„Drei Kugeln auf Rudi Dutschke“ – Im Polizeihistorischen Museum Berlin

Daß eine Epoche Geschichte wurde, zeigt sich meist an den publizistischen Reaktionen, an den Büchern und den Artikeln, die zum Gedenktag auf den Markt kommen. Von sentimental bis politisch. Daß die Causa 68 historisch wurde, mag man auch daran sehen, wenn selbst die einst reaktionäre Springer-Presse, allen voran das mehr oder eher weniger intellektuelle Hausorgan Die Welt inzwischen geschmeidig reagiert, und schon vor Jahren bedauerte Bild-Boenisch, daß einige der „Artikel“ der „Zeitung“ wohl doch zu heftig ausgefallen waren und mit zur Eskalation beitrugen. Alles Frieden? Nein. Aber die Zeiten änderten sich und angesichts der weltpolitischen Wahnwitzes erscheinen die Geschichte von der Zeitchiffre 68 im Nachblick irgendwie doch gemütlich.

Wir begehen die Jahreszahl nostalgisch, im Rückblick abgewogen, als Anekdotensammlung, die Brisanz dieser Zeit verdichtet sich auf ein Bündel Erzählungen und ein paar Eckdaten, die den Kopffilm ablaufen lassen. Jeder hat irgendetwas beizutragen. Auch das trägt zur Entschärfung bei. Und in den TV-Dokus eh immer dieselben Bilder, dieselbe Musik: der unvermeidliche Streetfighting Man – mir schon von früh an verhaßt. Die heißen, wilden Jahre einer unbändigen Jugend. Doch die, die sich heute erinnern, sind inzwischen in Rente. Ein Aufbruch zu einem neuen Ufer. Damals. Aber der Ausbruch lag sowieso in der Luft und die Studenten griffen ihn bloß auf, ich schrieb dies in einer meiner letzten Kolumnen. Keineswegs initiierten die Studenten ihn. Daß Mann nicht mehr nur immer mit derselben pennt, wußten die jungen Männer schon in den frühen 60ern, ohne dazu in der K1 wohnen zu müssen, und geschickt umgingen die einander liebenden Paare den Kuppelparagraphen. Lange bevor „Ein Bett im Kornfeld“ geschrieben und gesungen wurde.

Jedoch verhalfen die Studenten und die protestierende Jugend diesem Aufbruch publizistisch und in den Aktionen zum Ausdruck. Brachten die Sache sozusagen nicht nur auf den Begriff, sondern ließen den Ausbruch konkret werden, trugen ihn sichtbar auf die Straßen, entfachten Debatten, forderten die intellektuellen Eliten heraus. Die APO etablierte sich. Heute ist sie im System angelangt, der Zeitgeist ist nach links gerutscht – selbst die Eliten haben sich in den Jahren modifiziert und der gediegene Konservatismus ist nur noch die Haltung einiger weniger Dinosaurier oder von Menschen, denen man abwertend gerne das Etikett skurril anhängt. Die neue APO findet heute von rechts statt – sieht man einmal von einer Minderheit hart links Denkender und Agierender ab, sie sich immer noch die Abschaffung dieses Systems auf die Fahnen schreiben. Die jedoch, die einst gegen das System rebellierten, sind darin inzwischen gut an- und untergekommen. Zumindest die meisten. Und wie damals die Linke die Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft vorantreiben wollte, indem sie, wie Rudi Dutschke und andere die Konflikte zuspitzten und eskalierten, was dann Jürgen Habermas auf die Palme brachte: jene Studenten betrieben ein „Spiel mit dem Terror (mit faschististischen Implikationen)“. Diese radikale Opposition und die Zuspitzung betreiben heute die Rechten. Ironie der Geschichte auch hier und es bewahrheiteten sich die Äußerungen des liberalen Habermas am Ende doch. Man denke nur an Kubitscheks Publikumsrede bei der Tellkamp-Grünbein-Debatte, daß man die Lage polarisieren und den Riß in der Gesellschaft noch größer machen müsse.

Wesentlich für den Wandel im Tun und im Bewußtsein war vor allem die aufkommende Popular Music der 50er Jahre mit ihrem Negerjazz, dem Rock ’n’ Roll – all die Musik von Johnny Cash bis Bill Halley und Chuck Berry, die damals Sender wie AFN in die gute Stube trugen. Und die Teenager lauschten. Musik gab es aus dem Radio, von der Schallplatte oder beim Tanzabend in einem Club. Die Rolle der Medien und die Techniken zur Reproduktion, wie Platte und Tonband, kann man für das, was sich in dieser Zeit tat, nicht hoch genug veranschlagen: die Geburt der Revolte aus dem Geist der guten Stube. Und in diesem Sinne wurden dann auch wieder Brechts und Benjamins Medien- bzw. Radiotheorie interessant. Die Bedeutung von Benjamins wiederentdeckten Schriften durch die Studenten und seine Wirkungsgeschichte wäre eine Sache für sich und ein Buch, das zu recherchieren und zu schreiben wäre. Ebenso die Bedeutung des Films. Eine der revolutionär auftretenden Hochschulbünde im Vorfeld des SDS, zu dem auch Rudi Dutschke gehörte, nannte sich 1965 in Anlehnung an den ebenfalls 1965 gespielten Film von Louis Malle die „Viva-Maria-Gruppe“.

Zugleich ist mit dem Mythos aufzuräumen, daß da nur Studenten protestierten. Sondern genauso waren an dem Aufbruch Lehrlinge, Heimkinder und Schüler beteiligt, ganz normale Jugendliche, Aussteiger, aber genauso Akademiker, die anfangs keineswegs nur politisch links standen. Bertram Vesper, der Sohn des NS Schriftstellers Will Vesper, wäre zu nennen. Noch Anfang, Mitte der 60er Jahre bemühte er sich zusammen mit seiner eher bürgerlich-braven Lebensgefährtin Gudrun Ensslin darum, die Schriften seines Vaters Will Vesper, Antisemit bis zum Ende und anfangs Profiteur des Nazi-Regime, neu herauszugeben und ihn in dieser Weise auch ein Stück weit zu rehabilitieren. Trotz Antisemitismus, der ein wenig kaschiert wurde. Walter Jens blies in Tübingen dem armen Bernward den Marsch: nein, nicht ganz, er ermahnte ihn sanft. Riet aber auch weise den Vater vom Schriftsteller zu trennen.

