Documenta 15: Zwischen arabischem Antisemitismus und „Stürmer-Ästhetik“

Hier hätte heute eigentlich ein anderer Text zur Documenta 2022 stehen sollen, kein wohlwollender zwar, sondern mehr nach dem Motto „Bleib ich halt zu Hause“ – ich bringe die Glosse dann morgen oder übermorgen. Aber was ich heute früh im Internet fand und was auf der Documenta 15 von den Ausstellungsmachern, dem indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa, als Bild und als „Kunstwerk“ gezeigt wird, das verwundert doch sehr. Um es in der höflichsten Formulierung zu fassen.

„Das Künstlerkollektiv, das für das Bild verantwortlich zeichnet, nennt sich „Taring Padi“. Zu sehen ist es am Friedrichsplatz“, so Thorsten Sommer auf Twitter, wo er diesen Fund veröffentlichte. Ein Twitterer mit gerade einmal 75 Followern und nicht mit der Reichweite von Deutschlandfunk Kultur und dem Sendeplatz eines Tobi Müller, genannt auch Schweige-Müller. Schauen wir mal, ob Kulturzeit heute abend dazu etwas bringen wird und ob es in den Sendungen von Deutschlandfunk auftaucht.

Sommer schreibt weiterhin auf Twitter:

„Der Jude“ als zoomorphes Wesen mit verzerrter Physiognomie (blutunterlaufene Augen, spitze Raffzähne, krumme Nase) samt Kippot, Hut und Schläfenlocken. Auf dem Hut prangt eine „SS“ Rune, die „den Juden“ als Nazi und somit als das personifizierte Böse charakterisiert“

Daß solche Bilder in einer Kunstausstellung, die zudem mit öffentlichen Geldern gefördert wird, in einem Land, in dem der Holocaust stattgefunden hat, gezeigt werden, ist nicht mehr nur befremdlich zu nennen – von der billigen Kindergarten-Ästhetik sowie einer Polit-Ästhetik, die bereits vor 55 Jahren schon dumm zu nennen gehörig untertrieben ist, einmal ganz abgesehen. Solche „Kunst“ wie die von Taring Padi disqualifiziert sich aber nicht etwa nur wegen solcher Inhalte, wie man sie aus dem „Stürmer“ oder in anderen NS-Karikaturen kennt, sondern bereits von ihrer Form hier. „Infantile Ästhetik“, wie Herwig Finkeldey auf Facebook schreibt, der diesen Fund ebenfalls verbreitete. Auch wenn Kunstförderer nicht über Bilder und Inhalte zu bestimmen haben, bedeutet dies nicht, daß ein Kulturminister solche Bilder unkommentiert lassen müßte. Daß solche Bilder nicht einfach nur schlechte Kunst, sondern gar keine Kunst sind, weil sie ästhetisch bereits derart mißlungen und hinter ihrer Zeit zurückgeblieben sind, ist das eine. Hier können Debatten der Kunstkritik und auch der Ästhetik einsetzen: die Frage nach den Maßstäben und nach den Möglichkeiten von Werken heute. Wenn Adorno in „Vers une musique informelle“ schreibt „Die Gestalt aller künstlerischen Utopie heute ist: Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind“, so trifft das von der Materialbeschaffenheit, von der Art der Ausführung und Darstellung des Werkes, vom Sujet bis zum Stil und zu den Details, mithin der gesamten Auseinandersetzung des Künstlers mit seinem Material, auf dieses Machwerk ganz sicher nicht zu.

Und das gilt vermutlich heute überhaupt für einen Großteil der Kunst, die fern solcher Utopie eines Anderen ist: insbesondere jene eher an die Staatskunst der DDR gemahnenden Werke aus Wokistan, wenn da sogenannte Künstler artgerecht ihre Stücke für die Findungskommission schreiben und brav Themenliste abarbeiten.

Ich bin im Blick auf die documenta dafür, daß alle Kunst Kunst bleiben muß. Aber solcher Agitprop, der Judenhaß zum Thema hat, indem jüdische Stereotype gezeichnet werden, und solches Hetzprogramm als Kunst zu maskieren: das geht nicht, das ist nur noch bedingt von der Kunstfreiheit gedeckt. Zumindest muß solcher Judenhaß laut und deutlich zum Thema gemacht werden. Zumal in diesem Machwerk eben kein irgendwie auszumachender doppelter Boden oder ein Spiel oder eine Art von Kippfigur eingebaut ist. Dies ist ganz einfach und deutlich gesagt „Stürmer“-Ästhetik, die in bestimmten Kreisen anscheinend hoffähig geworden ist.

Was sagen die üblichen Medien-Aktivsiten dazu? Haben wir schon eine Kolumne von Margarete Stokowski, haben wir was von Teresa Bücker oder von Kübra Gümüsay gehört? Oder von Annika Brockschmidt, die auf Twitter immer mal wieder gerne und aktivistisch in moralisch hochfahrendem Ton sich gebärdet? Werden wir etwas von jener Allzeit-bereit-immer-bereit-Aktivisten von Diez bis Sixtus im dauernden Kampf für das Gute und das politisch Korrekte, die beim kleinsten Anlaß reagieren und immer woke und wachsam sind, noch zu hören bekommen und ein „Wir-sind-mehr“ gegen Antisemitismus und antijüdischen Rassismus erleben? Was wäre gewesen und was gäbe es für ein Hallo, wenn ein eher konservativer Künstler sich solches geleistet hätte? Sagen wir Georg Baselitz oder Neo Rauch? Wie war das eigentlich nochmal mit dem Leipziger Maler Axel Krause? Da gab es erhebliche Skandalisierungen bei deutlich geringerer Verfehlung. Würde man, wenn Matthias Matussek ein Bildender Künstler wäre und ein Werk mit dem Titel „The Muslime as a massacre man“ ausstellen wollte, auf einer Leistungsschau der Kunst auch derart darüber hinweggleiten? Vermutlich nicht, vermutlich wäre dieses Werk nicht einmal zugelassen – und das nicht etwa nur wegen mangelnder formaler Qualität.

Während es bei Uwe Tellkamp eine Woge der Empörung gab, habe ich leider den Verdacht, daß im Falle dieses Bildes und noch eniger anderer Werke von den üblichen Verdächtigen eine Woge des Schweigens samt dessen Deckmantel über solche antisemtischen Machwerke hinwegsäuselt: Was wird es im Blick auf solche Inszenierungen geben, die Ruangrupa, die Ausrichter der dieser documenta 15, zu verantworten haben: Etwa Taring Padis Wandbild oder auch (ich komme diese Woche darauf noch zu sprechen) solchen Gaza-Kitsch wie ihn Mohammed Al Hawajri von der Gruppe Eltiqa produziert: mit einem Titel wie „Guernica Gaza“? Darüber wird zu sprechen sein. Und dieses Thema Antisemitismus wird, wenn Ruangrupa Debatte und Dikussion will, immer wieder auf den Tisch zu bringen sein in dem sogenannten „Lumbung“, den Ruangrupa als kommunikative Öffnung und als Gesprächsraum eröffnen will. Und solche Kritik an solchen Machwerken wie von Taring Padi und Mohammed Al Hawajri läßt sich auch nicht mit der Phrase „antislamisch“ erledigen, sondern wir haben das binnenästhetisch auch im Blick auf die sogenannte engagierte Kunst zu debattieren – hier täte ein Blick in Adornos in den „Noten zur Literatur“ zu findenden Essay „Engagement“ gut – und wir haben das zugleich über die Reichweite und das, was Kunst darf zu debattieren.

