„Überwachen und Strafen“: It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding). Zum 90. Geburtstag von Michel Foucault

„Wir müssen die Zukunft neu erfinden und
die Gegenwart schöpferischer gestalten. Lassen wir Disneyland und denken wir an Marcuse.“
(Michel Foucault)

foucault56Das ist im Titel dieser kleinen Würdigung allerdings ein schönes Bob-Dylan-Zitat, auch im Blick auf Foucaults Sexpraktiken, als er Anfang der 80er Jahre in Kalifornien lebte. Nachdem er sich 1978 in Japan aufhielt und sich mit Zen-Meditation beschäftigte, um Körper wie Geist zu entgrenzen, reiste er Anfang der 80er Jahre in die USA, durchstreifte die Darkrooms – sozusagen das erweiterte Pendant zum Zen, nur diesmal im aktiven Lustmodus und mit anderen männlichen Körpern vereinigt. Philosophie und Lebenskunst, eine Ästhetik der Existenz, wie er es für seine späte Philosophie im Rückgriff auf die Antike formulierte. Eine Ästhetik als ethische Selbstpraktik, die in der Rezeption leider manches Mißverständnis auslöste, bis hin zu den neoliberalen Eskapaden des Sich-neu-erfindens. Deckname Kreativität. Dennoch wollte Foucault diese Ästhetik als Philosoph nicht bloß theoretisch durchdeklinierten, sondern an solchen Schnittstellen mußte Philosophie praktisch werden. Sie gehörte dem Körper an. „Zen und Kalifornien“ übertitelt Didier Eribon in seiner Foucault-Biographie diese Phase des Probierens.

Aber nicht nur die Lustbarkeiten waren es, sondern ebenso der Philosophie als Theorie galt in den USA Foucaults Trachten. „The fog frog“ nannten ihn mit bösem Ton und in Aversion gegen das Französische die Philosophen aus den Analytischen Departments. Was schlicht Blödsinn ist, denn Foucault schrieb im Vergleich zu Lacan oder Derrida in einem relativ klaren Stil. Inzwischen ist Foucault Teil der Philosophiegeschichte. Sterblichkeit des Denkens. Darin jedes seine Grenze hat.

sarte-foucault-deleuze-672x372Ich erinnere mich an die selige Zeit meines Studiums in der Philosophie. Es waren die späten 80er Jahre, in die 90er hineinschlitternd, bis tief in die 90er Jahre sich hinziehend, Geiseln in Gladbeck, die Mauer fiel, Trabis kamen, Deutschland einigte sich als Vaterland, Helmut Kohl sang schräg, zweiter Golfkrieg: grüne Fernsehbilder schossen in die Wohnzimmer und Baudrillard deutete jenes Flimmern platonisch, Bürgerkrieg in Jugoslawien, keiner deutet oder denkt, Berlin wurde Hauptstadt, die UdSSR zerfiel, in Solingen verbrannten Menschen, in Rostock-Lichtenhagen brannten Häuser, Rivalen erschossen den US Rapper The Notorious B.I.G. in Los Angeles, oder seine Plattenfirma tat es als Werbegag, die documenta X ging ins Land, Lady Di starb in Paris.

Foucault war Anfang der 90er Jahre in der Philosophie gut im Schwange, mit böser Zunge kann man behaupten: Foucault war intellektuelle Mode. Ohne Foucault-Theorie im Gepäck konnte ein Student eigentlich auf keiner Party reüssieren und war nicht satisfaktionsfähig. Es gab sogar, wie Jens Balzer in der BLZ berichtete, aus der Generation Pop-Literaten einen Studenten, der legte sich eine extra zerlesene Ausgabe von „Die Ordnung der Dinge“ neben das Bett, ohne sie je gelesen zu haben, um wenigstens optisch-intellektuell beim anderen Geschlecht zu brillieren. Mode war dieser Foucault allein schon aus dem Grunde, um es solchen wie Habermas und überhaupt den liberalen oder sozialdemokratischen Vernunftaposteln zu zeigen. Aber ebenso reizte diese Verbindung von Philosophie und Leben: ein Dandy mit Rollkragenpullover, mit Lederjacke im Berliner Nachtleben. Der Glatzkopf. Ein Habitus, wie wir ihn – Philosophie als intellektuelle Mode – ansonsten lediglich bei seinem Widerpart Sartre fanden. Manche dachten, der Habitus färbe ab, wenn man nur die Bücher im Schrank hätte und die Titel zitierte. Doch dem ist nicht so.

foucault5Umtriebig und politisch, die Studenten der Fachschaft, und da hockte Antje am Boden des Seminarflurs, sie malte, beschrieb ein Stück Stoff. Antje reckte ihren Po in die Höhe, die enge Jeans umspannte ihre Rundung schmeichelhaft, und ich stellte mir vor, wie sich an dieser Stelle wohl „Überwachen und Strafen“ inszenieren ließe, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Antjes Arsch war formidabel, obwohl ich sie nicht erotisch fand. Aber diesen Gedanken aufschiebend, weil er mich von meinem eigentlichen Anliegen wegführte, fragte ich, was sie male, ob wieder Studentenstreik sei. Ich bemühte mich, meine Stimme nicht ironisch klingen zu lassen, sondern möglichst neutral, wenn nicht interessiert. Da Antje freundlich antwortete, schien meine Mimesis ans Harmlose aufgegangen. „Wir machen Plakate für die Freilassung der Gefangenen“ „Welcher Gefangenen? RAF?“ „Nein, aller. Die Öffnung der Gefängnisse, die Änderung der Haftbedingungen.“ Ja, es war Foucault-Seminar am Institut, und begierig sogen die Studenten die richtige Praxis auf, indem sie „Überwachen und Strafen“ und „Wahnsinn und Gesellschaft“ lasen. Mir war nicht wohl dabei, jegliche Klapse und jeglichen Knast zu öffnen, und ich weiß nicht, ob Antje glücklich wäre, wenn plötzlich die eingesperrten Vergewaltiger auf freiem Fuße liefen, um sich bei Antje auf ihre Art zu bedanken. Antje müßte dann, statt Stoffbahnen zu bemalen, wieder auf dem Campus sprühen: „Vergewaltiger, wir kriegen Euch!“ Auf die damalige Werbung eines Joghurt-Herstellers anspielend, mit dessen Produkt man jeden bekäme, pflegte ich bei solchen Debatten lächelnd „Mit Danone“ zu ergänzen, was mir böse Blicke einbrachte.

Der Witz zumindest war Foucault nicht fremd, wenn er in der Einleitung zur „Archäologie des Wissens“ gestand, daß er nicht da sei, wo man ihn vermute, sondern hier stehe, von wo aus er uns Leser lachend ansehe. Schönes Spiel, diesseits des Lustprinzips, mit dem Spulen des Hierundda. Wir imitierten das. Mit verstellter Stimme sprechend und sich den Identifikationen entziehend. „Der maskierte Philosoph“, wie ein Interviewtitel in den legendären Merve-Bändchen lautete, die wir in den Taschen trugen, um im Anschluß an die Kritische Theorie Adornoscher Provenienz die „Mikrophysik der Macht“ oder deren Dispositive auszuforschen. Aber ganz so spielerisch, wie es in manchen seiner Sätze und klang, ging es in Foucaults vielfältigen Werk denn doch nicht zu. Streng und als Historiker in die Archive steigend, befragte Foucault die Quellen. Seine Philosophie zeichnet Achsen zwischen dem Subjekt, dem Wissen, der Macht und der Sexualität. Archäologie, Genealogie und Ethik gaben in den drei unterschiedlichen Feldern die Methoden vor. Am Ende scheiterte es, das Projekt dieser tastenden Philosophie, die immer auch mit seinem Urheber etwas zu tun hatte – wie eigentlich jede gelungene Philosophie am Autor hängt und zugleich doch diesen Autor ausradiert. Das große Projekt Foucaults brach ab. Im Juni 1984 starb Foucault. Wer über Foucaults Leben mehr erfahren möchte, der nehme sich die unbedingt lesenswerte Biographie von Didier Eribon zur Hand.

foucault-balcony-672x372Auf einen Begriff läßt sich diese Philosophie nur schwer bringen. Nicht die Einheit der Vernunft oder – im traditionellen Sinne – die Frage nach dem Selbstbewußtsein, sondern Strukturen sind ihr Thema, die jedoch nicht als Invarianten, sondern strikt geschichtlich gedacht werden. Poststrukturalismus also. Wobei Foucault ebenso den Begriff der Geschichte auf seine Grundlage befragte. In einer solchen skeptischen Form geriet die Philosophie leicht in die Mise en abyme. Schlechte und auch gelungene Unendlichkeiten lassen sich nur als Kunst und in der Kunst auflösen. Zentrale Figur von Foucaults Theorie ist die Kritik des neuzeitlichen Subjektbegriffes – wir kennen diese Stelle am Ende von „Die Ordnung der Dinge“: Der Mensch, ein Gesicht im Sand, und er reitet auf einem Tiger durch den Dschungel, mit diesem Bild ein Motiv Nietzsches aufgreifend. Am selben Tag wie Nietzsche geboren: 15. Oktober.

Zentraler Aspekt und Terminus dürfte zudem der Begriff der Kritik sein. Darin an Kant und ebenso an Nietzsche geschult. Einerseits fragte Foucault nach den Bedingungen der Möglichkeit von Gesellschaft, ohne dabei auf hegelianische bzw. dialektische Figuren der Aufhebung zu rekurrieren. Ob ihm freilich diese Perspektivierung ohne Dialektik angemessen gelang, darf bezweifelt werden. Die Brüche, die er in der epistemé und in den Übergängen des Wissens insbesondere zum 18. Jahrhundert ausmachte, sind keine Kluft, kein Sprung in eine ganz andere diskursive Praktik, sie zeugen keineswegs von Diskontinuität. Jene Statik kann man bereits in der Einleitung zu „Die Ordnung der Dinge“ festmachen, wenn er die Stellung des Subjekts anhand von Diego Velázquezʼ „Die Hoffräulein“ anschaulich macht: Ein Gemälde. Stillgestellte Zeit, ohne Bewegung, auf den Moment geschossen. Eine kluge Bilddeutung zwar, doch jenseits jeglicher Dialektik.

Dennoch: Foucault probiert es in einer Denk-Variante, die die Tradition der Subjekt-Philosophie überborden sollte. Foucault stellt unsere Begriffssysteme in die Kritik, ohne sich auf jenen festen Punkt zu kaprizieren, und befragte ihre Herkunft. Was sind die untergründigen Mechanismen, weshalb es von den Folterstätten des Mittelalters zu den Gefängnissen und den modernen Strafpraktiken kam? Der Panoptismus als Metapher der Selbstkonditionierung. Daß sich hier die Idee des Humanismus Bahn brach, bezweifelte Foucault in der Tradition von Nietzsches Genealogie. An diesen von Nietzsche inspirierten Satz Foucaults zumindest sollten wir uns beim Blick auf Gesellschaft erinnern, wenn wir freudig einen Umbruch oder ein Ereignis bejubeln:

„Mein Ausgangspunkt ist nicht, daß alles böse ist, sondern daß alles gefährlich ist, was nicht dasselbe ist wie böse. Wenn alles gefährlich ist, haben wir immer etwas zu tun. Deshalb führt meine Position nicht zur Apathie, sondern zu einem Hyper- und pessimistischen Aktivismus.“

Wenn ein Philosoph seit über 30 Jahren tot ist, drängt sich die Frage auf, was von seinem Theoriearsenal für die Gegenwart brauchbar sein kann – um die Waffe der Kritik zu schärfen, wie auch um die Kritik der Waffen angemessen zu betreiben. Ganz sicher bleibt jene „Hermeneutik des Subjekts“, die Foucault in immer neuen Anläufen unternimmt. Denn wir selbst – und kein anderer – sind es, die innerhalb bestimmter Gesellschaftsmodelle philosophieren, und gleichzeitig ist nichts an diesem Selbst gesichert, Foucault rekurriert in dieser Hermeneutik nicht auf die traditionellen Methoden. Das Subjekt ist Effekt, auch wenn es sich als Herr dünkt. Foucault ging es um jenes ganz Andere, das nicht wir sind, das nicht ich ist und das dennoch in einer bestimmten Art sich in der Philosophie in Anschlag bringt. Ein sich überschlagendes Denken, das es vermag, sich noch selbst in den Rücken zu fallen:

„Das Motiv, das mich getrieben hat, ist sehr einfach. Manchen, so hoffe ich, könnte es für sich selber genügen. Es war Neugier – die einzige Art Neugier, die die Mühe lohnt, mit einiger Hartnäckigkeit betrieben zu werden: nicht diejenige, die sich anzueignen sucht, was zu erkennen ist, sondern die, die es gestattet, sich von sich selber zu lösen. Was sollte die Hartnäckigkeit des Wissens taugen, wenn sie nur den Erwerb von Erkenntnissen brächte und nicht in gewisser Weise und so weit wie möglich das Irregehen dessen, der erkennt? Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen oder Weiterdenken unentbehrlich ist. […]

Der ‚Versuch‘ – zu verstehen als eine verändernde Erprobung seiner selber und nicht als vereinfachende Aneignung des andern zu Zwecken der Kommunikation – ist der lebende Körper der Philosophie, sofern diese jetzt noch das ist, was sie einst war: eine Askese, eine Übung seiner selber, im Denken.“
(Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste)

 

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Photographien Foucault: Internet
Photographien vom Meer, von Gesichtern und Schatten, Ostsee, Ende September 1993: © Bersarin, auf Ilford HP5

 

Pariser Ansichten (2) – Camus und Foucault, auf meinem Weg in die Unterwelt

Orphisch verdreht, die alte Leier, die alten Lieder, es blüht der Flieder. Wieder. Jedes Jahr wieder. Na gut. Ich pflege den Ennuie, der zum Spazieren unerläßlich ist. Absurder Baudelaire-Abklatsch zwar, aber es geht nicht anders und unerläßlich für mein Unterfangen, in jener Großstadt Paris zu wandeln. Pathos als Bathos als Pseudopathos.

