„Wir müssen die Zukunft neu erfinden und
die Gegenwart schöpferischer gestalten. Lassen wir Disneyland und denken wir an Marcuse.“
(Michel Foucault)
Das ist im Titel dieser kleinen Würdigung allerdings ein schönes Bob-Dylan-Zitat, auch im Blick auf Foucaults Sexpraktiken, als er Anfang der 80er Jahre in Kalifornien lebte. Nachdem er sich 1978 in Japan aufhielt und sich mit Zen-Meditation beschäftigte, um Körper wie Geist zu entgrenzen, reiste er Anfang der 80er Jahre in die USA, durchstreifte die Darkrooms – sozusagen das erweiterte Pendant zum Zen, nur diesmal im aktiven Lustmodus und mit anderen männlichen Körpern vereinigt. Philosophie und Lebenskunst, eine Ästhetik der Existenz, wie er es für seine späte Philosophie im Rückgriff auf die Antike formulierte. Eine Ästhetik als ethische Selbstpraktik, die in der Rezeption leider manches Mißverständnis auslöste, bis hin zu den neoliberalen Eskapaden des Sich-neu-erfindens. Deckname Kreativität. Dennoch wollte Foucault diese Ästhetik als Philosoph nicht bloß theoretisch durchdeklinierten, sondern an solchen Schnittstellen mußte Philosophie praktisch werden. Sie gehörte dem Körper an. „Zen und Kalifornien“ übertitelt Didier Eribon in seiner Foucault-Biographie diese Phase des Probierens.
Aber nicht nur die Lustbarkeiten waren es, sondern ebenso der Philosophie als Theorie galt in den USA Foucaults Trachten. „The fog frog“ nannten ihn mit bösem Ton und in Aversion gegen das Französische die Philosophen aus den Analytischen Departments. Was schlicht Blödsinn ist, denn Foucault schrieb im Vergleich zu Lacan oder Derrida in einem relativ klaren Stil. Inzwischen ist Foucault Teil der Philosophiegeschichte. Sterblichkeit des Denkens. Darin jedes seine Grenze hat.
Ich erinnere mich an die selige Zeit meines Studiums in der Philosophie. Es waren die späten 80er Jahre, in die 90er hineinschlitternd, bis tief in die 90er Jahre sich hinziehend, Geiseln in Gladbeck, die Mauer fiel, Trabis kamen, Deutschland einigte sich als Vaterland, Helmut Kohl sang schräg, zweiter Golfkrieg: grüne Fernsehbilder schossen in die Wohnzimmer und Baudrillard deutete jenes Flimmern platonisch, Bürgerkrieg in Jugoslawien, keiner deutet oder denkt, Berlin wurde Hauptstadt, die UdSSR zerfiel, in Solingen verbrannten Menschen, in Rostock-Lichtenhagen brannten Häuser, Rivalen erschossen den US Rapper The Notorious B.I.G. in Los Angeles, oder seine Plattenfirma tat es als Werbegag, die documenta X ging ins Land, Lady Di starb in Paris.
Foucault war Anfang der 90er Jahre in der Philosophie gut im Schwange, mit böser Zunge kann man behaupten: Foucault war intellektuelle Mode. Ohne Foucault-Theorie im Gepäck konnte ein Student eigentlich auf keiner Party reüssieren und war nicht satisfaktionsfähig. Es gab sogar, wie Jens Balzer in der BLZ berichtete, aus der Generation Pop-Literaten einen Studenten, der legte sich eine extra zerlesene Ausgabe von „Die Ordnung der Dinge“ neben das Bett, ohne sie je gelesen zu haben, um wenigstens optisch-intellektuell beim anderen Geschlecht zu brillieren. Mode war dieser Foucault allein schon aus dem Grunde, um es solchen wie Habermas und überhaupt den liberalen oder sozialdemokratischen Vernunftaposteln zu zeigen. Aber ebenso reizte diese Verbindung von Philosophie und Leben: ein Dandy mit Rollkragenpullover, mit Lederjacke im Berliner Nachtleben. Der Glatzkopf. Ein Habitus, wie wir ihn – Philosophie als intellektuelle Mode – ansonsten lediglich bei seinem Widerpart Sartre fanden. Manche dachten, der Habitus färbe ab, wenn man nur die Bücher im Schrank hätte und die Titel zitierte. Doch dem ist nicht so.
