Hans Magnus Enzensberger und Johnsons „Jahrestage“

Und im Blick auf Enzensberger und jene seltsam-wilden 1968er Jahre sei noch eine nette Anekdote preisgegeben: In seiner Geschichte zur deutschen Literatur der 1960er und 1970er berichtet Helmut Böttiger über Uwe Johnsons Auseinandersetzungen mit Enzensberger – auch was die literaturästheischen Differenzen anbelangt – und inwieweit Enzensberger in Johnsons großartigem Roman „Jahrestage“ vorkommt. So schreibt Böttiger hinsichtlich Johnsons „Jahrestage“:

„Enzensberger habe ein Stipendium an der US-Universität Wesleyan aufgegeben und mache sich nun auf ins kommunistische Kuba, ‚wo er nach seinen Worten leben will.‘ Wenige Tage später finden sich unter dem Datum des 23. Februar summarisch zusammengefaßte Nachrichten aus der ‚New York Times‘, unter anderem diejenige, dass in Kuba ‚an Personen über 13 Jahre keine Milch mehr ausgegeben‘ werde. Es folgt der Zusatz: ‚Hoffentlich ist dies nicht ein Leibgetränk von Dichter Enzensberger.‘

[…]

Dass Enzensberger recht bald danach Kuba enttäuscht den Rücken kehrte, wohl weil er wirklich als Zuckerarbeiter eingesetzt wurde und nicht in akademischer Weise an der Seite Fidel Castros brillieren konnte – das bedarf keiner ausführlichen Erörterung mehr. Weitaus entscheidender ist eine grundsätzliche Auseinandersetzung. Johnson startete in der Ästhetik der ‚Jahrestage‘ eine Gegenoffensive zu Enzensbergers parallel veröffentlichten Thesen über die Möglichkeit gegenwärtiger Literatur. Im ‚Kursbuch‘ Nr. 20 erschien 1970 Enzensbergers  ‚Baukasten zu einer Theorie der Medien‘, und in diesem Essay radikalisierte er noch einmal seine Verachtung der ‚bürgerlichen‘ fiktionalen Literatur, die er bereits 1968 in derselben Zeitschrift zum Ausdruck gebracht hatte. [Gemeint ist jener Kursbuch-Text „Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend“, darin das Ende der bürgerlichen Literatur verkündet wurde, Hinw. Bersarin.] Die neuen technischen Möglichkeiten der Medien, so führte er aus, böten viele Gelegenheiten, an Stelle der Fiktion Neues auszuprobieren: crossmediale Überschneidungen, Collagen, diverse Arrangements von Fakten und Dokumenten. Wenn Johnson die Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen seiner Gesine Cressphal [sic!] jetzt häufiger auf Tonband sprechen lässt, setzt er damit ein kräftiges Ausrufezeichen: Anstatt ein Instrument dafür zu sein, das belletristische Erzählen abzuschaffen, erhält das technische Medium eine entgegengesetzte ästhetische Funktion und birgt ungeahnte fiktionale Möglichkeiten.“ (Helmut Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur)

Verspäteter Nachtrag zum Tod von Hans Magnus Enzensberger

„Jede Migration führt zu Konflikten, unabhängig davon, wodurch sie ausgelöst wird, welche Absicht ihr zugrunde liegt, ob sie freiwillig oder unfreiwillig geschieht und welchen Umfang sie annimmt. Gruppenegoismus und Fremdenhaß sind anthropologische Konstanten, die jeder Begründung vorausgehen. Ihre universelle Verbreitung spricht dafür, daß sie älter sind als alle bekannten Gesellschaftsformen. Um sie einzudämmen, um dauernde Blutbäder zu vermeiden, um überhaupt ein Minimum von Austausch und Verkehr zwischen verschiedenen Clans, Stämmen, Ethnien zu ermöglichen, haben altertümliche Gesellschaften die Tabus und Rituale der Gastfreundschaft erfunden. Diese Vorkehrungen heben den Status des Fremden aber nicht auf. Sie schreiben ihn ganz im Gegenteil fest. Der Gast ist heilig, aber er darf nicht bleiben.