Ebenso beteiligt an dieser neuen Zeit, wenn auch indirekt, waren die vielen Inaktiven, die vielleicht nicht an dem Demos teilnahmen, sich aber genauso die Haare vielleicht nicht lang, aber doch ein Stück länger wachsen ließen, die ihre Kinder anders als nach der schwarzen Pädagogik erzogen. Interessant wäre in diesem Sinne eine entsprechende Sozialgeschichte dieser Zeit zu lesen. Man könnte, was unsere Objektwelt anbelangt Bruno Preisendörfers Die Verwandlung der Dinge. Eine Zeitreise von 1950 bis morgen nehmen. Allein an den Berichten aus der Welt der Technik ahnen wir, was sich in diesen 50 Jahren wandelte. Ebenso lehrreich zu lesen ist immer noch, was das Politische und den Wunsch nach Tat betrifft, von Bommi Baumann Wie alles anfing. Baumann gehörte zur linksradikalen Szene West-Berlins. Oder Gerd Koenen Das rotes Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution. Eckdaten vom 2. Juni bis zu der Nacht in Stammheim.

Herausragende Begebenheiten dienen als Geschichtszeichen, ebenso aber sind dazu herausragende Köpfe erforderlich, um die herum sich Mythen bilden und erzählen lassen und die zugleich, wenn schon nicht Lokomotiven, so doch wenigsten die Triebwagen der Geschichte sind. Rudi Dutschke war ganz sicher kein Mann des Volkes, aber er besaß das Talent, mit seinen Reden und Worten Menschen zu mobilisieren und eine Theorie zwar nicht griffig, aber einprägsam zu formulieren, so daß die Zuhörer dachten, da brächte jemand die Fragen der Zeit auf den politischen Begriff. Führungsmythos ohne Führer. Zugleich war er das geliebte Haßobjekt nicht nur der Springerpresse. Am 11. April 1968 eskalierte die Lage und Dutschke wurde von einem Jungfaschisten namens Josef Bachmann keine 50 Meter entfernt vom Gebäude des SDS niedergeschossen. Kurfürstendamm 142. Dutschke starb 1979 im dänischen Arhus an den Spätfolgen der Verletzung. Ich will hier keine Dutschke-Eloge oder eine Analyse schreiben – darauf bin ich nicht vorbereitet und es ist bei mir am Thema vorbei. Ich glaube, zuletzt habe ich mich Mitte der 80er mit Dutschke befaßt, und zum Abschied, zur Abiturfeier bekam ich von meinem Tutoriumslehrer Mein langer Marsch. Rede, Schriften und Tagebücher aus 20 Jahren geschenkt. Dennoch: unerwähnt sollte dieser versuchte und am Ende ja auch geglückte Mord nicht bleiben. Der Täter Bachmann nahm sich 1970 in der Haft das Leben.

Im Polizeihistorischen Museum am Platz der Luftbrücke in Berlin sind nun Objekte und Photographien jener Jahre zu sehen – unter anderem auch die drei Kugeln, die im Körper Dutschkes steckten, eines der drei Projektile stark deformiert, und eine vierte Kugel, die ihr Ziel verfehlte. Darunter plaziert vergilbte Zettel, Schreibmaschinenschrift. Weiterhin sehen wir in verschiedenen Vitrinen Dokumente, Polizeiprotokolle, Lageskizzen, Flugblätter und Protestaufrufe der Studenten. Nichts ist aufbereitet oder kommentiert, sondern die Dokumente stehen bezugslos da. Dennoch ist die Schau, auch wegen der übrigen Polizeiobjekte sehenswert. Es ist, wenn man die Räume im Untergeschoß betritt, eine Zeitreise und das nicht nur wegen der Polizeigeschichte vom Beginn des 19. Jahrhunderts an, sondern auch durch die seltsame, angestaubte Atmosphäre in den drei Schauräumen. Diese Gruft hat fast schon etwas Sympathisches und wenn nicht das, so ist es doch grotesk.

In einer der Vitrinen sehen wir die seit 1945 bei der Polizei eingesetzten Schlagstöcke, wie sehen Dienstwaffen der Polizei-Ost wie der Polizei-West. Und wie um zeitgeistgemäß und irgendwie gendergerecht auch den Protest der Frauen zu Wort kommen zu lassen, der eigentlich mit dem Dutschke-Mord nicht viel zu tun hat, liegen da in einer weiteren Vitrine drei Tomaten und dazu der Hinweis auf die SDS-Aktion des Weiberrates am 13. September in Frankfurt, wo es den männlichen linken Eminenzen an ihre Schwänze ging. Es darf auch geworfen werden.

Interessant auch die von Arwed Messmer unter dem Titel 1966-1970 zusammengestellten Photos von den Demonstrationen dieser Zeit. Die Photos wurden von der Berliner Schutzpolizei gefertigt – vermutlich, um Akteure zu identifizieren. Die Zusammenstellung der Bilder allerdings ist eigenwillig bis willkürlich, die Kriterien der Zusammenschau nicht ganz ersichtlich, und es wird nicht deutlich, unter welcher Maßgabe die Polizei diese Photos schoß. Löst man aber die Sache aus dem politischen Rahmen, kann man den Photos als Dokumenten etwas abgewinnen. Gerade das Profane der Bilder, ihre ambitionierte Nicht-Ästhetik machen neugierig. Wir sehen Zeit-Bilder: Protest, Demoaufzüge, Polizeireiter, Straßenkämpfe, Steinhagel, verletzte Polizisten, verhaftete Demonstranten, Passanten, die zusehen, Polizisten, die ihre Knüppel schwingen oder nonchalant in Habachtstellung hinter ihrem Rücken halten.

Das Dokumentarische und Unkünstlerische der Photographien wird wiederum durch die Größe der beiden Bildbände gebrochen. Rund 50 x 30 cm messen die Bücher aufgeschlagen, und dieses Format, indem die Photos aufgeblasen werden, läßt sie anders erschienen, macht aus den Dokumenten etwas Künstlerisches, ästhetisiert und verklärt das Politische zum schönen Bild. Diese Photos sind genauso in einer feinen Galerie oder einer Wohnung gehängt, im hübschen Rahmen, denkbar. Vielleicht aber kann man im Rückblick diese Dinge nur unter der Optik der Kunst und der Ästhetik betrachten. „Sensationen des Gewöhnlichen“ gleichsam, die durch den Blick des Betrachters aus dem Abstand der Zeit heraus aufgeladen werden. Das Politische ist ästhetisch.