[Nach Hegels Ästhetik ist Pathos ein für die Kunst Unerläßliches:
„Das Pathos nun bildet den eigentlichen Mittelpunkt, die echte Domäne der Kunst; die Darstellung desselben ist das hauptsächlich Wirksame im Kunstwerke wie im Zuschauer. Denn das Pathos berührt eine Saite, welche in jedes Menschen Brust widerklingt, jeder kennt das Wertvolle und Vernünftige, das in dem Gehalt eines wahren Pathos liegt, und erkennt es an. Das Pathos bewegt, weil es an und für sich das Mächtige im menschlichen Dasein ist.“ (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik)
Baudelaires Ennuie und Hegels Pathos der Kunst in eine Konstellation bringen. Gegensätzliches zusammensetzen Schnittstelle: Karl-Heinz Bohrer?)]

 Ich steige in die Tiefe, in die Hölle, ich steige in die Metro, fahre zwei Stationen, steige wieder aus, schlendere den Boulevard entlang, daran am Rand zur Fahrbahn grüne Mülltonnen stehen, die zu den Häusern gehören. Die Papierkörbe der Stadtreinigung jedoch sind mit durchsichtigen Plastiksäcken ersetzt, damit niemand große, schwere, explosive Gegenstände hineinlegen kann.

Distanz und Teilnahmslosigkeit: Lediglich zu registrieren. Augen wie Photoapparate. Ich bin ein Fan der Google-Datenbrille, die ständig Bilder macht – gerade fürs diskrete Ablichten von Menschen unerläßlich, weil dieses Gerät noch relativ unbekannt ist. Verstecke für Photoapparate ersinnen, wie dies Walker Evans in New York für seine Subwayphotos tat. Aber diese Brille sollte und darf eigentlich nicht für jeden bestimmt sein. Das Problem liegt in der Masse. Andererseits schätze in den elitären Herrenreitergestus des Pseudo-Nietzscheianers wenig. Sich fern halten. Geht das? Statt solidaire solitaire, wie Camus es in „Der Fall“ oder „Der Fremde“ entwickelte und wie er es in „Die Pest“ wieder umkehrte. Wenn ich Camus wiederläse, lösten diese Romane dasselbe bei mir aus wie damals beim 16jährigen? [Das Verb ennuyieren liebte ich als Jugendlicher und gebrauchte es fein affektiert.] Das Pathos und dieses so direkt Existenziale wären, was Jugend aufwühlt wie sonst nur Wedekinds „Frühlingserwachen“ oder Goethes „Werther“, und schmölzen am Ende und im Prozeß des Alterns dahin. Ungerecht sicherlich, daß Camus von Foucault geschmäht wurde. Foucaults Kritik am Humanismus ist nicht von der Hand zu weisen, und es kam mittels poststrukturaler Philosophie ein neuer Ton ins Denken der französischen Subjektphilosophie. Im Nachgang aber sind die alten Debatten eben nichts als alt und vergangene Dispute: als säße man in den späten 70ern noch im Café de Flore oder im zehnten Stock des Seminars im Turm, und es könnte dennoch Camus heute vielleicht in einem anderen Licht noch einmal gelesen werden. Abgeklärter sind wir geworden. In den Jahren. Was tun? Nach dem Flanieren? Nach dem Flanieren ist Schreiben der bessere Stil.

„Für den Intellektuellen ist unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidarität etwa noch zu bewähren vermag. Alles Mitmachen, alle Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe ist bloße Maske fürs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen. Einig sein soll man mit dem Leiden der Menschen: der kleinste Schritt zu ihren Freuden hin ist einer zur Verhärtung des Leidens.“
(Adorno, Minima Moralia)

Dies schrieb Adorno 1944 im US-amerikanischen Exil an der Pazifikküste in den „Minima Moralia“ Der Aphorismus heißt „Herr Doktor, das ist schön von Euch“ – jener Satz des Famulus Wagner aus dem „Faust“. Ähnliches gilt für den Photographen: unverbrüchliche Einsamkeit beim Spazieren. Wobei ich Adornos letzten Satz skeptisch lese. Leid wird sich so oder so perpetuieren. Den Menschen die gesellschaftlichen Widersprüche, die eigentlich eklatant vor Augen liegen, wieder und wieder vorzuhalten. Ja, richtig, aber bei vielen Linken führte diese Sicht zu einer vollständig humorbefreiten Haltung. Die neue Frankfurter Schule war in diesem Sinne ein Ausbruch aus dem versteinerten Korsett, ein Weg aus dem Stillstand. Wie auch der frühe Punk und ein daran gekoppelter politischer Hedonismus. Diesen Genuß zu schätzen, gar zu zelebrieren und den Gebrauchswert nie gering zu achten, wußten immer schon die Pariser Intellektuellen (Na ja, einige und einige Deutsche auch. Ist ja eine Typusfrage und keine der Nation nur.) Freilich brauchtʼs dafür in Paris Geld. Ansonsten isste zähes Fleisch, das sich Entrecôte nennt, mit dürftigen Pommes, die an den Enden braun oder schwarz geraten sind, daß ich erst dachte, da hätte jemand Stücke von Schwarzwurzeln zugetan oder angeklebt (wo immer diese Färbung herrühren mag) und Salatblattbeilage. Klägliches Mahl. Auch nicht so schön. Da lieber deutschen Spargel. Zeit ist.

Mein Grandhotel Abgrund – auch am Platz der Republik, wo in Paris der soziale Protest traditionell seinen Ort hat. Bis heute hin, bis zu Nuit Debout. Eine gute Sache. Sicherlich.

 

Ins Archiv gestiegen: Von den alten Hüten, über die Wahrheit zu Party und Altgier

Archiv – das klingt nach staubigen Regalen, nach Akten, Ordnern, vergilbten Folio-Bände und nach Papier, das im Laufe der Zeit mit Schimmel befallen ist. Hustend wenden wir uns fort. Es erinnert an gespenstisch leere Gänge in Kellern oder hohe Räume, durch die von Zeit zu Zeit eine graue Gestalt huscht, die einen dieser Ordner aus seiner unverrückbaren Ordnung heraus zieht, um zu recherchieren. Den Schreiber Bartleby stellen wir uns vor, der an einem solch abgelebten Ort arbeiten könnte, oder Sonderlinge in einer Inszenierung von Christoph Marthaler, der das, was aus der Zeit gefallen und ganz und gar sich dem Modernen zu entziehen trachtet, auf die Bühne bringt und hineinsetzt in die Fünfziger- oder Sechzigerjahre-Bühnenbilder von Anna Viebrock.

Es gibt Begriffe, mit denen assoziieren wir wenig Ansprechendes. Wenngleich das Archiv eben doch bitter notwendig ist, um Vergangenheit in ihren Details und Ausprägungen auszumessen und zu verstehen oder gar, um aus diesem Blick des Archivars heraus einen völlig neuen Dreh zu lesen. Wer sich je intensiv mit den Statistiken über preußische Landwirtschaft und Bevölkerungsentwicklung im 18. Jahrhundert befaßte und im Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz sich aufhielt, um einen Vortrag zu diesem Thema sich anzuhören, weiß um den Reiz und zugleich die für den Nichteigeweihten unendliche Ödnis des Themas. Wer aber je in die leuchtenden Augen des Referenten blickte, der in diese Sache sich versenkte, und wer die wohlgestellten Nachfragen der informierten Zuhörer vernimmt, weiß ungefähr, was ich meine.

Foucault und Derrida etwa waren auf ihre Weise Freunde des Archivs. Foucault wollte gar in das Archiv auch die Aussageformationen hineingenommen wissen und verstand das Ensemble von Aussageformationen selbst bereits als Archiv. Ein Archiv versammelt als System also nicht einfach bloß Texte und Dokumente, aus denen heraus wir Wissen ziehen, sondern vielmehr fördert es oder hindert zuallererst die Bedingungen, unter denen wir bestimmte Aussagen formulieren oder eben nicht aussprechen können. Das Archiv ermöglicht zu einer bestimmten Epoche ein bestimmtes Sprechen und damit bestimmte Diskurse, und es schließt aus, was wir nicht sagen können:

„Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht. Aber das Archiv ist auch das, was bewirkt, daß all diese gesagten Dinge sich nicht bis ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhäufen, sich auch nicht in eine bruchlose Linearität einschreiben und nicht allein schon bei zufälligen äußerlichen Umständen verschwinden; …“ (M. Foucault, Archäologie des Wissens)

Bis zu diesem Punkt sprang die Hälfte der Leser bereits ab. Wer aber hier noch am Ball blieb, wird nun mit einem feinen Tip und Hinweis belohnt. Ähnlich wie beim Begriff des Archivs mag es manchem gehen, wenn er den Titel „Zeitschrift für Ideengeschichte“ liest. Man denkt schweifend wieder ein wenig an Foucault, der ab dem Jahre 1970, als die Wellen des wilden Jahres 68 und das Gesicht im Sand verschwappten und unter dem Strand wieder das Pflaster zum Vorschein kam, auf den Lehrstuhl Geschichte der Denksysteme am Collège de France berufen wurde. Der wilden Praxis folgte die Arbeit der trockenen, öden Theorie. Mitnichten!

9783406559402_largeDie „Zeitschrift für Ideengeschichte“ wurde im Jahre 2006 gegründet, sie feiert also 10jähriges Jubiläum, 10. Jahrgang. Ein Anlaß zum Feiern – und ganz zu recht. Hatte die Gruppe „Poetik und Hermeneutik“ 1987 gediegen einem ihrer Tagungsbände noch den Titel „Das Fest“ gegeben, so hieß das letzte Heft des Jahres 2015 bei den Ideengeschichtlern verwegen „Die Party“, und passend zum Heftthema gab es zudem am 18. Februar im Literaturhaus Berlin ein Jubiläums- und Jubelfest. Überhaupt sind die Themen dieser vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift vielversprechend. Titel wie „Schändung“, „Spinoza“, „Kampfzone“, „Exil“,  „Das Dorf“,  „Wahrheit“, der etwas polemisch-böse Slogan „Kommissar Lukács“: Aber immerhin – dieser zu Unrecht in Vergessenheit geratene „Adorno des Ostens“ wurde einmal wieder genannt. Vielleicht, um sein Denken fruchbar zu machen. „Droge Theorie“, „Konservative Ästhetik“, „Abgrund“: Man öffnet jedes dieser Hefte wie eine kleine Wundertüte, das Preziosen und Trouvaillen zu ihren Gebieten bereithält. Spielzeug und Texte, die Assoziationen wecken und mir etwas zeigen, das ich so bisher nicht sah. Beim Lesen Neuland entdecken. Wie lebt es sich im Dorf? Heideggers Hütte, Feld-, Wald-, Wiesen- und Dorf-Ontologie. Und ausgehend von Robert Walsers Erzählungsband, erfahren wir etwas über Dorfgeschichten in der Literatur des 19. Jahrhundert oder lesen Ethnologisches aus Neuguinea und von der „Idiotie des Stadtlebens“.

Jedes der Hefte hält ein herrliches Sammelsurium, sprudelndes Wissen bereit – nicht nur für den interessierten Laien oder den Wissenschaftler, sondern für alle, die neugierig auf Welt sind. Wissen, das in den Archiven bewahrt liegt, das wir beim Ausgraben von Nebensächlichem oder von Schätzen nun aber finden. Und weil es nicht nur die Neugier gibt, heißt das aktuelle Heft dann, frei nach einem – freilich eher despektierlich gebrauchten – Wort von Nietzsche eben auch mal „Altgier“. Im Abstieg zum Alten und zum skurril Gesammelten, wie etwa das Museum der kleinen Dinge und der Tonscherben des Peter Rühmkorf, die er in seinem Arbeitszimmer in Hamburg-Övelgönne zusammentrug. Genau jenen Archiven und der Vergangenheit verschrieben, die uns durch eine überraschende Wendung oder einen literarischen Blick in neuem Licht gezeigt wird – etwa der in seiner Ästhetik geniale wie zugleich in seinen politischen Thesen zum Falkland-Krieg fragwürdige Karl Heinz Bohrer, der im aktuellen Heft literarisch-essayistisch von seiner Zeit im England der 60er, 70er wie auch der frühen 80er Jahre erzählt. Bohrer, der zum Fußball pilgert und vom Pop angetan ist, dem es im Journalismus und bei der FAZ zu eng wurde. Bohrer – ein Halbachtundsechziger. Mir zumindest hat diese Schreibweise Lust darauf gemacht, auch seine Biographie „Granatsplitter“ zu lesen. Denn Bohrer versteht zu schreiben.

Wir sind ganz wild darauf zu schauen, was im nächsten Heft kommt und möchten, sofern man nicht 2007 mit dem Sammeln anfing, ebenso erfahren, was in den alten Ausgaben geschrieben steht: Was ist nochmal Wahrheit, Baby? Was sind „Anfänger? Im „Party“-Heft erfahren wir zum Beispiel von einem fröhlich-wilden Faschings-Fest, das das Ehepaar Paul und Hannah Tillich unter dem Titel „Die Realdialektik“ im Jahre 1932 veranstalteten – den „Paulus unter den Juden“ nannten ihn die Teilnehmer dieses Denker-Kreises in Frankfurt-Niederrad spaßhaft, denn das Gros des Kreises waren jüdische Intellektuelle: Adorno, der bei Tillich Assistent war und seine Habilitation über Kierkegaard schrieb, Max und Maidon Horkheimer, Karl Mannheim, Walter Benjamin (gerüchteweise), Leo Löwenthal, Max Wertheimer. Aber auch Friedrich Pollock, Raoul Hausmann, Adornos Gefährtin Gretel Karplus und andere nahmen teil, tanzten, frönten Ausschweifungen, Alkohol und anderen Drogen. Selbst in der Partnerwahl und bei Freisprüngen nahm es mancher Gast nicht so genau, so hieß es, und ließ dem Untertitel der Feier „Durch Spruch und Widerspruch zur Einheit“ ein Fünkchen erotischer realitas angedeihen. Ein Jahr später war der schöne Zauber vorbei und den dialektischen Féerien folgte das Entsetzen, ein Spuk begann. Die Tillichs immigrierten zusammen mit Horkheimer und anderen in die USA. Kleine Nebengeschichten zur großen Weltgeschichte werden uns da präsentiert, die dennoch in den Details und in den unscheinbaren Aspekten eines Alltags von Intellektuellen den Blick für das Ganze uns öffnen. Als die Tillichs zusammen mit Freunden 1933 in New York Weihnachten unter dem Lichterbaum mit Kerzen feiern, die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium lesen und die schönen deutschen Weihnachtslieder singen, fließen bittere Tränen. Heimat hat mit Herkunft zu tun.