[…]

Je höher die Qualifikation der Einwanderer, desto weniger Vorbehalte begegnen ihnen. Der indische Astrophysiker, der chinesische Stararchitekt, der schwarzafrikanische Nobelpreisträger – sie sind überall auf der Welt willkommen. […] Dem Sultan von Brunei hat noch niemand seine Hautfarbe übelgenommen. Wo die Konten stimmen, versiegt wie durch ein Wunder der Fremdenhaß.


Den Vogel schießen in dieser Hinsicht die Drogen- und Waffenhändler ab, zusammen mit den Bankiers, die ihr Geld waschen. Sie kennen keine Rassen mehr und sind über jeden Nationalismus erhaben. Vermutlich sind sie die einzigen auf der Welt, denen jedes Vorurteil fernliegt. Fremde sind um so fremder, je ärmer sie sind.

[…]

Wer seine Landsleute auffordert, alle Mühseligen und Beladenen der Welt eine Zuflucht zu bieten, womöglich unter Berufung auf kollektive Verbrechen, die von der Eroberung Amerikas bis zum Holocaust reichen, ohne Folgenkalkül, ohne politische und ökonomische Vermittlung, ohne Rücksicht auf die Realisierbarkeit eines solchen Vorhabens, macht sich unglaubwürdig und handlungsunfähig. Tiefgreifende gesellschaftliche Konflikte können nicht durch Predigten abgeschafft werden.“ (Hans Magnus Enzensberger, Die Große Wanderung. 33 Markierungen, in: Versuche über den Unfrieden, Berlin 2015)

***

Der Fliegende Robert

Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter! –,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draußen stürmt,
euern Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.

nach 1970
[Hans Magnus Enzensberger]


Der fliegende Robert

Wenn der Regen niederbraust,
Wenn der Sturm das Feld durchsaust,
Bleiben Mädchen oder Buben
Hübsch daheim in ihren Stuben. —
Robert aber dachte: Nein!
Das muß draußen herrlich sein! —
Und im Felde patschet er
Mit dem Regenschirm umher.

Hui, wie pfeift der Sturm und keucht,
Daß der Baum sich niederbeugt!
Seht! den Schirm erfaßt der Wind,
Und der Robert fliegt geschwind
Durch die Luft so hoch, so weit;
Niemand hört ihn, wenn er schreit.
An die Wolken stößt er schon,
Und der Hut fliegt auch davon.

Schirm und Robert fliegen dort
Durch die Wolken immerfort.
Und der Hut fliegt weit voran,
Stößt zuletzt am Himmel an.
Wo der Wind sie hingetragen,
Ja! das weiß kein Mensch zu sagen.
(Heinrich Hoffmann)

***

Der Fliegende Robert

Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter! –,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draußen stürmt,
euern Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.

nach 1970
[Hans Magnus Enzensberger]

Heinrich Hoffmann zum 200. Geburtstag

 Am 13. Juni 1809 wurde der Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann geboren. Bekannt ist er den meisten wahrscheinlich durch seinen „Struwelpeter“. Als Kind hat wohl ein jeder oder eine jede diese Gedichte gelesen und die Bilder betrachtet. Einige mögen nun sagen, so etwas sei nicht mehr aktuell und schwarzpädagogisch angehaucht noch dazu. Quatsch mit Soße.

Fahren Sie mal als Schwarzer nach Brandenburg. Ich wünsche gutes Gelingen. Und warum glauben Sie, wird Ritalin verschrieben? Ja, genau, für unseren lieben, leider etwas unruhigen Zappelphilipp. Und den Hanns Guck-in-die-Luft, den nennt man heute ein verträumtes Kind mit Konzentrationsstörungen. Früher gab es dafür eins hinter die Löffel oder wenn‘s im Elternhaus etwas besser lief zumindest viel Schimpfe. Heute unterliegt Devianz dem medizinischen Blick, der solches mit Medikamenten therapiert.

