennt sie doch die komplexe Bauart samt dem erzählerischen Moment. Ebenfalls trifft der Vorwurf, daß hier bloße Technik und Kunsthandwerk zum Fetisch wird, die Sache nicht. Solche Kritik verfehlt die epische Qualität, die eine ganz eigene Sache und von eigener Qualität ist. Sie ist zu betrachten, und damit kommen solche Serien (teils) in den Rang des Gesellschaftsromans des 19. Jahrhunderts. Was Game of Thrones zusammenbringt – ähnlich übrigens, wie die großartige HBO-Serie „Westworld“ (über die hier ebenfalls noch geschrieben werden soll) – sind Emotionen und Reflexionen. Sinnlichkeit und Verstand. Philosophische Fragen, die sich in Geschichten und Figuren einkleiden. Besonders bei „Westworld“: Hochaktuell die Frage, was eigentlich Leben, Bewußtsein und Emotionen bedeuten; wem wir diese zusprechen wollen und wem nicht.

„Game of Thrones“ ist in diesem Sinne einer mehrfachen Lust an der Reflexion und an Emotionen großartiges Kino: Liebe, Verrat, Treue, Tragik und der Wechsel der Tonart und der Charaktere. Dazu gesellen sich all die schönen Frauen, die herrlichen Brüste, das Blut, das wir gerne vom Degen lecken, das Schwert, die Spannung. Ja, wie im Leben. Nur nicht ganz so langweilig. Das ganze zudem in sich schlüssig und spannend erzählt. Gegen Ende der zweiten Staffel, wenn Stannis Baratheon Königsmund mit Schiffen und Armeen angreift, fiebert man sogar schon mit den ganz und gar unsympathischen Lennisters, die den eisernen Thron an sich gerissen haben. Einziger Lichtblick bei den Lennisters (zumindest bis zur Mitte der dritten Staffel) ist der im ganzen doch humane Tyrion, der Zwerg und Außenseiter der Familie: der mit den zynischen Sprüchen, dem Witz, dem Scharfsinn und dem Geist und vor allem seiner Lust zu leben – auch was die Weiber betrifft. Schon das werden ihm die Puritaner nicht nachsehen. Man fühlt sich vielfach ans heute erinnert. Nur daß wir in der Gegenwart identitätspolitisch säkulare Calvinisten am Start haben, deren neue Religion die des Jammeropfers ist. Da lobe ich mir die Erotik, das Kopulieren, welches die Lust des Voyeurs ist, die große Tragik von Macht und Leben, jener Widerstreit zwischen Pflicht und Gefühl, das Drachenfeuer, und vor allem als Höhepunkt die Mutter der Drachen, Daenerys Targaryen.  Nackt ersteigt sie aus dem Feuer, nachdem sie sich mit ihrem Mann, dem Barbaren Khal Drogo, dem Fürst der Dothraki, hat verbrennen lassen. Da steht sie: im Anblick ihrer herrlichen Brüste und ihre Stärke. (Aber ich kann auch Frauen trösten: es gibt ebenso die schönen Körper von Männern und Schwänze zu sehen. In Game of Thrones wird mit Geschlechtsteilen nicht gespart.) Ja, es ist dies vor allem auch eine Serie der starken Frauen, die nicht einfach nur auf ihren Körper oder ihre Schönheit reduziert werden.