Weiterhin gibt es Photos von Feiern aus dem Hause des Suhrkampverlegers Siegfried Unseld zu sehen, die 60er und 70er Jahre: Habermas zusammen mit Luhmann auf einer Photographie, auf einer Couch hockend, wobei Habermas leicht angeschnitten aus dem rechten Bildrand herausfällt, Handke, Enzensberger, Raddatz, Johnson, Bloch – die alten Männer, die alte BRD, Handke noch jung und spackig, wie ein Jüngelchen ausschauend. (Während der Betreiber dieses Blogs in seinen jungen Jahren so wild und verwegen dreinblickte, dafür er dann im Alter, von der Last des Bloggens gezeichnet, immer unscheinbarer wurde, während Handke immer reifer und reifer aussah wie eine kurz vor dem Zerplatzen sich befindende Frucht mit Gesichtsfurche.)

IMG_20141129_0003Hans Bude schreibt eine „Soziologie der Party“. Das hartcoole Westberlin des Punk: neonhelle Babies und Blixa Bargeld: „Jeder Party ist eine Praxis von Behauptungen“. Nicht erst seit Felschs wunderbarem „Der lange Sommer der Theorie“ wissen oder ahnten wir immer schon, daß die Party die wahre Form der Philosophie ist – die Geburt der Philosophie: auch aus dem Geist des Symposions. Zumindest in ihren lichten,  dionysischen  Augenblicken: Zeit des Ereignisses, der stillgestellten Zeit, Zeit der Selbstdarsteller, wie der versunken Küssenden, der Labersäcke und der beharrlichen Erklärer. Mann erklärt Frau Welt. Mir waren immer die Frauen lieb, die dem Mann widersprachen und frech was entgegenhielten. Nicht das jammervolle Mansplaining anklagen und neben den 10 Geboten noch 130 weitere Moralregeln aufstellen, sondern Arsch hoch und selber was sagen. Auch die Party ist eine Weise des Ereignisses,  vielleicht sogar im Lyotardschen Sinne, wie es für das Erhabene gilt: Geschieht es?

Die „Zeitschrift für Ideengeschichte“ ist ein großer Gewinn und ich rate jedem zu einem Abonnement. Sie erscheint im Verlag C.H. Beck und kostet im Jahr 48,- EUR. Die Hefte gibt es ebenso zum Einzelpreis von 14,00 EUR. Gerade diese Zeitschrift zeigt, wie sinnvoll es sein kann und wie klug man es veranstalten kann, bestimmte Themen zu bündeln und dabei doch auf eine digressive Weise zu behandeln. Vielfalt in Einheit.

D.A.F.: Dialektik der Gewalten. Zum 200. Todestag des Marquis de Sade

„Jeden Augenblick leiden und sterben Tausende von Menschen, vergeblich und ungerecht, und es berührt uns nicht; nur zu diesem Preis können wir überhaupt leben. Sades Verdienst ist nicht nur, daß er herausgeschrien hat, was sich jeder nur schamhaft eingesteht, sondern auch, daß er nicht Partei für die Gleichgültigkeit ergriffen hat. Gegen die Gleichgültigkeit hat er die Grausamkeit gewählt.“ (Simone de Beauvoir, Soll man de Sade verbrennen?)

Am 2. Dezember 1814 verstarb in der Irrenanstalt zu Charenton Donatien-Alphonse-François de Sade friedlich in seinem Bett. Entgegen der testamentarischen Verfügung Sades wurde das, was von seinem Körper übrigblieb, auf dem Friedhof von Charenton beigesetzt. Nur wenige Monate vordem wurde Napoleon Bonaparte auf die Insel Elba verbannt. Der Marquis de Sade saß mit kurzen Unterbrechungen seit 1763 in verschiedenen Festungen und Gefängnisse in Haft – das bekannteste: die Bastille –, wo er einen Großteil seiner Werke verfaßte. Auf kleinen Papierrollen schrieb er sein wohl bekanntestes Werk: „Die 120 Tage von Sodom oder die Schule der Libertinage“. Das bewegte und eigenwillige Leben des Marquis de Sade ist in Volker Reinhardts jüngst im Beck Verlag erschienener Biographie „De Sade oder Die Vermessung des Bösen“ nachzulesen. Sie verschafft einen guten Überblick über die Stationen seines Lebens und skizziert knapp das Werk de Sades. In der Interpretation des Werkes bleibt das Buch jedoch vage und hält sich zurück. Insofern verspricht der Titel mehr, als er am Ende einlöst. Philosophisch gesättigte oder literaturwissenschaftliche Einordnungen bleiben weitgehend aus, es vergegenwärtigt jedoch die Zeit jenes Frankreichs kurz vor der Französischen Revolution sowie Sades Jahre während dieses Umbruchs.

Sades Verdienst besteht ebenso darin, die Liebe als das überführt zu haben, was sie ist und sie auszuwetzen. Eine feine Illusion, der wir uns in poetischer Abschweifung hingeben. Dennoch beharrt Justine in ihrer Tugendhaftigkeit. Sie wird es nicht überleben, denn die erhabenste Naturgewalt streckt sie nieder: ein Blitz.

MAX ERNST 5Selten wohl klafften bei einem Autor Werk und Wirkung derart auseinander wie bei Sade. Immer wieder in aller Munde, sei’s im Oberton der moralischen Empörung oder als mehr oder minder banale SM-Szene verniedlicht – doch selten nur gelesen. Der Herr Marquis de Sade wäre sicherlich vor Lachen vom Stuhl gefallen, wenn er erführe, daß in der sexuellen Praxis nach den von seinen Romanfiguren praktizierten Züchtigungsvorlieben verfahren wurde, aber bei zu arger Steigerung mit Rufen eines Exit-Wortes die Prozedur zugleich zu ihrem Ende käme. Gerade da, wo es über das Exit-Wort hinaus ging, setzt der Text Sades ein. Erbarmungslos, grausam. BDSM und die in einen Text gebrachten Sexualitätsphantasien des Sades sind zwei sehr verschiedene Aspekte. (Wenngleich es Grenzgänge gibt.)

In Lektüre und Interpretation wurde Sades Text durch Referenzrahmenbestätigung der je eigenen Theorien häufig entschärft. Daran waren teils auch seine Apologeten nicht ganz unschuldig, wie etwa Guillaume Apolinaire und André Breton in seinen „Surrealistischen Manifesten“. Denn was Sade schilderte und schrieb, läßt sich auf der unmittelbaren Ebene des Gelesenen schwierig in Theorie umpolen – es sei denn um den Preis der puren Akklamation von Gewalt und Grausamkeit. Ob Sade im buchstäblichen Sinne meinte, was er schrieb, läßt sich kaum entschlüsseln (und ist für die Literatur sowieso nebensächlich), auch hier wieder der dezente Wink: Vom Autor nicht auf das Werk und vom Werk nicht auf den Autor zu schließen. Ein Werk wandelt sich im Prozeß der Literatur in den Text. Als Gewebe und Geflecht von Bezügen, die sich – zuweilen lesbar, manchmal wieder unlesbar – verdichten. Man muß Sades Text buchstäblich nehmen und zugleich auf seine Strukturierung den Blick lenken. Mitnichten handelt es sich dabei jedoch um die Befreiung der Sexualität. So sagte Michel Foucault 1975 in einem Interview „… daß Sade die Erotik formuliert hat, die zu einer Disziplinar-Gesellschaft gehört, zu einer reglementierten und hierarchisierten Gesellschaft der Anatomie – mit ihrer sorgfältig eingeteilten Zeit und ihren in Planquadrate aufgeteilen Räumen, mit ihrem Gehorsam und ihrer Überwachung. (…) Umso schlimmer also für die literarische Heiligsprechung Sades, umso schlimmer für Sade: er langweilt uns, ist ein Mensch der Disziplin, ein Sergeant des Sex, ein Rechnungsbeamter der Ärsche und ihrer Entsprechungen.“

MAX ERNST 6Sade nahm in seinen Schriften Rousseaus Begriff der Natur beim Wort. Zurück zur Natur! Allerdings in einem ganz anderen Sinne als von Rousseau intendiert, und er verkehrte die Vorzeichen. Rousseaus Imagination einer unschuldigen Natur, zu der der Mensch, um das Verderbnis von Kultur abzuwenden, sich wieder hinzuwenden habe, jener Naturzustand, wo Mensch und Natur miteinander im Einklang sich befinden, erweist sich bei Sade als schöne Illusion. Die Rückkehr zu Natur bedeutet vielmehr: in vollständig durchexerzierter Konsequenzlogik deren Grausamkeit anzuerkennen sowie die Tatsache, daß im Gebiet der Natur keine Moral und Sitte sei, sondern das Recht der Stärke. Sade war bestrebt, den Rousseauismus seiner Zeit zu widerlegen. Das tat ihm ein anderer und in sehr viel literarischerer Weise rund 40 Jahre später nach: Charles Baudelaire, dem die Natur nichts als Verderbnis war, der es die „künstlichen Paradise“ entgegenzustellen gälte. Schönheit der Verwesung: Une Charogne und Lob der Schminke, der parfümierte Dandy und die Kunstwelten waren es, worauf sich Baudelaire kaprizierte. Seine Kritik von Bürgertum siedelte in der Poesie, in den Prosagedichten, die auf Paris blicken, und in den essayistischen Passagen. Das Maliziöse, die Ästhetik des Bösen und Häßlichen, dem ebenso sein Reiz abzugewinnen war. Menschen in der Menge. Dichter und Spieler. Gestemmt gegen die Gesellschaft, mit den Mitteln der Kunst. (Baudelaire war jedoch nicht primär ein Provokateur, genausowenig wie Sade, vielmehr erwies er sich in seinen Essays zu den Pariser Salons als ausgesprochen kunstsinnig. Ähnliches ist von Sade nicht übermittelt.)

Die Natur Sades ist eine der Grausamkeit. Befolgt man sie konsequent, so hat dies – auf der unmittelbaren direkten Ebene des Textes – die ungehemmte und egoistische Lustmaximierung zur Folge. Was sich insbesondere bei Sade beobachten läßt, ist der Wechsel zwischen sexueller Ausschweifung und philosophischer Reflexion: nicht nur in seiner „Philosophie im Boudoir“, wo nach den Belehrungen über die Möglichkeiten des gesteuerten Sexes „Ein hübsches Mädchen sollte sich damit befassen zu ficken und niemals zu zeugen.“ die Reflexion auf Gesellschaft einbaut ist: der Kampf aller gegen alle ist nicht nur Naturzustand im Hobbeschen Sinne, sondern Sade malt ungeschönt eine Gesellschaft, wie sie an sich selbst, geradezu kannibalistisch vorzufinden ist: Einige Jahrzehnte später wird man schreiben können: das Kapital kennt keine Moral, sondern lediglich die Vermehrung des Profits. Es zähmen zu wollen, wird sich als läppisches Unterfangen herausstellen.

In dieser aufklärungskritischen Weise – freilich mit den Mitteln der philosophischen Aufklärung – zeichneten Adorno und Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ ein Bild von de Sade, das seinen Text als die Konsequenz einer eindimensionalen und rational verkürzten Aufklärung und Moderne las: Adorno und Horkheimer betrachteten die von de Sade geschilderten Grausamkeiten als die notwendige und der Aufklärung immanente Kehrseite, indem jene Ratio der Aufklärung sowie deren gesellschaftlichen Entäußerungen sensu stricto befolgt wurde: nicht nur Saturn, sondern auch die Revolution frißt ihre Kinder – mit Genuß und zugleich planvoll: Zeitzeichen:

„Sade hat den Staatssozialismus zu Ende gedacht, bei dessen ersten Schritten St. Just und Robespierre gescheitert sind. Wenn das Bürgertum sie, seine treuherzigsten Politiker, auf die Guillotine schickte, so hat es seinen offenherzigsten Schriftsteller in die Hölle der Bibliothèque Nationale verbannt. Denn die chronique scandaleuse Justines und Juliettes, die, wie am laufenden Band produziert, im Stil des achtzehnten Jahrhunderts die Kolportage des neunzehnten und die Massenliteratur des zwanzigsten vorgebildet hat, ist das homerische Epos, nachdem es die letzte mythologische Hülle noch abgeworfen hat: die Geschichte des Denkens als Organs der Herrschaft.

[…]

Die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrieen zu haben, hat den Haß entzündet, mit dem gerade die Progressiven Sade und Nietzsche heute noch verfolgen. Anders als der logische Positivismus nahmen beide die Wissenschaft beim Wort. Daß sie entschiedener noch als jener auf der Ratio beharren, hat den geheimen Sinn, die Utopie aus ihrer Hülle zu befreien, die wie im kantischen Vernunftbegriff in jeder großen Philosophie enthalten ist: die einer Menschheit, die, selbst nicht mehr entstellt, der Entstellung nicht länger bedarf. Indem die mitleidlosen Lehren die Identität von Herrschaft und Vernunft verkünden, sind sie barmherziger als jene der moralischen Lakaien des Bürgertums.“ (Th. W. Adorno/M. Horkheimer, Dialektik der Aufklärung)

woodman49_20090415_1302241151Die kalkulierende Vernunft, einmal entfesselt und in dieser Weise sich diversifizierend, treibt sich nicht nach den Grundsätzen einer ihr abstrakten Moral oder im Habermaschen Sabbeldiskurs um, sondern sie gesteht sich die Maximierung ihrer Interessen ein – darin sich ganz und gar der Natur anverwandelnd. Zumindest einer Natur, wie sie von der westlich-naturwissenschaftlich orientieren Blickachse gesetzt wird. „Die dunklen Schriftsteller des Bürgertums haben nicht wie seine Apologeten die Konsequenzen der Aufklärung durch harmonistische Doktrinen abzubiegen getrachtet. Sie haben nicht vorgegeben, daß die formalistische Vernunft in einem engeren Zusammenhang mit der Moral als mit der Unmoral stünde. Während die hellen das unlösliche Bündnis von Vernunft und Untat, von bürgerlicher Gesellschaft und Herrschaft durch Leugnung schützten, sprachen jene rücksichtlos die schockierende Wahrheit aus.“ (Adorno/Horkheimer)

In einer ganz anderen Weise näherte sich Roland Barthes in seinem Buch „Sade Fourier Loyola“ dem Text Sades, nämlich als einem Produkt der Literatur und einer Weise des spezifisch literarischen Schreibens:

„Das macht die Einzigartigkeit des Sadeschen Werkes aus – und gleichzeitig zeichnet sich das Verbot ab, das über das Werk verhängt wird: die von Sade ersonnene Gesellschaft, die wir anfangs glaubten, als ‚imaginäre‘ Gesellschaft mit ihrer spezifischen Zeit, ihren Sitten, ihrer Bevölkerung, ihrem Handeln beschreiben zu können, diese Gesellschaft ist ganz aufs Sprechen ausgerichtet, nicht weil sie die Schöpfung eines Romanschreibers ist (was eine äußerst banale Situation wäre), sondern weil im Sadeschen Roman ein anderes Buch steckt, ein aus reinem Schreiben gewebtes Textbuch, das alles bestimmt, was sich ‚imaginär‘ im ersten abspielt: es geht nicht ums Erzählen, sondern darum, zu erzählen, daß erzählt wird.“ (Hervorhebung von N.E.B.)

