Endstation Reeperbahn

Es gibt einen legendären Song von Gottfried & Lonzo, der heißt „Hamburg ʼ75“ – den Text schrieb der Satiriker Hans Scheibner, wunderbar gecovert 2005 von „Element of Crime“. Dieses ragtimeartige Stück handelt, wen wundert’s, von Hamburg, genauer gesagt von der Hamburger Szene jener Jahre rund um den Musikclub „Onkel Pö’s Carnegie Hall“ in Eppendorf. Berühmt durch sich selbst. Über Hamburg hinaus bekannt durch eine prägnante Zeile aus Lindenbergs „Andrea Dorea“: „Im Onkel Pö’s spielt ʼne Rentnerband, seit 20 Jahren Dixieland …“

Wer diesen Song von Gottfried & Lonzo (dem Teufelsgeiger von Eppendorf) kennt, weiß, was ich meine und der weiß um die Atmosphäre einer Stadt, die wir damals als Kinder erlebten: von Honka bis HSV, zwischen Billstedt, Jenfeld und Horn. Wer Song und Sound dieser Zeit nicht kennt, dem ist nicht zu helfen und dem kann man es auch nicht beschreiben: jenes Hamburg der 1970er Jahre. [Ich mache es vielleicht ein andermal, wenn wir eine „Sentimental Journey“ in jene wunderbaren Jahre unternehmen.] Wie dem auch sei: Dies waren die gemütlichen Zeiten. Es gab jedoch andere, häßlichere Zeiten, häßlichere Orte, weniger buntscheckig (wobei Billstedt und Horn auch nicht zu den schönsten zählen). Wild aber dennoch. Da waren nicht nur die feine Binnen- und Außenalster, die Flaniermeile Jungfernstieg, das politisch linke Eimsbüttel, wo all die Lehrer wohnten, das teils elegante, teile linke Eppendorf, verträumtes, ländliches Blankenese mit Elbhügelblick und jene herrliche Mutter Elbe, die breit strömte, sondern es war da auch die höchst seltsame Reeperbahn mit ihren Buden, Bordellen und Spelunken, der Hafen in der Nähe, der Fischmarkt, der Geruch von Pisse, Fisch, Hafen und Bier. Und was in den 1970er Jahren noch „normales“ Nuttengeschäft und Geschäft mit Bars und Bums war, das entwickelte sich in den 1980er Jahren ins organisierte Verbrechen: Kiez-Kriege wurden nicht mehr nur intern und mit Fäusten ausgetragen – sehr schön zu sehen in Klaus Lembkes „Rocker“ (1972), wenn sich Loden und Leder prügelten.

Die ARD-True-Crime-Dokumentation zur „Reeperbahn Spezialeinheit FD65“ nimmt diese Zeit unter die Lupe: Eine speziell gebildete Ermittlergruppe der Hamburger Polizei gegen die sich herausbildende organisierte Kriminalität wird portraitiert, der Hamburger Kiez, seine Zuhälter und Prostituierten, das St. Pauli der späten 1970er und dann vor allem der 1980er Jahre. Fünf Teile mit Interviews, Archivbildern und nachgestellten Szenen. Die Doku-Bilder und die Doku-Szenerien aus NDR-Archivfilm sind insofern interessant, weil sie gute Einblicke in jene Zeit und in die Probleme liefern, sie lassen die Atmosphäre jener Jahre noch einmal an uns vorbeiziehen, dazu erzählen Zeitzeugen, wenn auch zuweilen in der Aufmachung überdramatisiert. Weniger schafft in manchen Fällen mehr. In diesem Sinne ist jene vor einem Jahr im NDR gelaufene mehrteilige Doku zum Kiez, von den 1950er bis zu den 1990er Jahren, besser geraten, nämlich ohne jene Effekte, bei denen man sich durch die nachgespielten Szenen in „Reeperbahn Spezialeinheit FD65“ zuweilen bei ZDF-History oder Terra-X wähnte. Aber man muß es vielleicht so sehen: Suspense will inszeniert sein. Und weil diese Serie mit Photographien und Filmen eine Menge an Doku-Material aus dieser Zeit bietet, funktioniert das Prinzip dennoch an einigen Stellen leidlich, auch weil dort Menschen sprechen, die dabei waren und diese Zeit kommentieren und von ihrem Blick her analysieren: Polizisten, Staatsanwälte, ehemalige Prostituierte, die MoPo Reporter Thomas Hirschbiegel und Thomas Osterkorn, Kiez-Größen wie der damals „Neger-Kalle“ genannte Geldeintreiber Karl Heinz Schwensen. Und es sprechen auch, was für die 1980er Jahre etwas Besonderes ist, ehemalige Polizistinnen über ihre Arbeit inmitten einer harten und harschen Männerwelt: eine der Polizistinnen von der Schutzpolizei herstammend, sie diente auf der Davidwache mitten auf St. Pauli; und eine Polizistin als Teil des Teams vom FD65. Damals waren Frauen in der Polizei eine Seltenheit, so wie auch in der Bereitschaftspolizei bei Demos Anfang der 1980er keine oder kaum Frauen dabei waren, sondern junge Männer mit Oberlippenbärten, wie sie heute wieder modern sind. Manche hätte man für den jungen Lee Hazlewood halten können, trügen sie keine Schlagstöcke, Schilder und schwere Uniformen.

Die Serie streift teils auch die politischen Bezüge jener 1980er Jahre, von der „Stoppt-Strauß“-Demo 1980; dazu 1981, 1982 dann die Hausbesetzerszene der Hafenstraße, die Brokdorf-Demos, der Hamburger Kessel Mitte der 1980er Jahre, wo mehrere hundert Anti-AKW-Demonstranten rechtwidrig über Stunden auf der Straße festgehalten und eingekesselt wurden (gezeigt in den letzten Teilen), aber auch das Rockermilieu der Hells Angels, die das Schanzenviertel einschüchterten und von den Wirten Schutzgeld erpreßten. Niemand sprach darüber, alle wußten es.

Zentrale Figur in dieser Doku ist der Leiter des FD65, Wolfgang Sielaff, damaliger Chef der frisch gegründeten Abteilung „Organisierte Kriminalität“, der von seiner Arbeit berichtet. Ein bis heute hin eindrucksvoller Mann, der eloquent, überzeugend und mit klarer Stimme die Lage benennt, Probleme beschreiben und eine Situation analysieren kann, um daraus gezielte Vorgehensweisen zu entwickeln. Solche Macher braucht es, vor allem auch heute, um solcher Organisierten Kriminalität das Leben schwerzumachen. Wenn man diese Polizisten bei ihrer Arbeit sieht, so leben wir keineswegs nur in einem postheroischen Zeitalter. Ganz im Gegenteil sind Menschen gefordert und gewünscht, die für eine gute Sache mit ihrem Mut, ihren Überzeugungen und ihrer Tatkraft einstehen. Das nur nebenbei gesagt – denn das Problem OK ist ja keineswegs vom Tisch, und auch sonst erweist es sich im Politischen, daß solche Eigenschaften gefragt sind. Polizisten wie Wolfgang Sielaff zeigen, wie man mit Entschlossenheit eine Sache angehen kann.

Die fünf Teile umfassen das Kiezleben der ausgehenden 1970er Jahre bis hin zum Amok des Auftragskillers Werner Pinzner am 29. Juli 1986 mitten im Hamburger Polizeipräsidium. Im ersten Teil geht es um den „Paten von St. Pauli“ genannten Wilfried „Frieda“ Schulz und seinem Handlanger Dakota-Uwe. Schulz betrieb auf dem Kiez Bars, Bordelle und Spielcasinos im großen Stil und es ging Anfang der 1980er Jahre jenes Gerücht um, daß über den Hamburger Kiezgrößen irgendwer in der Polizeibehörde seine schützende Hand hielt, insbesondere der Kriminaldirektor Hans Zühlsdorf geriet in Verdacht. Nachweisen konnte man ihm nichts. Aber der Verdacht blieb. Soziologisch aufschlußreich ist auch der Blick in Schulz‘ Anwesen in Blankenese und wie dieses Haus im inneren und im Garten eingerichtet ist: Plüsch und Protz: jene Mischung aus Emporkömmling und Kleinbürgergeist und wie sich solch ein Kleinbürger vom Interieur her die großbürgerliche Welt vorstellt, die er zu imitieren und an der er teilzuhaben versucht, um zu zeigen, daß er in der Gesellschaft oben angekommen ist. Aber Schulz war, folgt man den Zeugenaussagen, zugleich auch eine Persönlichkeit, die Menschen für sich einnehmen konnte. Nur setzte er dieses Wesen in die Manipulation von Roulette-Tischen und Spielkarten sowie in die Förderung von Prostitution.

Im zweiten Teil geht es um die Verbindungen von Schulz zur US-Mafia und wie die Hamburger Polizei in ihrer Arbeit von den US-Behörden und vom FBI lernte, um eine der effektivsten Abteilungen zur Bekämpfung von Organisierter Kriminalität in der Bundesrepublik aufzubauen. Sielaff berichtet von seinen Reisen in die USA und auch US-Polizei kommt zu Wort. Die Polizei mußte angesichts dieser neuen Art von Kriminalität auf neue Methoden zurückgreifen und so wurde auch das FD65 gegründet. 1982 wurde Schulz in einer großangelegten und bis auf die letzte Minute vor allen Dienststellen der Polizei geheimgehaltenen Aktion verhaftet und verschiedene Objekte auf dem Kiez und an anderen Orten Hamburgs wurden zeitgleich durchsucht.

Der dritte Teil handelt unter anderem von den Prostituierten und ihrer Ausbeutung durch die Zuhälter, es wird erzählt, was mit sogenannten Lampen-Bräuten passiert: Frauen, die der Polizei erzählen, was mit ihnen gemacht wurde, wenn sie nicht genug anschafften und dann von ihren Zuhältern verprügelt wurden oder wenn sie ganz einfach den Zuhältern nicht den nötigen Respekt erwiesen – so wie „Respekt“ auf der Reeperbahn sowieso ein Zauberwort war. Vor den großen Gestalten hatte man zu gehorchen und zu parieren. Ihr Wort war Gesetz. Schlecht nur, wenn die Alphatiere aneinandergerieten, so wie es in den 1980er Jahren geschah und als auf dem Kiez die Zuhälterkriege ausbrachen. Denn in die Leerstelle, die Schulz nach seiner Verhaftung hinterließ, strömten neue Kiezgrößen wie die Nutella Bande, Sunny-Boy- Zuhälter, die wegen ihres jugendlichen Aussehens derart genannt wurden, sowie die GMBH, die wegen der Vornamen ihrer vier Mitglieder diese Bezeichnung trug. Und plötzlich galt auch nicht mehr das Gesetz der Faust, welches auf dem Kiez Konflikte regelte: „Keine Schußwaffen!“, so hieß es, soll das Motto von Schulz gewesen sein; man traf sich und eine Art von Feme- und Privatgericht regelte die Sache, sprach Kiezverbote aus oder verteilte einen „Denkzettel“, der meist ein blutiges Andenken war. Nun aber kamen nicht nur Schlagringe, sondern auch Knarren ins Spiel.