Die Schüsse auf Dutschke brachten, zusammen mit dem Mord an Benno Ohnesorg, den Einschnitt. Es wurde geschossen. Die Kugel kam nicht nur aus dem Lauf der Bachmann-Pistole. Und so brachen die bisher schwersten Unruhen, die unter dem Titel Osterkrawalle firmierten, aus, die Lieferung von Springers Zeitungen wurde verhindert, es brannten die Lieferfahrzeuge. Protest wandelte sich in Wut. Ulrike Meinhof, damals noch Journalistin, beschrieb, wie sie an den Protesten teilnahm. Lang ist all das her, es taugt für Anekdoten und für die Arbeit der Historiker. Der Kapitalismus ist zwar kein ganz anderer geworden, oder wenn, dann nur graduell im neoliberalen Exzeß, wohl aber änderten sich die Menschen. Treppenwitz oder Ironie der Geschichte: Heute heißt die Straße, an der das Berliner Springerhaus liegt, nicht mehr Koch-, sondern Rudi-Dutschke-Straße, ein paar hundert Meter weiter westlich hat auch die ehemals alternative taz ihre Redaktion. Und schallte es damals noch von der Straße her „Enteignet Springer!“, so möchte man heute manchmal rufen „Enteignet Belehrungs-taz!“. Aber das ist wieder ein anderes Thema.

Die Photographien entstammen dem Polizeihistorischen Museum Berlin. Die Bilder von den Protesten dem oben im Text genannten Bildband von  Arwed Messmer.

Achtundsechziger Geschichtszeichen (2). Bilderwelten: „Willst du wirklich immer Hippie bleiben?“

„Wer die rote Fahne schwingt, wird dadurch so wenig zum Proletarier wie zum Sadhu wird, wer ein Krishna-Poster an die Wand hängt.“ So formulierte es sardonisch der Rechtskonservative Caspar von Schrenck-Notzing. 68 ist ein Geschichtszeichen, ein Ereigniswort und ein Reizwort bis heute. Aber auch viel Mythos schwingt darin mit, was eben bedeutet: erzählte Geschichten, gestrickte Legenden, manch Tragisches. Manches auch voll Komik: „Wer zweimal mit derselben pennt …“. Man probierte und merkte, daß in dieser vermeintlichen Freiheit doch nicht alles so rund lief wie erträumt. Vorrecht der Jugend eben, Fehler zu machen. Rebels Without a Cause gab es zahlreiche und schon lange vorher, insofern ist dieser Aufstand kein Phänomen bloß der 68er, vielmehr knüpften sie an eine bereits bestehende rebellische Jugendkultur an und transformierten das ins Politische. Doch ihr Protest war zugleich auch Rock’n’Roll. Die USA-Dialektik will ich hier gar nicht aufmachen, weil sie falsch ist. Man kann natürlich die Politik eines Landes kritisieren und trotzdem von ihrer Kultur fasziniert sein. Gerade die der Musik. Weshalb zur Epoche 68 nicht nur eine Polit- und Gesellschaftsgeschichte gehört, sondern ebenso eine der Musik. Und sicherlich gab es in diesen Jahren eine sehr viel stärkere Kluft zwischen den Generationen als in den nachfolgenden Jahrzehnten. Wenn Vater wie auch Sohn beide „Feine Sahne Fischfilet“ hören, wenn Mutter und Tochter beide Tocotronic-Songs in ihrer Cloud haben, so hat sich was verändert.

In seinem neuen Buch nannte Heinz Bude diese Generation, die da antrat, die Welt zu ändern und nicht nur zu interpretieren, Ruinenkinder – in Anspielung auf einen Text von Rolf Dieter Brinkmann. Denn genau so wuchsen viele von dieser Generation auf, die in den 40er Jahren geboren wurden: entweder mitten im Krieg geboren, im zerbombten Deutschland, Kinder auf der Flucht, oder in den unmittelbaren Jahren nach dem zweiten Weltkrieg, in den Ruinen und in Trümmern spielend. Insofern ist das für diese Generation eine treffende Bezeichnung:

„Ruinenkinder, Bombensplitterkinder, ja, Todessplittereisen haben wir, jeder auf seine Art, gespielt, und die frühe Kulisse waren aufgerissene Straßen, abgedeckte Häuser, brennende Ruinen – lange her und in der ersten Zeit des Lebens, des Sehens, der Neugier, der ersten halbbewußten Wahrnehmungen versiegelt, eingeschlossen, nämlich was?: Trümmer, zerrissene Häuser, Betonbrocken, Brandphosphorbomben und blaue Narben am Körper eines Spielkameraden – …“ (Brinkmann, Rom, Blicke)

Brinkman wurde 1940 in Vechta geboren, im selben Jahr wie Rudi Dutschke, Uschi Glas im Jahr 1944, am 1. März, mancher kennt sie noch aus „Zur Sache Schätzchen“, von May Spils, ebenfalls aus dem Jahre 1968. Die Filmkomödie atmete viel von jenem unkonventionellen Geist dieser Jahre, ebenso aber jene legendäre Serie „Der Kommissar“ mit Erik Ode, die 1968 ihren Anfang nahm und 1975 endete. „Der Kommissar“ griff kongenial die Probleme und Fragen zur Zeit auf, in einer politisch oft trivialen, filmisch aber nicht ganz uninteressanten Form – in dramatischem schwarz/weiß zudem, wie die Bilderwelt dieser Zeit in der BRD meist war, herrliche Dialoge und teils eine avancierte Kameraführung.

„‚He, ich bin/im Krieg geboren‘“

So heißt es in einer Zeile in dem Gedicht „Westwärts, Teil 2“. Zwar spricht da ein lyrisches Ich, aber das ist auch so ein typischer Zug an Brinkmann und an jener Zeit um 68: daß da ästhetisch keine Differenz mehr zwischen einer Autobiographie, einer subjektiven (lyrischen) Impression und einer literarischen Fiktion eröffnet wird. Insofern bleibt es teils im vagen, ob es sich bei Brinkmann um eine Autorenrede handelt oder um eine (lyrische) Fiktion – zumindest wenn man das Schreibprinzip jener Jahre zuspitzt und auch die dokumentarischen und zugleich schnappschußhaften Photographien in „Westwärts 1&2“ mit berücksichtigt, ist das eine interpretatorische Möglichkeit. Brinkmanns „Rom, Blicke“ – ebenfalls mit Photographien angereichert sowie mit Bildern, Postkarten, Pornos – wie auch Bernward Vespers On-the-Road-Lebensbeschreibung „Die Reise“ sind wohl mit die ausdrucksstärksten Texte für jene Art der Literatur, die in den frühen Siebzigern unter der Rubrik „Neue Subjektivität“ firmierte und die viel mit jenen wilden Jahren zum Ausklang der 60er zu tun hat – vom Tod der Literatur, der in jenen Jahren ausgerufen wurde und der als Topos und Gestalt für eine neue Kunst die Runde machte, ganz zu schweigen; ein gescheitertes Konzept freilich, auf das ich ebenfalls noch zu sprechen kommen müßte. Vom Tod der Literatur zum Tod des Märchenprinzen ist es leider ein konsequenter Weg. Da es sich in dieser losen Serie aber um kein Buch handelt, müssen diese Fragen deshalb auch gar nicht so sehr systematisch angepackt werden, sondern ich händele diese Gedanken als eine Streuung.