So jenes Geschehen im Schloß Silling, das allerdings mehr einer hermetischen Festung gleicht, in die kein Hinein- und schon gar kein Hinausgelangen ist, in den „120 Tagen von Sodom“. Es werden dort Geschichten erzählt. Diese Struktur des Sadeschen Erzählens beschreibt Barthes als ein Textgeschehen das nicht mehr im Poetisieren seinen Ort hat, sondern einer Rhetorik und dem Zeichenhaften unterliegt: nicht „Mimesis“ trägt den Text Sades, sondern „Semiosis“, also Zeichenprozesse. Barthes untersucht die rhetorischen Figuren des Textes und gewinnt damit der Prosa Sades etwas ab, das diesseits zur monotonen Sexualisierung in ihren eigenartigsten Spielarten sowie des Politischen existenzialer Parteinahme liegt, wie sich dies etwa Albert Camus oder in anderer Weise Simone de Beauvor vorstellten.

Nachtrag: Wer zudem etwas über die „Funktion der Präsenz im Sadeschen Phantasma“ lesen möchte, der sei auf Jacques Lacans Aufsatz „Kant mit de Sade“ verwiesen, der sich in den Schriften II befindet.

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Von mir abgelichtet und festgehalten 2014 in Wien, in der Berggasse, ganz in der Nähe des Hauses, wo Sigmund Freud in seiner Praxis psychoanalytisch therapierte.

Die ersten beiden Kupferstiche im Text wurden von Max Ernst gefertigt. Die Photographie stammt von Francesca Woodman aus ihrer Serie der Selbstportraits.

Die Logiken der Sammlung – All das köstliche Krebsfleisch!

Ich betrete das Museum für Völkerkunde in Dahlem, schlendere zunächst wie ein Spaziergänger zwischen den Objekten, um mich auf die Kontemplation einzustimmen. Museum ist Zen-Buddhismus für den Bewohner des Okzidents. Der Okzidentale wandelt sich im guten alten Museum zum beruhigten Bewohner der Innenwelt. Ich setze mich, bringe die Sinne zusammen. Vergeblich. Kinder turnen herum, sie machen Lärm, halten den Ort für einen besonderen Spielplatz. Solche Kinder-Besuche mögen museumspädagogisch wertvoll sein, dennoch bin ich der Meinung, daß quakende, quengelnde, unerzogene Kinder nicht ins Museum gehören. „Was wollen die hier?“, frage ich mich, aus der Ruhe gebracht und mit Zorn im Blick: auf die Kinder, die ja eigentlich nichts dafür können, und mehr noch auf die unerzogenen Eltern, und wenn ich mir das halbgebildete Gequatsche der Eltern anhöre, bestärkt es mich in der Ansicht Rousseaus, daß den meisten Eltern grundsätzlich die Kinder weggenommen gehören, weil: So kann man an den Kindern noch etwas Gutes tun. Aber ich habe keine Kinder, insofern ist es mir egal. Andererseits kenne ich Mütter, die wissen, wie man mit Kindern in einem Museum sich bewegt. (Nein, ich delegierte die Erziehung nicht an Frauen, jedoch kenne ich nun einmal mehr Frauen als Männer.) Aber der Halbbildungsbürger aus dem fernen Pankow (zugereiste Pankower, naturgemäß, keine einheimischen) schleppt seine Kinder ins Museum im fernen Dahlem. „Sophie-Charlotte, magst Du nicht ein wenig leiser sein? Ich meine natürlich, nur wenn du Lust hast.“ Natürlich mag Sophie-Charlotte keineswegs leiser sein. Und Philip-Anton ebensowenig. Nun hat sich Philip-Anton den Kopf an einer Vitrine gestoßen und schreit wie am Spieß. Hämisches Lachen klingt im Gang. Aber darüber wollte ich eigentlich gar nicht schreiben, doch wenn ich schon einmal dabei bin, kann ich’s ja erzählen.

Im Blick auf das ethnologische Museum in Dahlem ergibt sich die Frage nach dem Ordnungsprinzip einer solchen Sammlung. Wie werden die Exponate zusammengestellt, was erfahren wir über den Hintergrund der ausgestellten Dinge, auf welche Weise kamen sie ins Museum? Weshalb betrachten wir eine afrikanische Fetischfigur als Kunstwerk, während die, welche diese Figur in einem Ritual oder in einem andern Zusammenhang verwendeten, nie auf die Idee kämen, in diesem Objekt einen kontemplativen oder aber einen für die ästhetische Erfahrung geöffneten Gegenstand zu sehen? Es übt zwar einen großen Reiz aus, durch die Gänge dieses Museums zu schlendern, die zusammengetragenen Objekte zu betrachten. Aber das Wissen um die Hintergründe oder zumindest die Ahnung davon, verleiht der Betrachtung ein beklemmendes Gefühl. Die Objekte sind nach der Logik der Taxinomie geordnet (wenngleich dies eher ein Begriff der Naturwissenschaften und speziell der Biologie ist, um im Tierreich zu klassifizieren.) Michel Foucault zitiert in seinem Buch „Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften“ einen Text von Jorge Luis Borges, um das Fremde eines Ordnungsschemas aufzuzeigen, wenn wir es einmal von außen betrachten. Dieser Text von Borges zitiert eine „eine gewisse chinesische Enzyklopädie“:

„Die Tiere lassen sich wie folgt gruppieren:

a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppe gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, j) unzählbare, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, i) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von Weitem wie Fliegen aussehen.“ (J.L. Borges, Die analytische Sprache des John Wilkins, in: Gesammelte Werke, Essays 1952-1979)

 Genauso absurd wie diese Einteilung der Tiere mutet die Staffierung der ethnologischen Sammlungen an. Es läuft auf „unsere tausendjährige Handhabung des Gleichen und des Anderen“ hinaus, solche aus der Ferne betrachtete Taxinomie, wie sie Borges vorführt, ruft bei uns ein gewisses Erstaunen oder ein Schmunzeln hervor. Aber Fremde von einem anderen Kontinent würden die Ordnung der ethnologischen Sammlungen in Europa womöglich mit ebensolcher Verwunderung, und vielleicht auch mit ein wenig Ärger wahrnehmen, wenn sie an die Herkunft der Gegenstände und die Art ihrer „Besorgung“ denken.

Doch es gibt ebenfalls andere Arten zu sammeln, die in gewissem Sinne mit einer privaten Marotte zu tun haben. Es ist die Vielfältigkeit des Sammelns: Sammelleidenschaften, sich nach einem Schock sammeln (das gehört in einer bestimmten Weise ebenfalls zur Logik der Sammlung, einer introspektiven Sammlung allerdings), Dinge sammeln, in Alben, Kästen oder Vitrinen stellen, sie dort versiegeln. Der Sammler ist, je ausgefallener seine obskuren Objekte der Begierde sich darbieten, nach Walter Benjamin eine eigentümlich verschrobene, aus der Zeit geschleuderte Figur. Schrullig, wie es heute mache der Theaterfiguren von Marthaler in ihrer Versponnenheit und in ihrer verzögerten Wahrnehmung sind. Aber es zeigt sich in seiner Tätigkeit ein Moment von geschichtlicher Wahrheit. Denn der Sammler unterhält ein rätselhaftes Verhältnis zum Besitz, so Benjamin in seinem Text „Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln“. Er bemißt die Dinge nicht nach ihrem Funktionswert oder ihrem Nutzen, sondern er inszeniert sie in einer eigenen Weise als Schauplatz und Theater des subjektiven Blicks wie auch als Schicksal der Dinge.

„Es ist die tiefste Bezauberung eines Sammlers, das Einzelne in einen Bannkreis einzuschließen, in dem es, während der letzte Schauer – der Schauer des Erworbenwerdens – darüber hinausläuft, erstarrt. Alles Erinnerte, Gedachte, Bewußte wird Sockel, Rahmen, Postament, Verschluß seines Besitztums. Zeitalter, Landschaft, Handwerk, Besitzer, von denen es stammt – sie alle rücken für den wahren Sammler in jedem einzelnen seiner Besitztümer zu einer magischen Enzyklopädie zusammen, deren Inbegriff das Schicksal seines Gegenstandes ist. Hier also, auf diesem engen Felde läßt sich mutmaßen, wie die großen Physiognomiker – und Sammler sind Physiognomiker der Dingwelt – zu Schicksalsdeutern werden. [Hinweis Bersarin: Wogegen allerdings der Naturwissenschaftler und Aphoristiker G.Ch. Lichtenberg in bezug auf den Physiognomiker Lavater und seine Schrift „Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ in seiner Satire „Fragment von Schwänzen“ sich belustigte.] Man hat nur einen Sammler zu beobachten, wie er die Gegenstände seiner Vitrine handhabt. Kaum hält er sie in Händen, so scheint er inspiriert durch sie hindurch, in ihre Ferne zu schauen.“ (Walter Benjamin)

Daß diese Ferne das Auratische bezeichnet – die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nahe sie sein mag“ – wissen wir seit Benjamins Kunstwerkaufsatz. Mit dieser Ferne können, im Sinne Benjamins, sowohl Objekte der Kunst als auch Phänomene der Natur gemeint sein. Hier, inmitten der Sammlung, liegt das Auratische in einer Art Reise in die Ferne, nämlich dahin, wo einstmals diese Dinge ihren Ort hatten. Die gesammelten Objekte unterliegen insofern einer mehrfachen Betrachtung. Sie sind bevorzugte Gegenstände der Imagination (insbesondere beim Briefmarkensammeln gut zu beobachten), sie sind in der Welt diesseits der Sammlung Gebrauchsgegenstände gewesen, sie fungieren nun – gemäß einer Logik des Ausstellungswertes – einerseits als funktionslose Objekte, aber auch als Fetische, mit einem Blick belegt, der diese Objekte aus ihrem Zusammenhang entrückt. Die Gegenstände zeugen von etwas, von dem der Betrachter ohne Kontextwissen oft nichts ahnt. Das unterscheidet solche gesammelten und dann aus dem Kontext gerissenen Gegenstände nicht von den Objekten der ethnologischen Sammlung – wenngleich hinter letzterer ein bestimmtes Dispositiv der Macht und ein gesellschaftliches Schema der Ordnung steht.

Daß solchen Objekten ein gewisser Kultwert anklebt, zeigen diverse Sammlungen. Bibliotheken, wie Benjamin sie beschreibt, Münz- oder Käfersammlungen oder zusammengetragene Fan-Objekte einer Pop-Band, wie in Berlin im Ramones-Museum gezeigt; oder überhaupt Schallplattensammlungen, wenn unter Freunden die Trophäen präsentiert werden: hier eine Erstpressung in gelbem Vinyl, da eine Ausgabe, die nur in Japan auf den Markt kam usw.

Der Blick in die Ferne scheint mir am schönsten in den Regionen des Meeres möglich: Als Kinder sammelten wir am Meer Muscheln, meine Schwester fing Taschenkrebse, mit denen sie zur Freude der übrigen Kinder ein Wettrennen auf der Strandpromenade veranstalte, sie ließ von den übrigen Kindern auf die Krebse wetten und sammelte dafür allerlei Kindertand oder kleine Münzen ein. Ich hielt mich von der Vielzahl der Kinder und Menschen fern, sammelte Seesterne, Muscheln, Steine und Geäst im Wasser. Ich trocknete diese Seesterne am Strand oder in den Dünen, wo es hitzig und windstill war, in der Sonne. Doch diese getrockneten Seesterne stanken nach einiger Zeit in der „Pension Jansen“ erbärmlich und erweckten nicht nur den Argwohn der Pensionswirtin, sondern auch den der Eltern. Nicht die Verheißung des Meeres blieb in getrockneter Gestalt, als Form bewahrt, zurück, sondern ein widerlicher Geruch, so daß die Eltern umstandslos das getrocknete Zeug in einer Mülltonne entsorgten. Es überstand nicht einmal die Fahrt mit der Fähre zurück nach Hause. Anders die Muscheln und die mitgebrachten kleinen Steine. Die im Eimer in die Pension mitgeschleppten Krebse kippte der Vater auf den roten Backsteingehsteig. Er zertrat sie mit seinem seinen Sandalen und einem klaren Lachen; dann blickte er uns an und sagte: „Das ist euch eine Lektion, damit ihr nie wieder Lebendes aus seinem Element hervorholt!“ Als Biologielehrer wußte der Vater wahrscheinlich, wovon er sprach. Die Schwester weinte noch ein wenig. Aber bald schon hatte sie in der Leichtigkeit ihres kindlichen Daseins die im Eimer gesammelten und nun zertretenen Krebse wieder vergessen.