Aber auch Dialogwitz kennzeichnet diese Serie: Als die Prinzessin und spätere Mutter der Drachen, jene herrliche Daenerys Targaryen, deren Fan vermutlich die meisten Serienschauer sind, beim Khal Drogo für eine Wohltat sich bedanken will und da sie deren Sprache noch nicht beherrscht, den Dolmetscher fragt, was „Danke“ auf Dothrakisch heißt, bekommt sie zur Antwort, daß die Dothraki kein Wort für „Danke“ haben. Wegen solcher und vieler anderer Bonmots und wegen des Wortwitzes in den Dialogen, insbesondere auch zwischen der jungen erotischen Wildlingsfrau und Jon Schnee, liebe ich diese Serie. Jedes einzelne Element für sich freilich reicht nicht hin, um eine Serie gut zu machen: geschliffene Dialoge bei künstlich-öden Bildern machen keine spannende Serie, gute Bilder, aber schlaff gezeichnete Charaktere ebenfalls nicht. Erst wenn Bilder, Einstellungen, Ton, Musik, Dialoge, Plot, Charaktere, Technik, Schnitt und Montage in einer guten Konstellation zusammentreten, kann es gelingen. Bei der Einstellungsgröße etwa, bis hin zur italienischen Einstellung, wo nur noch das Auge des schwer verwundeten Tyrion Lennister zu sehen ist oder in einer anderen Szene die Klaffung einer Wunder gezeigt wird. All das ist technisch wie erzählerisch sauber gearbeitet: ästhetisch Stimmig eben. Bei Game of Thrones passen all diese Aspekte zusammen und insofern reicht diese Serie über die bloße Unterhaltung weit hinaus. Vor allem herrscht dort eine Leidenschaft in einzelnen Szenen, daß einen dies fast physisch anspringt. Etwa als die herrliche Daenerys Targaryen die Armee der 8000 Sklavenkrieger (jene „Unbefleckten) übernimmt, dann alle Sklavenhalter tötet und den sadistischen Stadtherren vom Drachen verbrennen läßt. Die Armee ist nun frei. Und noch besser als Sklaven dienen Freie, die um die einstige Sklaverei noch wissen. Dialektik der Macht, die diese Serie immer wieder in kleinen Szenen ausspielt.

In diesem Sinne bin ich von den ersten drei Staffeln, die ich bisher sah, angetan. Das gute daran, derartig weit noch in den Folgen zurück  zu sein, ist der Umstand, daß ich all das Schöne, Spannende, Grausame, all die Geschicke von Tyrion Lennister, Arya Stark, Daenerys Targaryen, Jamie Lennister, Jon Schnee, der königlichen Hofbeamten Lord Petyr Baelish (genannt Kleinfinger) und Lord Varys noch vor mir zu haben und gesagt werden muß, daß ich ebenfalls ein Fan der Schattenwölfe und der Telegramm-Raben bin, die in dieser Serie, gleichsam wie Brieftauben, die Botschaften und Nachrichten übermitteln. Feine Form der Telekommunikation. Und ich freue mich, daß auch die achte Staffel dann, wenn sie zu kaufen ist, noch auf mich wartet, wenn alle anderen schon diese Serie zu Ende geschaut haben werden.

Um nun am Ende doch noch die Produkte der Kulturindustrie zu streifen, habe ich zum Schluß sogar den „Game of Thrones“-Persönlichkeitstest mitgemacht, der vermutlich in Kleinfingers und Lord Varys Namen die Gepflogenheiten von uns normalen Erdenbürgern auf Facebook und Google ausforschen soll. Mit der Wahl von Arya Stark (der jungen und wildfanghaften Tochter des Herrn des Nordens, Ed Stark) bin ich zufrieden, wenngleich ich lieber Tyrion Lennister wäre. Zu der in der Tat ebenfalls herrlich gezeichneten und auch wunderbar gespielten Arya Stark steht dann:

„Ebenso wie die jüngste Tochter aus dem Hause Stark hattest du schon immer deinen eigenen Kopf. Regeln hast du zwar zur Kenntnis genommen, aber sobald du dich umgedreht hast, hast du sie wohlwollend ignoriert oder gebrochen. Ein echter Wildfang – das hast du sicher schon als kleines Kind oft zu hören bekommen. Oft wurdest du belächelt und unterschätzt. In Wahrheit bist du aber zielstrebig, neugierig und clever, jedoch auch unglaublich stur. Du hast deine Prinzipien, an denen man nur schwer rütteln kann. Das ist auf der einen Seite etwas Gutes, allerdings würde dir ein wenig Nachgiebigkeit hier und da nicht schaden. Denn auch wenn du dein Ziel klar vor Augen hast, musst du es nicht immer im Alleingang erreichen und darfst auch mal anderen Leuten vertrauen und musst sie nicht immer argwöhnisch beäugen. Dir macht man so zwar kein X für ein U vor, aber manche Menschen haben tatsächlich keine Hintergedanken und können dein Leben bereichern.“

„Du hast ja ein Ziel vor Augen“: Ich werde mir aber am Ende wohl einen eigenen Charakter erfinden und mich nun Lord Bitterfeld nennen: das ist so eine Mischung aus sozialistischem Realismus, mit Hang zur Leipziger Schule und zudem Schild und Schwer der Partei. Am Ohr des Volkes. Aber nicht, um es zu beschützen, sondern um seiner ästhetisch habhaft zu werden.

Nun muß ich weitergucken.