Kunst kann und darf alles, so sagt man. Sie darf auch Kritik an Ländern und Politikern üben, vor allem, wenn es im Werk selbst gut gemacht ist. Aber es sagt niemand, daß das, was Kunst darf, nicht auch kritisiert werden darf und unkommentiert gelassen werden muß – vor allem im Blick aufs ästhetische Gemachtsein und besonders dann, wenn es in solch plumper Art und Weise daherkommt wie auf der documenta 15. Auch durch Kunst kaschierter Antisemitismus bleibt Antisemitismus. „Stürmer“-Karikaturen wären ja auch nicht deshalb gelungene Kunst, weil es sich um Zeichnungen von Ivo Saliger handelt. Auch poltisch muß es nicht ukommentiert gelassen werden. „Naivität“ und „Antisemitismus“ sollten nicht als „Klugheit“ oder „Gewitztheit“ bezeichnet werden, sondern als das, was sie sind.

Und solche Freiheit der Kunst bedeutet ebensowenig, daß man über bestimmte Werke nicht debattieren und zudem und vor allem die Frage stellen dürfe, ob solches überhaupt Kunst sei und nicht vielmehr wegen ästhetischer Minderleistung niemals hätte ausgewählt werden dürfen. Es hat Gründe, warum es auch in den Kunstkursen an Schulen Fünfen und Vieren gibt. Nicht jedes Objekt, das sich selbst Kunstwerk nennt, ist ein Kunstwerk. Und ein Kunstwerk ist nicht deshalb ein Kunstwerk, weil es in einer Galerie oder einer der wichtigsten Kunstschauen Europas hängt. Kunstwerke bedürfen der Institutionen, aber sie sind nicht durch Institutionen. Freilich hätte man sich gewünscht, daß eine solche Debatte über den Status des Werkes – gewissermaßden die immerwährende Frage der Ästhetik nach „der Verklärung des Gewöhnlichen“ und was ein Kunstwerk zu einem Kunstwerk macht – nicht an derartig dummen und einfältigen Objekten geführt wird.

Andererseits, denke ich, sollten wir es nicht machen wie die Cancel Culturer, jene Woko Haram aus Identitätshausen. Eine kluge Form von Protest und Gegenaktion muß dafür her: Nicht-Kunst nicht mit Nicht-Kunst, sondern mit Kunst zu begegnen.

Nachtrag, heute Mittag:

Hanno Hauenstein zu jenem Twitter-Text von Thorsten Sommer


Hanno Hauenstein ist Ressortleiter im Kulturbuch der Wochenend-Ausgabe der Berliner Zeitung. Wenn einer also benennt, was da auf einem Bild zu sehen ist, reproduziert er damit das, was da zu sehen ist. Nicht jene, die solche antisemitischen Karikaturen produzieren, werden von Hanno Hauenstein auf Twitter als erstes Mal scharf kritisiert, sondern jener Mensch, der auf Antisemitismus hinweist, wird von Hauenstein zur Ordnung gerufen und als fremdenfeindlich diskreditiert. Was kommt als nächstes: Kritiker des NSU reproduzieren nur die Denke des NSU? Putinkritiker sind in Wahrheit Apologeten Putins, weil sie wiedergeben, was Putin sagt?

Bei jeder falschen Klotür und bei jedem unbedarften Wort machen diese Leute Gewese und Geschiß. Bei arabischem Antisemitismus aber schweigen oder beschwichtigen sie und machen, labeln die, die darauf hinweisen als islamophob. Es ist zum Kotzen.

Chemnitz – Europäische Kulturhauptstadt 2025

Nun soll also Chemnitz 2025 Kulturhauptstadt werden – nicht Hannover. Und auch nicht Hildesheim, Magdeburg und Nürnberg. Man sagt, das beste an Hannover sei der Flughafen. Weil man dann schnell weg wäre. Ich kenne Hannover zu wenig. Ich war im Jahr 1994 einmal dort, bei einem Ästhetikkongreß mit dem Titel Ästhetik und Naturerfahrung, wo unter anderem Herbert Schnädelbach, Josef Früchtl und Karl Heinz Bohrer Vorträge hielten. Beim Bohrervortrag gerieten Bohrer und Bazon Brock in der Diskussion schwer aneinander und Brock baute sich vor Bohrer auf, so daß wir dachten, der Hüne Brock, würde gleich das Katheder umschmeißen, hinter dem Bohrer stand. Es gibt Menschen, die sagen, es fänden sich in Hannover schöne Ecken. Ich glaube soetwas gerne, zumal man auch bei Städten, die auf den ersten Spaziergang nicht besonders spektakulär oder ansprechend erscheinen, dennoch Spannendes, Interessantes und eben auch Besonderes entdecken kann. Interessant bei solchen Flaniertouren ist vor allem jener erste Eindruck, der erste Blick und wenn man den dann beim Spazieren und Schauen und Photographieren vertieft.

Chemnitz, die alte deutsche Industriestadt, in der DDR Karl-Marx-Stadt geheißen  – das ist eine seltsame Stadt. Hoch aufragend und von überall, schon bei der Anfahrt auf Chemnitz gut sichtbar ist jener Schornstein, er ist Blickmarke und Blickfang, den man von fast jedem Punkt aus sieht. Er begrüßt den, der mit dem Auto einreist genauso wie einen Bahnfahrer. Wer durch die Stadt spaziert, kann sich, sofern er sich als städtischer Wanderer verrennt, gut an diesem Haltepunkt orientieren. Selbst nachts noch strahlt der Industrieschornstein in bunten Farben. Eine feine Idee, ihn mit Licht zu verzieren, ein dezentes (Marken)Zeichen.

Chemnitz ist eine sich zunächst verschließende Stadt, sie empfängt einen nicht mit freundlichen Gebäuden und nettem Charme des Spätmittelalters oder mit Gründerzeitgeist wie Leipzig; und sie ist eine auf den ersten Blick unvertraute Stadt. Heimisch, willkommen oder behaglich fühlte ich mich darin beim ersten Besuch nicht. Was zunächst einmal nicht wertend gemeint ist. Mit ihr werde ich nicht einmal auf den zweiten Blick warm. Wir bleiben einander unvertraut. Breite unwirtliche Ausfallstraßen, die kaum zum Spazieren einladen. Der Autolärm stört – und dies schreibe ich sogar und bekenne es als Freund des Autos. Im Zentrum zerstört und mit Funktionsbauten versehen, teils wunderbare DDR-Architektur allerdings, die das Herz jedes Architekturfreundes höher und höher schlagen läßt, jedoch im Shopping-Mall-Bereich teils schreckliche Nachwende-Investorpassagen der Billigvariante, um darin seinen Einkauf zu tätigen. Aber an den Rändern finden sich wunderbare Gründerzeitbauten, auch Jugendstil ist zu sehen: das Spazieren durchs Kaßberg-Viertel ist Augenweide und Freude. Und je genauer man schaut, desto interessanter wird es.

Auch gibt es in Chemnitz viel Kunst. Die Kunstsammlungen Chemnitz, die Ingrid Mössinger zum veritablen Hotspot auftat, insbesondere auch für die große Kunst der DDR, aber ohne Brimborium und keine Eventbude. Ebenso ist die Gunzenhausener Sammlung (Museum Gunzenhausen)  unbedingt zu besuchen. Recht unbekannte Werke von Otto Dix aus der inneren Immigration während des Dritten Reiches gibt es da zu betrachten, still-unheimliche Landschaften, kalt, fremd und menschenleer, und eine Vielzahl Alexej-Jawlensky-Bilder. Einen Jawlensky,  wie ich ihn bisher nicht kannte. Allein für dieses schöne Museum lohnt ein Besuch – gerade auch weil man hier jene Bilder der Heroen Klassischer Moderne betrachten kann, die nicht so sattsam bekannt und überbekannt sind.