Das Subjekt ist ein Diskurseffekt und im Sand ein Gesicht – Michel Foucault zum 30. Todestag

458_Michel_FoucaultDer Name des Autors Michel Foucault wird derzeit viel im Munde geführt (auch von denen, die keine drei Zeilen von ihm gelesen haben), und insbesondere in den Zeiten des Überwachens unserer im Raum des Internets getätigten Äußerungen, unserer digitalen Diskurse scheint eine Renaissance seiner Philosophie, die in der BRD in den 80er Jahren ihren Zenit erreichte und ein wenig noch in die 90er als Mode abstrahlte, nicht ganz ausgeschlossen. Es geht der Weg von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft, wie es Deleuze formulierte, von den Praktiken der Subjektkonstitution des 17. und 18. Jahrhunderts und vor allem auch der Konditionierung des Subjekts hin zu einer Internalisierung des Zwangszusammenhangs. Wie dieser Zwang der (Subjekt-)Beobachtung (und -Konstituierung) ausschaut und wie jene anonyme Gesellschaftsmacht wirkt, zeigte Foucault unter anderem in „Überwachen und Strafen“ anhand des Benthamschen Panoptikums: Jener Beobachtungspunkt in einem Gefängnis, von dem aus eine für den Gefangenen anonyme, aber durchaus legitimierte Funktions- Instanz namens Wärter Einblick nehmen kann, ohne dabei aber selber gesehen zu werden und ohne daß die vereinzelten Gefangenen wissen, wann sie gesehen werden.

Eine subtile Form von Kontrolle also. Einerseits kann man zwar sagen, daß dadurch das System der drakonischen Körperstrafen sowie der Marter, wie wir sie aus dem Mittelalter und früheren Zeiten kennen, im Sinne der europäischen Aufklärung in eine neue Form des Bestrafens transformiert wurde, die – zumindest was das unmittelbar Schmerzhafte am Körper betrifft – als sehr viel weniger grausam sich erweist. Andererseits setzte durch diese Form des Strafens eine Weise der Selbstüberwachung und Konditionierung ein, die noch bis ins Innerste dieses Subjekts ragte. Der Panoptismus als durchaus humanes Moment, dem aber zugleich die Destruktion und die dunkle Seite innewohnt, denn er erzeugt jene gewünschte Konformität des Individuums, das sich dabei aber zugleich in seiner Individualität als ungemein einzigartig, als authentisch eben, glaubt. Der menschliche Körper und seine Regungen sind jedoch nicht an sich und unveränderlich, irgendwelche ontologischen Daseinskonstanten, sondern er ist einem Spiel der Kräfte und Diskurse ausgesetzt, die am Ende erst diesen Körper samt seiner mal mehr, mal weniger konformen Regungen hervorbringen. Der aufstrebende Kapitalismus des 17. und 18. Jahrhunderts benötige diese Körper als Arbeitskraft.

Insbesondere der Foucault der 70er und der 80er Jahre beschäftigte sich intensiv mit diesen Praktiken der Bio-Politik, die bis tief in den Körper des Menschen sich einschreibt. Wie jene haarfeine Sichel- und Nadelschrift in Kafkas „Strafkolonie“, die man ebenfalls einmal im Zusammenhang mit den Texten Foucaults lesen könnte. Nicht mehr ein anonymes Außen wird unter den Bedingungen einer post-modernen Kontrollgesellschaft im Grunde mehr benötigt. Es reicht hier die bloße Androhung, daß da ein anonymer Beobachter sein könnte, ohne daß da übehaupt noch jemand ist, und so vollziehen im vorauseilenden Gehorsam die Subjekte die Unterdrückung von ganz alleine, üben die Kontrolle über sich selber aus, wie der Zen-Meister seinen Körper trainiert und mental im Griff hat. Die schöne neue Welt der Arbeit: Insbesondere in all den Internet- und Softwarefirmen oder in den diversen Agenturen oder der Welt der Banken und der großen Konzerne zeigt sich dieses System der Internalisierung, die uns steuert. (Und aus diesem Grunde sind Zen und Japan in dieser schönen neuen Welt so derart beliebt.) Diese Kontrolle geschieht bis in die intimen Regungen des Körpers und dessen Sexualität hinein.

All diese Aspekte einer kritischen Aufklärung, die sich über sich selber aufzuklären vermag – in der Tradition von Kants Konzept von Aufklärung und Adornos/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ – versammeln die großartigen und verschlungenen Schriften dieses Philosophen, sie umkreisen in immer neuen Anläufen und Varianten ein Bündel an Themen: Wissen, Macht, Körper, Subjekt, Wahrheit. Aber ohne die Positionierung – darin dem ästhetischen Denken verwandt. „Ich bin nicht da, wo ihr mich sucht, sondern hier, von wo aus ich Euch lachend ansehe“ schrieb Foucault – jener Philosoph mit der Maske, der sich nicht gerne festnageln oder festlegen ließ.

Gerade dieses Proteushafte macht Foucaults Reiz aus. Das gesellschaftliche Draußen war für Foucault nicht nur bloßer Text oder der Innenraum einer vertrackten Immanenz, sondern es gab bei Foucault zugleich das ästhetische Spiel als den unendlichen Möglichkeitssinn, der das, was der Fall ist und doch durch und durch gesellschaftlich Gemachtes, in die Transgression bringen konnte. Zumindest für den aufscheinenden Moment, in jenen wunderbaren flüchtigen Augenblicken. Als Perspektive und Fluchtpunkt. Ohne daß dabei aber diese Ästhetik gleich zur Kontingenzbewältigung der Moderne und zur Überforderungskompensation instrumentalisiert wurde – eine Position der Kunst, die ihr die konservativen Entlastungs-Ästhetiker in vielfältiger Couleur gerne als ihre Daseins-Möglichkeit in den Rahmungen der verfehlten Moderne zuweisen wollen. Kunst als Korrektiv des lästigen Alltags und als Narkotikum. Aber am Ende ohne Konsequenz. Anästhetisch-anästhesistische Ästhetiker. Foucault machte alle diese Festschreibungen nicht mit. Sein Denken changierte vom französischen Hegelianismus, vermittelt durch die Vorlesungen Alexandre Kojèves, in denen sowohl Sartre, Raymond Queneau, Derrida, Barthes, Lacan und eben auch Foucault saßen. Über Heidegger und Nietzsche bis hin zur antiken Philosophie.

Gleichzeitig gehörte Foucault, ebenso wie Sartre, zu den engagierten Intellektuellen, die Partei ergriffen, die auf die Straße gingen, die sich tagespolitisch einmischten. Dieses Vielschichtige und Schimmernde reichte bis hin zur Lektüre der Kunstwerke: sei es sein Blick auf Manet als dem Maler der Moderne oder in jener großartigen Einleitung von „Die Ordnung der Dinge“, wo er eine für die Kunstgeschichte bahnbrechende Lektüre von Diego Velázquez‘ „Las Meninas“ lieferte, indem er anhand der Ordnung und der Strukturierung der Blicke und der Blickachsen in diesem Bild die Geschichte und die Positionierung des neuzeitlichen Subjekts aufzeigte, das an jenem unsichtbaren Ort seine zentrale Stelle hatte: jene empirisch-transzendentale Doublette.

Das Subjekt ist ein Diskurseffekt und insbesondere ist in der Literatur die Instanz des Autors eine durch und durch von der Moderne gezeitigte Erscheinung. Wer um die Möglichkeiten der Diskurse, ihrer Grenzen und ihrer Disziplinierungsstrategien erfahren möchte, der lese unbedingt „Die Ordnung des Diskurses“. Darin heißt es über die Instanz des Autors:

„Ich glaube, es gibt noch ein anderes Prinzip der Verknappung des Diskurses, welches das erste bis zu einem gewissen Grade ergänzt. Es handelt sich um den Autor. Und zwar nicht um den Autor als sprechendes Individuum, das einen Text gesprochen oder geschrieben hat, sondern um den Autor als Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts. […] In den Bereichen, in denen die Zuschreibung an einen Autor die Regel ist – Literatur, Philosophie, Wissenschaft –, kann man sehen, daß sie nicht immer dieselbe Rolle spielt. Im Mittelalter war die Zuschreibung an einen Autor im Bereich des wissenschaftlichen Diskurses unerläßlich, denn sie war ein Index der Wahrheit. Man war sogar der Auffassung, daß ein Satz seinen wissenschaftlichen Wert von seinem Autor beziehe. Seit dem 17. Jahrhundert hat sich diese Funktion im wissenschaftlichen Diskurs immer mehr abgeschwächt: die Rolle des Autors besteht nur mehr darin, einem Lehrsatz, einem Effekt, einem Beispiel, einem Syndrom den Namen zu geben. Hingegen hat sich im Bereich des literarischen Diskurses seit eben jener Zeit die Funktion des Autors verstärkt: all die Erzählungen, Gedichte, Dramen oder Komödien, die man im Mittelalter mehr oder weniger anonym zirkulieren ließ, werden nun danach befragt (und sie müssen es sagen), woher sie kommen, wer sie geschrieben hat. Man verlangt, daß der Autor von der Einheit der Texte, die man unter seinen Namen stellt, Rechenschaft ablegt; man verlangt von ihm, den verborgenen Sinn, der sie durchkreuzt, zu offenbaren oder zumindest in sich zu tragen; man verlangt von ihm, sie in sein persönliches Leben, in seine gelebten Erfahrungen, in ihre wirkliche Geschichte einzufligen. Der Autor ist dasjenige, was der beunruhigenden Sprache der Fiktion ihre Einheiten, ihren Zusammenhang, ihre Einfügung in das Wirkliche gibt.“

Den letzten Satz begreifen nur die wenigsten, insbesondere manche Schriftsteller:innen scheinen vor ihm eine extreme Furcht zu hegen und versuchen, diesen Satz durchs Verschließen der Augen zu neutralisieren. Aber wer häufig genug „Ich“ sagt oder schreibt und das Authentische herbeiredet, ist deshalb noch lange kein Autor. Von Foucault zumindest können wir manches über die Hybris des modernen Subjekts und seine trughaften Wahrhaftigkeitsansprüche lernen.

Aber es geht natürlich das Lob ebenso in den privaten Rahmen über und ich sage „Danke, Michel Foucault“: Für jene unendlichen Stunden und Tage in den Bars, in jenem Zimmer mit jener Frau, mit den Büchern und dem Text als Instanz, und wie sehr wir jene Subjekte als Fragmente waren und blieben und wie wir auf diese Weise immer weitermachen wollten. Die Gesichter im Sand, die vom Meer fortgespült werden und wie wir am Ostseestrand mit unseren Fingern ein Foucault-Gesicht in den Sand zeichneten und darunter „Pour Michel“ schrieben, wie vermutlich bereits hunderte vor uns an anderen Stränden, anderen Meeren, anderen Orten, während irgendwann die Wellen über das Bild trieben, als wir bereits weiter in den Dünungen und gegen den Wind schlenderten. Deine schwarzen Lackstiefel und Dein schwarzes Höschen. Ostfrauenunterwäsche. Nachts, die Sommernächte, mit dem Fahrrad durch die Straßen fahrend. Mein Blick unter Deinen Minirock, oder während Du dasaßt und die Beine auseinander legtest. Philosophie bietet manchmal tiefe Einblicke. Körperpolitik. Mit unseren Zigaretten, „Lucky Strike“ Du mit, ich ohne Filter, den Flaschen Wein. Sie auf der Seite Hegels und im Malina-Sound um die Vermittlungen bemüht, während der junge Mann in der schwarzen Lederjacke und mit der schwarzen Jeans, den damals feingliedrigen Fingern, zwischen denen die Zigarette glühte, die Dissoziation predigte und jegliche Vermittlung ins dialektisch Negative zu überführen trachtete: Archäologie und Wahnsinn, Genese und Struktur, manchmal auch die Striktur oder die Transgression des Sinns als Instanz. Kein Ort nirgends. Bis zuletzt ins Schweigen. Mon amour. Die Erotik des Textes.

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Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Helene Hegemann und Michel Foucault

Paßt diese Kopplung? Nein, sie paßt nicht, auch wenn Frau Hegemann und ihre Gefolgschaft das gerne so hätten. Es handelt sich auch nicht um eine Koppelung, die verbindet, sondern bloß um eine Aufzählung: erst Hegemann und dann, in einem anderen Zusammenhang, Foucault. In der „Zeit“ dieser Woche schrieb Helene Hegemann auf der ersten Seite des Feuilletons einen Beitrag, um ihren Kritikern zu antworten. Es handelt sich bei diesem offenen Brief um die üblichen Worthülsen und Sprachblähungen; Blafasel, wie es der Nörgler einmal an anderer Stelle nannte – ein Wort das ich hiermit in meinen Wortschatz aufnehmen möchte. Aber schlimmer noch als dieser hingerotzte Text Hegemanns ist, daß sie nicht begriffen hat, worum es einem Teil der Kritiker geht: daß sie selber – ganz existenzialphilosophisch – sich zu dem machte, als was sie dann von einem Teil der Kritik auch wahrgenommen wurde. Man hat sie beim Wort genommen. Zudem: Nicht ihre Kritiker, sondern Hegemann selber spreizte sich auf der medialen Bühne. Zuhälter war der Ullstein Verlag. Erst die Beine breit machen und sich dann hinterher wundern: das läuft nicht. Beischlafdiebstahl unter verkehrten Vorzeichen. Daß Hegemann am Schluß des Beitrags ihren prominenten und unprominenten Freunden dankt, so etwa Sophie Rois, Dirk von Lowtzow und Christoph Schlingensief, zeigt wieder einmal auf das beste das Inzestuöse des Kulturbetriebs und spricht eher gegen die Freunde, ja läßt diese gar in einem ungünstigen Lichte dastehen. Andererseits: die Frau ist noch jung, lassen wir es also gut sein, und schließlich hat ein jeder das Recht, sich zu verteidigen. Wer gibt hinterher schon gerne zu und sagt: „Gut, ok, die Sache ist scheiße gelaufen, ich habe Fehler gemacht und ich habe mich geirrt.“? Keiner. Und als Produkt des organisierten Kulturbetriebs muß man schließlich irgend etwas sagen, und sei es auch nichtssagend, um im Boot bleiben zu dürfen. Schöner Satz auch im Kommentarteil des Hegemanntextes vom Schreiber „Aus-gerochet Helene…“: „…kannst Dich bei Papi bedanken.“ Punktgenauer Treffer. Jetzt aber zu Foucault und mitten drin in der analytischen Sitzung einen Schnitt gemacht, so wie es auch Lacan in seiner psychoanalytischen Praxis hielt, damit sich auf dem therapeutischen Weg des Fragmentierens ein kritisches Subjekt konstituiere: Thomas Assheuer schrieb im Feuilleton der „Zeit“ Nr 18 eine Rezension zu Foucaults letzter gehaltener Vorlesung, die nun bei Suhrkamp  publiziert wird unter dem Titel „Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II; Vorlesungen am Collège de France 1983/84“. Assheuer schreibt: „Foucaults Übertreibungen sind akademische Evergreens, und der Siegeszug der ‚Lebenswissenschaften“ macht ihren Refrain noch einmal auf andere Weise aktuell.“ Assheuer bezieht sich hier auf den mittleren Foucault der 70er Jahre aus dem Feld der Machttheorie, Kulminationspunkte sind hier sicher Foucaults „Überwachen und Strafen“ sowie „Die Ordnung des Diskurses“. So schreib Assheuer:

