Das klingt im Buchtitel verheißungsvoll, zumindest für Adorniten, für Bewohner des Grandhotel Abgrund und auch für Leute jener Generation, die Adorno in Frankfurt in den Vorlesungen erlebten, um dort dialektisches Philosophieren im Sinne der Kritischen Theorie zu lernen. In Romanform ist dieser Adornobezug übrigens schön nachzulesen in Gisela von Wysockis feinem Buch „Wiesengrund“ – eine herrliche Lektüre, ein kluges Buch, das ich jedem ans Herz lege. Adorno für Ruinenkinder also, aber das führt zugleich in die Irre, denn es handelt sich bei Heinz Budes Buch keineswegs um eine subtilen Einführung ins Denken Adornos, sondern Bude bieten anhand von fünf unterschiedlichen Menschen einen Rückblick auf jene 60er Jahre, wie sich die Sache aus dem Abstand heraus perspektiviert, Frauen und Männer, darunter auch Peter Gente, der inzwischen verstorbene, ehemalige Verleger und Gründer des Merve Verlags. Ihn kennen wir bereits aus Philipp Felschs Der lange Sommer der Theorie. (Rezension hier.) Oder Klaus Bregenz, der bei Adorno am Institut studierte, für die politische Ökonomie zuständig war und eines der wenigen Arbeiterkinder. Oder Adelheit Guttmann, Radiofrau mit feministischem Einschlag der 68er: Tomatenwurf auf der Delegiertenkonferenz des SDS 1968 in Frankfurt.
„68 hießt nicht, das Ganze zu begreifen oder die Welt zu ändern, sondern seinem Sehnen nach Weite (…) Ausdruck zu verleihen. 68 ist nicht Weltveränderung, sondern Selbstveränderung. (…) In dieser Version von 1968 sind die Doors wichtiger als Adorno.“
Budes Buch ist, wie er selber schreibt, ein Remix seiner Untersuchung Das Altern einer Generation aus dem Jahr 1995, es ist insofern ein schmales Buch, weil es komprimiert die Bezüge zusammenfaßt, und es bietet uns in kompakter Form verschiedene Geschichten und Perspektiven. Es liest sich schnell, es ist unterhaltsam – im Grunde ein längeres Zeit-Dossier. Ob ich es empfehlen kann? Wer sich für diese Epoche im Detail interessiert, wird hier nette Geschichten finden. Großartige Neuentdeckungen sind jedoch nicht zu erwarten. Es ist also eher ein Buch für nebenbei und aufs Jubiläum hin konzipiert. Aber das macht im Grunde nichts, denn das Buch ist unterhaltsam. Wer allerdings etwas über jene wilde Zeit der Theorien lesen will, ist mit Felschs Buch besser bedient. Wer sich an einem oder an zwei Abenden auf dem Ohrensessel mit dem guten und lange gelagerten Rotwein anregen lassen oder wer schwelgen, rückblicken oder sich erinnern will, wie das mal war, kann zu Bude greifen. Ich liefere ein paar Perlen aus dem Buch:
„Wenn im Morgengrauen in der Adalbertstraße der Blick auf die Mauer am Ende der Sackgasse fiel, erschien die Dialektik, nach der immer und überall der Widerspruch die Dinge nach vorne bringt, mit einem Mal als eine Neurose des Geistes.“
So Peter Gentes über seine Zeit in Berlin-Kreuzberg, und solche verdichtete Szene beschreibt sicherlich ganz schön diesen Aufbruch in die 80er Jahre, weg von 68, und das ist natürlich melancholisch-kitschig-schön. Tempi passati. Weg vom Elend der Theorie oder wie es in anderem Kontext Botho Strauß schrieb, daß ohne Dialektik der Mensch auf Anhieb dümmer denke, aber es müsse sein: ohne sie. Doch dieses Zitat wird meist unvollständig wiedergegeben und erhält durch das, was davor kommt, einen anderen Bezug – auch im Sinne von Budes Essay:
„Heimat kommt auf (die doch keine Bleibe war), wenn ich in den ‚Minima Moralia‘ wieder lese. Wie gewissenhaft und prunkend gedacht wurde, noch zu meiner Zeit! Es ist, als seine seither mehrere Generationen vergangen.
(Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer, aber es muß sein: ohne sie!)“
(Botho Strauß, Paare, Passanten)
Dieses tiefe Denken, ein Denken der Kritik, in dialektischen Figuren der Aufhebung wurde mit dem Poststrukturalismus transformiert. Diese Haltung verkörpert auch das Zitat zum Aufbruch Ende der 70er:
„Der Punk brachte den Riss auf den Punkt. ‚No future!’‘war weder als geschichtsphilosophische Trauer noch als gesellschaftliche Anklage gemeint. Es ging um die Behauptung einer Gegenwart, in der sich die Frage des Daseins stellte.“
Ganz der Augenblick also, Lust des Moments, woraus sich dann später in de Hochzeit der Postmoderne der späten 80er, in seiner Trivialform eine Art Ästhetik der Existenz ableitete, die freilich mit Foucaults Denken nicht viel mehr gemeinsam hatte. Was alle in diesem Buch beschriebenen Charaktere eint: Theorie war ein Weg heraus. Heraus aus dem Mief, heraus aus der restaurativen Phase, um Gesellschaft und ihre Mechanismen zu begreifen und vor alle mit kritischem, wenn nicht argwöhnischem Blick zu begleiten. Und Adorno war ihnen ein Wegbegleiter aus dieser Hölle, der Hölle einer Immanenz, einer deformierten Gesellschaft und die Hölle waren natürlich die anderen. Es ging ihnen mit Adorno wie in der Oper, heißt es in dem Buch, man verstand zwar nicht viel, konnte aber alle Passagen mitsingen.