Viele Museen also, zum Beispiel auch das Sächsische Industriemuseum Chemnitz, darin Maschinen, Stoffe, Webstühle, eine Lokomotive. Und entspannte Menschen bewohnen diese Stadt. Seltsam unaufgeregt sind sie, ein feiner freundlicher sächsischer Dialekt. Weich klingt er, ich mag das. Diese Entspanntheit findet man zwar auch in Dresden, doch anders. Und es blitzt in Dresden immer einmal wieder der Bürgerstolz durch: kunstsinnig wähnt man sich, Regierungshauptstadt, da in Dresden, wo man abgekapselt in der Neustadt sich entweder ein linkes Refugium baute oder sich auf der anderen Seite der Elbe was aufs Elbflorenz einbildet oder im feinen Weißen Hirsch oder in Loschwitz als Bürger besorgt oder aus anderen Stadtteilen heraus sogar zornig ist – man weiß nicht weshalb. Dresden ist trotz aller Zerstörung immer noch prächtig. Daß die Stadt an einem breiten Fluß liegt, macht ihren Charakter aus. Anders auch als das unbeschwerte und künstlerische Leipzig, mit seinem verfallenen Charme, der Kunst, der Literatur und dem Kaufmannsgeist im Zentrum der Stadt mit den Höfen am Brühl oder dem weiten Marktplatz, gleich daneben das herrliche Steigenberger Hotel mit einer der besten Cocktailbars der Stadt.

Eine Anatomie dieser drei Städte wäre zu schreiben. Obwohl sie nahe beieinander liegen, sind sie ganz unterschiedlich geprägt. Auf ihre Weise mag ich sie alle drei. Chemnitz braucht Zeit – zum ersten Mal war ich dort 2013, aus den dunklen Wäldern des Erzgebirges für eine Tagestour einreisend. Aber vielleicht findet sich solcher Unterschied oft bei Städten, die nahe beieinander liegen und ähnlich von der Region her und dann doch wieder ganz und gar anders sind. Hamburg und Bremen, Leipzig und Halle. Wie es im Ruhrpott mit den Differenzen funktioniert, weiß ich nicht. Bochum und Essen, Gelsenkirchen und Duisburg erschienen mir einerseits ähnlich – auch von der Mentalität der Menschen her. Es prägte die Arbeit diese Region, Ausnahmen bilden allerdings dann Orte wie Kettwig, Hattingen, der Baldeneysee oder die Villa Hügel. Diese Ähnlichkeit konnte ich für die Sachsenregion so nicht feststellen. Die Differenzen zwischen Chemnitz, Leipzig, Dresden sind immens, und dazwischen liegt eine traumhaft schöne Landschaft. Egal wie: zum Photographieren und Dokumentieren eignet sich im Grunde jede Stadt der Welt, selbst das bedrohlich-häßliche Charleroi in Belgien.

Auf alle Fälle freue ich mich für die alte Industriestadt Chemnitz über diesen Titel. Kultur zumindest gibt es dort bereits genug.

[Überarbeiteter Text von 2018; ebenfalls waren einige der Photographien bereits im Jahr 2018 hier im Blog erschienen.]

Wien – Heldenplatz, im Sonnenherbst

„Selfie-Schlampe“ zischte er scharf an ihrem Ohr vorbei, nachdem sie mit dem Telephon am Stock auf sich selbst die Linse richtete und keck posierte. Nur für sich, nur für den Instagram-Account oder einfach für ihren geliebten Freund, der woanders weilte. Das war vor der Wiener Hofburg, Heldenplatz, Platz der großen Verkündung. Sie schaute nicht zu ihm hin, sie verstand ihn womöglich, diesen böse Zischelnden nicht, lachte in ihr Telephon, griente, schob ihren schmalen Oberkörper nach vorne, während er nuschelnd an ihr vorbei stampfte. Auch im Zentrum der Stadt brechen sich die Bilder. Nun ist die Hofburg und die heutige Nationalbibliothek als Hintergrund durchaus eine imposante Kulisse für eine schöne Photographie mit sich selbst, mit einer schönen jungen Frau und dem habsburgischen alten Österreich als flamboyantem Hintergrund. Vor allem aber ist dieser Platz im frühen Herbst ein von Touristen begehrter Ort. Diese Weite, der Blick auf die Hofburg, und ferne das Rathaus und das Parlament, das sich im Umbau befindet – also nicht metaphorisch genommen, sondern real von den Werktätigen, den Bauarbeitern der Republik Österreich. Ganz Wien, so scheint es, ist an diesem sonnigen 27. September auf den Beinen. Doch Thomas Braschs Der schöne 27. September scheinen sie alle nicht gelesen zu haben, einfach bei sich zu bleiben:

Ich habe keine Zeitung gelesen.
Ich habe keiner Frau nachgesehn.
Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.
Ich habe keinem einen guten Tag gewünscht.
Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.
Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen und
mit keinem über neue Zeiten.
Ich habe nicht über mich nachgedacht.
Ich habe keine Zeile geschrieben.
Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.

Wunderbar aus dem Leben gefallen sind diese Zeilen, ist diese absolute, sich in sich versenkende Ruhe. Das reine Nichtstun, intentionsloses Dasein. (Vielleicht im Falle Braschs noch mit einer Flasche Schnaps.) Hier jedoch in der Weite Wiens tummelt und treibt das Volk und Menschen aus aller Herren Länder strömen in die österreichische Hauptstadt, um zu schauen, zu spazieren oder einem City-Guide, der ein buntes Stöckchen oder einen Schirm in die Höhe, über seinem Kopf schwingt, zu folgen. Touristen lauschen, was es zu sehen gibt. Voll, ja sogar überfüllt ist es hier wie auch anderswo in der Stadt – egal ob Graben, Kärntner Straße, Stephansdom. Sehr viel mehr Menschen als im Sommer treibt es im frühen Herbst nach Wien. Es ist also nichts mit dem melancholischen Wien im Herbst und im Volksgarten den Theseustempel anschauen.

Dann jedoch der erste Oktober, das war ein regnerischer Tag. Und sobald es nieselt, leeren sich die Straßen der Stadt. Noch in den späten Nachmittag, den frühen Abend hinein zogen die Wolken am Himmel, und immer der Wind dazu, der durch Wien weht. Wien ist von seiner Lage her eine Windstadt.

Volksgarten, 18 Uhr, kurz bevor es dämmert, im Park ist es leer. Da könnte man aus dieser Menschenleere ein Rilke-Gedicht zaubern. Lediglich ein Rabe mit trüber Schwinge trudelt vorbei, ganz in der Ferne nur kreisen Japaner. Versprengt, einzeln, unermüdlich. So in dieser Art eben.

Mit der melancholischen Alkoholisierung zum Abend muß ich bei einer Erkältungskrankeit vorsichtig sein, es spaziert sich, derart mittels einigen Gläsern Gemischtem Satz die Sinne aufgesteigert, bei Krankheit nur bedingt gut durch Wien. (Der scharfe Wind griff nach den Bronchien.) Ich etabliere also eine neue Art des Reisens: Malade Voyage – Agentur Molière-Reisen. Der fiebernde Ästhetizist, der sich von seinen Wahrnehmungen gerne überreizen läßt, in einem zwar nicht besorgniserregenden, aber doch in einem leidlich angeschlagenen Zustand, in dem es die Dinge und die Straßenszenen leicht entrückt wirken läßt, taumelt durch Wien; durch diese alte, die schöne, die häßliche Stadt mit ihren seltsamen Gemeindebau-Häusern in Gürtellage. Von der Gumpendorfer Straße zum Mariahilfer Gürtel, zum Neubaugürtel, zum Lerchenfelder Gürtel. Oder die andere Seite hin, zum Margaretengürtel: die Ringstraße des Proletariats, bis heute hin und auch wie damals ethnisch gemischt. Sowieso ist in Wien, wenn man nicht gerade in Grinzing oder im 1. Bezirk, Innere Stadt weilt, immer noch die ehemalige Hauptstadt des Vielvölkerstaates. Man kann das in Georg Kreislers wunderbarer Telefonbuchpolka nachhören – nur das da noch die türkischen Namen fehlen, aber angefüllt ist sie mit slawischen: -drak, -tschil, -witc.