„Die hellen Spiegel der Freiheit verbergen die dunkle Realität der Macht, sie verbergen die Logik von Kontrolle und Disziplinierung, von Abrichtung und ‚Menschenführung‘. Sogar die Sprache verstand Foucault als Technologie der Macht.“

Als Übertreibungen würde ich die Theorie Foucaults nun nicht gerade bezeichnen, wenngleich es damals zum flotten Sound der 80er mit Nachwehen in die 90er Jahre hinein gehörte, diese Dinge zu popularisieren. Und ich sehe sie immer noch vor mir: Jene StudentInnengruppe samt ihrer scheinhaften Praxis, die damals – man glaubt es nicht, doch es war so – die Gefängnisse öffnen und damit die Gefangenen freilassen wollte. Und dieses Bild will nicht aus meinem Kopf: Jene Frau, die da auf dem Boden hockte und Schilder, Transparente oder sonst etwas malte. Ein gar köstlicher Spaß, diesen jungen Menschen aus de Basisbastelgruppe zusehen zu dürfen. Auch in der Pop-Kultur ist Foucault sicherlich als herabgesunkenes Bildungsgut lange schon angekommen, um es etwas provokant zu formulieren. (Ich verweise hier noch einmal auf den sehr treffenden Text von Jens Balzer aus der „Berliner Zeitung“.) Prominentes Beispiel hierfür ist sicherlich die Band „Tocotronic“, die das dann in teils gekonnten Texten vorführt. Ich will hier aber nicht zu sehr über jene verblendete Praxis spotten, die den blinden Aktionismus sozusagen zur Existenzverzierung gebrauchte, denn Foucault sah sich, genauso wie Sartre, mit dem er trotz erbitterter theoretischer Gegnerschaft Seite an Seite demonstrierte, auf die Praxis hin angelegt und verstand seine Theorie auch als Praxis: Die eingreifende Praxis des Intellektuellen, die in Frankreich eine sehr viel stärker ausgeprägte Tradition hat als in Deutschland. Im ganzen ist dieser Artikel von Assheuer lesenswert. Insbesondere die Aspekte der versteckten Macht aus der schönen neuen Welt des Liberalismus möchte ich zitieren: Es läßt sich das besser gar nicht selber formulieren: Also treibt‘s mich zum Zitat, denn warum selber schreiben, wenn andere es für einen machen können?: Assheuer schreibt:

„Nicht minder einflussreich ist seine (Foucaults) Kritik an der liberalen Gesellschaft. Das vielzitierte Schlagwort heißt ‚Gouvernementalität“, und dahinter steckt die Behauptung, der Liberalismus sei eine Herrschaftstechnik, die der Bürger gar nicht bemerkt, weil sie ihn nicht von außen, sondern von innen diszipliniert. Während die ‚alte‘ Regierungsmacht dem Einzelnen Befehle erteilt, regiert die liberale, mit der Wirtschaft fusionierte Staatsmacht durch sanfte mentale Nötigung. Sie bringt den Bürger dazu, sich selbst zu regieren, und zwar durch die Exerziten der Selbstbefragung: ‚Bin ich erfolgreich? Bin ich effizient? Bin ich Deutschland?‘ Kurzum, Liberalismus ist staatliches ‚Gouvernement‘ durch die ‚Mentalität‘ des Bürgers, damit dieser genau das will, was er soll. (Für solche Sätze liebe ich Thomas Assheuer.) Kein Wunder, dass für eine wachsende Zahl von Soziologen Foucault und nicht Luhmann das analytische Besteck bereitstellt, um jene neoliberale Revolution zu begreifen, die hierzulande Gerhard Schröder unter subalterner Mitwirkung der Grünen angezettelt hat (vgl. den Band von Klaus Dörre, Stephan Lessenich (den hätte ich beinahe nur mit einem ‚s‘ geschrieben, guter Name für einen Akademiker; doch es gilt: keine Witze über Namen, Einschub Bersarin,) Hartmut Rosa: Soziologie, Kapitalismus, Kritik, Suhrkamp Verlag).“

(Ok: Buch wird gekauft, ich habe verstanden Herr Assheuer, danke für den Lektüretip.)

Gut, mag man da (zu recht) entgegnen: diese Kritik Foucaults, wie sie Assheuer darstellt, ist nicht ganz neu. Früher nannten wir das Ideologiekritik, Gesellschaftskritik, und solche wurde ausgiebig von der frühen Kritischen Theorie betrieben; insbesondere im Zusammenspiel von Marxscher Theorie und Psychoanalyse, wo aufgezeigt wird, wie unter den bis heute herrschenden Bedingungen das Falsche der Gesellschaft als naturwüchsig internalisiert wird. Von Foucault selber stammt ja der Satz, daß er sich manchen Umweg hätte ersparen können, wenn er um einiges früher die „Dialektik der Aufklärung“ rezipiert hätte. Und auch der späte Adorno trieb diese Kritik dann weiter zu einer komplexen Ästhetik und einer negativ-dialektischen Philosophie, für die allerdings der Begriff einer Gesellschaftskritik zu kurz greift. Trotzdem: die Sätze Assheuers treffen es, läßt man einmal den Satz gegen Luhmann beiseite. Sicherlich liegen Lumanns Qualitäten nicht darin, eine Soziologie als Kritik der Gesellschaft zu formulieren. Aber wenn man die Texte Luhmanns ein wenig dreht und seiner Theorie eine andere Richtung gibt, nur um ein Winziges umjustierend, kann da Brauchbares herauskommen. Abschließend muß ich gestehen, den späten Foucault nicht ausreichend genug rezipiert zu haben, so daß ich nur eine vorläufige Einschätzung geben kann. Insbesondere dieses Thema einer „Ästhetik der Existenz“ halte ich zwar für wichtig, doch spielt darin zugleich ein heikles Motiv hinein: fließend ist die Grenze zu einer Philosophie als Kompensation der gesellschaftlichen Defizite, um die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft nicht aushalten zu müssen. „Ästhetik der Existenz“: nahe, sehr nahe ist das gebaut an einer Philosophie für Manager, um diese fit zu machen für den nächsten Tag und für all die kommenden Tage. Und Wilhelm Schmid, der über den späten Foucault und die „Ästhetik der Existenz“ seine Dissertation schrieb, ging dann genau in die Philosophische Lebensberatung. Daß Philosophie vermittelt auf die Praxis zu wirken habe: dem sei unwidersprochen, wenngleich man dabei den Auftakt von Adornos „Negativer Dialektik“ gegenwärtig haben sollte. Aber es muß diese Praxis eine solche sein, die im Denken erschüttert, anstatt dem, was ist, wie es ist, das Wort zu reden. Wie gesagt: dicht ist die Verbindung hier zu einer Philosophie geknüpft, die die Reparaturleistungen für eine defekte Gesellschaft erbringen muß. Andererseits steht Foucault mit dieser Rückbesinnung auf das Selbst sowie der Perspektive, das Leben zum Kunstwerk zu machen, in der Tradition einer individualistischen Ethik, die nicht nur eine Linie zur Antike zeichnet, sondern auch an das Denken Nietzsches (und vermittelt auch an den Text des späten Adornos) anknüpft. Eine Weggabelung eröffnet sich hier freilich auch zu Peter Sloterdijk, der in seinem Buch „Du mußt dein Leben ändern“ eben auch auf Foucault sich bezieht. Denn diese Arbeit am Selbst, so Sloterdijk, geschieht durch verschärftes Training (des Athleten) und durch Übungen. Auch der Foucaultsche Begriff des Wahrsprechens (Parrhesia) ist problematisch. Ehrlich gesprochen liegt mir hier Derridas fundamentale Kritik und die heillose Aporie des Derridaschen (aber auch des Adornoschen) Textes näher als der späte Ton Foucaults, welcher am Ende womöglich doch wieder auf einen Punkt absoluter Selbstpräsenz und Selbstermächtigung hinaus will. Da ist es wie mit Winnetou: Zum Ende hin, auf dem Sterbebett, werden sie doch noch zu guten Christen.

Eine Verteidigung der Postmoderne gegen den Mißbrauch (1)

Auch dieses Wochenende erscheint kein Text zu Habermas/Adorno, sondern der Beginn eines längeren Textes über die Postmoderne. (Überhaupt werde ich den Habermas-Text auf unbestimmte Zeit nach hinten schieben, da er mir momentan nicht so ergiebig erscheint und andere Denkfigurationen mir im Moment wichtiger sind. Um aber zu versöhnen und doch ein paar Stichworte hierzu preiszugeben nur soviel:

I. Vorläufer und Denkfiguren

In gewissem, nicht unberechtigten Sinne kann man sagen, daß Adorno/Horkheimer mit ihrer „Dialektik der Aufklärung“ einen Vorgriff auf bestimmte Denkfiguren, die die sogenannte Postmoderne – schlagwortartig zumindest – auszeichnen, geleistet haben. Es ist in ihren Positionen ein Vorspiel und eine Argumentationsfigur auf eine kommende Szenerie angelegt.

Und Foucaults Bemerkung, daß ihm mancher Umweg erspart geblieben wäre, hätte er dieses Buch früher gelesen, ist eine sympathische Randnotiz hierzu. Die sozialen Strategien sowie die Mechanismen der Disziplinierung des Subjekts etwa legen beide Philosophien, wenngleich von sehr unterschiedlichen theoretischen Voraussetzungen ausgehend, anschaulich dar.

Es ist dieser Vorgriff Adornos und Horkheimers bzw. dieser Argumentationsstrang die Figur einer alles überbietenden Vernunftkritik, die noch ihre eigenen Grundlagen, damit also sich selbst, angreift, und durch dieses Verfahren, nach Habermas (siehe hierzu etwa „Der philosophische Diskurs der Moderne“, aber auch ThdK) in einen performativen Selbstwiderspruch gerät. Eine sich selbst kritisierende Vernunft, die sich absolut destruiert, aber zugleich sich selber innerhalb dieses Aktes in Anspruch nehmen muß, um solche Dinge überhaupt aussprechen zu können und nicht nur sprach- und begriffslos darauf zu deuten. Vor dieser Aporie steht, nach Habermas, die „Dialektik der Aufklärung“ bzw. die Kritische Theorie der 30er bzw. 40er Jahre. Ich hatte diese hier bereits angedeutet. Hieraus motiviert sich bei Adorno, so Habermas, die Konzeption von Mimesis als Widerpart einer zurüstenden Rationalität. (Daß diese Sichtweise Habermas‘ nicht richtig ist, zeigt bereits die Lektüre der „Negativen Dialektik“, wo eine mehrdimensionale Form von Rationalität entfaltet wird,die über ein bloßes Mimesis-Konzept hinausgeht.)

Natürlich ist die Kritik der Vernunft in der Geschichte der Philosophie nicht neu. Die Philosophie seit Platon läßt sich wohl mir Fug und Recht als ein insgesamt immer auch kritisches Geschäft bezeichnen. Und spätestens seit Kants „Kritik der reinen Vernunft“ ist einer Vernunft, die sich selber Maßstäbe setzt und sich auf sich selbst bezieht, in der Moderne ein Weg gebahnt, und in unterschiedlicher Weise setzten Foucault und Lyotard dieses Kantische Projekt der Aufklärung in ihren Philosophien ganz explizit fort. Man schlage nur nach, wie häufig bei Foucault und Lyotard der Name Kant fällt.

II. Grundsätzliches

Zugegeben: Die Wortkoppelung „Postmoderne“ ist ein seinerzeit in die (philosophische) Diskussion gebrachter Begriff, der sehr unglücklich gewählt wurde und welcher nicht nur vielfältig schimmert und scheint, sondern auch verschiedenste Strömungen unter sich befaßt. Und zwar so viele Richtungen und Denkbewegungen, daß es eigentlich kaum möglich ist, dies in einem Blog überhaupt darzustellen. Man müßte unendlich darüber schreiben. Einen unendlichen Text, versehen mit Kommentaren, Eingriffen und Fortschreibungen, Lektüren; in einem fast talmudischen Ausmaß als Fußnote oder Kommentar und Text zur Geschichte einer Philosophie im Abendland, die wiederum nur gedacht war als Fußnote zu Platon. Mit der Schrift als Supplement.

Man denke nur an jenen schreibenden Sokrates, dem Plato in die Feder spricht und souffliert, auf jener reproduzierten, sozusagen verdrehten „Postkarte“. Hier halte ich es mit einem der bedeutendsten und komplexesten Gegenwartsphilosophen, falls solche Superlative erlaubt sind, mit Jacques Derrida, dessen Denken lange nicht zu Ende gedacht ist. Eine Subsumption seiner Philosophie unter dem Begriff Postmoderne oder Poststrukturalismus ist ungenügende „Kennzeichnung“ der Spuren seiner Schrift.

Gleiches gilt für so heterogene Autoren wie Foucault, Deleuze, Lyotard, Barthes, Vattimo, Eco, Virilio, um nur einige der bekanntesten Autoren zu nennen. Allerdings sollte man auch den äußerst umstrittenen Jean Baudrillard in dieser Reihe nennen. (Vielleicht gerades deshalb, weil seine Theorie wohl am lautesten die Aufschreie auslösen wird, scheit es mit geraten, hier eine Auseinandersetzung vorzunehmen.)