In den letzten beiden Teilen geht es um die erheblichen Veränderungen, die nach der Verhaftung von Schulz das Leben auf dem Kiez mit sich brachte. Leider reißen insbesondere die beiden letzten Teile, darin auch die politischen Aspekte von St. Pauli qua linksautonomer Szene in den Blick kommen, vieles nur noch an. Auch die Straßengang-Szene, die Anfang oder Mitte der 1980er Jahre auf dem Kiez mitmischte, kam zu kurz: die Streetboys, die sich mit den Zuhältern der GmbH und der Nutella-Bande prügelten, der Kampf der Gangs wie der Champs und der Streetboys, die zu einem Teil aus Türken-Jungs, aber auch aus deutschen Kids bestanden, gegen die in Hamburg hart vertretene Nazi-Skinhead-Szene werden genannt, aber auch ihr Kampf gegen Punks und Hafenstraßenlinke. Im Blick auf den Polit-Kiez kommt auch Schorch Kamerun (Sänger der Punk-Band „Die Goldenen Zitronen“ und Mitbetreiber des Golden Pudel Club zwischen Hafenstraße und Fischmarkt) zu Wort. Was diese Verquickungen und Kämpfe angeht, hätte ich mir pro Folge mindesten eine ¾ Stunde mehr gewünscht statt der üblichen 42 Minuten, die jeder der Teile umfaßt. Diese Szenarien und Hintergründe wären mindestens zwei Extrafolgen wert gewesen. Und auch die sich auf dem Kiez tummelnden und seit Mitte der 1980er Jahre ins rechtsextremistische Milieu abgeglittene Szene des HSV-Fanclubs die Löwen hätte eine Erwähnung finden können. Ich hätte mir an manchen Stellen dieser Serie einen vertiefenden Einblick gewünscht – auch über die Prostitution und das Schicksal der Prostituierten. Andererseits war der Fokus der Serie die Organisierte Kriminalität und dafür spielen die soziologischen und politischen Aspekte jener wilden wie kriminellen Kiez-Jahre nun einmal nur eine Nebenrolle.

Dennoch: Es ist dies eine Serie, die man über das Thema OK hinaus auf mindestens 20 Folgen ansetzen könnte, mit Themenfäden wie: Der Kiez, die Zuhälter, die Huren, die Freier, das Alltagsleben, die Polizei, Organisierte Kriminalität, das politische St. Pauli, die Hafenstraße, der Wandel von St. Pauli, das Nacht- und Musiknachtleben, die Drogen, der Hafen, die Schanze, die S-Bahnlinie 3. Freilich mit einigen Verränderungen in der Machart und der Inszenierung. Eigentlich gäben solche Folgen ein schönes Sittenbild jener wilden 1980er Jahre, die auf dem Kiez eben auch so derart viel Trauriges hervorbrachten: Armut, Drogen, Erpressung, derbe Gewalt. Der MoPo-Reporter Thomas Hirschbiegel beschreibt es am Ende der Serie treffend und es ging auch mir meist so, wenn ich dort zum Ausgehen mich aufhielt: Der Reporter war jedesmal wieder froh, wenn er von seinen nächtlichen Photo-Einsätzen mit Toten, mit Drogen, mit Nutten, mit Zuhältern und mit all dem Versifften dort wieder nach Hause in seinen (klein)bürgerlichen Bezirk kam und er weg von jenem ranzigen, räudigen Kiez war.

Jene romantisierende Kiez-Schwärmerei mancher Szenegänger, die zwischen Schanzenviertel und Reeperbahn und ihren Seitenstraßen in den 1980ern lustwandelten und ihre Ausgehabende organisierten, habe ich nie verstanden, und als da eine junge Frau verzückt ausrief: „Oh, wie geil ist es hier auf der Reeperbahn!“ erboste es mich dann doch: als ob die Nutten, die Schläger, die Junkies und die Zuhälter dort herumstanden, um der jungen Frau ein Privatvergnügen zu bereiten und als ob es ein wilder Spielfilm nach Manier von New Hollywood sei. Ich muß vielleicht zur Entschuldigung sagen, daß sie im Grunde mit ihren 15 Jahren noch ein Mädchen war. Aber der Heroin-Schick und die große weiße Dame namens Koks sind am Ende kein Spaß und kein Spiel. Und auch über Prostitution kann man sich streiten, wenngleich ich kein grundsätzlicher Gegner derselben bin, solange sie nicht unter Zwang geschieht. Hier waren dann auch die kurzen Sequenzen der Huren interessant, die eben nicht wirkten, als wären sie gezwungen worden, wenngleich ihr Leben sicherlich nur bedingt schön zu nennen ist – aber auch das sind nur Ausschnitte, anderen geht es anders, und es war nicht jede eine Domenica Niehoff.

Diese Serie ist durchaus spannend, aber sie zeigt vielfach auch, wie man es besser machen kann. Ehemalige Polizistinnen, die auf der Davidwache wirkten, muß man nicht unbedingt mehr in Uniform zeigen, wenn sie lange schon außer Dienst sind. Ähnliches gilt für die Kameraführung bei Kalle Schwensen: Das Objektiv von unten, so daß es bedrohlich und mächtig wirkt, gefilmt in irgendeiner edel wirkenden Nachtbar, damit Milieuatmosphäre entsteht: solches Setting zielt auf Effekte und nicht auf Wissen. Als ein Stück visueller Sozialgeschichte von Hamburg ist diese Serie interessant – auch im Blick auf solche inzwischen vergessenen Orte wie das „Cleopatra“ in Hamburg-Bramfeld. Aber es hätte der Geschichte als Forschungsdisziplin, als Oral History wie auch einfach nur im Sinne eines seriösen Dokumentarfilms gutgetan, auf manchen reißerischen Effekt zu verzichten – auch bei den Interviews. Warum muß man ehemalige Streetboys in Bomberjacken stecken? Warum müssen Staatsanwälte in einem Interieur sitzen, das wie eine hochelegante Hotellobby ausschaut oder einer großbürgerlichen Villa ähnelt? Solche Settings sind überflüssig. Und so hinterläßt diese Serie leider immer wieder den Eindruck, daß es sich am Ende mehr um eine voyeuristische Schlüssellochperspektive handelt und nicht um einen gutgemachten Dokumentarfilm über ein Stück Hamburger Leben und Geschichte. Das ist schade.

Photographie: Homepage ARD zur Doku-Serie.

Putins Krieg

Eine unvorstellbare Schlagzeile, vor einem Jahr noch in Europa: „Der Krieg rückt näher“, wie heute der Berliner Tagesspiegel titelte. Aber dieser Header stimmt nicht: Putins Krieg ist bereits hier, er tobt in der Mitte Europas. Geführt mit Bomben, Streumunition und Raketen auf Kliniken und Kinder, auf Städte und Menschen. Und dennoch wehren sich die Ukrainer tapfer. Sie lassen sich keine Angst einjagen. Im russisch besetzten Cherson stellte sich gestern ein großer Teil der Bevölkerung neben und vor die russischen Panzer, demonstrierte und forderte die russischen Besatzer auf, abzuziehen. (Videos sind im Internet einsebar.).

Daß Putin keinen Frieden geben würde, hätte man spätestens mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und seinem Krieg gegen die Ukraine im Donbas sehen können. In Aleppo wußte die Weltgemeinschaft dann wozu Putins Armee und sein syrischer Scherge mit Bomben in der Lage sind. Die NATO, die EU sahen dabei zu. Hilflos und vorgeführt. Wir konnten sehen, wozu Putin in der Lage ist, wenn man ihm freie Hand läßt. Nun wird eine Militärbasis nahe der alten k.u.k-Stadt Lemberg – das Paris des Ostens genannt – mit Raketen beschossen, rund 15 Kilometer von der Grenze zu Polen entfernt.

Doch Europa harrt, anstatt, daß wir, die Freien, die noch die Möglichkeit haben, nun zumindest für den westlichen Teil der Ukraine eine Flugverbotszone durchsetzten, wenn der Westen schon nicht die Mittel hat, Kiew zu schützen. Die angeblich übermächtige, Rußland bedrohende NATO – so das Putin-Narrativ und im Westen vielfach nachgebetet -, ist ein Papiertiger, der es militärisch nicht einmal schafft, von Anbeginn an, also ab dem 25.2. eine solche Flugverbotszone durchzusetzen – und zwar aufgrund des Wunsches eines souveränen Staates, der Europa und die NATO gegen den Terrormann aus Moskau um Hilfe bat und der selbst bestimmen kann, wer in seinen Luftraum darf und wer nicht. Ein verständlicher Wunsch des Präsidenten Selenskyj, wenn man an die zivilen Opfer denkt, die das Bombardieren von Städten bedeutet. Aber nicht jeder Wunsch ist erfüllbar und sinnvoll nur, wenn es realistische Optionen gibt. Es hat die Sache nämlich einen Haken: was man nicht durchsetzen kann, weil einem die Mittel fehlen, das sollte man auch nicht androhen. Alte Lehrerweisheit schon: „Drohe nur die Strafen an, die du beim Schüler auch durchsetzen wirst können!“ NATO und Europa aber richten, aus teils durchaus verständlichen Gründen, eine solche Flugverbotszone nicht ein: auch um den Krieg nicht weiter eskalieren zu lassen. Vielmehr zwingt der freie Westen Putin besser wirtschaftlich nieder. Auch hier wieder die Mär einer übermächtigen und aggressiven NATO. Das Gegenteil ist der Fall: die NATO und die EU beschwichtigen, Putin eskaliert. Und auch für die Friedensfreunde und die NATO-Skeptiker nochmal auf den Punkt gebracht: Ob die NATO nun gut oder irgendwie auch schlecht sei, steht in solchen Fragen der Selbstverteidigung eines souveränen Landes auf einem anderen Blatt. Sie ist zumindest die einzige Organisation, die Länder mit demokratisch gewählten Regierungen gegen einen Diktator verteidigen kann, so wie es auch die ebenfalls nicht in allem vorbildlichen USA war, die im Verbund mit England Europa und die Welt vor dem blutigen Diktator Hitler rettete. Immerhin dieses Bewußtsein hat Putins Terrorkrieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung uns also gebracht: daß die NATO womöglich doch zu etwas noch gut sein könnte – nämlich gegen einen Aggressor wehrhaft zu sein. Utopien und Wünsche, so läßt es sich zuspitzen, lassen sich nur angehen, wenn eine Gemeinschaft realpolitisch gut gerüstet ist. Wie das im konkreten Fall aussehen könnte, muß man von Fall zu Fall aushandeln. Was in meinen Augen feststeht: Europa braucht eine Sicherheitsarchitektur, die notfalls auch unabhängig von den USA funktioniert.