Einiges von diesem Mythos 68 und von den gestrickten Legenden entzaubert Martin Stallmanns Medienstudie Die Erfindung von „1968“. Der studentische Protest im bundesdeutschen Fernsehen 1977-1998, letztes Jahr im Göttinger Wallstein Verlag erschienen. Und da es sich um eine Dissertation handelt, ist das Buch in den Belegen faktenreich und wenig spekulativ gehalten. Manch hübsches und gerne gepflegtes Vorurteil darf man nach der Lektüre getrost abbauen. Triebkraft etwa beim Wandel im Umgang mit dem 3. Reich waren nicht die primär die Studentenproteste, sondern vielmehr die bereits lange vorher stattfindenden „spektakulären NS-Prozesse zwischen 1958 und 1965, die Bundestagsdebatten um Verjährung von Mord und Totschlag in den Jahren 1960/61 und 1965 sowie die breite dazugehörige Medienberichterstattung.“ Präsent war das Thema also schon lange vor den Studentenunruhen. Die Studenten griffen freilich das, was als Geist der Zeit bereits in der Luft lag, auf und spitzten es zu. In diesem Sinne fungierten sie als Verstärker, aber es waren nicht die Studenten, die diese Debatte initiierten. Weiter heißt es bei Stallmann:

„Ihre schrille Rhetorik und Aufmerksamkeit erregende Protestaktionen verwiesen zwar auf die Kontinuitätslinie zwischen nationalsozialistischer Zeit in der Bundesrepublik, standen laut Wilfried Mausbach ‚einer angemessenen Aufarbeitung allerdings im Wege.‘ Gleichwohl haben sich Protestakteure der späten 1960er Jahre intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandergesetzt und auch zur wissenschaftlichen Diskussion beigetragen. Dies geschah jedoch verstärkt in späteren Lebensphasen – vor allem ab den frühen 1980er Jahren.“

Stallmann untersucht das konkret an Dokumenten und kratzt damit an mancher Legende. Von einer „Erfindung von ‚1968‘ spricht Stallmann, weil es sich bei dieser „68er-Generation“ um eine narrated community handelt, also eine Angelegenheit, die sich ganz wesentlich durchs Erzählen und über mediale Vermittlung konstituiert. In diesem Kontext stellt Stallmann fest, daß sich der Begriff der 68er erst Ende der 70er Jahre herauskristallisierte und zudem mehr und mehr zu einem Generationsbegriff wurde. (Daß der Begriff 68er politisch sowieso ungenau ist, darauf deutete ich im letzten Teil der Serie: Denn der Protest begann weit früher und spätestens mit dem 2. Juni, dem Mord an Benno Ohnsorg lief er zum Höhepunkt auf. Im Grunde ist die Chiffre 68er eher schon ein melancholisches Verwehungszeichen.)

Was aber bewegt uns an dieser Zahl heute noch? Was den Betreiber dieses Blogs? Ich bin, von der Generation her kein 68er, viel zu spät geboren und selbst noch für den Anfang des Punk 1976 zu jung, um das angemessen zu begreifen, aber doch prägten uns diese 68-Leute, die da nach dem großen Aufbruch von den Universitäten an die Schulen und von den Fachschulen an die Kindergärten kamen. Die linken Lehrer mit ihren Ideen und Idealen, was sich bis in die 80er Jahren mit Anti-AKW-Protest und Protest gegen den Nato-Doppelbeschluß sowie Friedensbewegung manifestierte, ihrer legeren Kleidung, teils kluge Köpfe darunter, belesen und sprachlich brillant, genauso aber mancher Blender, es gab, zumindest für mich und ich denke, für einige andere auch, eine Freiheit im Lernen, wie sie vorher in dieser Form nur bedingt existierte. Da wurde in der Erziehung eine Tür geöffnet und es kam ein frischer Wind, der nötig war, bei mancher berechtigten Klage über den Formverfall von der Seite unserer konservativen Freunde. Aber wie wir Dialektiker wissen, setzt Form immer auch einen Inhalt voraus. Die bloße Form als Form bleibt leer und regrediert zum Fetisch. Das wissen viele der Rechtskonservativen nicht. (Ein guter Konservativer ist sich seines Hegels wohl bewußt. Aber da kommen wir in andere Gefilde und wir schreiben heute und hier nicht von der Ritter-Schule.)

Zugleich aber stellte sich mit diesem Wandel auch eine Kultur des unendlichen Auslaberns ein. Das Fehlen intellektueller Strenge. Aber all dies sind subjektive Aspekte, jeder aus der Generation der Mitte der 60er bis Mitte der 70er Geborenen erzählt eine andere Geschichte, hat eine andere Vita. Mit Kindergarten, Kinderladen und Schule, und man müßte genauso davon schreiben, wie diese Zeit in der DDR wahrgenommen wurde, was da anders oder ähnlich lief. Ich hatte das unendliche Glück auf ein linkes und zugleich liberales Gymnasium zu gehen. Ich würde gerne von diesen wunderbaren Jahren schreiben, die mir eine Entwicklung und eine Freigeistigkeit ermöglichten, die ich woanders womöglich nicht gefunden hätte. Aber wer kann schon hellsehen, was unter anderen Bedingungen, vielleicht im Strauß-Bayern, aus ihm geworden wäre? All das zumindest sind für uns, die wir in diesen Jahren geboren wurden, nolens volens und für jeden unterschiedlich, die unmittelbaren Nachwirkungen von 68. Einfache Thesen lassen sich daraus nicht ableiten. Und wir blicken inzwischen auf fünfzig Jahre zurück, sind nun in dem Alter, in dem damals noch nicht einmal unsere Lehrer waren, die nun alt oder auch schon tot sind. Dieses Denken hat insofern auch eine ästhetische und eine melancholische Perspektive, weil sie vom Vergehen der Zeit und von unserer Endlichkeit handelt. Deshalb sind solche Jubiläen und Gedenktage als eine Form des An-Denkens wichtig.