Angesichts all der aufzunehmenden Fäden, der Faltungen, der differenten, teils auch widerstreitenden Ansätze greifen auch allzu leicht genommene Definitionsversuche der Postmoderne nicht so recht. Sie prallen zunächst am Phänomen ab oder dienen der Reduzierung von Komplexität. Man muß sich dann in den Bestrebungen des Erfassens zunächst mit Stichworten wie Dezentralisierung, Dekonstruktion (der Präsenzmetaphysik), Subjektverlust, totale Vernunftkritik, Intensitäten, Präferenz des Körpers, Textualisierung, Abschaffung der Realität und so fort begnügen. Denn Philosophie, mit Adorno gesprochen, ist im wesentlichen nicht referierbar und damit eben auch nicht umstandslos definierbar und in Schlagworten darzustellen. Es entstehen ansonsten die unzureichenden Verkürzungen.

Philosophie entfaltet sich nur  in ihren Konstellationen, genauer gesagt: im Lesen von einzelnen Texten, die in Bezug gesetzt werden zu anderen Texten. Weiterhin muß man sich immer den Zusammenhang und die Probleme vergegenwärtigen, die sich dem jeweiligen Philosophen stellten. Hobbes ist eben nicht zu verstehen ohne die Kenntnis, daß es in England blutige Bürgerkriege gab. (Ich schreib das hier wesentlich für Nicht-Philosophen; den Philosophierenden sind diese Dinge bekannt.)

Im Grunde genommen, um sich diesem Phänomen der Postmoderne angemessen zu nähern, so muß man hierzu die einzelnen Texte unterschiedlicher Philosophen lesen. Aber auch dies schützt leider vor Mißverständnissen nicht. Als prominentestes und wohl bekanntestes Beispiel mag hier Habermas Buch „Der philosophische Diskurs der Moderne“ herhalten, das ich für verunglückt halte, was die Auseinandersetzung mit der Postmoderne (oder Moderne, wie man will) betrifft. Habermas „Lektüren“ von so heterogenen Autoren wie Derrida, Bataille und Foucault sind unzureichend. Das Lob in der Widmung des Buches „Für Rebekka, die mir den Neostrukturalismus nähergebracht hat“ ist kein Kompliment für Rebekka Habermas. Sie brachte ihm den sogenannten Neostrukturalismus nicht sehr gut nahe. So können Widmungen schnell auf den Verfasser als auch auf den Gewidmeten zurückfallen.

Die Kennzeichnung der Positionen Foucaults oder Batailles als „neo-konservativ“ entstammt den alten Konflikten und den Blickwinkeln vergangener Debatten. Im Grunde herrschte hier bei der bundesrepublikanischen  (philosophischen) Linken ein Reiz-Reaktions-Muster vor, wie man es den Konservativen beständig vorwarf. Doch das Hin-und-her-spielen von Bällen und Hülsen nützt nicht viel und ist meines Erachtens langweilig bis unergiebig. Auch wenn man Carl Schmitt oder Heidegger höflich gesagt für „konservativ“ oder schärfer gesprochen für NS-Mitläufer halten mag: es ändert nichts daran, daß dort in den Texten gute und wichtige Gedanken zu finden sind. Beide sind mir menschlich eher weniger sympathisch. Aber ich will ja nicht mit ihnen Ski fahren oder Essen gehen, sondern lediglich ihre Texte lesen. Es geht darum, sich mit Texten auseinanderzusetzten. (Das darin auch – politische – Haltungen stecken, ist unbenommen, steht aber auf einem anderen Blatt. Richtig ist es jedoch, diese (theoretischen) Haltungen, welche  ja durchaus  Relevanz für die Praxis haben, anzusprechen und zu kritisieren. Prominentestes Beispiel der letzten Zeit dürften wohl die Auslassungen Sloterdijks sein. Hierzu schreiben etwa die Blogs Exportabel und Kritik und Kunst gute Dinge. Und ich müßte eigentlich auch noch etwas dazu schreiben, weil man solche Unverschämtheiten wie die von Sloterdijk nicht so im Raume stehen lassen darf. Und, in all den Ausreden,  hinterher hat es dann keiner so richtig gewußt. Soviel am Rande.)

Und wer Foucaults „Überwachen und Strafen“, seine Texte zur Psychatrie, zum Subjekt oder zur Biopolitik gelesen hat, wird diese Behauptung, daß es sich um neokonservative Positionen des Denkens handelt, mit Ernst nicht aufrecht erhalten können. Insofern ist vor den Etikettierungen zu warnen: Sie sind schon Adornos Texten nicht gut bekommen, was seine Auslassungen zu Heidegger betraf. In der theoretisieren Auseinandersetzung mit Heidegger lagen gerade nicht die Stärken von Adornos Philosophie.

III. Moderne vs Postmoderne?

Was aber am meisten an den Definitionsversuchen dieses unglücklichen Begriffs der Postmoderne verwundert, ist der Umstand, daß auf beiden Seiten teilweise recht eindimensional verfahren wird, ohne die Durchdringungen und die gegenseitigen Bezüge und Verweisungen in den Blick zu bekommen. Von der Postmoderne aus gesehen ergibt sich die Vereinfachung so: Statt Vernunft nun keine Vernunft, statt Gespräch/Dialog nun Text, statt Geist nun Körper, statt Moral nun Macht und Diskurs, statt Hermeneutik nun Dekonstruktion. Und von den Nicht-Postmodernen dann entsprechend in der anderen Reihenfolge gedacht.

Wir sollten uns von diesen Oppositionen und den einfachen Zuschreibungen unsentimental verabschieden, um, sozusagen phänomenologisch, zu den Sachen selbst bzw. zu den Problemlagen zu gelangen. Denn es würde ja auch niemand auf die Idee verfallen, die Moderne als das Zeitalter der vollendet herrschenden Vernunft und der gelingenden Aufklärung zu bezeichnen. In ihr steckte immer schon als gleichwertiger Partner die Gegenaufklärung, der (jakobinische, faschistische, stalinistische) Terror, das Totalitäre, das Vernichtungslager und der Gulag (den manche gerne übersehen).

Man sollte deshalb nicht übereilig die Postmoderne als die konservative, irrationale Positionierung anzeigen. So schwierig es ist, die Modernen eindeutig zu kennzeichnen, so komplex ist in ihrer Beschreibung auch die Epoche einer Postmoderne samt den dazugehörigen Begriffsbestimmungen; zumal sich hier wie auch beim Begriff der Moderne zahlreiche Felder und Bereiche überlagern. Es wird sich bei jeder Stimme eine Gegenstimme erheben. Wo bereits lasse ich die Moderne ansetzten? Schon mit der Renaissance als Überwindung der mittelalterlichen Ordnung? Was die Kunst bzw. die Ästhetik betrifft: mit den „Querelle des ancien et moderne?“ Oder mit Baudelaire? (Hierzu etwa: Walter Benjamin, Adorno, aber auch Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik.) Mit dem Naturalismus, wie es der Literaturwissenschaftler Th. Kiesel in seinem Buch „Geschichte der literarischen Moderne“ vorschlägt? Oder ist es sinnvoller, hier Karl Heinz Bohrer zu folgen und die literarische Moderne mit der Romantik beginnen zu lassen? Bereits diese unterschiedlichen Ansätze allein aus dem Bereich der Literaturwissenschaft zeigen, daß eine Abgrenzung der Moderne nicht ganz einfach ist und vielfach vom theoretischen Referenzrahmen abhängt, in dem man sich bewegt. Und insofern gilt es bei diesen Versuchen der Beschreibung natürlich, die eigenen Metaeben im Modus einer Beobachtung der zweiten Ordnung in den Blick zu bekommen.

Noch komplexer wird es, wenn sich innerhalb dieses Begriffes verschiedenen Ebenen der Postmoderne vermischen und die Bereiche eigentlich nicht mehr klar voneinander geschieden sind. Die Postmoderne der Architekten ist eine andere als die der Philosophen, die wiederum eine andere ist als die der Soziologen. Es gibt insofern „die“ Postmoderne nicht. Nun wird mancher Verächter der Postmoderne sicherlich milde lächeln und entgegnen: „Dies genau ist es ja, was die Postmodernen fortwährend betreiben. Die Vermengung aller Unterschiede und die Dispensierung von der Realität und vom Begriff der Realität.“ Ob dem so ist, wird sich zeigen.

Sowieso sollte man bei der Betrachtung von sogenannten typischen Figuren der Postmoderne im Auge behalten, daß diese nicht ganz neu sind, so wie es zuweilen gerne dargestellt wird, sondern in einem geschichtlichen Zusammenhang und in geschichtlicher Kontinuität stehen. Die Kategorie des Spiels existiert bereits als zentrale bei Kant und Schiller, und wer es mag, kann sogar bis ins Mittelalter gehen, um dort Vorläufer auszumachen.

Das Fragment ist keine genuin postmoderne Erfindung, sondern steckt bereits in der Romantik, weshalb ja auch manche Auseinandersetzung mit der Postmoderne die Rückgriffe auf die literarische Romantik unternimmt und dort sozusagen Verbündete aufsucht. Als Name sei hier Friedrich Schlegel genannt. (Und wer möchte, der findet auch früher etwas zum Fragment, etwa bei Lessing, Hamann, Herder, aber auch Lavaters Physiognomik und Lichtenbergs geistreiche Entgegnung darauf im „Fragment von Schwänzen, ein Beytrag zu den Physiognomischen Fragmenten“ zeigen, daß es früher bereits rege Diskussionen gab, die das Fragment als Stilmittel verwendeten.) Und auch schon die literarische Moderne des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich eingehend mit dem Fragmentarischen. Als (fragmentarische) Schnittstelle zwischen den Modernen und den Postmodernen sei Ingeborg Bachmann genannt.

Soviel für heute. Im nächsten Teil des Essay möchte ich eine Begriffsabgrenzung vornehmen und ein paar weitere einleitende Worte schreiben, die noch einmal eher ins Allgemeine gehen werden. Sodann wird es zu einzelnen Texten und Positionen postmodernen Philosophierens gehen. Ich lasse mich hier eher lose treibe. Denn das ganze Projekt hat noch keinen konkreten Plan.

So wünsche ich ganz real einen schönen Sonntag.

Michel Foucault – zum 25. Todestag

Es soll ja nicht der Verdacht entstehen, dies sei ein nekrophiler Blog, welcher nur noch zu Nekrologen fähig ist, aber es ist nun einmal so eingerichtet, daß heute der 25. Todestag von Michel Foucault ist. Da aber noch einige Texte zu anderen Themen ausstehen, so der zweite Teil des Habermas-Essays, der dann zum ersten Juli-Wochenende folgt, und die Lektüre von Nietzsches Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ aus der Misreading-Nietzsche-Reihe bisher nicht geschrieben wurde, so will ich eine Foucault-Würdigung erst einmal nach hinten setzten. Oder vielmehr: ich will schon würdigen, aber heute lediglich mit zwei Zitaten von Foucault selbst, das ist vielleicht sogar besser als kommentieren:

„Die Philosophie, was ist sie, wenn nicht eine Weise, nicht so sehr über das, was wahr oder falsch ist, zu reflektieren als über unser Verhältnis zur Wahrheit. Man beklagt sich manchmal, daß es in Frankreich keine herrschende Philosophie gibt. Umso besser. Keine souveräne Philosophie, das stimmt; aber immerhin eine Philosophie oder besser: Philosophie als Aktivität. Denn Philosophie ist eine Bewegung, mit deren Hilfe man sich nicht ohne Anstrengung und Zögern, nicht ohne Träume und Illusionen von dem freimacht, was für wahr gilt, und nach anderem Spielregeln sucht. Philosophie ist jene Verschiebung und Transformation der Denkrahmen, die Modifizierung etablierter Werte und all der Arbeit, die gemacht wird, um anders zu denken, um anderes zu machen und anders zu werden als man ist.“

Das einzige Gesetz über die Presse, das einzige Gesetz über das Buch, das man aufstellen sollte, wäre zu unterbinden, daß der Name des Autors zweimal verwendet wird, und zusätzlich sollte dem Autor das Recht auf Anonymität und aufs Pseudonym gewährt werden, damit jedes Buch für sich selbst gelesen werden kann. Es gibt Bücher, bei denen die Kenntnis des Autors ein Schlüssel zu Verstehbarkeit ist. Aber von wenigen großen Autoren abgesehen, nützt diese Kenntnis bei den meisten Autoren überhaupt nichts. Sie dient als Schirm. Für jemanden wie mich, der ich kein großer Autor bin, sondern lediglich jemand, der Bücher produziert, wäre es wünschenswert, daß sie für sich selbst gelesen werden, mit ihren Schwächen und ihren möglichen Qualitäten.“

Misreading Nietzsche (Teil 1)

Einige unsystematische, einleitende Vorbemerkungen
zum Werk Friedrich Nietzsches
(„Dem Feind einen Tritt in die Rippen“
Element of Crime)

Zunächst einmal möchte ich mich bei meinem Blog-Kollegen Hartmut bedanken und auf seinen sehr interessanten, guten Essay zu Nietzsche verweisen. Er beschleunigte durch seinen Text ein wenig meinen Entschluß, nun doch einen längeren, mehrteiligen Essay hinsichtlich verschiedener Aspekte bei Nietzsche zu schreiben, insbesondere dient dieser Essay als Auftakt zu seinem 110. Todestag im nächsten Jahr (25. August 1900), der gewiß in den Feuilletons und hoffentlich auch in der Philosophie groß und kritisch begangen wird.

Anlaß genug also, über einen der wichtigsten Philosophen (vielleicht sogar den wichtigsten Philosophen) der neueren Moderne im Übergang  vom 19. zum 20. Jhd., der den Auftakt setzte und ihr Ende bereits in den Blick nahm, bis hin zu ihrer (vermeintlichen) Überwindung, Verwindung, Überbietung, wie man es auch nennen mag, in der sogenannten Postmoderne oder Transmoderne, einige Gedanken zu verlieren und hierzu ein paar unsystematische Essays zu verfassen, die in verschiedene Richtungen gehen werden. Sicherlich ist einiges dabei, was die französische Philosophie des letzten Jahrhunderts streift. Gewiß erfolgt eine Lektüre von Derridas bedeutendem Aufsatz/Vortrag zu den Stilen Nietzsches und der Frage der Frau, den er 1972 auf dem großen Nietzsche-Kolloqium in Cerisy-la-Salle gehalten hat („Sporen. Die Stile Nietzsches“). Zu dem insgesamt sehr bedeutenden Band „Nietzsche aus Frankreich“, wo dieser Aufsatz abgedruckt ist, (ehemals erschienen bei Ullstein, im Philo Verlag neu und erweitert aufgelegt) sei auf die Rezension bei „Literaturkritik.de“ verwiesen. Um auch einen Bogen zur Literatur zu schlagen, wird exemplarisch natürlich Thomas Mann mit an Bord sein. Ich will das aber nicht zu sehr ausdehnen und Dinge versprechen, die ich nachher nicht halten kann. Wir werden insofern sehen, wohin die Reise geht. Auf alle Fälle aber wird es eine Lektüre zu Heideggers Nietzsche-Interpretation und zu Adornos/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ geben.