Umtriebig und politisch, die Studenten der Fachschaft, und da hockte Antje am Boden des Seminarflurs, sie malte, beschrieb ein Stück Stoff. Antje reckte ihren Po in die Höhe, die enge Jeans umspannte ihre Rundung schmeichelhaft, und ich stellte mir vor, wie sich an dieser Stelle wohl „Überwachen und Strafen“ inszenieren ließe, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Antjes Arsch war formidabel, obwohl ich sie nicht erotisch fand. Aber diesen Gedanken aufschiebend, weil er mich von meinem eigentlichen Anliegen wegführte, fragte ich, was sie male, ob wieder Studentenstreik sei. Ich bemühte mich, meine Stimme nicht ironisch klingen zu lassen, sondern möglichst neutral, wenn nicht interessiert. Da Antje freundlich antwortete, schien meine Mimesis ans Harmlose aufgegangen. „Wir machen Plakate für die Freilassung der Gefangenen“ „Welcher Gefangenen? RAF?“ „Nein, aller. Die Öffnung der Gefängnisse, die Änderung der Haftbedingungen.“ Ja, es war Foucault-Seminar am Institut, und begierig sogen die Studenten die richtige Praxis auf, indem sie „Überwachen und Strafen“ und „Wahnsinn und Gesellschaft“ lasen. Mir war nicht wohl dabei, jegliche Klapse und jeglichen Knast zu öffnen, und ich weiß nicht, ob Antje glücklich wäre, wenn plötzlich die eingesperrten Vergewaltiger auf freiem Fuße liefen, um sich bei Antje auf ihre Art zu bedanken. Antje müßte dann, statt Stoffbahnen zu bemalen, wieder auf dem Campus sprühen: „Vergewaltiger, wir kriegen Euch!“ Auf die damalige Werbung eines Joghurt-Herstellers anspielend, mit dessen Produkt man jeden bekäme, pflegte ich bei solchen Debatten lächelnd „Mit Danone“ zu ergänzen, was mir böse Blicke einbrachte.
Der Witz zumindest war Foucault nicht fremd, wenn er in der Einleitung zur „Archäologie des Wissens“ gestand, daß er nicht da sei, wo man ihn vermute, sondern hier stehe, von wo aus er uns Leser lachend ansehe. Schönes Spiel, diesseits des Lustprinzips, mit dem Spulen des Hierundda. Wir imitierten das. Mit verstellter Stimme sprechend und sich den Identifikationen entziehend. „Der maskierte Philosoph“, wie ein Interviewtitel in den legendären Merve-Bändchen lautete, die wir in den Taschen trugen, um im Anschluß an die Kritische Theorie Adornoscher Provenienz die „Mikrophysik der Macht“ oder deren Dispositive auszuforschen. Aber ganz so spielerisch, wie es in manchen seiner Sätze und klang, ging es in Foucaults vielfältigen Werk denn doch nicht zu. Streng und als Historiker in die Archive steigend, befragte Foucault die Quellen. Seine Philosophie zeichnet Achsen zwischen dem Subjekt, dem Wissen, der Macht und der Sexualität. Archäologie, Genealogie und Ethik gaben in den drei unterschiedlichen Feldern die Methoden vor. Am Ende scheiterte es, das Projekt dieser tastenden Philosophie, die immer auch mit seinem Urheber etwas zu tun hatte – wie eigentlich jede gelungene Philosophie am Autor hängt und zugleich doch diesen Autor ausradiert. Das große Projekt Foucaults brach ab. Im Juni 1984 starb Foucault. Wer über Foucaults Leben mehr erfahren möchte, der nehme sich die unbedingt lesenswerte Biographie von Didier Eribon zur Hand.
Auf einen Begriff läßt sich diese Philosophie nur schwer bringen. Nicht die Einheit der Vernunft oder – im traditionellen Sinne – die Frage nach dem Selbstbewußtsein, sondern Strukturen sind ihr Thema, die jedoch nicht als Invarianten, sondern strikt geschichtlich gedacht werden. Poststrukturalismus also. Wobei Foucault ebenso den Begriff der Geschichte auf seine Grundlage befragte. In einer solchen skeptischen Form geriet die Philosophie leicht in die Mise en abyme. Schlechte und auch gelungene Unendlichkeiten lassen sich nur als Kunst und in der Kunst auflösen. Zentrale Figur von Foucaults Theorie ist die Kritik des neuzeitlichen Subjektbegriffes – wir kennen diese Stelle am Ende von „Die Ordnung der Dinge“: Der Mensch, ein Gesicht im Sand, und er reitet auf einem Tiger durch den Dschungel, mit diesem Bild ein Motiv Nietzsches aufgreifend. Am selben Tag wie Nietzsche geboren: 15. Oktober.