Heute im Tagesspiegel antwortee Josef Joffe auf die Frage:

Rußland hat eine Geburtsklinik in Mariupol attackiert. Was gibt es mit Menschen,  die so etwas befehligen, eigentlich noch zu verhandeln?

Joffe: Die WHO berichtet von 26 medizinischen Einrichtungen. Da auch russische Piloten nicht kurzsichtig sind, muss man gezielten Terror unterstellen: Mord als machtwahn, der das Kriegsrecht und den Verteidigungswillen einer Nation bricht. Im Krieg wird oft danebengeschossen, aber systematisch Zivilisten killen? Das war doch seit dem Völkerschlachten im WKII vorbei. Putins Angriff gegen Wehrlose ist Zivilisationsbruch, was jetzt der letzte Russenversteher kapieren müsste. Zerschossen wurde auch das deutsche Mantra: Wer redet, schießt nicht. In jedem Krieg wird verhandelt. Es bringt aber nichts, wenn in dem Glacéhandschuh der Diplomatie nicht die gepanzerte Faust steckt.“

So ist es – wobei freilich solcher Zivilisationsbruch in der jüngeren Geschichte nichts Neues ist. Zivilisationsbruch gibt es, seit es Kriege gibt. Was aber an Putins Mordbrennerei neu ist und was es bisher seit 1939 in Europa nicht gab: Der Überfall auf ein souveränes Land mit einer demokratisch gewählten Regierung. Hier schlägt die Quantität in eine neue Qualität um. Der Krieg kommt nicht näher. Er ist nun mitten in Europa.

Wer im übrigen nun scheinheilig und mit diesem Putintimbre in der Stimme darauf verweist, daß die Ukraine nun – böse, böse – zur Selbst- und Landesverteidigung alle Männer zwischen 18 und 60 nicht ausreisen läßt, der lese doch am bestenden den Text zu dieser Causa im Verfassungsblog und im Grundgesetz vor alleml im Artikel 12a unseres Grundgesetzes, worauf sich der Verfassungsblog bezieht:

Art 12a
(1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.
(2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf und auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht.
(3) Wehrpflichtige, die nicht zu einem Dienst nach Absatz 1 oder 2 herangezogen sind, können im Verteidigungsfalle durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu zivilen Dienstleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden; Verpflichtungen in öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse sind nur zur Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben oder solcher hoheitlichen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, die nur in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis erfüllt werden können, zulässig. Arbeitsverhältnisse nach Satz 1 können bei den Streitkräften, im Bereich ihrer Versorgung sowie bei der öffentlichen Verwaltung begründet werden; Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereiche der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen.
(4) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an zivilen Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden, so können Frauen vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu derartigen Dienstleistungen herangezogen werden. Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.
(5) Für die Zeit vor dem Verteidigungsfalle können Verpflichtungen nach Absatz 3 nur nach Maßgabe des Artikels 80a Abs. 1 begründet werden. Zur Vorbereitung auf Dienstleistungen nach Absatz 3, für die besondere Kenntnisse oder Fertigkeiten erforderlich sind, kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes die Teilnahme an Ausbildungsveranstaltungen zur Pflicht gemacht werden. Satz 1 findet insoweit keine Anwendung.
(6) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an Arbeitskräften für die in Absatz 3 Satz 2 genannten Bereiche auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden, so kann zur Sicherung dieses Bedarfs die Freiheit der Deutschen, die Ausübung eines Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben, durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Vor Eintritt des Verteidigungsfalles gilt Absatz 5 Satz 1 entsprechend.

Und auch für diese Photographien hat Wladimir Putin wieder mal das Copyright:

A girl sits in an improvised bomb shelter in Mariupol, Ukraine, Monday, March 7, 2022. (AP Photo/Evgeniy Maloletka)
Einsatzkräfte retten Bewohnerinnen des brennenden Gebäudes in Kiew, Foto: Reuters

Urbane Szenen – Wien, 6. Bezirk. Eine lyrische Vernichtung

Ich will die Nacht. Diese eine Nacht, die am Abend mit ihren Szenen und Bildern beginnt, die sich fortwirkt und ins Dunkle treibt, ohne jegliches Ereignis. Ich will die Nacht, kein Kokain, sondern die Starrheit der Dinge: Häuserwände in einem Julisommer in Wien, die von der Hitze des Tages noch ächzen, nicht dampfen oder in Verheißung glühen, sondern die beschwerlich harren, stehen und stöhnen wie unter einer Last, keine Menschen dort, nur Steine und der Dreck des Tages. Ein hingeworfenes Präservativ, Zeitungsseiten, Verwehtes, von Raumbesatz und Rantzsaum. Spuren. Abseitston, citywärts, Stephansdom, „Flucht und Himmelfahrten sind unsre Koordinaten.“ Fort von hier: Wien – Westbahnhof; die Mariahilfer Straße. All das Prosageschwätz, das bilderbeschreibend oder dichtend auftritt, ist nur enervierend, das vom Nichts oder vom Etwas handelt, von Dingheit und Wesen und Prosa-Singsang oder Parodie der Prosa, die ebenso leicht zu fertigen ist wie der hohlhohe Pathoston und der Gesinnungskitsch des blödsinnigen Prosabaus, Prosa erinnert mich merkwürdigerweise immer an Prostata und malignes Melanom. Diesem Konnex wäre nachzugehen. Wenn Rachitische beifallheischend Bedeutungssalat sinnlos ins Poesiealbum pressen, wie Mädchen Löwenzahn zierlich zwischen Buchseiten spreizen oder Dahlien zwischen ihren Schenkel drapieren und Lehrerprosa sich nachts ins Schreibheft ergießt. Ergötzlich istʼs wenig. Hinter den Fenstern noch Leben. Das ist mit Fragezeichen gesprochen – kein Leben! D-Zug Wien–St. Pölten oder die tschechischen Bäder. Salzsole, Kaltwasser aus Quellen. Ich möchte versiegen, ich möchte in einer Stadt flanieren, in der es keinen Menschen mehr gibt. Außer mir – ich bleibe, der einzige und für mich. Ich betrachte mich selber in spiegelnden Schaufensterscheiben, und aus den Auslagen greife ich mir die Dinge und Objekte, die ich besitzen möchte, um sie dann fortzuwerfen, sobald sie mich langweilen, wie der Photograph Thomas in „Blow Up“ jenen von den „Yardbirds“ erbeuteten Gitarrenhals, nachdem der Sänger die Instrumente zerschlug und als er die Trümmer einer Gitarre rotzig wie Popmusik, die morgen schon ihren Schnitt machen muß und die Rebellion als monetäre Monstranz zelebriert, ins Publikum pfefferte, daran die gerissenen Saiten noch schwangen und bitter zitterten, da alle versuchten zu greifen; der Gitarrenhals, fliegend und dann fallend, fangend, den der Photograph gegen die Meute bitter verteidigte, mit dem gerissenen Hals, mit dem er aus dem Saal rannte, immerzu stoßend und laufend, bis ihm kein Mensch mehr nachstellte, um von diesem Objekt der Begierde den Fetischteil zu kassieren, der freilich, wie der Photograph gut wußte, ohne Publikum als wertlos sich erwies. Und als jener Photograph bemerkte, daß er allein und für sich war, sowohl in dieser Welt als auch in dieser Stadt, nächtens, wirft er den Hals in einen der dreckigen Hauseingänge. Interessante Parodie auf den Fetischismus. Die unwissenden Kleinbürger, die einiges später, im Filmschnitt jedoch sogleich, diesen zerlegten Gegenstand bemerkten, den sie zwar nicht direkt für Müll hielten, aber doch als ein eigentümliches Grenzobjekt zwischen den Gattungen wahrnahmen, das für sie schwierig im Blick einzuordnen war, hoben das Ding auf, betrachteten es kopfschüttelnd und warfen es fast mit Zorn im Gesicht zurück in die alte Lage. Solche Szenen sind Teil der benjaminschen Geschichtsphilosophie. Ein kleines Stück Zusammenballung. Kein Abendnebel, keine Wallung. 6. Bezirk. Im Stadthauch ist Leere. Die unrasierte Schielemuschi an der Wand der Galerie. So sieht es aus. All der Gedichtscheiß, Geschichtsscheiß, der Gesinnungsrotz, das verlogenen Pathos des hohen und des niedren Tones. Protest ist so sinnlos wie Mitgehen. „Liebe ist kälter als der Tod“. Ich will den Film Noir. Ich hoffe, die Lage spitzt sich zu.
 

 

 

„Every you Every me“: Stadt als Standort – Facetten des Populären (2)

„Das jemand in Berlin ‚lebt und arbeitet‘, kam
hier einem Bedeutung generierenden Faktor gleich. So als
wäre die Ortsangabe per se dazu in der Lage, etwas über
künstlerische Arbeiten selbst auszusagen, Sinn zu stiften und dadurch
die Sehnsucht nach Orientierung und ‚Bedeutung‘ zu befriedigen.“
(Isabelle Graw, in: Texte zur Kunst, Heft 94)

 
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Aisthetische Verhältnisse: Die Stadt als eine Lebensweise und Lebensform, als Möglichkeitsraum, um günstig zu wohnen, seinen Träumen, Ideen oder Idealen nachzugehen, sexuelle Präferenzen ohne Grenzen, die Stadt als Metapher und ihr Name eine Verlockung, als Leben, zweckfrei und frei von Zeit: eine Verheißung. Generierung des Mehrwerts. Unendliche Feste. Das freilich zog die Menschen von überall her an. Nicht anders wird es demnächst leider Leipzig ergehen. Nicht im großen Stil, aber es kommen mehr Menschen. Doch dem romantischen Spiel der inszenierten Bohème folgt in der Regel das Maklerbüro Engel & Völkers – was freilich nicht immer ein Nachteil sein muß. Es kommt auf die Bezüge an, unter denen Makler arbeiten und inwiefern eine Stadtverwaltung bzw. deren Regierende sich das Heft nicht oder eben doch von wirtschaftlichen Interessen aus der Hand nehmen lassen. [Andererseits sind solche Sätze absurd – hegen sie doch irgendwie die Illusion, daß es innerhalb des Systems ein gutes Gegen gäbe oder irgendwo in den Tiefen des Politischen oder Privaten ein richtiges Leben im falschen existierte, sei es auch bloß als Feierabend- und Freizeitkommunismus beim lauschigen Bierchen am Lagerfeuer.]