Heinz Bude schreibt in Adorno für Ruinenkinder (Rezension folgt im nächsten Teil) in bezug auf unsere individuelle Biographie und unser Verhältnis zu dem, was mal unsere rebellische oder unsere jugendliche Gegenwart war und was inzwischen die Vergangenheit ist:

„Weil wir aber mit unserem kontingenten Leben nicht allein dastehen wollen, suchen wir nach Resonanz bei den ungefähr Gleichaltrigen, bei denen wir ähnliche Bedingungen und Verläufe feststellen können. Für dieses ‚übertriebene Wir‘ der Generationen, wie Julia Kristeva in den Erinnerungen an ihr 68 formuliert hat, stellen sich in fortgeschrittenem Lebensalter mit einer gewissen Unabweislichkeit die Frage, was von uns bleibt und was mit uns verschwindet.“ (Bude, Ruinenkinder, S. 116)

1969 waren die Achtundsechziger vorbei. Die Träume der Revolution waren ausgeträumt, es begann mit den 70ern entweder ein langer Marsch durch die Institutionen, andere machten sich auf den Weg in den Exzeß der Innerlichkeit, auf nach Indien oder in die „Windungen des German Ableitungsmarxismus“. Andere fanden den Weg in den bewaffneten Untergrund, es folgte, mit Hölderlin gesprochen und wie dann 1981 ein Film Margarete von Trottas auch hieß, die „bleierne Zeit“. Andere wurden irre und nahmen Pillen, wie Bernward Vesper, in den 60er Jahren der Lebensgefährte von Gudrun Ensslin. Er starb 1971 in Hamburg. Ob die Chiffre 68 mit dem Deutschen Herbst ihre Unschuld verlor, bleibt dahingestellt, denn zu vielfältig waren die Aspekte, die mit jenen Jahren verbunden waren. Zumindest verdichtete sich diese Chiffre 68 in den medialen Diskursen der späten 70er Jahre zum Zeitzeichen, oft, vor dem Hintergrund der RAF-Angriffe auf den Staat, als Menetekel, im Kontext des Deutschen Herbstes, der für Skepsis sorgte. Stallmann schreibt auch darüber in seinem Buch. Die Toten der Nomenklatura: Buback, Ponto, Schleyer. Die Toten von Stammheim; Bader, Ensslin, Raspe. Die vielen nichtgenannten Toten: die Fahrer der Wagen, Polizisten, und Benno Ohnsorg sowie Rudi Dutschke, der 4. Dezember 1979 in Aarhus in der Badewanne starb – auch eine Nachwehe jener Protestzeit. Aber Tote kann man nicht aufrechnen.

Genauso begannen mit den frühen 70ern und als Nachklang zu den 60ern jedoch die ersten Umweltbewegungen, die Platzbesetzungen von AKW-Baustellen und neue Formen des sozialen Protests und der sozialen Bewegungen – bis hin zur Gründung der Grünen. Verwiesen sei hier auch auf die zahlreichen Archive für Soziale Bewegungen, wo diese Zeit dokumentiert ist – von dem Archiv in Freiburg bis hin zu dem in Hamburg. Lebenswelt gegen Systemrationalität. Aber spätestens 1976/77 als Punk aufkam und davor schon, als die ersten Autonomen die Black Blocks bildeten, war es mit jener Zeit im Grunde vorbei, die wir im Rückblick oft als seligen Mythos verklären – manchmal arkadisch – oder aber von rechter und konservativer Seite (teils) generalisierend fürs Böse der Welt verantwortlich machten. Jedoch: Eine neue Generation trat an und das geht in manchen Phasen nicht ohne Kampf ab. In diesem Sinne war der Protest von 68 auch ein Väter-Söhne-Konflikt um die Macht. Der Punk stellt auch diese nicht mehr ganz so junge Generation infrage und amüsierte sich über Hippies. Der Begriff wurde zum Schimpfwort. Die letzten Hippies, so könnte man bösen sagen, waren Crass- und Slime-Hörer.

Und 1980, meine Zeit, meine Politik, meine erste Demo überhaupt, und zur Bundestagswahl mit Strauß als Kanzlerkandidat erscholl es im schwarzen Block in Hamburg, im August 1980, ich sollte eigentlich zur ersten Tennisstunde: „Buback, Ponto Schleyer: der nächste ist ein Bayer!“ In Hamburg starb bei jener Anti-Strauß-Demo am 29. August 1980 Olaf Ritzmann. Ritzmann war mein Jahrgang, dennoch trennten uns Welten. Vielleicht trennte uns auch bloß eine Polizeikette, so daß ich abends wieder nach Hause trottete und mir eine Kamera für Photos wünschte, um all diese Szenen irgendwie festzuhalten.

„1968 war getilgt, die achtziger Jahre konnten mit Helmut Kohl und dem Poststrukturalismus beginnen“ schreibt Heinz Bude. Sein Buch Adorno für Ruinenkinder werde ich in der nächsten Woche hier vorstellen.

(Teil 1 der Serie hier)


 
 

 
 

 
 

Die Photographien zeigen nicht die Stoppt-Strauß-Demonstration, sondern eine Solidaritätskundgebung für El Salvador, mit robustem Polizeieinsatz. (Etwa 1981)

Achtundsechziger Geschichtszeichen (1). Von den Chiffre-Rätseln und von brennender Ware

Ein Jubeljahr ist es nicht oder zumindest nur bedingt, denn mit dem Einschnitt 1968 lösten sich nicht bloß klammheimlich viele der Ideale auf, die die Protestler, die Liebenden, die Studenten, die Theoretiker und die Empathievollen in die Welt tragen wollten, sondern es begann zugleich eine Welle der Gewalt und es gab die ersten Toten. Kann man das so erzählen? Nein, eigentlich nicht. 68 ist eine komplexe Zahl, sie steht für mehr als nur sozialen Protest und eine Rebellion gegen das Establishment. Sie steht für etwas, das man geschichtliches Ereignis nennen kann, wenn man Geschichte auf Jahreszahlen verdichtet. Mit Heidegger, wie auch mit Marx und Slavoj Žižek bleibt zu fragen, was das Ereignis, was überhaupt ein Ereignis sei: Geschieht es, geschieht es jetzt? Selbst noch die französischen Poststrukturalisten, etwa in Gestalt von Lyotard oder von Derrida, wiederholen diese berechtigte Frage und verschaffen ihr zugleich einen völlig anderen Dreh. Aber das ist wieder eine andere Geschichte, die zwar mit 68 einiges zu schaffen hat, aber uns doch in eine andere Zeit führt.