Ich sitze gern im Wirtshaus
Am wirtshäuslichen Herd
Dort sitz ich wie bei mir z’Haus
Und werde nicht gestert
Der Wein wird schen älter
In meine Kehle fällter
Der Kalterer wird kälter
So wie es sich gehert
Ich les nicht in Journalen
Ich red mit kaner Frau –
Für die mißt ich noch zahlen
Dazu bin ich zu schlau
Wenn ich Inspiration such
Gesellschaftsliaison such
Les ich das Telefonbuch
Dort find ich das genau –
Alle meine Freind stehn drin
Und zwar auf Seite „Vau“:

Vondrak, Vortel, Viplaschil
Voytech, Vozzek, Vimladil
Viora, Vrabel, Vrtilek
Viglasch, Vrazzeck, Vichnalek
Vregga, Vrba, Vikodill
Vrablic, Vutzemm, Viskocil
Vochedecka, Vuggelic
Vrtatko, Vukasinowitc
Vorrak, Vondru, Vorlicek
Voralek, Vosmik, Vorlik, Vrba, Vrtl
Vodrupa, Vozenilek
Vrinis, Vostarek
Vrtala und Viplacil
Vrzala und Vistlacil
Vouk, Vudipka, Vicesal
Vrazdil, Vrana, Vimmedall
Vrbizki, Vrbezki, Vranek

Vom inneren zum äußeren Ring schlendert man zum Beispiel über die Mariahilfer Straße und all die Seitenstraßen, schön mäandernd, um dort in den Gassen all die kleinen Gewerbegeschäfte sich zu betrachten. Eine Fülle von Einzelhandel und Kleingewerbe gibt es da zwischen dem 6. Bezirk Mariahilf und dem 7. Gemeindebezirk Neubau – völlig anders als in Paris inzwischen oder auch in Berlin, wo hohe Gewerbemieten die kleinen Händler verdrängt haben. In Wien ist das anders. Auch der Gemeindebau ragt da mitten in der Stadt, die Gebäude meist grau, dunkelgrün, mit abweisendem erd- und ockerfarbener Verputz oft. Die habsburger Barockschönheit ist weit, weit weg, es sind keine Paläste, aber es ist Wohnraum. Man kann sich über dieses Konzept von Wohnen und von Lebensform streiten und doch es ist günstig, jeder hat die Möglichkeit nahe am Zentrum zu wohnen und für jeden erschwinglich, was eine interessante soziale Mischung erzeugt. Vor allem aber stimmt die Mischung aus Geschäften und Wohnen. Man sieht kaum  Ladenketten, keine schrecklichen Starbucks und – welche Ironie im Namen – Balzac Coffee Company. Honoré de Balzac hätte über solche Verdrehung des Sinns einen brutal-guten Roman geschrieben. Im Geiste der sozialen Beobachtung registrierte Balzac, was vor sich geht.

Aber den kranken Ästhetizisten interessiert die soziale Lage nicht. Er nimmt seine Nikon-Kamera und streift durch die Stadt. Mit taumelnden Schritten übers Wiener Pflaster. Aus dem kranken Nichts die Texte im Kopf und die Bilder generieren. Malade Voyage – Agentur Molière-Reisen. Buchen Sie jetzt!

 

Korrekt-politische Wandgedichte: Herbst in Peking 2017

Eugen Gomringer ist ein bolivianisch-schweizerischer Schriftsteller, bekannt vor allem als Lyriker. Konkrete Poesie oder auch visuelle Poesie, so heißen hier die Stichworte. Was der österreichische Maler Heinz Gappmayr in der bildenden Kunst tat, nämlich Flächen und Wörter in eine Verbindung zu bringen, das bereitete Gomringer für die Dichtung. Sprache im Text steht nicht bloß immateriell für sich, so daß wir beim Lesen Laute im Kopfe vernehmen, denen wir Sinn und Bedeutung geben, sondern das Wort als materiale Form ruht genauso auf einer Fläche.

2011 erhielt Gomringer den Alice Salomon Poetik-Preis 2011 – nicht weltbekannt, aber Preis ist Preis – und ein Wandgedicht ziert seitdem die Fassade der Alice Salomon Hochschule. Es ist eine Fachhochschule im Osten Berlins, in Hellersdorf. Ihre Schwerpunkt ist sozialpädagogischer Natur: Soziale Arbeit, Gesundheit, Erziehung und Bildung. Auf der Fassade steht:

Avenidas
avenidas y flores

flores
flores y mujeres

avenidas
avenidas y mujeres

avenidas y flores y mujeres y
un admirador

Man kann dieses Gedicht ins Deutsche übersetzen, ich halte es aber für sinnlos, weil durchs Übertragen der Klang verlorengeht, und wenn man die wenigen Begriffe vom Spanischen ins Deutsche denkt, geht es genausogut ohne Übersetzung.

Der Asta der Alice Salomon-Hochschule übersetzt trotzdem, weil er nicht auf die Kraft der Sprache vertraut, sondern auf die Macht der Kunstvernichtung. Das Gedicht soll weg, es sei frauenfeindlich.

„Ein Mann, der auf die Straßen schaut und Blumen und Frauen bewundert. Dieses Gedicht reproduziert nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind.“

Man könnte meinen, diese Sätze stammten in ihrem Übereifer als eine Art Witz aus Eckhart Henscheids „Trilogie des laufenden Schwachsinns“. Von dorther sind sie aber nicht entnommen. Sie kommen vom Asta, aus der Anonymität heraus geschrieben natürlich, ohne konkrete Personen, die für die Kunstvernichtung einzustehen bereit sind. Lediglich in einem Aufruf zur Neugestaltung der Fassade unterzeichnen eine Lotte, eine Marie und ein_*x Aiko vom Asta.

Heute ist es gefährlich, Kunst zu machen. Damit bist du, guter armer Künstler, Hypocrite lecteur, mon semblable, mon frère!, schneller auf dem Scheiterhaufen der neuen Inquisition, als du bis drei zählen kannst. Der Autor von „A une Passante“ säße vermutlich, wenn es nach diesen Leuten ginge, in einem Gefängnis. Allein schon deshalb, weil er der Brüderlichkeit nur das Wort hielt.

Solches Zensieren und Tilgen von Kunst und Kontext hat Methode. Bereits in Orwells „1984“ lesen wir von jenem Wahrheitsministerium, das Geschichte und Tradition von Kunstwerken umschreibt, so wie der Zensor in Diktaturen auf hohes Geheiß aus Photographien  unliebsame Personen tilgt.

Die „Zeit“ betitelte letzte Woche einen Essay zur bildenen Kunst wie folgt: „Mit ***** fängt es an“. Sensibelchen, die beim Neger einen aufgeregten Keuchhusten samt Sprachschwierigkeit bekommen. Sprachphilosophisch allerdings im Sinne von Donald Davidson interessant, ab welcher Anzahl von Sternen der Leser einen Begriff in seiner Bedeutung nicht mehr versteht. Hanno Rauterberg  hielt in der „Zeit“ diese Beobachtung des Geschichtstriggerns in bezug auf die Kunsthalle Bremen fest: sie „erforscht in einer couragierten Ausstellung ihre koloniale Geschichte. Das Ergebnis ist verheerend.“

Was ich vor zehn Jahren für einen schlechten Scherz hielt, worüber ich witzelte und dachte es käme bei allem Wahn politisch korrekt zu sein, soweit nicht, es sei ein Witz, die kleinen weißen Täfelchen umzuschreiben, auf denen der Werktitel steht – hier in Bremen wird das Unzugängliche Ereignis und auch getan:

„Verschärfend kommt hinzu, dass Nolde von „Eingeborenen“ sprach und die Aquarelle so betitelte. Dieser Begriff sei „im Kontext von Versklavung und Kolonialismus aber ausschließlich auf unterworfene Gesellschaften außerhalb Europas angewandt“ worden, sagt die Ausstellung, weshalb im Museum nur von E*********** die Rede sein darf.