Berlin als Lebensform: vom Berghain bis zur Kaschemme. In anderer Weise geschieht der Berlin-Hype auf der Ebene der Kunst. Insbesondere die bildenden Künste zog es seit den 00er Jahren nach Berlin. Die erste Berlin Biennale, kuratiert von Klaus Biesenbach, Hans-Ulrich Obrist und Nancy Spector, fand 1998 statt. Schauen wie „Based in Berlin“ und Kunstmessen wie ABC brachten auf verschiedenen Ebenen, von kultureller Distinktion, ästhetischer Reflexion bis zur Ökonomisierung des Raumes,  in Berlin einen massiven Wandel. Waren früher München und insbesondere das Rheinland mit Köln und Düsseldorf solche Hochburgen, so mausert sich inzwischen auch Berlin. Wenngleich das zahlungskräftige Publikum immer noch in der Rheinregion sitzt.

Berlin ist noch nicht saturiert genug, insofern lassen sich hinreichend viele Nischen finden, in denen mal zu recht, mal outriert der Subversion gefrönt wird. Nicht dem Kommerz dient – zumindest vorgeblich – das kulturelle Engagement, sondern dem symbolischen Wert der hehren Sache Kunst. Dabei geschieht freilich eine eigentümliche Dialektik der Subversion. Je marktferner sich in Berlin die Kunst gibt, desto größer der Standortvorteil. Das führt, was die Aufwertung von Vierteln betrifft, zu einer vertrackten Situation. Dem Gebiet um die Potsdamer Straße herum (kurz Potse genannt, was in meinem puritanisch-gegenderten Ohr einen obszönen Anstrich hat, aber da die Kurfürstenstraße nicht weit liegt, mag das Wort passen) tat ein Wandel gut. Inzwischen siedeln Galerien dort und massiv werden Wohnungen entmietet. Das ist nicht die Schuld der Galeristen und Künstler, sei dazu gesagt, sondern (konsequente) Folge einer Politik, die weder fähig noch willens ist, zu handeln. Aber es handeln andere im Hintergrund. Berlin ist eben arm. Armut ist nicht sexy. Macht und Geld sind es sehr wohl.
 
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Inwiefern in diesem Prozessen Kunst als Standortvorteil wirkt – ganz gleich, ob sie sich nun subversiv gibt oder nicht, ob sie marktkonform oder sperrig sich verhält, das spielt keine Rolle – und das „symbolische Kapital“ durchaus geldwerten Vorteil generiert, haben seit einem Jahrzehnt zahlreiche Künstler und Galerien begriffen. Kunst und Neoliberalismus stehen (gewollt oder ungewollt) in einem Verhältnis, Kunst borgt von diesem ihr Begriffsrepertoire, und Begriffe der Ideologie des ungehemmten Marktes, wenn nur der Staat verschwindet und jeder seines Glückes Schmied sei und authentisch, individuell und flexibel sich verhält, zogen in die Kunstwelt ein. Daß der Künstler ein autonomes Individuum sei, das sich in keine Vorgaben pressen läßt, können wir seit der Renaissance den großen Künstlerportraits entnehmen – sei’s Albrecht Dürer oder im Barock dann Rembrandt van Rijn.
 
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Diesem andauernden, sich in immer neue Windungen steigernden Trend, Individualität und Kreativität als Zauberwort für die neue Arbeitswelt zu preisen, widmet sich – um nun wieder zum Thema zu kommen – in den „Texten zur Kunst“ Isabelle Graws Beitrag „Der Mythos der Marktferne. Anmerkungen zum Aufstieg Berlins zu einer Kunstmetropole“. Kreativität ist das Zauberwort, das als „Heilswort der Gegenwart“ Tore öffnet und noch die simpelste Arbeit zum genialen Tun aufwertet. Insbesondere da, wo alle das gleiche betreiben, hält man sich für besonders kreativ. Einer muß es den Menschen nur lange genug vorbeten, daß sie einzig und authentisch seien.

Die Reize werden aufgesteigert, Betriebsweihnachtsfeiern zu Events stilisiert und noch in der Freizeit dienen die für Leistung, die sich wieder lohnen muß, ausgezahlten Sachprämien dem Ethos der Arbeit. Ein Betriebsmarathon oder ein nach der Arbeit einzulösender abendlicher Wochenkursus für ein US-Marine-artiges Trainingsprogramm sehen aus wie feine Geschenke oder Boni, sind aber nichts weiter als die Verlängerung der Arbeitswelt. Das Recht auf Faulheit kommt in diesen Zonen nicht vor. Keiner dieser Arbeitnehmer, die sich als solche kaum noch verstehen – „Einen Betriebsrat? Wozu brauchen wir den denn?“ – verfiele auf die Idee, daß seine Arbeit tatsächlich Arbeit ist, von der weder er selbst oder die Gesellschaft, sondern wer anders profitiert. Der Kunst die Schuld für diese Szenarien aufzubürden ist naturgemäß zu simpel. Aber im universellen Verblendungszusammenhang greift eins ins andere. Es existieren keine unschuldigen Orte. Wer das annimmt, ist mit gehöriger Naivität geschlagen, gestraft, vielleicht aber auch: gesegnet. Das Heilsame der Anästhesie.
 
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 „Auch von Arbeitern und Angestellten wird inzwischen ein gewisses Maß an Kreativität verlangt, wobei sich die Vorstellung, die man sich vom ‚kreativen Arbeiter‘ macht, am Modell des selbstbestimmt arbeitenden Künstlers orientiert. Entsprechend dem traditionellen Künstlerbild hat auch der kreative Arbeiter möglichst flexibel, mobil und kreativ zu sein. Er soll zudem eigenverantwortlich arbeiten und sich dabei auch noch selber verwirklichen. Je deregulierter und prekärer die Arbeitsverhältnisse, desto gefragter ist dieser Typus des kreativen Arbeiters, der prototypisch in Berlin-Mitte der späten 1990er Jahre anzutreffen war. … Jedes Abendessen war zugleich eine Teamsitzung, jedem Gespräch wohnte ein instrumenteller Zug inne, da es mit Brainstorming einherging.“ (I. Graw)

Als dann in den 00er Jahren die schönen Blasen platzten und den ersten Internetbuden der Arsch auf Grundeis ging, war es plötzlich vorbei mit dem schönen Schein und dem Hohn auf den Betriebsrat. Die nachfolgenden Unternehmen lernten freilich schnell, und eine absurde Melange aus Kunst, Medienphilosophie samt Blahsprech, Zen und Asien (von Kopf bis Bauch: Nahrung aus Vietnam hält schlank), Illusion von Freiheit, wie sie vorher in den 80ern nur Camel oder Marlboro produzierten, bestimmte die Arbeit des Betriebes, der seine Tätigkeit freilich nur am Rande als Arbeit verstanden wissen wollte. Der kasual in den Abend hinein verlängerte Freitag war fast schon Freizeit. Dieser Umstand trifft sicherlich auf diverse Software-Firmen zu, die ihre Produkte für Kunst, für E-Commerce, fürs Internet oder fürs Smartphone entwickeln und an den angesagten Orten (nicht nur in Berlin) fleißig programmieren.

„Der flexibel Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus“ hieß Ende der 90er Jahre ein Buch des amerikanischen Soziologen Richard Sennett, der bereits früh diese Phänomene beschrieb. (Wobei ich hoffe, daß er den Begriff der Kultur ironisch gebrauchte, denn ansonsten wäre der Titel ein einziger Schrott: diese Phänomene nämlich sind genau das Gegenteil von Kultur, sofern man diesem Begriff noch einen emphatischen Gehalt zubilligen möchte, was ich mittlerweile für verfehlt halte.) Diese Flexibilität hängt nicht nur mit der Bereitschaft zusammen, Orte der Arbeit relativ schnell bereitwillig wechseln zu können und zu wollen, sondern sie disponiert das Subjekt selber zu einem Bündel heteronomer Verhaltensweisen, die es freilich als die ihr authentisch eigenen zu instrumentalisieren hat. Insbesondere die bildende Kunst ist in diesem Zusammenhängen das Surrogat, das die Betriebstemperatur kuschelig hält. Abends eine Vernissage, bei der die aufs Stichwort einschnappende und vorhersehbar geschulte Wahrnehmung zum weiteren Einsatz abkommandiert wurde. Foster Wallace oder Bolaño eignen sich zu solchem Prozedere nur bedingt, weil ihre Lektüre ein Unmaß an Zeit erfordert, die sich am Ende des Vorgangs nur selten amortisiert. Der kulturelle Mehrwert liegt lediglich darin, einen Namen nennen zu können, der mit einer hinreichenden Komplexität gezeichnet ist.
 
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Sicherlich kann man als Kritik anmerken, daß die „Texte zur Kunst“ diesen Phänomenen der Stadt samt einer Kunst als Kompensationskomplement spät erst sich widmeten. Ausprägungen, die bereits vor zehn oder fünfzehn Jahren abzusehen waren, als Berlin noch hyper-hypester Hype war. Aber besser zu spät als nie, und bekanntlich beginnt die Eule der Minerva … Aber ob daraus nun so etwas wie Philosophie zu pressen ist, bezweifle ich. Wir verbleiben im Modus der bestimmten Negation. Das ist für viele nicht sehr gemütlich. Aber der Blick des Ironikers gleitet bekanntlich von distanzierter Warte über den Görlitzer Park und andere Brachen und Umstände, geht in die neutralen oder auch in die schwer bedeutsamen Zonen der Stadt, in denen gewerkt, gewichtelt und kulturell getan wird. Erfreut sich am Tand und am Spiel der Zeiten.

Es geht wie es geht. Immer näher rücken mir die Figur und der Habitus des Ernst Jüngers (freilich nicht dessen politische Haltung, wobei man sich natürlich fragen muß, wie beides am Ende doch zusammenhängt), der bei der Kanonade von Paris, auf einem Dach dinierend, in die Nacht blickte und dazu eine Champagnerbowle zu sich nahm, darin Erdbeeren schwammen, Feuer und Strahlkraft der Gewalten beschauend. Der eigentümliche, erhabene, erschaudernde Glanz, den das Ungeheure mit einem Male auslöst. Aber insbesondere im Wirken solcher ästhetischer Augenblicke, in dieser eigenwilligen Inszenierung des Schreckens tritt dieser sehr viel deutlicher zutage als in den halbpathetisch-verkitschten Antikriegsbeschwörungen des „Nie wieder!“, die in die ästhetische Form nur die politische Intention hineinpressen. Wer die Form zugunsten der Politik preisgibt, liefert nicht nur die ästhetische Form aus und banalisiert sie, sondern entleert im selben Moment ebenso das Politische zugunsten eines engagierten Statements aus dem geblähten Bauch. Aber wenigstens die Fürze sind in dieser Haltung echt und authentisch. Anderes Thema aber. Wir jedoch, wir betrachten weiter diese Stadt in ihren Facetten. Nicht im Ton des Unmittelbaren schwingen wir  mit oder anders. Sondern als böser Stachel und als häßliche Unke. Der Rosa Luxemburg die Hand zu reichen, bleibt vergeblich, weil sie noch immer im Landwehrkanal treidelt.