Zu Lebzeiten war Nietzsche der Erfolg nicht oder zumindest kaum vergönnt; Nietzsches große Wirkung setzte erst unmittelbar nach seinem Tode ein, die Lebensphilosophie des gerade angebrochenen 20. Jahrhunderts, das, von den Auseinandersetzungen an den Peripherien der Imperien abgesehen, noch friedlich dämmerte, und die Jugendbewegung als antibürgerlicher Reflex von Bürgersöhnchen waren Motoren einer immer mehr sich in die Höhe und dann in die Breite treibenden Nietzsche-Euphorie, die sich zunächst als Kraftmeierei kundtat und dann teils groteske Züge annahm – Passagen aus Musils „Mann ohne Eigenschaften“ persiflieren diesen Gestus der Jünger auf gelungene Weise. Wie es mit Subkulturen und ihren Inhalten auf die immergleiche Weise und bis heute hin so geht, sinken sie nach einem kurzen (avantgardistischen) Höhenflug hinab in die allgemeinen Niederungen, und so setzte sich die Euphorie im Namen Nietzsches dann bis hinein in die bürgerlichen Kreise fort; Nietzsche wurde, darin seinem Schicksalsgenossen Hölderlin gleich, zur Tornisterliteratur, etwas Schiller noch im Beipack, und so zog es sich im blauen Rock gut ins Feld. In den zwanziger Jahren dann war Nietzsche einer der Gewährsmänner jener „Konservativen Revolution“. (Vgl. zur Konservativen Revolution auch ganz allgemein die Studie von Stefan Breuer „Anatomie der Konservativen Revolution“ und aus der rechtsextremen Ecke heraus Armin Mohler „Die Konservative Revolution“.) Diese Euphorie und das Herausreißen von Bruchstücken aus dem Steinbruch Nietzsche nahm am Ende verhängnisvolle Züge an, und führte zu entsetzlichen Lektüren. Hier sei unbedingt auf das hervorragende Buch von Bernhard Taureck „Nietzsche und der Faschismus“ verwiesen.

Der Titel dieser Essayreihe als „Misreading“ möchte diesbezüglich auch ein Licht auf all die Fehllektüren werfen, die mit dem Namen Nietzsche einhergehen und die in seinem Namen begangen wurden. Wenngleich, dies muß vorab bereits gesagt werden, der Text Nietzsches aufgrund seines unsystematischen, teils aphoristischen Umfanges geradezu einlädt, einer Form von Fehllektüre zu verfallen und Fehllektüren zu produzieren. Insofern wird es in diesen Essays natürlich – implizit – auch um die Kunst der Interpretation gehen.

Die Lektüren Nietzsches setzen sich fort bis in die Gegenwart, wenn er gleichsam als „Hausphilosoph“ der Postmoderne gefeiert wird. Als Gründungsdokument mag hier der frühe Text „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ genannt werden, in dem eine Vielzahl der Motive postmodernen Philosophierens angespielt werden. Dies reicht von der reinen Textualität, zu der es kein Außen mehr gibt (Il n‘y pas dehors du texte, so bei Derrida, etwas eliptisch angeprochen) bis hin zur Wahrheit (und zum Subjekt) als Diskurseffekt. [Die Metapher des Tigers, auf dessen Rücken wir sitzen, taucht sowohl bei Nietzsche als auch in Anspielung auf den Text Nietzsches bei Foucault in „Die Ordnung der Dinge“ auf, um jenes Moment des Träumerisch-flüchtigen und des Illusionären anzuzeigen, dessen wir uns aber kaum bewußt sind. Wir stehen in der Moderne des 20. Jahrhunderts, die sich vor Nietzsche auftat, nicht mehr auf den Schultern von Riesen, die unseren Blick erst möglich machen, sondern das Motiv des Ephemeren und der (möglichen) Dekonstruierbarkeit jeglichen Wissens hat nun mit dieser Metapher des Tigers Einzug gehalten. War es einst das Band der Tradition, eben die Schulter des Riesen, von woher der (neue, erweiterte) Blick und die Kraft genommen wurden, so hat die Moderne des 20. Jahrhunderts vielfach nur Bruchstücke und Fragmente sowie viel Ungesichertes anzubieten, was allerdings bereit bei Kant im Ansatz anklang, bleib doch für den „Weisen aus Königsberg“, wie Nietzsche ihn halb anerkennend, halb spöttisch nannte, allein der kritische Weg noch offen.]

Wahrheit wird bei Nietzsche nicht mehr als zu Erreichendes und Mögliches präsentiert bzw. korrespondenztheoretisch im Sinne der Adäquatio-Formel (Veritas est adaequatio rei et intellectus, Wahrheit als Übereinstimmung von Sache/Ding und Wissen/Geist) begriffen, sondern vielmehr als Effekt der Sprache, als bewegliches Heer von Metaphern, genauer noch als Verschiebung und Übertragung (die Kategorien der Psychoanalyse sind nicht mehr sehr weit entfernt). So heißt es in jenem oben genannten Text Nietzsches:

„Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.“ (Nietzsche, KSA 1, S. 880 f.; Kritische Studienausgabe, im Folgenden abgekürzt KSA)

Wahrheit ist etwas, das bezogen wird auf den Menschen, metaphysischer Hintersinn oder korrespondenztheoretische Überlegungen zur Wahrheit scheiden nunmehr aus. Zum Wesen der Dinge ist der Weg verbaut, (was allerdings bereits Kant wußte, die „Kritik der reinen Vernunft“ ist ja das Unterfangen, die Grenzbereiche zu bestimmen und aufzuzeigen, was geht und was nicht geht). Nur hat, so Nietzsche, der Mensch dieses Wissen verdrängt und vergessen. Es taucht dann bezüglich dieser Vorgänge einige Zeilen weiter der Begriff der „Unbewußtheit“ (S. 881) auf. Wie gesagt: Der Weg zur Psychoanalyse und zu ihrer Arbeit der Aufklärung ist hier nicht mehr weit. Es ist alles bereits angelegt und vorbereitet in Nietzsches Texten. Nietzsche: ein großer Fundus, aus dem sich mancher bediente. Doch zugleich ist der Text Nietzsches, contre coeur, ein Stück Aufklärung: nämlich im Hinblick auf diese uns im verborgenen bleibenden Mechanismen.

Hinzuzunehmen als „postmoderner Gründungstext“ ist vielleicht noch jene sehr viel später erschienene Passage aus der „Götzendämmerung“, diese mag zumindest als verkürzte metaphorische Geschichtserzählung den Gehalt postmodernen Denkens illustrieren (und in gewissem Sinne auch ihre Art veranschaulichen, Dinge zu flüchtig und ohne Intensitäten wahrzunehmen): nämlich der Textteil „Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrtums“. (KSA 6, S. 80)

In Anspruch nehmen läßt sich der Steinbruch Nietzsche also von vielen, dies reicht vom Jungkonservativen bis hin zum Neomarxisten und Poststrukturalisten. Darin mag der Reiz und die Verlockung des Textes liegen.

Man muß sich bei der Nietzsche-Lektüre zugleich aber selbst befragen, was eigentlich genau da steht. Denn die Texte sind teils heikel, und über diese heiklen Stellen sollte man nicht hinweglesen oder sie unreflektiert rationalisieren. Schlecht nur taugt Nietzsche zum Hausgott und Hausphilosoph. Glücklicherweise bin ich spät erst zu Nietzsche gestoßen. In den Interpretationsübungen des Philosophiekurses am Gymnasium blieb er mir fremd mit seiner Herrenmoral und seinem mit dem Hammer philosophierenden Denken. Die Lektüre Hegel/Marx/Sartre/ lag näher, und für die nachredenden Jünger blieb nur pubertätsmarxistische Verachtung übrig. Im Grunde schon damals, wie auch heute noch: Nietzsches Text als Selbstermächtigung zu rotzigem Verhalten ohne Reflexion. Pubertierenden und Achtzehnjährigen sollte man Nietzsche nur mit Vorsicht in die Hand geben. Da ist es wie mit den Drogen: ein wenig zum Probieren schadet nicht, zu viel ist ungesund. Das Aristotelische Maßhalten ist nicht unangebracht. Klug ist es, die Mitte zu wählen. Bitte Mitte. Kein Exzeß, keine Ekstase.

Erst bei Adornos/Horkheimers Nietzsche-Kapitel aus der „Dialektik der Aufklärung“ sowie bei den Auseinandersetzungen mit Denkern wie Foucault, Deleuze und Derrida wurde es dann  nötig, sich intensiver mit Nietzsche zu beschäftigen. „Jenseits von Gut und Böse“ war das erste komplette Werk, der „Zarathustra“ und die „Fröhliche Wissenschaft“ folgten. Und so tat sich ein Nietzsche-Universum auf. Allerdings wollte sich jene unmittelbare Affinität wie zu den Texten Adornos oder Derridas nicht so recht einstellen. Dennoch: Wie habe ich damals im Rausch dieser Worte über so manche Stelle hinweggelesen, ohne explizit zu fragen: „Wer sind eigentlich die Schwachen, wer die Herde?“ Nun, man selber natürlich und selbstredend nicht, denn man saß ja an der Tafelrunde der edlen, edel Denkenden, dem guten alten Geistesadel. Es sind immer die anderen, die dazugehören. Aber wer genau waren nun diese Schwachen, die Herde, die unter der Knute der Herrenmoral stehen und sich ihr zu beugen haben? Was genau ist der Übermensch? Eine Entäußerung von ungeheuren Kräften im strukturalen Spiel von Differenz und Wiederholung? Fadenscheinige Erklärungen waren schnell zur Hand. Insbesondere die Lektüre Deleuzes war in vielen Punkten unbefriedigend und trotz der Dichte und Komplexität der Untersuchung und auch mancher faszinierender Gedanken teilweise deklamatorisch.

„Ja, die ‚blonde Bestie‘; damit ist natürlich der Löwe gemeint, das ist eine Metapher.“ Und so fort und immer weiter ging es mit der Rationalisierung unliebsamer Stellen. Um solche Fragen zu vermeiden, die im Hinterkopf zwar auftauchten, aber in der Gesamtlektüre doch in Latenz bleiben, wurden einfache Konstrukte gebildet. Es verbindet sich mit dem Namen Nietzsche eine vielfältige, spannende, oft geistreiche Lektüre, und zugleich ist viel Fragwürdiges dort vorhanden. Ein großer Stilist in der Tradition der Französischen Aphorisiker und Essayisten wie Montainge und La Rochefoucauld, von dem sich Schreiben und Stil lernen läßt, ist er allemal.

Und so mag als Auftakt der Misreading-Essays ein Zitat Nietzsches gesetzt werden, welches zwar – zu Nietzsches Ende hin – mit einigem Größenwahn daherkommt, das aber dennoch ganz gut – fast hellsichtig zu nennen – einige der Perspektiven vorwegnimmt, in der seine Philosophie stehen wird. Dies geschieht zwar mit einiger Übertreibung und Rhetorik sowie einer gehörigen Portion Pathos. Dennoch: diese Passage ist bezeichnend. So schreibt Nietzsche in seiner letzte Schrift „Ecce homo“ unter dem Titel „Warum ich ein Schicksal bin“:

„Ich kenne mein Loos. Es wird sich in meinem Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, ­– an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“ (KSA 6, S. 365)

Dies ist hochfahrend, gewiß. In Teilen zwar nicht einmal falsch gedacht, nur geschieht dieses von Nietzsche Beschriebene nicht im Namen Nietzsches, sondern es handelt sich um Prozesse einer im beginnenden 20. Jahrhundert vollkommen entfesselten Moderne, die in eine totale, totalitäre und absolute Krise stürzen wird. Hellsichtig allerdings sah Nietzsche mit seinem seismographischen Denken einiges. Und so heißt es eine Passage weiter:

„Mit Alledem bin ich nothwendig auch der Mensch des Verhängnisses. Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Thal, wie dergleichen nie geträumt worden ist. Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt – sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an giebt es auf Erden grosse Politik.–“ (KSA 6, S. 366)­

Auch wenn die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die im Holocaust sowie in den stalinistischen und maoistischen Völker- und Massenmorden ihren Kulminationspunkt fanden, weder unmittelbar noch mittelbar im Zusammenhang mit Nietzsche und seinem Denken stehen, so hat es dennoch Korrespondenzen und Verbindungslinien gegeben. Insbesondere die zum Faschismus lassen sich nicht einfach eskamotieren. Wenngleich man andererseits durchaus, etwa in der Lesart Adornos/Horkheimers, Nietzsche zu den schwarzen Schriftstellern des Bürgertums zählen kann, die die dunkle Seite des Mondes besuchten und von ihr erzählten.

Inspiriert zumindest hat Nietzsche viele der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, ob dies nun Heidegger, Jaspers, Gadamer, Löwith, Bloch oder Adorno waren. Die einzige philosophische Richtung, die sich gar nicht oder kaum mit Nietzsche befaßte, war wohl die analytische (Sprach-)Philososphie (Rorty einmal ausgenommen, aber gehört der noch dazu?). Interessant wäre es zudem, die sprachphilosophischen Bezüge zwischen Wittgenstein und Nietzsche herzustellen. (Mir sind hier momentan keine gewichtigen Arbeiten bekannt, und ich wäre für Anregungen dankbar.)

Einer der nächsten Essays wird sich mit Nietzsches früher Schrift „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, jenem oben genannten Gründungsdokument der Postmoderne befassen.

Bis dahin wünsche ich eine schöne Zeit, und machen Sie es sich gemütlich.