Bei all den vielen, wie ich meine ungerechtfertigten Vorbehalten gegen dieses Buch, sollte das Aufklärerische und Humorvolle, das auch darin liegt, nicht ganz vergessen werden. Denn wenn man es ganz genau nimmt, so wird in diesem Buch Rassismus etwa empfindlich geahndet, was in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht unbedingt selbstverständlich zu nennen ist.

Die Strafen in diesem Buch sind zwar teils drakonisch wie beim Daumenlutscher-Konrad. Aber wie schreibt es der so oft großartige Ulrich Greiner in der „Zeit“ bezüglich der am Ende der Geschichte lachenden Fische beim Hanns Guck-in-die Luft: „Der Humor im Struwelpeter ist zuweilen menschlicher als die Pädagogik der ewig Verständnisvollen.“ So ist es.

Ach, wie habe ich diese wunderschönen, schwarzpädagogischen Geschichten von mißratenen, ungezogenen Kindern geliebt, habe selig mit Mienz und Maunz getrauert, hoch und heilig versprochen, es dem Paulinchen nie nachzutun. War ja auch klar: „Messer, Gabel, Schere, Licht undsoweiter undsofort.“ Es ist dieses wohlige Gruseln, wie man es auch in manchem Märchen findet, das Kinder fasziniert. Wenige Kinderbücher nur habe ich derart im Gedächtnis behalten. Immer und immer wieder nahm ich mir diese Reimgeschichten zur Hand. Ich schaute angetan auf den Aschehaufen von Paulinchen, am faszinierendsten fand ich, daß nur noch die Schuhe übrigblieben, umringt von dem Tränenmeer der Katzen.

Die schönste Geschichte aber war und blieb der fliegende Robert. Jener, der allen und allem davonflog und am Ende ganz einfach nicht mehr da war. Daß Robert geschrien haben soll, glaubte ich nie. Er tat es auch nicht. Hoffmann schrieb dies nur, um den Eskapismus einzudämmen (siehe dazu unten). Und ich begann, schlechtes Wetter zu lieben. Eine Geschichte wird im Struwelpeter erzählt, die weit über das Kinderdenken hinausgeht.

Aber ich will das hier nicht weiter beschreiben und ausschreiben, sonst wird es zu sehr ein schwärmerischer Adorno-Ernst-Bloch-Sound.

Für Heinrich Hoffmann alles Gute zum 200. Geburtstag und unendlichen Dank für dieses wunderbare Buch.

Die Geschichte vom fliegenden Robert

Wenn der Regen niederbraust,
Wenn der Sturm das Feld durchsaust,
Bleiben Mädchen oder Buben
Hübsch daheim in ihren Stuben. —
Robert aber dachte: Nein!
Das muß draußen herrlich sein! —
Und im Felde patschet er
Mit dem Regenschirm umher.

Hui, wie pfeift der Sturm und keucht,
Daß der Baum sich niederbeugt!
Seht! den Schirm erfaßt der Wind,
Und der Robert fliegt geschwind
Durch die Luft so hoch, so weit;
Niemand hört ihn, wenn er schreit.
An die Wolken stößt er schon,
Und der Hut fliegt auch davon.

Schirm und Robert fliegen dort
Durch die Wolken immerfort.
Und der Hut fliegt weit voran,
Stößt zuletzt am Himmel an.
Wo der Wind sie hingetragen,
Ja! das weiß kein Mensch zu sagen

 

          Der Fliegende Robert

Eskapismus, ruft ihr mir zu
vorwurfsvoll,
Was den sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter! –,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draußen stürmt,
euren Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.

Hans Magnus Enzensberger, aus: Die Furie des Verschwindens