Der kalte Blick Nietzsches und Jüngers auf diese Stadt. Ich möchte deren Bewohnerinnen und Bewohner als Käfer fixieren und in die entomologische Sammlung bringen. Wir werden dann im Herbst wieder diese Perspektiven in Photoserien begleiten, wie bereits hier oder auch da und an verschiedenen anderen Stellen und Städten.
 
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Berlin, Berlin [Bashing for Bohème]. Facetten des Populären (1)

Marktferne, aber dafür Kunstnähe? Dies war einmal! Heute geht in Berlin beides recht gut zusammen: Stadt als Kunst als Standortfaktor. Vom Wilden und Ungezähmten der Kunst blieben allenfalls die Brachen der Stadt, die sanft ruhen und den Schlaf schlummern. Bis sie erweckt werden. Sie liegen solange brach, bis sich ein für Investoren geeignetes Projekt findet, das sich wirklich lohnt. So wird es – meine Prognose – in 10 Jahren ebenso dem Tempelhofer Feld ergehen. Insofern hatten die Bebauungsgegner – obwohl dem Schein nach die Abstimmung gewonnen – bereits im Mai verloren; denn anstatt heute, im Hier und Jetzt, für eine sinnvolle Bebauung zu votierten, sperrten sie sich komplett. Auch das ist Berlin.

94_TZK_Cover_02_t_w470Die Juni-Ausgabe der „Texte zur Kunst“ widmet dieser Stadt in all seinen Facetten von Kunst, Kommunikation und Kommerz – rtl-alliteriert, freilich von mir, wie Biker, Busen, Büchsenbier – unter dem Titel „Berlin Update“ ein Heft: Vom radikalen Wandel Berlins innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte, der wesentlich durch ökonomische Faktoren bedingt ist, bis zum Kunsthype samt der Kommerzialisierung, vom „Theorie-Design“, das mit dieser Stadt durch drei Universitäten samt ihren Sonderforschungsbereichen verbunden ist sowie dem kulturellen Crossover verschiedener Institutionen wie Theatern, Museen und Kunst-Events (Berlinale, Theatertreffen, Berlin Biennale, Gallery Weekend, Monat der Fotografie, Kunst- und Modemessen usw.), bis hin zu einer Stadt der neuen Medien, für die symbolisch Orte wie das Café Sankt Oberholz oder andere Trendbars, -Restaurants und-Clubs stehen, die genauso schnell wechseln wie sie kamen, samt perfider Arbeitswelten, die den Schein des Authentischen malen, wo Arbeit und Freizeit keinen Unterschied mehr machen, weil Freizeit den Charakter von Arbeit annimmt und Arbeit sich als Freizeit geriert – vom Fitnessprogramm bis zu den Plänen gesunder Ernährung, irgendwelchen Kursen im Creativ Writing und Schreibseminaren.

Berlin bietet für die Kreativ- und Kunstszene in relativ günstiger Weise zwei ökonomisch hoch wertvolle Ressource: Raum und Zeit. Immer noch läßt es sich in dieser Stadt für wenig Geld und gut leben, wenn man seine Essens- und Lebensansprüche gering ansetzt, sich von Nudeln ernährt und dieses Minimale als neue Zünftigkeit propagiert. Insofern ist billiger Wohnraum in guter Lage gewünscht und wird als Anspruch angemeldet. Gerne wird dabei in schäbiger Bude die Aura der Bohème gepflegt. In einer Weise freilich, die mich in diesem Klischee an Aki Kaurismäkis absurd-komischen Film „Das Leben der Bohème“ denken läßt. Ein Schuß Tragik und schönes Scheitern ist naturgemäß ebenso beigemischt, denn was wäre das Leben samt seinen Inszenierungen ohne jene Tragik und sei diese auch nur eine Posse und Simulationseffekt. In einem post-dramatischen, post-aristotelischen Zeitalter, in dem Ort, Zeit und Handlung sprunghaft divergieren können, bleibt das Dividuum.

Das „transgressive Potential von Underground-Parallelwelten“ diente immer schon – seit dem Phänomen des Pop und den läppischen Exzessen der Beat-Generation, allen voran J. Kerouac: keiner wußte das besser als Adorno – der radikalen Ökonomisierung von Gesellschaft. „Mit Danone kriegen wir euch alle!“, drohte die Werbung der 80er Jahre. Oder mit Kunst. Oder mit Pop oder indem sich die Bezirke mischen. Neoliberalismus und Kunst sind zu einem gewissen Teil Komplizen derselben Sache. Selbst da noch, wo letztere sehnend an ihre Autonomie glaubte. In den letzten Zügen der Dialektik rettet sich Kunst in den Pop: in den Bezirk der identitätsstiftenden Erfahrungswelten im turnschuhmiefenden Teenager-Zimmer, wo sich mit diesem oder jenem Musikstück ein besonderer Raum von Existenz und Dasein verband. Das kroch ins Musikstück wie in Prousts Madeleine und im Tee die Erinnerungen sich aufbewahrten, so daß eine Situation inmitten der neuen Unübersichtlichkeiten qua Musik als Gestus und Haltung doch noch als allgemein kommunizierbare zu konnotieren war. So konnte sich das Phänomen Pop zumindest auf der Ebene der Referenzierungen am Leben halten. (D.  Diederichsen beschreibt diese Wirkungen des Pop – ich drücke es mal in meinen Worten aus, man muß das ja bei solch feinen Wortwendungen dazu sagen, sonst denkt jeder, das sei von Diederichsen – als aisthetische Erfahrung auf eine geniale Weise in seinem gleichnamigen Buch. Inwiefern er dieses Phänomen Pop dialektisiert und fruchtbar macht, ist durchaus tricky zu nennen. Aber so kennen wir ihn, dafür lieben wir ihn. Das ist eines dieser interessanten Interferenzphänomene. Affirmativsein ohne Affirmation)

Allerdings gibt es zu jedem Berlin-Trend genauso den Gegenzug. Daß immer mehr Menschen von Berlin genug haben und ihnen das Gewese um diese Stadt zum Halse heraushängt, haben manche bereits zum Beginn der Blase erkannt. Lange bevor ein New Yorker Magazin namens „Gawker“ Anfang des Jahres verkündete, „Berlin is over“, es ginge mit Berlins Habitus als irgendwie coole Stadt nun zu Ende. Sehr viel früher schon teilte zum Beispiel der großartig bissige Don Alphonso regelmäßig gegen Berlin und insbesondere die sogenannte Berliner Medien-Bohème mit ihrem Jammerton und ihrer Anspruchshaltung aus. Ein Habitus des Digitalen als Flow und Funding, ohne dabei irgend etwas an Kraft und Denk-Arbeit investieren zu wollen oder genauer geschrieben: zu können. Und ebenso früh polemisierte der Don gegen den widerlichen Ranz und das Unansehnliche dieser Stadt, die sich keine schönen Gebäude leisten mag, sondern das Verwildern von Flächen als Stadtplanung ausgibt oder aber Dokumente der Zeit, wie den Palast der Republik, abreißt. [Andererseits ist mir das Verwildern dann auch wieder lieber als eine Stadtpolitik, die nur für ein bestimmtes Klientel Geld in die Hand nimmt – zumal sich die Ödnis und der Dreck ungemein als Kulisse zur Photographie eignen: Die Welt ist bekanntlich seit Nietzsches Satz nur noch als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt – zumindest solange ich in einer solchen Umgebung nicht wohnen muß. Ergänzt sei fürs Heute und für jene, die bei Nietzsche vorauseilend zucken und sich wegducken: als eine Ästhetik des Häßlichen oder als anästhetische Angelegenheit. Andererseits mochte ich in den 90er Jahren ebenso wenig im Rollbergviertel oder im Weserkiez wohnen. Und wer es sich leisten konnte, der zog naturgemäß weg. Organisierte Verwahrlosung von Stadtteilen, so könnte man das gemeinsame Programm aller Berliner Parteien nennen, die den Senat stellten. Dieses Herunterranzen hat sicherlich Gründe. Seit Nietzsche wissen wir freilich, daß die Wahrheit durchaus gute Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen.]

Bei aller berechtigter Kritik an Berlin, sehe ich vieles entspannter als der Don, denke mir daß München doch zu gediegen ist, allenfalls für die Besuche in den einschlägigen Museen geeignet, sicherlich eine Stadt mit schönen Vierteln und hervorragender Küche, viel Mode, gutem Weine sowieso, aber doch zu glatt. München ist wie ein Mann oder eine Frau in den 60ern. Nahe genug an Italien – immerhin. Wenn ich irgendwo leben möchte, dann in Leipzig, vielleicht noch in Essen, Köln oder Duisburg. Gerne in Hamburg wegen des breiten Stroms. Nur eine Stadt mit einem richtigen Fluß als Ader ist eine lebenswerte Stadt. Wir sehen dies an New York und Lissabon. Was ich an Berlin schätze, sind nicht die ungentrifizierten oder mittlerweile aufgewerteten Stadtviertel, die so oder so in ihrem Ranz daliegen, sondern die Weite der Stadt. Alles verläuft sich. Anders als in Hamburg oder Essen. Mein Mitleid mit den Gentrizifizierungsjammerlappen allerdings, für die Lankwitz oder Wilmersdorf Zumutungen sind, hält sich arg in Grenzen. Die Profiteure von gestern sind nun einmal die Verlierer von heute. So geht die Geschichte übers Subjekt hinweg. So funktioniert nun einmal eine über den Markt organisierte Gesellschaft. Seid nicht böse darüber. Es kommen andere Zeiten!

Recht hat der Don freilich, wenn er in witzig-böser Weise gegen die Berliner Medien-Bohème austeilt: Menschen, die irgendwie und irgendwo einmal einen Text geschrieben haben, sei es auf einem (Zeitungs-)Blog oder anderswo, bezeichnen sich ernsthaft als „Journalisten“. Es ist doch eher lachhaft. Menschen, die keine drei Zeilen Foucault, Adorno, Hegel, Marx oder Zizek gelesen haben, führen diese Namen im Munde, als hätten sie zehn Jahre deren Texte beackert. Nichtlesen, aber trotzdem vollmundig darüber sprechen oder in Kurz-Zeichenzahl die Namen als Referenz- und Distinktionsmerkmal fallenlassen, weil’s den kulturellen Mehrwert erzeugt. Trends, trendy. Auf der Ebene der Textfakten nachprüfen können es sowieso nur wenige, weil niemand diese Texte zusammenhängend studierte. Schlagwortsound wird abgesondert.