Zentraler Aspekt und Terminus dürfte zudem der Begriff der Kritik sein. Darin an Kant und ebenso an Nietzsche geschult. Einerseits fragte Foucault nach den Bedingungen der Möglichkeit von Gesellschaft, ohne dabei auf hegelianische bzw. dialektische Figuren der Aufhebung zu rekurrieren. Ob ihm freilich diese Perspektivierung ohne Dialektik angemessen gelang, darf bezweifelt werden. Die Brüche, die er in der epistemé und in den Übergängen des Wissens insbesondere zum 18. Jahrhundert ausmachte, sind keine Kluft, kein Sprung in eine ganz andere diskursive Praktik, sie zeugen keineswegs von Diskontinuität. Jene Statik kann man bereits in der Einleitung zu „Die Ordnung der Dinge“ festmachen, wenn er die Stellung des Subjekts anhand von Diego Velázquezʼ „Die Hoffräulein“ anschaulich macht: Ein Gemälde. Stillgestellte Zeit, ohne Bewegung, auf den Moment geschossen. Eine kluge Bilddeutung zwar, doch jenseits jeglicher Dialektik.
Dennoch: Foucault probiert es in einer Denk-Variante, die die Tradition der Subjekt-Philosophie überborden sollte. Foucault stellt unsere Begriffssysteme in die Kritik, ohne sich auf jenen festen Punkt zu kaprizieren, und befragte ihre Herkunft. Was sind die untergründigen Mechanismen, weshalb es von den Folterstätten des Mittelalters zu den Gefängnissen und den modernen Strafpraktiken kam? Der Panoptismus als Metapher der Selbstkonditionierung. Daß sich hier die Idee des Humanismus Bahn brach, bezweifelte Foucault in der Tradition von Nietzsches Genealogie. An diesen von Nietzsche inspirierten Satz Foucaults zumindest sollten wir uns beim Blick auf Gesellschaft erinnern, wenn wir freudig einen Umbruch oder ein Ereignis bejubeln:
„Mein Ausgangspunkt ist nicht, daß alles böse ist, sondern daß alles gefährlich ist, was nicht dasselbe ist wie böse. Wenn alles gefährlich ist, haben wir immer etwas zu tun. Deshalb führt meine Position nicht zur Apathie, sondern zu einem Hyper- und pessimistischen Aktivismus.“
Wenn ein Philosoph seit über 30 Jahren tot ist, drängt sich die Frage auf, was von seinem Theoriearsenal für die Gegenwart brauchbar sein kann – um die Waffe der Kritik zu schärfen, wie auch um die Kritik der Waffen angemessen zu betreiben. Ganz sicher bleibt jene „Hermeneutik des Subjekts“, die Foucault in immer neuen Anläufen unternimmt. Denn wir selbst – und kein anderer – sind es, die innerhalb bestimmter Gesellschaftsmodelle philosophieren, und gleichzeitig ist nichts an diesem Selbst gesichert, Foucault rekurriert in dieser Hermeneutik nicht auf die traditionellen Methoden. Das Subjekt ist Effekt, auch wenn es sich als Herr dünkt. Foucault ging es um jenes ganz Andere, das nicht wir sind, das nicht ich ist und das dennoch in einer bestimmten Art sich in der Philosophie in Anschlag bringt. Ein sich überschlagendes Denken, das es vermag, sich noch selbst in den Rücken zu fallen:
„Das Motiv, das mich getrieben hat, ist sehr einfach. Manchen, so hoffe ich, könnte es für sich selber genügen. Es war Neugier – die einzige Art Neugier, die die Mühe lohnt, mit einiger Hartnäckigkeit betrieben zu werden: nicht diejenige, die sich anzueignen sucht, was zu erkennen ist, sondern die, die es gestattet, sich von sich selber zu lösen. Was sollte die Hartnäckigkeit des Wissens taugen, wenn sie nur den Erwerb von Erkenntnissen brächte und nicht in gewisser Weise und so weit wie möglich das Irregehen dessen, der erkennt? Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen oder Weiterdenken unentbehrlich ist. […]
Der ‚Versuch‘ – zu verstehen als eine verändernde Erprobung seiner selber und nicht als vereinfachende Aneignung des andern zu Zwecken der Kommunikation – ist der lebende Körper der Philosophie, sofern diese jetzt noch das ist, was sie einst war: eine Askese, eine Übung seiner selber, im Denken.“
(Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste)
Photographien Foucault: Internet
Photographien vom Meer, von Gesichtern und Schatten, Ostsee, Ende September 1993: © Bersarin, auf Ilford HP5