Diese Zahl steht für diverse Biographien, noch bis in meine Generation hinein, denn jene, die damals Lehrer werden wollten, unterrichteten uns später und das prägte. Aber richtig erzählt und geschildert werden kann nur in einem Modus, der sich nicht bloß auf eine Zahl als Metapher oder als Chiffre kapriziert. In anderem Bezug wußte das schon Novalis: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren …“ Diese Zahl, dieser Einschnitt, diese Chiffre verknüpft unterschiedlicher Aspekte und Geschichten und dieser Vielfalt an Bezügen wird man nur gerecht, indem man keine Abstraktionen darüber stülpt. Solches Erzählen fängt – notwendigerweise kontingent gesetzt bzw. willkürlich gewählt – bei der Kritischen Theorie Adornos an, die man gerne etwas voreilig den 68ern zuschlägt, und reicht bis hin zu Design, Pop und Lebensentwürfen. Doch so einfach ist das bei Adorno nicht, ihn umstandslos den 68er zuzuschlagen, wenn man sich mit Genauigkeit in seinen Texten bewegt und auch Adornos praktische Vorbehalte kennt. Adorno wollte seine Theorie nicht als Wandparole verstanden wissen und Theorie sowie denkerisches Durchdringen von Gesellschaft wollte er zu recht nicht mit unmittelbarer Praxis verwechselt wissen, darin ganz dem marxschen Reflexionsniveau folgend. Weshalb Adorno und Horkheimer auch die Wiederpublikation der Dialektik der Aufklärung im Jahr 1969 einige Bauchschmerzen machte.

Bis dahin kursierte das legendäre Buch nur als Raubdruck, oder man mußte es sich antiquarisch besorgen, in der alten Version von 1947 aus dem Amsterdamer Querido Verlag. In der Tat trieb dieses Buch wie eine Flaschenpost, aus einer anderen Zeit stammend, zu den Studenten der 60er Jahre herüber. Und es lieferte dieses Werk ihnen zugleich die Munition, diese Gesellschaft nicht nur mittels ökonomischer Begriffe zu kritisieren.

Aber Bücher haben zugleich einen Zeitkern, und sie sind nicht einfach Handlungsanweisung. Das wurde bei der Dialektik der Aufklärung oft übersehen. Geschrieben wurde sie in der Zeit äußerster Bedrohung: Faschismus auf der einen, Stalinismus auf der anderen Seite und dazu  ein liberaler Kapitalismus angloamerikanischer Prägung, der in den Augen der Kritischen Theorie nicht ganz unschuldig am aufkommenden Faschismus war.

Dazu kam die Aporie, in die sich das Werk argumentativ zu verstricken schien: Prominent geäußert von Jürgen Habermas. Doch trotz seines Vorwurfs des performativen Selbstwiderspruchs, in den sich die Vernunft verstrickt, wenn sie sich mit ihren eigenen Mitteln als totalitär und instrumentell avisierte, verkannte Habermas die selbstreflexiv-aufklärerische Kraft dieser destruktiven „Geste aus Begriffen“, wie Adorno in einem Brief an Horkheimer jenes Werk beschrieb. Die Stärke des Buches lag gerade in ihrer reflexiven Performanz, in ihrem rhetorischen Element, das Paradox der Gesellschaft, die objektiven Widersprüche in Sprache uns vorzuführen. Ein Katastrophenbericht aus einer Zwischenzone. Und dieser in Irrfahrt beschriebene Odysseus der Dialektik der Aufklärung war vielleicht zu einem kleinen Teil auch Adorno selbst, der, List der Vernunft, sich an den Mast fesselte oder mit Klugheit den Widrigkeiten des Exils begegnete. Die endgültige Heimkehr nach Frankfurt am Main geschah 1953. Es war das bessere Deutschland, das da sein, freilich bescheidenes Revier aufrichtete: Gegen den „Jargon der Eigentlichkeit“ und das Besinnen auf „echte Werte“ und gegen das Vokabular der Entschlossenheit. „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“, wie ein Sammelband zur Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule hieß, geschah zu einem guten Teil auch durch das Institut für Sozialforschung. Durch Horkheimer und Adorno. Nicht allein und ausschließlich, solche Monokausalitäten verkennen die komplexe Lage im Feld des Geistes. (Von der öffnenden Wirkung des Pop ganz zu schweigen und der damit korrespondierenden Öffnung der Lebenswelten.)

1968 als Chiffre steht für Möglichkeiten und für einen wesentlichen Einschnitt in der BRD, auch wenn das viele bezweifeln und in diesem Datum eher ein Verhängnis wittern, so wie mancher Konservative. Doch die Tücken der Zeit auf den Begriff zu bringen, ist nie ganz einfach: Das Gute im Schlechten, das Schlechte im Guten sichtbar zu machen. Und auch wenn manche dieser Freiheiten, die angeblich die 68er „erkämpften“, schon lange in der Luft lagen und also nicht alles, was dann in den 70er kam, als Resultat der Revoltierenden sich erwies. Daß Jungs und Mädchen miteinander ungehemmt fummeln wollten und es irgendwann auch konnten, ist kein Verdienst einzig dieser Generation, sondern das lag schon Ende der 50er Jahre in der Luft, gehörte zum Geist jener Zeit, auch wenn es den Kuppelei-Paragraphen gab und Wirtsleute nicht einfach so ein unverheiratetes Paar bei sich beherbergen durften. Vorehelicher Geschlechtsverkehr galt als nicht so gut, aber wer wollte schon Wälder und Wiesen kontrollieren? Der Kuppelei-Paragraph war noch bis 1973 wirksam und theoretisch machten sich auch Eltern schuldig. Aber wie es bei den Menschen ist: Was verboten ist, das macht uns gerade scharf, wie Wolf Biermann 1964, bei Wolfgang Neuss zu Gast in West-Berlin, sang. Der Mensch ist bekanntlich aus krummem Holze geschnitzt, was wiederum mancher 68er gerne vergaß.

Dieses eigentümliche halbe Jahrhundert, das uns Heutige von der Zeitchiffre 1968 trennt, ließ zahlreiche Interpretationen dieser intensiven Episode der BRD zu. Was war geschehen? Der summer of love verglühte, im Protest gab es die ersten Toten, der 2. Juni 1967 dürfte für die Studentenbewegung ein Fanal gewesen sein, spätestens nach dem Mord an Benno Ohnsorg während des Protests gegen den Schah von Persien, sahen viele: es würde kein Spaziergang; der Rechtsnachfolger des Dritten Reiches hatte nicht nur einen erheblichen Teil des alten Personals übernommen und bei den Auschwitzprozessen Anfang der Sechziger grüßte das Wachpersonal im Gerichtssaal das ehemalige Wachpersonal vom Vernichtungslager, das nun in kleiner Zahl vor besagtem Gericht stand, in militärischer Art und zwinkerte vergnüglich.