Gleiche gilt für die Internetphänomene. Es werden Banalitäten zu riesigen Wolken und Gebirgen gebauscht, und dabei plustert man sich selber gleich mit auf wie’s Vögelchen im Walde. Und immer mal wieder geschieht im Schwung der Tage ein Paradigmenwechsel, Post-Privacy und Meme treten auf den Plan, werden wieder abbestellt, vielleicht springt morgen ein digitaler Platonismus aus dem Schächtelchen. Pseudo-Kenntnis der Philosophie und Medienwissen aus dem Kindergarten als Halbbildung spielen sich als Wissensformen auf: sozusagen als intrinsische Qualität des zugereisten Berlin-Bewohners. Insbesondere hier sehen wir, welchen Schaden das Studium der Kulturwissenschaften auf breiter Flur anrichtete. [Ende vom ersten Teil des kulturellen Narrativs]
 
 
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Hinweis in eigener Sache – Oder: Szenen in der Stadt und als Zeremonie des Abschieds geschrieben

Alles neu macht bekanntlich der Mai, der allerdings im Moment noch ein April ist – bekanntlich der grausamste Monat, wenn wir T.S. Eliots Text folgen möchten. Trotzdem änderte ich bereits heute schon das Design dieses Blogs moderat; modifizierte ebenso die Blogroll und tat die Blogs hinaus, die ich zu selten lese, wo zu wenig an Text passiert oder wo im Kommentarteil Orgien des Gemeinsamkuschelns gefeiert werden.

Ich möchte hier im Blog keinen Gesinnungskitsch. Ich möchte keine Prosa und keine Theorie im immergleichen Tonfall. Ich möchte Kritik, die weiterbringt, Kommentatoren, die den Text weiterschreiben, wie heute wieder summacumlaude, der immer höflich bleibt und dennoch andere Aspekte auftut. Auch das Mäandern und Assoziieren von ziggev. Böses und Bissiges, das Geist hat, wie ihn ansonsten nur Karl Kraus besaß, möchte ich lesen. Gerne auch Polemik, wenn sie denn die Sache trifft und eines gewissen Esprits nicht entbehrt. Ich möchte Exzesse und Extremes, nichts Kuschellaues. Konstruktive Diskussionen zur Kunst, zur Ästhetik, zur Philosophie begegnen einem seit 10 Jahren in der Blogwelt Schweifenden und einem seit über fünf Jahren Schreibenden wenig. Wer solche Blogs kennt: bitte nennen.

Einer meiner Lieblingsblogs, nämlich der mit dem Namen Aleatorik, ruht leider sanft – die Betreiberin schrieb in einem Kommentar, weshalb das so ist. Eine schöne Zeit geht zu Ende. Ich las dort gerne all die Literaturkritiken, die Skizzen und die Texte des Alltags, inspirierend und eindringlich geschrieben. Und anders als mancher Literatur-Blog oder solche, die sich dafür halten, verzettelte sich dieser Blog nicht ins Uferlose des beliebigen Schreibens und inhaltslosen Plauderns über dies und auch über das, sondern „Aleatorik“ blieb konsequent in der Komposition und Anordnung der Texte. Das gelingt nicht vielen. In ihren Büchern zeigt die Autorin (sofern dieser Begriff in diesem Rahmen überhaupt noch trägt und in einem erweiterten Konzept von Literatur noch taugt), wie es dann auf hohem Niveau geht. Der Literaturbetrieb überliest das gerne, er beschreitet stattdessen lieber die eingeschliffenen Pfade und macht Kessler-Biller-Diskussionen über Petitessen. Der Betrieb füttert sich selber. Doch kann man es ihm nicht einmal übel nehmen, da in einer Gesellschaft, die alles und jedes als Ware verkaufen muß, eben auch die Literatur notwendigerweise als eine solche Ware sich erweist.

Ich habe in dieser Zeit des Bloggens einige wenige Bloggerinnen und Blogger kennengelernt bzw. mir mit einigen über eine kurze Zeit geschrieben. Ich will das nicht im Detail ausführen und gewichten. Ein Wesen aus der Welt des anonymen Internets freilich vergesse ich nicht. Bissig war sie, kein Harmoniesound im Schreiben und doch so zart. Die Nächte in Dresden und Leipzig, in Berlin und im siebten Himmel gehen nicht aus dem Kopf heraus, die Hautstellen, wo sich im Hotelzimmer oder im heimischen Bett die Nägel ins Fleisch gruben und die Szenen, wo immer wieder der Streit ums gleiche aufbrandete. Küsse und Bisse finden am Ende nicht zueinander, und da, wo es für bestimmte Lebensweisen keine entgegenkommenden Lebensmodelle oder -formen gibt, weil eine Gesellschaft diesen keinen Raum läßt und für die mehrfache Dimension keinen Rahmen hat, weil ihre Diskurse die Liebe aufs Singular polen, kann alles, was passiert, nur schiefgehen.

Das Jahr 2012, am Strand der Elbe, der letzte Tag des Augusts, eine Englandjacke teilend. Wir trafen uns auf dem Marktplatz gegen Mittag, und ohne sie zu erkennen, sah und kannte ich sie bereits von weitem, wie sie am Brunnen saß, und ich mochte es nicht wahrhaben, ging zunächst die Rathaustreppe hinauf, weil ich mir dachte, es müsse eine andere Person sein als die, welche dort am Brunnen wartet. Im nachhinein idealisiert unser Blick die Szenen und die Erinnerung verklärt die Situation. Und etwas über ein Jahr später, in einer Stadt im Osten, als wir im Regen am frühen Abend durch die Straßen spazierten. Hungrig im Magen, das einzig gute Fischrestaurant der Stadt im Visier. Denn dort wollten wir ausgiebig speisen und trinken. Ohne allerdings vorher zu reservieren. Mir ist der Optimismus nicht gegeben, der wunderbaren blonden Frau jedoch durchaus. Wir betraten den kleinen Gastraum, und mit einem Blick sahen wir, daß jeder Tisch besetzt war. Samstag, sieben Uhr abends im Dezember des Jahres 2013, irgendwo in einer Stadt im Osten, den ich mit meinem Geld aufgebaut hatte. Zum Dank immerhin kauften uns seinerzeit die Eingeborenen der Ostregion, die nun endlich ein Volk sein durften, unsere defekten Gebrauchtwagen zu horrenden und vollkommen überhöhten Preisen ab. Sowie Westcola und Westwürste an den Imbißbuden, die wir 1990 eilig an Plätzen aufstellten, die auf lukratives Geschäft hoffen ließen. Aber alle Aufbauhilfe nützte mir nichts. Sätze knapp wie ein Protokoll: Alle Tische besetzt, alles reserviert, vor 22 Uhr nichts zu machen, und draußen nur Kännchen: das war natürlich ein Scherz, denn an Draußensitzen ist im Winter in einer Oststadt bei Abendregen nicht zu denken. Nicht einmal mit Heizstrahlern. „Kika-, Kikakaninchen. Tibbetibbetap“ höre ich sie halb ironisch singen. Wir hatten uns auf Fisch gefreut.

Der Hunger trieb uns, und wenn Menschen hungrig sind, machen sie Fehler. So gingen wir regennaß und nasser werdend ins nächstbeste Restaurant, das halbwegs angenehm aussah. Es war ein Grieche. Wir waren froh und erschöpft, nach einem langen Spaziergang durch diese unendlich schöne Winterstadt im Osten nun irgendwo einen Platz im Warmen zu finden und uns niederlassen zu können. Wir waren zu keinem weiteren Schritt mehr fähig, denn ausgiebig schritten wir bereits von Mittags bis zum Abend hin durch diese Oststadt, schlenderten auf unseren Traumpfaden und im Abseits der Stadt an den Randmarken. Und am Nachmittag unserer Tour schien sogar die Sonne, wir besuchten eine Galerie, betraten die Orte ihrer Erinnerung, ein kleines französisches Café lud zur Zwischenstärkung ein, um Zitronenkuchen zu essen und Sekt samt Kaffee zu trinken. Nun aber saßen wir zum Abend hungrig an diesem Ort, wurden wahllos, bemerkten auf chic gemachtes Interieur nicht, das nur billig war. Als wir dann bestellten und Wein sowie Speisen an den Tisch serviert wurden, schmeckten wir, daß es nicht das war, was wir essen und trinken wollten. Menschen, die einander bei der Hand halten und die sich in den unendlichen Gesprächen verlieren, stört der Mangel an Qualität zunächst weniger als Menschen, die geschäftlich oder routiniert in Lebensabschnittsverhältnissen essen, weil sie jeden Tag beieinander leben. Insofern konzentrieren sich diese Menschen auf die Speisen und die Getränke. Erst hinterher fiel uns auf, daß wir eher mäßig denn gut zum Abend aßen.

 Mit der Straßenbahn fuhren wir in das Hotel und kauften in einem Supermarkt einige Flaschen Bier, die wir auf das Zimmer nahmen. Im Fernseher lief der Schmachtstreifen „Die Brücken am Fluß“, Filme für schlichte Gemüter, für das seichte Denken ohne Zwischenton, aber es paßte im Sound der Anrührung gut, denn wir waren vom Tag her erschöpft und wir schliefen übereinander und Körper in Körper ein. Genauer gesagt: sie schlief recht schnell ein und ich spürte ihren schönen Körper sowie jede ihrer Bewegungen, weil ich neben Menschen nicht einschlafen kann. Denn jede Verlagerung und jedes Geräusch macht den Synästhetiker der Nacht wach und wild. Den Geruch ihrer Haut vergesse ich nicht.

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Am Vormittag spazierten wir über den Weihnachtsmarkt der Stadt, besuchten das Museum, um eine ganz bestimmte Ausstellung zu sehen. Schlenderten noch ein letztes Mal Hand in Hand, bis hin zu unseren Autos. Wer weiß schon bei einem Abschied und wenn zwei einander küssen, daß es möglicherweise der letzte Kuß ist, den zwei Menschen sich in diesem Leben schenken werden, ein letztes Mal, daß sich diese beiden Menschen sehen und zart berühren werden. Die letzte Nacht, die sie beieinander lagen. Sie öffnete die Tür des Autos, stieg hinein, drehte den Zündschlüssel, zwei Blicke und ein kurzes Lächeln, bis dann der Wagen die Straße entlangfuhr und der Sonntagnachmittag seinen Gang nahm.

Das jetzige Design des Blogs läßt sich verbessern. Bis es paßt. Bis es wieder veraltet ist. Abgelebtes ändert sich. Können Photographien Szenerien authentifizieren, beglaubigen und bezeugen, oder sind sie wahllos oder gar fingiert und inszeniert? Trompe-l’œil. [Ins Herz versteht sich!]