(…)

Ähnlich verhalte es sich mit dem Kaffeegarten an der Weser von Elisabeth Perlia, denn hier werde ein „Genussmittel aus fernen Ländern, zumeist von unterbezahlten Arbeitskräften hergestellt“ ganz offenbar „unbekümmert von der globalen Handelsgeschichte“ genossen. Die Malerin zeige „das Kaffee-Trinken als Teil der weißen Identität“.

Entstanden sind diese Texte in Kooperation mit der örtlichen Universität in Bremen, verantwortet werden sie von der Anthropologin Julia Binter, die eigens als Kuratorin nach Bremen geholt wurde. Inmitten der Debatte um das Humboldt Forum in Berlin plädiert sie mit ihrer Ausstellung für eine radikale Dekolonialisierung der Museen: Erkennt eure Schuld und zieht daraus die Lehren, ruft sie den Besuchern zu. Endlich soll Schluss sein mit Rassismus, Exotismus und Ausgrenzung.

Deshalb darf das Negermädchen, ein Aquarell von Anita Rée, jetzt nur noch N****mädchen heißen.“

Man hätte Julia Binter dort lassen sollen, wo sie herkommt – im akademischen Dschungel deutscher Mittelstandsfrauen. Ich zitierte die Passagen deshalb so ausführlich, um den Geist dieser Gesinnungspolitik besser begreifbar zu machen: wie eine sinnvolle Intuition sich ins Absurde verdrehte. Fast könnte man den Eindruck bekommen, es wollten in Bremen und auch im Falle des Asta-Hellersdorf bestimmte Kreise eine eigentlich gute Sache ins Lächerliche reiten. Ja, am besten ist es, Völker und Kulturen, Mann, Frau, Geschlecht und Geschlechter kommen in Kunst und Leben gar nicht vor. So hätten es die Evangelikalen des neuen Butlermainstreams am liebsten, am besten überhaupt keine verfänglichen Dingen, die man falsch interpretieren könnte und die ein zu zartes Gemüt wie Lotte, Marie und Aiko vom Asta beunruhigen, wenn nicht triggern könnten. Kürzlich las ich in einem Blog, daß Verlage doch bitte eine Contentwarnung auf entsprechenden Büchern anbringen sollen. Und das war nicht als Scherz gedacht und das hat mittlerweile System:

„Der Verlag könnte Content Warnings in den ersten Seiten auflisten, oder bevor die Geschichte anfängt darauf hinweisen, dass man auf eine der letzten Seiten Content Warnings finden kann. Diese Content Warnings sollte man auch über verschiedene Online-Buchhandlungen finden können.

Für die neue Pekinger Hauswand in Hellersdorf schrieben Lotte, Marie und Aiko vom Asta: „Werdet also kreativ, brainstormt gemeinsam und lasst uns eine tolle Umgestaltung realisieren! alles Liebe, …“ so texten sie liebevoll ihren Aufruf zur Kunstzerstörung.

Die Kreativität dieser Leute sieht vermutlich die Burka vor. Gleichgeschlechtlich, ohne sichtbaren Unterschied, nichts, was auffällt, selbst Maos Ameisenkittel, die ein ganzes Volk zu tragen gezwungen war, wirken dagegen wie ein Stück hart erkämpfter Souveränität. Burkas über Statuen, über Kunstwerke, über jede Regung und Äußerung. Und da Geschlecht, laut Judith Butler, eine soziale Konstruktion ist, können wir es gleich mit abschaffen, denn es perpetuiert den Gewaltdiskurs. Restlos verabschiedet dieses sich selbst als links bezeichnende Kollektiv jeglichen Materialismus.

Diese neue Animosität samt Ikonoklasmus, in evangelikaler Tradition, ist entsetzlich, wir hatten es bei den Bilderstürmern zur Reformationszeit, heute ist es critical whiteness und eine bestimmte Fraktion aus dem Hause Gendergaga. Amusisch vor allem. Den Gehalt dieses Gedichtes nicht im mindesten erfassend.

Ein wunderbares Statement an die Adresse der Amusischen gibt es von Nora-Eugenie Gomringer, der Tochter des Dichters und selbst Dichterin, auf Facebook. Ein großes und gutes Statement:

https://www.facebook.com/noraeugenie.gomringer/videos/10155002505906819/

Wer nach dieser Rezitation und vor allem nach dieser Interpretation des Gedichts die Wand-Poesie immer noch entfernen will, hat nichts von Kunst begriffen und legt die (scheinbar) gute Gesinnung über jede Denkregung. Schlimmer aber als jene Leute vom Asta ist die Hochschulleitung, die dem Druck stattgegeben hat. Was für Feiglinge! Auch wenn Hochschulrektor Uwe Bettig das Entfernen kritisiert: Es gäbe sicherlich interne Möglichkeiten, es zu verhindern. Angefangen bei einer kleinen Sicherheitsprüfung der Kaffeemaschinen im Studentencafé des Asta. Von der Frage der rechtlichen Legitimation des Asta einmal ganz abgesehen.

Nein, so geht es nicht. Das Gedicht bleibt, und wir sollten überlegen, ob wir nicht, wenn das Gedicht entfernt wird, öffentlich zum Protest aufrufen und die Beseitigung mittels Platzbesetzung und ästhetischer Intervention verhindern. Sobald es übergemalt wird: einschreiten. In der Tradition von Beuys oder Schlingensief. Zeit wird es, diesen Kräften die Stirn zu bieten, und wie es von links her immer gefordert wird: Hier ist Zivilcourage gefragt, denn dieser Schoß ist fruchtbar! Wobei man Schoß bei Butlers Gendergaga vermutlich nicht mehr wird sagen dürfen, weil der Begriff der heteronormativen Matrix entstammt. Böse Möse, armer Brecht!

Chausseestraße: Schuß und Gegenschuß – Urbane Räume (12)

Wer noch vom alten Schlage ist und sich für Dissidenten, Dichter und Liedermacher der DDR interessiert, wird diesen Sound von Straßengeräuschen im Ohr haben. In den Gleisen quietscht und kreischt die Tram im Stahl, entfernt heult ein Motor, ein Wagen brummt undefinierbar, biegt um die Ecke, die Monotonie der Fahrbahngeräusche summt sich in die Gitarre. Der Straßenklang der alten DDR. Dazu die intonierende, hochfahrende, schreiende Stimme des Wolf Biermann auf seiner LP „Chausseestraße 131“, als könne er mit Lautstärke die Repression des vermieften Staates übertönen, und er nahm mit einem Tonband seine Lieder auf, bei offenem Fenster, denn ein Tonstudio gab es für ihn nicht. War gerade keines frei. „So oder so“ und „Frühling auf dem Mont-Klamott“, dem Trümmerberg Ostberlins. Da, wo der Wolf wohnte und wo die sich schmiegenden Frauen mit schneidender Stimme zur Tine sagten, den Wolf, den kann nie eine nur für sich allein haben, steht immer noch dieses Haus, und es sieht – eines von wenigen in der Chausseestraße – noch immer so aus wie es früher ausschaute: verwohnt, grau, staubig, tristesse-schön. Das bunkert Vergangenheit in sich. Steht da, aber wie lange noch? Denn der Rest von Stadt und Straße ändertet sich rasant. „Es steht in Berlin eine Straße, die steht auch in Leningrad, die steht genauso in mancher andern schönen Stadt.“ Nicht mehr lang. Dieses Haus aber, wie eine Photokulisse für Melancholie, wie eine Reise in die DDR-Vergangenheit, wie überhaupt die Häuser der DDR zur Melancholie und zum Photographieren des Verfalls einluden. Ideale Kulisse auch für die Mode-Photographen der  „Sibylle“.