Der die Auschwitzprozesse einleitende Staatsanwalt Fritz Bauer wurde vom deutschen Nachrichtendienst bespitzelt. Nun – kein Wunder, die Fremden Heere Ost machten als Organisation Gehlen einfach weiter und irgendwann würden die lustigen Stiefel schon wieder über Polen und gen Moskau marschieren, so dachte sich der dürre Herr, während der feine Herr Karl Carstens von der Reiter-SA vermutlich immer noch von all den schönen Pferden träumte. Und die Protestler bemerkten: Auf uns wird geschossen, und zwar, ohne daß diese Tat für den Mörder irgendwelche Konsequenzen hätte. Nach dem Mord an Ohnsorg trafen sich viele der Demonstranten im Republikanischen Club in Berlin, auch Gudrun Ensslin befand sich unter den jungen Leuten. Die Reaktionen dort sollen heftig gewesen sein, erregte Debatten. Ob sich nach den Schüssen jene oft kolportierte Szene, die als Einschnitt und als Auslöser auch für die RAF gedeutet wurde, tatsächlich so zugetragen hatte, ist allerdings fraglich. Da rief eine junge schlanke Frau, erregt und hemmungslos weinend:

„Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Wir müssen Widerstand organisieren. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die Generation von Auschwitz – mit denen kann man nicht argumentieren.“

Stefan Aust mutmaßte über diese Szene, als wären die Sätze Fakten, und so verbreitete sich ein Gerücht. Auf die fehlenden Quellen und die unsichere Zeugenlage wies ganz zu recht Ingeborg Gleichauf in ihrer Anfang 2017 erschienenen Biographie Poesie der Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin hin.

Ein Jahr mit Geschichte: Der Prager Frühling und die sowjetischen Panzer, Dissidenten in der DDR, Thomas Brasch, Flori Havemann, Bettina Wegner, eine tschechische Fahne konnte Bautzen bedeuten, im Westen war es etwas milder, eine Fahne vom Vietkong war zwar ein deutliches Zeichen, aber doch auch wieder „nur“ eine Fahne von Vietnam, ohne daß sie, auf dem Balkon angebracht, gleich Knast bedeutete – allenfalls soziale Ächtung bei den Nachbarn. Dann im Februar 68 der internationale Vietnam-Kongreß in Berlin, im Mai 68 die drei Schüsse auf Rudi Dutschke, der Pariser Mai, Foucault und Sartre Arm in Arm, die Arbeiter und Studenten, die in Paris Commune machten, de Gaule zog sich zur Sicherheit oder aus Propaganda auf einen französischen Armeestützpunkt in der BRD nach Baden-Baden zurück, dann General de Gaules Rede in voller Uniform, worin der mit dem Ausnahmezustand drohte, ganz souverän, darauf folgte die Niederlage, der Protest versandete, es gab Gegendemos und ein Traum war einmal wieder ausgeträumt: der verpaßte Augenblick in der Geschichte. In Frankreich hätte es womöglich, anders als in der BRD, mit der Revolution etwas werden können, weil sich am sozialen Protest breite Schichten beteiligten, so heterogen sie ansonsten auch waren. In der BRD die Notstandsgesetze, die Kaufhausbrandstiftung am 2. April 1968 mit den Action-Akteuren Andreas Bader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein: Mehr Belmondo in Godards Außer Atem als politisch gezielte Propaganda der Tat, ohne Organisation, fast dilettantisch zu nennen. Der Staat reagierte heftig.

Der intuitive oder auch in langen Debattennächten ausgeschliffene Reflex dieses Action-Teams war, daß Politik nun praktisch werden müsse, den Kampf in die Städte tragen, Stadtguerilla, Markierungen setzen. Als eine Art Kunst-Zeichen. Wenn Marx vom Fetischcharakter der Ware, von Wert und Mehrwert schrieb und über das System Kapitalismus nachdachte, so reagierten Bader und Ensslin ganz unmittelbar auf jene Waren, nahmen sie beim Wort und setzten das Primat der Praxis. Das brennende Kaufhaus in Brüssel mochte Vorbild gewesen sein. Die Verbrannten von Vietnam auf alle Fälle der Anlaß und vor allem das geduldige Schweigen dazu, das aus der BRD kam. Daß freilich bei Marx vor der Praxis die Theorie kam, hatten die Genossen überlesen. Und sie verwechselten Politik mit Kunst. Denn eigentlich war diese ganze Aktion von ihrer unbeholfenen Ausführung her mehr ein Happening, ein Unternehmen aus dem Bauch, um überhaupt etwas zu tun und ein Zeichen zu setzen. Ästhetisch hätte man diesen Zorn bewältigen, ästhetisch hätte man ihn abmildern können. Kunst ist immer auch eine Variante des Zivilisierens – sei es des Einhegens von Trieben oder aber von Praxis. Nietzsches Geburt der Tragödie lehrte es uns, daß der dionysische Abgrund, die Weisheit des Silen durch apollinische Formung gemeistert würde. Bader und Ensslin wählten einen anderen Weg. „Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen“, so Mao – zumindest wird ihm dieses Zitat zugeschrieben. Die Nähe zu Carl Schmitt ist evident.

All die Varianten des sozialen Protests. Die Bilder, die Legenden, die Toten, die Lebenden, die Überlebenden, die, die weitermachten, die in der einen Weise weitermachten oder auf die andere Weise, die wild-geniale Dichtung von Rolf Dieter Brinkmann, in ihr musikalischer Bau, wie E-Gitarrenmusik vielleicht, als Collage von Text und Bild, Brinkmann, der zum Prolog von Westwärts dieses Weitermachen dann Mitte der 70er in einen Tonlage brachte, sein „Politisches Gedicht“ als Simultanton verschiedener Stimmen, es klang wie Interferenzen beim Radiohören, Politik als Satzfetzen, Peter Handkes Auftritt im April 1966 in Princeton bei der Gruppe 47, und eine Musik, die um die ganze Welt ging, zwischen den Beatles, Bob Dylan, Joan Baez, den Stones, Jefferson Airplane oder Velvet Underground und eine Mode, die nicht nur die 70er Jahre bestimmte, sondern immer einmal wieder eruptiv nachwirkt – bis in die Gegenwart hinein. Politik als Pop. Politik, die demokratisch wurde, könnte man wohlwollend schreiben, oder eine Politik, die sich trivialisierte und Komplexes auf einfache Formeln von Liedermachern herunterrechnete. Insofern auch Adornos Verdikt gegen popular music. Solches Denken ging ganz und gar nicht mit dem „Anliegen“ der Studenten konform.