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Auf dem Fischmarkt morgens um acht: Der wahre Wert ist der Warenwert

Es kommt mir diese Überschrift irgendwie bekannt vor. Als wär’s von mir bereits an einer Stelle in diesem Blog einmal gedichtet oder geschrieben worden. Preußisch klar, hanseatisch kühl. Ich, der Schreiber der Frankfurter Schule. Letztes Relikt, auf der ästhetischen Negativität beharrend. Theorie, die kritisch ausfällt, ist nicht gerne gesehen. Aber gerne haben sich alle gern. Im Sinne einer Tagebuch-Notiz von Thomas Mann geschrieben: Heute in Literaturblogs gelesen: entsetzliches Gewäsch, schwer erträglich. Weshalb gibt es in der Blogwelt kaum bis selten gute Literarturkritik, sondern bloß Schmalspurschreiber:innen? Ich möchte etwas lernen und lese den Ranz der Befindlichkeiten. Ich möchte nicht lesen, weshalb der Blogger X oder die Bloggerin Y etwas für subjektiv gut oder schlecht befindet, sondern ich möchte etwas über Bücher erfahren und was darin webt und wirkt. Weshalb kann kaum eine/r adäquat eine Analyse durchführen, weshalb ist kaum eine/r noch fähig, Literatur im Kontext zu lesen und ausgreifende Bezüge herzustellen, zu assoziieren und bspw. von Schalansky auf Musil zu kommen? Weil nicht mehr ausufernd gelesen wird, sondern Wonneverbreitung stattfindet. Das Verhältnis zum Buch ist rein warenförmig geworden, was sich insbesondere im Befindlichkeitskuscheln zeigt, wo Literatur dazu dient, den eigenen Referenzrahmen zu untermauern. Vielleicht sollte ich eine Blogroll der schlimmsten Blogs machen, die Umgang mit Büchern pflegen. Sozusagen als Triggerwarnung.

„Seit mit dem Ende des freien Tausches die Waren ihre ökonomischen Qualitäten einbüßten bis auf den Fetischcharakter, breitet dieser wie eine Starre über das Leben der Gesellschaft in all seinen Aspekten sich aus. Durch die ungezählten Agenturen der Massenproduktion und ihrer Kultur werden die genormten Verhaltensweisen dem Einzelnen als die allein natürlichen, anständigen, vernünftigen aufgeprägt. Er bestimmt sich nur noch als Sache, als statistisches Element, als success or failure. Sein Maßstab ist die Selbsterhaltung, die gelungene oder mißlungene Angleichung an die Objektivität seiner Funktion und die Muster, die ihr gesetzt sind.“
(Th.W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung)

Immer schön bei der Stange bleiben. Mit Zen und Zinnober oder mit Kunst und Kultur, mit Event und inszenierter happiness, mit kleinem Glück im stillen Winkel. Mit Gedicht oder Gesöff.

Wer auf den Hamburger Fischmarkt will, sollte früh aufstehen oder durchmachen, so lautet die Binsenweisheit. Dies gilt auch für den Photographen. Bilder von jenem jeden Sonntag stattfindenden Ereignis gibt es auf meinem Photographie-Blog „Proteus Image“ zu sehen. Hamburg im Nebel ist apart anzuschauen. Der Betreiber des Blogs wünscht beim Betrachten der Bilder viel Freude.

Photographien sind immer ein Stück weit auch Literatur. (Zumindest sind sie eine Weise des Textes.) Sie zeigen, sie erzählen. Am liebsten würde ich diese Struktur des Erzählens und Zeigens unterlaufen. Die Photographie inszeniert jenes „Es ist so gewesen“, sie setzt die Augenblicke in Szene, sie lügt und spricht wahr in einem Zuge. Das beste an einer Photographie ist es, wenn sie die Szene abbricht und aussetzen läßt.

Und am Ende des Weges: die Brachen der Stadt. Photographie und Erzählung

„Das dialektische Bild ist ein aufblitzendes. So, als ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das Gewesene festzuhalten. Die Rettung, die dergestalt – und nur dergestalt – vollzogen wird, läßt immer nur dem, im nächsten Augenblick schon verlorenen [sich] vollziehen. (Walter Benjamin, Das Passagenwerk)

 

Ecken Berlins

Auf dem Blog „Kreuzberg süd-ost“ wurde seinerzeit Mitte Februar nach Photographien von Brandmauern gefragt. Das brachte mich dazu, meine Photosammlung durchzugehen. Und siehe da: ich fand unzählige Bilder, allerdings hatte ich sie nicht mit dem Begriff „Brandmauer“ verschlagwortet. Ich photographierte also ganz und gar unbewußt diese Brandmauern, ohne darüber nachzudenken, daß es sich um ebensolche Brandmauern handelt, denn ansonsten hätte ich sie mit dem Titel „Brandmauern“ in meinem Archiv-Programm versehen, wie ich es bei jedem meiner Photos machte. In diesem Falle tat ich es jedoch nicht. Nun war ich von dieser Idee der Brandmauern angefixt: Ich bin kurz darauf flanieren und fotografieren gegangen, habe Licht auf den Sensor der Kamera gebannt.

Einen ersten Teil dieses Spazierganges zeigte ich bereits, hier folgt nun die zweite Bilderpartie. Von der Michaelkirchstraße auf die Köpenicker Straße zu schlendern und auf den Brachflächen sich zu bewegen.

Der Flaneur bezieht keinen Standpunkt, er bleibt in seinem Spazieren nirgends lange stehen, er verweilt nicht kontemplativ, sondern läßt sich im Strom der Stadt treiben. Er saugt die Eindrücke auf; die dreidimensionalen Bilder der Stadt verwandelt er in die zweidimensionalen Tableaus seiner Photographien. Der Flaneur schreitet durch die Wastelands, durch die Brachen und Badlands. Unbeteiligt. Ohne Anteilnahme. Vor allem aber erklärt er seine Photographien nicht. Die Sprache der Photographie, der Bild-Text der Photographie erhellt sich ohne Kontext, schießt zu einer Evidenz zusammen: das dialektische Bild transportiert den gesellschaftlich notwendigen Schein und durchbricht ihn zugleich. Einerseits. Andererseits ist die Photographie, die durch keinen Text gerahmt oder beschrieben wird, nur als Assoziation lesbar. Es könnte nämlich alles ebenso ganz anders sein.
 

Geraubte Küsse/Baisers volés

kiss-by-hotel-de-ville-robert-doisneau Eine Photographie ohne Beschriftung und ohne jene neben oder hinter dem Bild markierte Referenz kann kein geschichtliches oder journalistisches Dokument sein, sie bleibt als Bild autonom: selbstzweckhaft, in sich gekehrt, fast schon monadisch und voll von Rätseln. Dieser Zusammenhang schließt nicht aus, daß eine solche Photographie keine Geschichte erzählt. Eine Vielzahl von Geschichten können (in der Imagination) an ein solches Bild andocken, sich der Photographie bedienen, sie sogar ins kollektive Bildgedächtnis heben, wie jenes Photo von dem Mann und der Frau, die sich in unendlicher Leidenschaft küßten, und zugleich trifft gar keine dieser Geschichten den Referenten: das Moment, was in der Photographie einerseits deutlich für alle sichtbar ausgestellt wird und das zugleich unendlich sich verschließt und entzieht, weil es in jener 1/125 Sekunde ohne jeden Kontext uns präsentiert wird. Referenz ohne den Referenten. Die Geschichten der unbeschrifteten, unmarkierten Photographien bilden eine Phantasmagorie. Erzählung ohne den Rahmen: jene Photographien, die den Augenblick bannen, wie etwa in ihrer klassischen Variante die Bilder von Cartier-Bresson oder von Robert Doisneau schildern eine Szene in der Sprache des Bildes. Man denke an jenen Mann, der im Überschwang eine Frau küßt. Wie aus dem Leben geschnitten und gebannt, ein zauberhafter Augenblick, eingefroren, so meinten wir. Bis wir erfuhren, daß diese Szene mit Schauspielern nachgestellt war. Was Jeff Wall bewußt als inszenierte Dokumentation einsetzt – unheimlich, fremd und bedrohlich wie in jener Photographie mit dem Titel „Insomnia“ –, bleibt bei Robert Doisneau grenzwertig und fingiert den Moment. Aber ist der fingierte Moment nicht genauso gut wie der, den wir für wirklich halten? Was hat ein inszenierter Kuß einem echten voraus? In unserer Betrachtung nicht viel. (Allenfalls für die Küssenden mag es einen Unterschied ausmachen.) Wir können uns in den Bildern, die wir betrachten, täuschen, wir können uns in Menschen täuschen. Die ontologische Dimension des Bildes bleibt an den Rahmen gebunden. Und selbst dieser ist fragil. Jeder Kontext kann im nächsten Moment ein ganz anderer sein.

Die Brachen rund um die Köpenicker Straße werden nicht lange mehr erhalten bleiben. Aber dies wissen wir alle.

Flaneur in Kreuzberg, Flaneur in Friedrichshain. Alles das, was bleibt – alles, was verloren geht

Wieder einer dieser Tage, wo es den Bewohner des Grandhotel Abgrund durch die Stadt treibt. Ein Tag wie der andere und die Tage vergehen im Strom der Zeit.

An Berlin fasziniert der Umstand, daß ganz unterschiedliche Welten auf dichtestem Raume beieinander liegen. Manchmal prallen keine hundert Meter voneinander entfernt die Kontraste aufeinander. Der südliche Anfang der Friedrichstraße, am Mehringplatz beginnend, ist von eher armen Menschen bewohnt, und rund einen Kilometer weiter befinden wir uns mit ein paar Schritten in der feinen Welt der Galerie Lafayette und anderer Geschäfte, die mehr oder weniger teuer sind bzw. sich einen exklusiven Anstrich geben. Zum Ende hin, nach Norden, da wo die Friedrichstraße in die Chausseestraße mündet und der Weg in den Wedding geht, wird es dann wieder heruntergeranzter. All das bleibt nicht mehr lange so bestehen.
 
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Gleiches gilt für die Hauptstraße in Schöneberg: rechts zur Dominicusstraße arme Viertel, links das bürgerliche Schöneberg mit dem Hang hin zu Friedenau, das etwas weiter südlich liegt, da wo einst die Dichter, Grass, Johnson, Frisch und Bachmann wohnten. „Die Dominicusstraße“, so heißt es auf Wikipedia, „im Berliner Ortsteil Schöneberg ist mit einer Länge von rund 800 Metern eine wichtige innerstädtische Verbindung von der westlichen Innenstadt in die südlichen Bezirke.“ Eine dicht befahrene Straße, an der die Wohnungen liegen. Dunkel und fahl stehen die Wände am S-Bahnhof Schöneberg, und es sieht aus, als wäre dort immer noch Dampfllokbetrieb. Und das ist gut so.

Ähnliche Diskrepanzen finden sich rund um den Ostbahnhof. Einerseits die touristische Welt der East-Side-Gallery, mit ihren Hostels, dann die Sauerstoff-tiefgestellt-zwei-Welt für Konzerte, Eishockey und Großveranstaltungen sowie die in der Umgebung errichteten funktionalen Betonbauten. Schreitet der Flaneur mit festem Schritt weiter hinter den Ostbahnhof, tut sich die Trostlosigkeit auf: mit Imbissen, in denen es asiatische & deutsche Küche sowie einen Ossi-Chicken-Kebab gibt, dahinter ein verlorener Flohmarkt, der immer wenn ich dort bin, so aussieht als würde er gerade abgebaut, obwohl er noch im Gange ist, und die Galeria Kaufhof, für die ich noch einen Einkaufsgutschein über neun Euro besitze. Ich werde für diesen Gutschein beim Kaufhof einen Blumenstrauß kaufen (sofern es dort Blumen gibt) und diese Blumen auf irgend einer Bank, irgendwo in Berlin einfach liegenlassen. Dann werde ich mich ein wenig abseits postieren und schauen, was mit diesen Blumen geschieht.