Ein Stück des Weges weiter, nach Norden hin, liegt der Dorotheenstädtische Friedhof, auch Hugenottenfriedhof gescholten, über den Biermann eines seiner wohl schönsten Lieder sang. Immer wenn ich zu Hegels oder zu Brechts Grab schlendere – gleich neben Hegel das Grab Fichtes, sein in den verwitterten Stein geschlagener Name kaum noch lesbar – und Bechers Hybris-Inschrift lese, summe ich dieses Biermann-Lied vor mich hin: die Vergänglichkeit, daß irgendwann alles vorüber ist, mit uns und mit allem, was wir lieben, die sich jagenden Spatzen, die Platanen, paar welke Blätter und Frühlingssaat. Unwiederbringlichkeit, um Fontane in den Nominalstil zu wuchten. „Wie nah sind uns manche Tote …“ Die Haltbarkeit des Sandsteins. Und des Küssegebens für den Moment. Innehalten und memento mori, was bin ich doch für ein verdammter Vanitasplünderer. Das geht alles mal davon. Und danach ist nichts mehr als diese eine Grabstätte, die da ungepflegt oder als Ehrengrab dürftig geschmückt, auf Ewigkeit lungert. Hegels wilde hochfahrende Theorien. Wie Geist die Welt prägt. Es bleibt nur die Schrift. Kein Körper, keine Stimme, kein Leben.

Den Friedhof als Ort von Ruhe als auch Tradition und das Brecht-Haus werden sie wohl nicht abreißen, auch wenn sie es gerne möchten, da der Grund für Immobilien lukrativ ist. Andererseits sind beide Objekte qua alter guter Zeit Standortfaktoren für weitere Bauten. Aber für was noch? In einer mittlerweile leblosen Gegend. Da, wo ungleich weiter der Bundesnachrichtendienst in einer absurd-gigantischen und monotonen, monolithischen Betonwucht seine Zentrale baut. Rasant änderte sich dieses Viertel seit einigen Jahren, und nichts ist mehr von dem, was dort einmal war. Mit einer Freundin machte ich 2012 Photographien – ich zeige auch diese demnächst, um den Kontrast zu veranschaulichen. Wo damals noch Brandmauern standen und in Hinterhöfen Trödler und Autoschrauber ihre Garagen betrieben, prangen nun die Baugerüste.

Aber was für einen Kontrast bietet Berlin immer noch: Gegenüber von einem der am besten gesicherten Gebäudekomplexe der Stadt – sieht man einmal von geklauten Wasserhähnen auf der Baustelle ab, die fast wie ein Mafiazeichen wirken, wie der Pferdekopf auf dem Bettkissen: seht her, wir kommen auch an diese feine diskrete Stelle – ragen verkommene Altbauten oder aber der soziale Wohnungsbau der 50er Jahre. Nein, nein, dieses Unveränderliche und die Disparität sind kein Zeichen stummen Protestes, sondern das BND-Gebäude zeigt und verdeutlicht den alteingesessenen Bewohnern eher: Auch ihr seid nicht lange mehr an diesem Platze. Es steht in Berlin eine Straße …

 

Berlinale, Route 66 – Urbane Räume (11)

Nun läuft die Berlinale, und es liest am Wochenende dann sowieso kaum einer in meinem Blog. Auch soll das Wetter gut werden. Da ist ein Text verschenkte Mühe. Andererseits gibt es sicherlich auch Leserinnen und Leser, die nicht in Berlin leben. Von Wien bis Neuruppin. Von der Maas bis … Nein, es reicht ja, wenn die Lektüre dieses Blogs anregt. Zu diesem oder zu jenem. Es lassen sich zur Abwechslung ebenso die alten Artikel lesen: dem Archiv verschrieben und darin wühlen, graben, baggern. Etsch oder Belt – was kostet die Welt? Von blond bis gen Italien. (Kann man da so einen Fips Asmussen-Witz machen? Jetzt bitte mal?)

Ich bin eigentlich kein Kinogeher, weil es mir im Saal zu unruhig ist. Ich hasse das Geknistere, das Geschlürfe und das Gefresse während eines Filmes, ich verabscheue, die Menschen, die mit ihren Grapschfingern in Riesentüten fassen, in denen sich erhitzte Maiskörner befinden oder die alle zehn Minuten auf ihre idiotischen Smartphones glotzen. Als gäbe es auf oder unter dem Display sonstwas, als ob irgendwer sie erwartete oder sie wichtig seien. Menschen, die an den falschen Stellen lachen, die bedeutungsvolles Zeug quatschen, das in Wahrheit ohne Belang ist. Bei den Cineasten fällt mir der Satz von Karl Kraus ein, daß, wenn die Sonne der Kultur tief steht, auch Zwerge lange Schatten werfen. Ich mag die Gerüche im Kino nicht, den Knoblauchatem des Menschen, der andauernd prustend von hinten über meine Schulter lacht. Die sich mit ihren Armen ausbreitende Frau neben mir, ihr nach Katzenpisse stinkender Mantel, der Ärmel ihres Mantels, der unfreiwillig und aus purer Rücksichtslosigkeit in die Nähe meiner Lederjacke sich schiebt, widerliche Platzwegnehmer. Am schlimmsten sind jedoch die Abspannglucker, wenn der Film zu Ende ist und minutenlang Namen über die Leinwand ziehen, einer nach dem anderen, auf schwarzem Untergrund oder vor irgend einem Filmstil, dazu tönt irgendeine Musik. Ein Name nach dem andern. Ich wette, niemand kennt Joseph Sullivan, Mara O’Neill, Peter Henbrock, Melanie Ruperts, irgendwelche Skriptgirls, Cutter, Gaffer, Techniker, Technicolor.

Und dann dieses bedeutungsvolle Zischen oder der mißbilligende, maßregelnde Blick des Cineasten, wenn man einfach und achtlos aufsteht, weil mir Joseph Sullivan, Mara O’Neil, Peter Henbrock, Melanie Ruperts egal sind. Es sei denn, Mara O’Neill ist blond, Anfang vierzig und hat einen klugen eigenwilligen Kopf und wartet im Grandhotel Abgrund bereits mit ein paar Leckereien sowie alkoholhaltigem Kaltgetränk auf mich, um meinen Drang nach Theorie in die richtige Sphäre zu lenken. A girl named Riesling. Aber das ist nicht der Fall. Und wenn Mara O’Neill bei meiner Heimkunft plötzlich wartend auf meiner Couch säße, dort häkelte, nein hegelte, wäre das ein viel schlimmerer Chock, als turnte der Filmheld plötzlich wie in „The Purple Rose of Cairo“ aus der Leinwand herab auf mich zu, denn schließlich lebe ich aus gutem Grunde allein und möchte nur dann Besuch, wenn ich es auch möchte. Ich bin ein gar brummiger Geselle. Sollte Besuch dasitzen, während ich nicht da bin, Besuch, den ich gar nicht einlud und den ich eigentlich nur als Name aus dem Filmabspann kenne, wäre ich denn im Kinosessel geblieben, wäre das unheimlich. Bitte keine Überraschungen. Andererseits denke ich mir dann im Lauf des Abends mit einem zweiten Satz von Karl Kraus: „Es kommt nicht bloß auf das Äußere einer Frau an. Auch die Dessous sind wichtig.“ Da nach dem Kino nun einmal keiner zu Hause ist, nehme ich die Sache wie sie ist. Schreibe einen knappen Text nieder, ein paar Skizzen, damit ich mich am nächsten Tag für einen Bericht noch erinnere und gehe zu Bett, nicht ohne vorher den von mir oder von Mara O’Neill gereichten wohltemperierten Riesling zu mir genommen zu haben.

Da ich jedoch auf der Berlinale keinerlei Verpflichtungen habe und mich keiner zu nichts einlud, nicht einmal sexy Scarlett Johansson, kann ich es halten wie ichʼs mag. Es ist lange her, daß ich ins Kino ging.