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La Belle de France – in Trauer, zum Tod von France Gall

Es war die Musik meiner Eltern, in den frühen 60er Jahren, der kleine Bersarin war nicht einmal ein Jahr alt, Kennedy keine zwei Jahre tot, und auf den Mond sollte der Mensch erst vier Jahre später fliegen, drei Jahr also, bevor die Schwester des Kolumnisten geboren wurde, das Jahr 1965, langsam begannen Studenten aufmüpfig zu werden und gegen Regeln und Verbote zu protestieren, als France Gall beim Grand Prix Eurovision de la Chanson, wie dieser Contest damals noch hieß, mit  Poupée de cire, poupée de son antrat. Und gewann. Eine unbeschwerte Zeit, trotz aller politischen Beschwernisse. Eine Zeit erotischer Freizügigkeiten.

So wie Serge Gainsbourg, der jenen Song für France Gall schrieb, kann man heute nicht mehr singen. Es ergingen über die Sängerin und den Texter Kübel von Denunziationen. Weil nämlich jegliche Regung in einer biederen Moral erstickt wird. Waren die linken 68er damals noch für die Befreiung von Frau, Gesellschaft und Sexualität angetreten und standen ihnen die Konservativen damals als Feinde gegenüber, so haben sich heute die Register empfindlich verschoben. Die heutige kulturalistische Linke hat den Part der Konservativen übernommen, Ideologiekritik verkam unter der Hand zum Werkzeug von Inquisition. Die Grünen sind inzwischen eine Verbotspartei und beim Namen Heiko Maas fällt den wenigsten heute Gutes ein. Sänge heute eine Frau Poupée de cire, poupée de son in der naiven Weise, wie France Gall es tat, träte beim Spiegel die Hysterikerin Stokowski oder irgendeine andere sogenannten, selbsternannte Twitter-Feministin an, um in schrillem Ton Banales zu posten und die Standardspielmarke Sexismus einzusetzen. Die Lust am Mehrdeutigen ist dem zwanghaften Bekenntnis gewichen. Nicht mehr „Zeig mir, ob er steht!“, sondern wiedermal jenes unsägliche „Sag mir, wo du stehst!“

Oder aber es herrscht eine solche Ubiquität des Sexuellen, daß jeglicher Nebensinn und jegliches Subtile einfach nur verblaßt und verschimmert. Von Erotik keine Spur mehr, sondern angesichts derb gezeigter Titten und Ärschen in Videos und von Halbstarkposen der Hip-Hop-Macker bietet der Pop aufdringlich die Körper dar. Nein, früher war nicht alles besser. Aber manche Musik hatte mehr Kraft und Potential. Selbst dort, wo es bloß Unterhaltung war. Ein Hauch von Mode und ein Tick des Zeitgeists, an dessen Gewand sich aber immerhin noch die Idee von Schönheit und von Lust heftete, wie sie einst die Moderne, auch als Imago von Erotik, beschwor. Ein Moment von Freiheit blitzte in solchen Liedern wie von France Gall auf. Eine durchzechte Party, ein Engtanz und übrig blieben morgens ein paar schöne Luftballons. Oder zertanzte Schuhe oder ein neues Lebewesen, das da im Bauch sich bald regte und mit den Monaten langsam zu strampeln begann, weil’s die Pille noch nicht gab. Es wurde gelebt und nicht gelabert. Männer stellten sich tatsächlich manchmal noch ihrer Verantwortung anstatt ein Ticket für Holland zu besorgen oder sich einfach aus dem Staub zu machen. [Sicher – es gab auch das Gegenteil. Feige Männer existieren zu allen Zeiten.]

All jene freien und manchmal eben auch wieder verklemmten Momente jener 60er Jahre und der frühen 70er schossen mir durch den Kopf, als ich die CD mit Songs von France Gall vorhin hörte. Die Erzählungen meiner Eltern. Der kiffende Hippiefreund Klaus, der einmal seinen Joint in der Zigarettenschachtel vergaß. Muttern, die nichts ahnte, verschenkte die Packung mit den letzten drei oder vier Zigaretten darin an die Handwerker. Die werden statt Astra („Wer Häuser baut und seine Frau verhaut, der trinkt auch das, was Astra braut!“) mal einen anderen Spaß gehabt haben. (Gott hab ihn selig, den guten alten Klassismus.) Unsere Vormittage an der Elbe, die Schiffe, die Wellen. Manchmal denke ich, daß die Frauen zu dieser Zeit sehr viel emanzipierter waren als sie es heute sind. Aber das mag ein Trug sein oder eher für die DDR zutreffen. In der BRD sah es von der Gesetzeslage, seien es die Scheidungsgesetze oder die Möglichkeit der Frau vom Gesetz her einem Beruf nachzugehen, anders aus.

Aber das ist ein anderes Thema, beim Betrachten jenes Videos Laisse tomber les filles aus dem Jahr 1964, dem Geburtsjahr des Autors, fiel mir auf, wie frei und wie wild, aber auch wie unschuldig damals noch die Bilder von der Hand gingen. Anders als in den 50ern, die freilich beileibe nicht so verklemmt waren wie es schien und im Vergleich zum Heute, wo schon ein Wandgedicht sexuellen Argwohn erregt. Was diese Bilder zeigten: Ausgelassenheit und Bruch zugleich – am deutlichsten vielleicht fand sich dieses Spiel und dieses Vexierbild in Jean Luc Godards Masculin – Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca-Cola aus dem Jahr 1966. Vielleicht sehr französisch, das ganze. Aber diesen Ton der Freiheit kriegt man auch mit, wenn man etwa die Briefe von Gudrun Ensslin an Bernward Vesper oder Ensslins Briefe von 1968 aus dem Knast an Andreas Bader liest. Eine seltsam bedrückende und doch zugleich freie Zeit. Etwas Neues brach sich Bahn. Auch wenn ich den Erzählungen meiner Eltern folge.

Feiern wir also jene unbeschwerte schöne Zeit und denken an die schönen Lieder und an jenes ausgelassene Frankreich von France Gall und Serge Gainsbourg. Adieu, France Gall! Sie starb heute, in Neuilly-sur-Seine an ihrer Krankheit namens Krebs.

Schauen wir also zur Erinnerung die Videos und hören diese schöne und so sehr französische Musik.