Das Gebiet nördlich des Ostbahnhofs ist ein im ganzen öder Ort, teils mit Hochhäusern bebaut, teils siedelte sich dort Gewerbe an. Dennoch ist diese Ecke (noch) nicht aufgewertet oder im klassischen Sinne gentrifiziert. Hierher kommen nicht einmal mehr die Künstler. [Einen photographischen Spaziergang in dieses Gebiet unternehme ich ein andermal. „Karte und Gebiet“ ist ein schöner Buchtitel von Michel Houellebecq.]
 
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Inspiriert durch die Photographien auf dem Blog „Kreuzberg süd-ost“ ging ich vorgestern ein wenig in dieser Gegend spazieren. Auch wegen der Brandmauern, die tikerscherk auf ihrem Blog zeigt. Ausgehend von der Köpenicker Straße setzte ich mich in Bewegung. Früher Grenzgebiet, mit etwas Gewerbe, das dort siedelte, und Brachen lagen karg, bekannt durch die Umzugsfirma Zapf, die nicht mehr lange dort bleiben wird, weil das genutzte Areal eine zu schöne Fläche abgibt, um dort Umzugsequipment und -logistik in häßlichen funktionalen Hallen zu lagern. Keiner mochte damals im Schatten der Mauer leben – da, wo auf der anderen Seite der Spree, in Friedrichshain, die Hinterlandmauer aufragte. An jeder Ecke, da hat tikerscherk Recht, zeigt sich der Wandel dieses Viertels. Das, was mit Gentrifizierung bezeichnet wird. Typische Berliner Imbisse verschwinden und werden durch schick designte kleine Tempel des Kulinarischen ersetzt, in denen nicht mehr nur Nahrung, sondern ein Lebensgefühl zu sich genommen wird. Yoga für die Seele, gesunde Vietnam-Küche für den schlanken, leistungsfähigen, funktional-fungiblen Körper. Eine Praxis mit chinesischer Heilmedizin in einer Nebenstraße. Om-Om, Om-Om. Und tief scheint der Himmel in uns selbst, gibt es als Glückskeks und Beigabespruch gleich gratis mit dazu.

Ebenfalls in der Köpenicker Straße befindet sich ein Toreingang zu ehemaligen Fabriketagen, die als Wohnungen umfunktioniert wurden; Wohnungen, deren Bewohner ebenso im Prenzlauer Berg heimisch sein könnten. Kinderspielzeug liegt in der Sandkiste, immerhin noch aus Plastik, kein Ho-, Ho- Holzspielzeug. Gepflegte Kinder- und Erwachsenenfahrräder lehnen an den Wänden, ein gemütlicher Spielort und Rasenfläche verlaufen hin zur Spree. Im Sommer sicherlich ein behaglicher und lauschiger Platz, um Wein zu trinken und Tapas zu verspeisen. Deine Hand in meiner. An einem dieser Abende. Sommertage.
 
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Wie fing das an? Die Frage nach den Verursachern ist schwierig zu stellen. Sind es die Studenten, die wegen des günstigen Wohnraumes als erstes kamen, das Kreativ-Prekariat, die mal gut, mal lauer betuchten Werber, die irgendwann Mitte der 90er eintrafen, sowie die schwafelnde Medien-Bohème, die dann ab den 00er Jahre in Kreuzberg einritt? Wenn plötzlich auch Ben Becker Kreuzberg wieder schick findet? Da ist dann nichts mehr mit „Oranienstraße, hier lebt der Koran“, wie es „Ideal“ in ihrer Berlin-Hymne in den 80ern sangen. Nein, ich mache den Menschen, die in jenen Hinterhof-Lofthäusern leben und neu hinzuzogen, keinen Vorwurf. Gesellschaftliche Probleme zu individualisieren und im Sinne der Schuldfrage aufs Subjekt herunterzubiegen, ist ein Fehler im Denken. Es geht um die Strukturen, die einen solchen Wandel still und heimlich ermöglichen. Es geht um das Klandestine dieser Umpolung von Stadt, die in den Hinterzimmern der Senatsverwaltung von Unternehmen ausgehandelt wird. Immer nur scheibchenweise freilich geschieht der Schnitt, denn sonst fällt es auf. Insofern müßte man eigentlich ein gemeinsames Blogprojekt starten, wo der Wandel kontinuierlich in Text und Photographie kommentiert bzw. gezeigt und damit sichtbar gemacht wird. Und es müßten, wie auch gegen Hartz IV, sehr viel mehr Aktionen stattfinden.
 
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Andererseits ist dies kein Blog, der sich viel mit Gentrifizierung beschäftigt, allenfalls in den Photographien reiße ich Veränderungen an und zeige sie: als Bild, als Photographie, die für sich selber steht.

So spazierte ich gestern die Köpenicker Straße hinunter, über die Oberbaumbrücke, dann die Eastside-Galery entlang, tat einen Abstecher in die befremdliche Welt des Ostbahnhofs und dahinter nach Norden raus. Dann weiter bis zur Michaelkirchstraße und die Köpenicker zurück, immer wieder Abstecher in die Ruinen, dort wo die ehemalige Eisfabrik steht, hinter dem Verdi-Haus, Abraumhalden, Brachflächen, herumliegende Dinge, Kleidung, Koffer, an der Spree lagern und leben einige Menschen in Hütten.

Ich bin inzwischen müde, schlendere die Köpenicker weiter. Da liegt der abgebrannte Netto-Markt, durch einen Bauzaun geschützt. Ich stieg durch eine Lücke im Schutzzaun und photographierte dort in den Brandtrümmern. Noch Stunden später haftete der Geruch nach verbranntem Plastik in der Lederjacke, in den Schuhen, in der weißen Jeans, im hellblauen Hemd, in den Haaren und selbst in den Händen klebt dieser Brandgeruch, obgleich ich nichts dort anfaßte. Leider schien die Sonne zu grell, so daß ich mit den Photographien nicht recht zufrieden bin. Ich werde sie vielleicht irgendwann unter der Überschrift „Burn, warehouse, burn!“ zeigen. Eigentlich ist es schade, daß Netto fort ist. Auch wenn diese Funktionsbauten von Discountern wie Lidl, Aldi, Netto, die sich wie ein Ei dem anderen gleichen, ohne besonderen Charme oder architektonischen Witz auskommen, zeigen sie zumindest an, daß in dieser Gegend Menschen wohnen, die billig kaufen müssen. Aber demnächst eröffnet dort wahrscheinlich LPG oder Bio-Compagny, so mutmaße ich.

Zum krönenden Abschluß der Tour schaute ich beim Exil-Wohnmagazin vorbei, weil ich nach einem neuen Sofaplaneten Ausschau halte. Fein untergebracht ist dieses Geschäft in einem jener Industriebauten der Gründerzeit, die die Köpenicker Straße prägten. Nun befinden sich in jenen Gebäuden häufig genau die Geschäfte und Restaurants, in denen die meisten der Kreuzberger sicherlich nicht einkaufen oder sich zum Essen einfinden werden. Um nun – ab von den Tücken des Lebens – all das Schlechte der Welt am Abend in meinem weitläufigen Altbau, irgendwo in Berlin, herunterspülen zu können, kaufte ich mir in der Weinhandlung „Passion Vin“, die gleich gegenüber vom Wohnmagazin liegt, drei Flaschen französischen Rotwein, von denen ich dann vorgestern einen Côtes du Rhône trank. Er schmeckte fein und fruchtig. Ich mag diese Art von leichtem Rotweinen. Gerade zum Schreiben und Entwickeln der Photographien paßt er. Ein Akt nebenbei, der sehr viel mehr Zeit in Anspruch nimmt, als wenn ich einen Blogtext schreibe. Insofern bitte ich diesen Umstand geneigte Betrachterinnen und Betrachter in Erinnerung zu rufen, wenn Sie auf meine Photographien schauen. Den ersten Teil der Bilder, die ich auf diesem Spaziergang machte, gibt es hier zu sehen.

Andererseits: Ich wiederhole mich in meinen Photographien. Das schlimme ist: sie langweilen mich mittlerweile. Die Dinge, welche in meinem Kopf herumgehen und die Aspekte, die die Bilder zeigen, kommen nicht zur Deckung. In den seltenen Augenblicken nur flimmert in der Photographie ein Mehr auf, in dem die Widersprüche und die Koinzidenzen zusammenschießen und in einem dialektischen Bild zur Deckung gelangen.

Daily Diary (60) – Flaneure in Berlin

Bilder, dargeboten in der Reihung, so wie der Flaneur in Berlin, genauer gesagt in Berlin-Friedenau sie aufnahm. Naturgemäß zeige ich nicht alle Fotografien, die ich schoß, sondern nur einen Ausschnitt dieses Ausflugs biete ich meinen Leserinnen und Lesern, die heute Betrachterinnen und Betrachter sind und sich damit ganz und gar unmittelbarer Sinnlichkeit hingeben können. In narzißtischer Bildbetrachtungsverzückung reiche ich mir selber, zum Abend hin, einen Chianti, den es zum Kartoffelpüree (natürlich selbstgemacht) mit Petersilien-Pesto (ebenfalls selber hergestellt) sowie Lachs (frisch geschossen aus unserem schönen Deutschen Wald, den wir uns von niemandem nehmen lassen.) gab. In Anbetracht der Situation, daß ich bereits gestern Abend viel Riesling trank, scheint es mir, daß ich im Mai mein Projekt „Der Blogtrinker“ aufnehmen kann, da inzwischen die Konditionierung wieder stimmt. Die letzten Reste des bösen Epstein-Barr sind entwichen.

Hier aber die Photographien. In zeitlicher Abfolge, wobei sich daran die Frage knüpft, wieweit eine Photographie die Zeit abbilden, einfrieren oder gar ihr Wesen und ihre Merkmale in irgend einer Weise zur Darstellung bzw. in eine Art von Präsenz bringen kann. Die Repräsentationformen der Kunst als Präsenzmaschine imaginierter Gegenwart. [Und jetzt müßte ich zudem heideggern: die Gegenwärtigkeit des Seins (im Bild). Mit den Texten Heideggers das moderne Medium des digitalen Bildes, der Fotografie  überschreiben: auch dies wäre eines der Projekte, die es irgendwann zu verwirklichen gilt. Aber es steht andererseits – ich springe wieder einmal und assoziiere – immer noch ein Text zum dialektischen Bild bei Adorno und Benjamin aus. Ein Mehrteiler versteht sich.]

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