 „Wenn also die Philosophie und das Kino übereinstimmen, wenn Reflexion und technische Arbeit dieselbe Richtung nehmen, so deshalb, weil der Philosoph und der Cineast eine bestimmte Art zu sein gemeinsam haben, eine bestimmte Weltsicht, welche diejenige einer Generation ist.“  (Maurice Merleau-Ponty, Das Kino und die Psychologie)

 

 

Modestadt Wien – postmondäne Pose

Über der Stadt lag drückend die Augusthitze, staute sich in den Gassen, breitete sich bis in die letzten Winkel. Ein Brüten, das sich in Hausmauern senkte  – Teil einer kontinentalen Hitze voll Trockenheit und Dürre, Teil vom Balkan, mit Schwüle gesättigt. Eine für Körper und Denken schonungslose Mischung, zumal dann, wenn kein Windschub sich regt, nicht einmal der Donaukanal kühlte. Derart prosaisch-poetisch gestimmte, erwachte ich in meinem Hotelbett diesen Sommer in Wien aus unruhigen Träumen und schlug diesen Text sogleich in die Tastatur meines Schreibgerätes, um dann bei geöffnetem Fenster zu bemerken, daß Text und Sache auf unangenehme Weise sich deckten. Die Baudelaireschen Korrespondenzen und Zeichen der Natur schlagen hart auf, und wenn im Detail einer Szene, einer Geste oder einer Regung der Zusammenhang des Ganzen plötzlich und schußhaft als eine Chiffrenschrift sich abzeichnet, sitzt der Schock um so mächtiger: eine unwillkürliche Erinnerung, die in den Dingen ruht.

Wien!, so schrieb und schwärmte das „Zeit“-Magazin Nummer 46:

„Wien im Oktober 2015. Wir sind in die Stadt gereist, weil dort etwas passiert, etwas Unerwartetes. Freunde, denen man vorab von dieser Reise erzählt, sagen sehnsuchtsvoll, sie wollten mit. Und die Berliner, Hamburger oder Münchener, die schon da waren, erzählen, dass Wien die einzige Stadt sei, in die sie ohne guten Grund ziehen würden, ohne neuen Job, ohne neue Liebe. Einfach nur, weil es dort schön ist.“

Ich bin bereits im Juli 2014 nach Wien gereist, um diesen herbeigejubelten Wien-Hype der „Zeit“ gleich mal einzuhegen. Und andere sind es vermutlich schon lange vor mir. Es ist alles ein großer Irrtum und nichts als eine journalistische Schreibaufsteigerung. Nein: Wien ist kaa schöne Stadt, sang Georg Kreisler. Und am schönsten ist Wien bekanntlich ohne den notorisch-neurotischen Wiener, geht es in gleichnamigem Lied im Text weiter. Doch selbst ohne ist es noch schlimm genug. Eine Stadtlandschaft als Museumsdorf, eine gigantische Ansammlung an Verkaufsständen, Grinzing wirkt wie eine Filmkulisse, aus der sogleich irgend ein Bänkelsänger tritt und „Es muß ein Stück vom Himmel sein …“ ins Ohr des Besuchers nuschelt, dazu wird ein schlechter Touristen-Wein gereicht und auf der Fahrt in die Weinsaumeligkeiten die schreckliche Wohnsituation, der Karl-Marx-Hof, im Inneren eine Stadtwelt aus Zuckerguß, Pferdefuß und Pferdeäpfelgeruch, innerhalb des Rings, über allen Postkartenwipfeln ist nie Ruh. „Ach, die Wienerinnen sehen im Gesicht harsch aus und sind stutenbissig“, so sagte eine Berliner Freundin, die selber gerne andere Stuten beißt und meisterlich an Pferdchen zu mäkeln versteht, wo ich noch versonnen und romantisch dreinglotze, „Fotzenneid auf Außeraustriafrauen ist da symptomatisch“, sagte die Berlinische Freundin, während meine ostdeutsche Freundin behauptet, Graz sei Klassen schöner, weil Südflair und eigentlich fast schon zum Italia settentrionale gehörend, sagt meine norddeutsche Freundin, daß Österreich ein grundsätzlich unbereisbares Land sei und Wien insbesondere als Stadt unbehaglich und unmöglich. Die schmutzigen Ecken hinter dem Südbahnhof, Armut und der Atem des Balkans wehen mir entgegen, dahinter fängt die Ukraine an, Austerität und Austria, tremoliert es in mir. Ich lebte nicht auch Hitler jahrelang in Wien? Überhaupt.

Bereits die Ankunft am Flughafen läßt zu wünschen übrig und assoziiert im Verlauf des Prozedere eine leichte Lautverschiebung: Es wird aus Wien-Schwechat ein Fluchhafen, wenn man es norddeutsch nimmt, so wie wir Weihnachten immer dachten, es gäbe eine schimpfende Ente, wenn Muttern zu uns Kindern mit norddeutschem Timbre in der Stimme sprach, nachdem wir bettelten, was auf den weihnachtlichen Teller käme, am ersten Weihnachtstag gebe es Fluchente. So modulieren sich die Wörter. Überhaupt das Essen, die Mehlspeisen und schlecht geklopfte Schnitzel und mit Fettader durchzogener Tafelspitz. Der Wiener ist beim Aufnehmen der Bestellung und beim Servieren derselben provozierend langsam, pampig wie die Speisen, mürrisch im Gemüt, und er zeigt dieses Murren dem Ankommenden deutlich: daß der Fremde unerwünscht ist. Ob im Prückel, im Anzengruber oder in irgendeiner Stube mit Leopold, Eugen oder Franz im Namen. Rauchen ist selbst vor der Tür unerwünscht. Es gleicht sich das Ritual von Bar zu Caféhaus zu Beisel.

Nicht minder ist die Atmosphäre der Stadt verlottert, die ja eben von genau den Menschen abhängt, die diese Stadt bevölkern und Gäste willkommen oder eben nicht willkommen heißen oder den Besuchern zu verstehen geben, daß es hier nichts zu schauen und zu erleben gebe, und so färbt das Liederliche und Verluderte des Menschenschlages eben auch auf die Stadt selber ab, fast ins Mauerwerk hinein setzt sich das  – es ist eine eigenwillige Art von Wiener Melange und Mimesis. Wien ist, das sagen die Wiener, schlampert, so höre ich noch die Stimme einer Österreicherin neben mir. Ungepflegt. Aber eine solchen Ungepflegtheit, der das Flair abgeht, wie man es beispielsweise in Lissabon oder Warschau wahrnehmen kann – Städte, die an manchen Ecken ebenfalls ramponiert ausschauen, aber dabei und gerade dadurch ihren inneren Glanz entfalten und über sich hinausleuchten. Woran es in Wien mangelt, sind Ausstrahlung und Charme: Paris, Warschau, Lissabon, Rom, Berlin, Kopenhagen, selbst Frankfurt besitzen jede in ihrer Weise Strahlkraft und einen eigenen Stil, einen besonderen Ton. Das alles fehlt in Wien. Es drängt sich hier lediglich eine polymorphe Mixtur der Epochen in den Blick, eine postmondäne Pose, die vom Glanz des Vergangenen borgt, ohne Eigenes zu entwickeln.

Wie das „Zeit“-Magazin auf die seltsame Idee kommt, diese Stadt als behagliche unkomplizierte, frohe Stadt mit Lebensqualität hochzuschreiben, in der Menschen von außerhalb gerne leben möchten, erschließt sich mir nicht. Bleiben Sie Wien fern – es lohnt sich nicht! Lassen Sie Wien den Wienern; es ist für alle Beteiligten besser so!

Bereits vor einem Jahr, im Juli, als von den Bands „Wanda“ und „Bilderbuch“ höchstens Eingeweihte wußten und über der Stadt der Schlaf der Gerechten wie der Ungerechten lag, fiel uns diese Diskrepanz auf. Wien zehrt von vergangenen Zeiten. Völlig überschätzte Stadt.

Nein, es passiert in Wien nichts, das Nachtleben ist eher öde, die Kunstszene unbedeutend und selbst das Nichts ist – irgendwie als ennui des Ästhetizisten genommen – mehr als nichtig, die Atmosphäre ist vom „Zeit“-Magazin schlicht herbeigeschrieben. Wer etwas erleben möchte, fährt nach Berlin, schaut sich den lebenssprudelnden Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg an, geht am Samstag dort auf den derben Lokalmarkt mit seinen rustikalen und meist günstig zu erstehenden Produkten, umschlendert die Gassen drumherum und erfährt dort jenes schnodderige, zuweilen auch derbe Urberliner Milieu, das dort immer noch ansässig ist und lebt wie bei Zille unterm Sofa. „Watt denn, Ikke, wie denn?“ mit dem ganz eigenen Charme. Oder die quirlige, umtriebige Simon-Dach-Straße. Wer zünftig und in verraucht bis verruchten Künstlerkneipen oder in topgeheimen Szenelokalen bei Schnaps und Bier hocken will, während gegen vier bereits die ersten Arbeiter auf den Schlachthöfen ihre Molle und einen Kaffee zu sich nehmen und bald zu ihrer Tätigkeit aufbrechen werden, im Hintergrund noch die Gitarrenriffs einer Indie-Band nachhallen und der Morgen sich über die nachtbleiche Stadt senkt, verbringt seine Nacht in Friedrichshain. Hier biste richtig, hier komm her, von Wien laßt die Finger! Is keine schöne Stadt! Und die Preise für den öffentlichen Nahverkehr sind unverschämt hoch wie sonst nur in Moskau. Wien lohnt nicht.

Wer sich an Wien dennoch nicht sattsehen kann, ich spreche das jetzt ein wenig mit gequälter Stimme, der schaue dann halt unten in die Diaschau oder hier an dieser Stelle Bilder vom letzten Jahr in Wien.

Und um zum Schluß doch die Wahrheit zu sagen: Ihr dummen, unfähigen, unaufmerksamen Verkommenheitsarschlöcher: Laßt von dieser Stadt Eure schmutzigen Hipsterpranken mit Euren unansehnlichen Tätowierungen, Euren Slim-Fast-Fit-Hemden, Euren Schreibversuchen aus Leipzig oder Hildesheim, Eure scheißlackerten Weiberfingernägel, bleibt in Berlin oder sonstwo, in Hildesheim unterm Rosenbusch, meinetwegen auch im Umland von Berlin, wo es mittlerweile ebenfalls schick ist.

Laßt mir meine Mariahilfer Straße, die Windmühlgasse, meinen dritten Bezirk, mein Ungargassenland, meinen Donaukanal, laßt mir die Straßen um den Westbahnhof, meine Burg, meinen 6. Bezirk, meinen Stephansdom, meine heißgeliebte Albertina, meine Hofreitschule, mein Leopoldmuseum mit den schönen Frauen darin, mein Kunsthistorisches Museum mit der Wunderkammer, meine kleinen Gassen irgendwo im Weitab, mein Ottakring, mein Café Prückel, wenn dort die Frau am Klavier Klavier spielt, meinen Gemischten Satz, meinen Grünen Veltliner, meinen Kahlenberg, meinen Tafelspitz, mein Bräunerhof, meine Hofburg, meinen Heldenplatz, meine Ringstraße, mein Restaurant Wild, meinen Stadtpark mit dem Straußdenkmal und dem Brunnen und dem Wasserstrahl über dem am Abend die Mücken in Scharen schwirren, meinen Volksgarten mit dem antiken Tempel, meinen Donaustrand, meine Wasserstraße mit gepflasterten Wegen, meinen Prater, meine Breughelsche Winterlandschaft, meine Berggasse 19, meine Philosophie im Boudoir, mein Café Griensteidl, diesen wunderbaren weichen, warmen, manchmal leicht gequälten klingenden, manchmal mokanten Dialekt, meinen Karl Kraus, meine abseitigen Gegenden und Gedanken, meine Leopoldstadt, den Geruch der U-Bahn, die schlanken Fesseln der wunderbaren Wienerinnen, meine Kellnerin mit diesem herb-schönen Gesicht wie Fritzi Haberland, meinen Nestroyplatz, mein nächtliches Gleiten durch die Stadt, meinen Radektzkyplatz, meine mit kreischendem Rädergeräusch von Stahl auf Stahl um die Ecke biegende Tram. Haut ab von hier! Und wenn Ihr es schon nicht mir laßt, dann laßt diese Stadt wenigstens den Wienern! Es gibt hier nichts zu sehen. Reisen Sie bitte weiter!

Wenn einer fragt, wohin du gehst, sag nie nach Wien, sondern nach Bologna,  Wenn einer fragt, wofür du stehst, sag nie Amore, sondern Dialektik.

Urbane Räume (9) – Underworld, Eiswelt

Fischwärts: Lissabon im Monat des milden Aprils, im Jahre 2013, irgendwo im Westen der Stadt, in einer Markthalle, nahe des „Cemitério dos Prazeres“, was übersetzt Friedhof der Freuden heißt und für diesen Ort ganz und gar passend ist. Hitze zwar und die staubigen Straßen oder was ich in meinem Blick für staubig halte, aber doch im ganzen von den Temperaturen erträglich, um Bilder mitzunehmen und gut zu schlendern – was man vom heutigen Tage in Berlin nicht sagen kann. Die Kühle meines Altbaus ist im Sommer angenehm, geradezu unersetzlich.

Die Toten des „Cemitério dos Prazeres“ könnten, wenn sie denn eine Grabstelle am Rande, am Ende des Friedhofes, da, wo es in den Abgrund geht, sich pachteten oder ihnen von einem freundlichen Angehörigen eine solche gepachtet wurde und wenn der Blick der Toten über den Westen von Lissabon schweifte, hinüber auf die „Ponte de 25 April“ und auf den unendlich-schönen und breit strömenden Tejo schauen. An welchem Ort der Welt ruht man angenehmer vom Dasein aus? Doch! Es gibt einen zweiten Ort: der hoch über der Landschaft gelegene Friedhof von Deià auf Mallorca: es ist einer der schönsten Plätze, um die unruhigen Gedanken stillzustellen. Naturgemäß halte ich mich an beiden Orten lieber als Lebender auf. Betrachtend. Ich überlege, ob ich Anfang Oktober nun zur Biennale nach Venedig oder im feinen Herbst, wenn die Frische des Atlantiks die Stadt berührt, nach Lissabon reise. Herzensstadt in dem Sinne, daß einen die Menschen dort in Frieden lassen und ich, wenn sie mich ansprechen, ihre Sprache nicht verstehen muß und also nicht höre, was sie zu sagen haben.

Irisnebel hat auf ihrem Blog Bilder von diesem herrlichen Ort mit dem Blick auf den Tejo gezeigt, nachzusehen hier und an dieser Stelle. Sie hat ins Innere der Grabstätten geblickt. Dies ist der Ort, der irgendwann uns allen vorbehalten ist. Die Photographien jener Wasserlebewesen, die nun für den Teller bestimmt sind, hatte ich bereits an anderer Stelle gezeigt. Aber mich faszinieren diese leeren kalten Augen der Fische. Sie sind traurig wie der Tod. Und dennoch haben diese Fischphysiognomien für mich Ausdruck. Als lebten sie und verweilten nur ein wenig, um für meine Kamera zu posieren und davor entspannt Platz zu nehmen. On the rocks, beim Gemahl der Schneekönigin, nahe Tromsø.
 
15_08_06_1
 
15_08_06_2
 
15_08_06_3
 
15_08_06_5
 
15_08_06_4