„Über dieses rätselhafte Eigenleben der Gesellschaft konnte man sich in heiligen Büchern informieren. In Adornos Mimima Moralia zum Beispiel, das man als Brevier des Überlebens in Zeiten des Erfahrungshungers mit sich tragen konnte, oder in Lukács‘ Geschichte und Klassenbewußtsein, …“
Theorie als Rüstzeug und ein wenig auch, zumindest im Keim angelegt: Theorie als Pop, als Habitus, den man sich qua bestimmter Autorennamen zulegte. Was dann im Poststrukturalismus, der im Gente-Kapitel angerissen wird, voll ausgefahren wird. Theoriegeladene Nächte und Hedonismus, Punk und Foucault. Solche Aspekte streift das Buch auf eine anekdotenhafte Weise, vermittelt über die unterschiedlichen Biographien.
„Die Gummizäune der liberalen Presse“, so Bregenz, „und die legenden des Kalten Kriegs stabilisierten eine Gesellschaft ohne seelische Zukunft, die zwanghaft darauf bedacht war, dass die historischen Kompromisse der Nachkriegszeit nicht gefährdet wurden. Aber die ‚Risse in der Mauer‘ waren nicht zu übersehen.“
Geschichte ist auch ein Projekt der Generationen. Insofern nimmt Bude am Ende seines Buches ebenso die Enkel der 68er in den Blick. Von einem neuen 68 sei die Rede, so Bude. „Dieses akademisch gebildete Linkssein hat jedoch wenig mit Befreiung und viel mit Gerechtigkeit zu tun.“ Die Minderheit einer Minderheit wurde plötzlich als relevant entdeckt, was sich dann bis hin zu grotesken Detaildebatten aufsplitterte. So hat jede Generation ihr Dogma. Aber es gab noch andere Unterschiede zwischen den alten 68ern und einer neuen kulturalistischen Linken:
„Für sie findet zweitens die politische Willensbildung vor allem im Netz statt. Sie sind damit aufgewachsen, dass ein Tweet, ein Posting oder ein Snapshot eine Bewegung in Gang setzen kann, die plötzlich exponentiell wächst und zu ganz realen Aktionen auf Plätzen, bei Festivals oder um die Ecke führt.“
Wobei Bude hier unterschlägt, daß daraus genauso das Verhängnis der Shitstorms und der unreflektierten Bezugnahme aller auf alles erwuchs. Damit einher ging die Entropie von Bedeutung. Aber dieser Aspekt der Beschleunigung ist ein anderes Thema. Zu recht allerdings weist Bude auf die absurden Auswüchse einer Kultur hin, die sich in Triggerwarnungen, victimhood-culture, safer spaces für Heulsusen (ist meine Wortwahl nicht die Budes) und einer Karikatur von critical whiteness in moralischer Überheblichkeit eingeigelt hat. Mit Jonny Thunders kann man diesen Gestalten nur zurufen: „Born to lose“. Mehr Punk, mehr Politische Ökonomie, mehr Kunst, weniger Moralspackotum
„Bei diesen Enkeln der 68er handelt es sich offenbar um eine Generation von rigoroser Empfindlichkeit, medialer Versiertheit und affektiver Mobilisierbarkeit“
Von der Kritik des falschen Lebens im Falschen geht es zur Gesinnungspolizei, die das richtige Leben im falschen installieren will. Mochte es schon bei Adorno auf Unverständnis gestoßen sein, wenn man seine Texte als Parolen auf Universitätswände schrieb, so haben wir bei jenen Neu-Puritanern eine Wendung, die kaum noch etwas mit einem ursprünglichen Sinn von Linkssein zu tun hat, wie ihn die 68er verstanden. Auch darauf deutet Budes Buch knapp. Auch hier wieder tritt jener Aspekt auf – Bude spricht leider nicht darüber, sondern deutet es allenfalls implizit an –, weshalb linkes Denken sich vielfach marginalisiert hat und eine Angelegenheit für Minderheiten wurde. Partialgruppen, die Partialinteressen vertreten, was nicht per se falsch ist, dabei aber das Ganze und gesellschaftliche Mechanismen zunehmend aus den Augen verlierenend. Mehr Hegel, mehr Marx, mehr Derrida – den vor allem textimmanent gelesen und nicht zum Gewährsmann aufgeplustert – täte in diesem Falle gut. Aber das ist eine andere Sache und wird nur am Rande als Thema des Buches verhandelt.
Das ist ganz interessant und ein gutes Experiment: Bude läßt in einem fiktiven Spiel die Protagonisten auf diese neue, diese andere diese jetzige Zeit blicken. Wie sie diese neue Weise des Protests interpretierten:
„Peter Gente würde diesen neuen puritanischen Ernst, der nichts kostet, vermutlich lächerlich finden, Adelheit Guttmann würde die Bereitschaft vermissen, sich woandershin aufzumachen; Klaus Bregenz würde wohl mit Adorno einwenden, dass das sich selbst schützende Subjekt, das sich in absoluten Gegensatz zur Gesellschaft versteht, nur deren innerstes Prinzip zum Ausdruck bringt; …“
Schön ist die Aufmachung des Buches, sie erinnert, allerdings nur dezent, an die Bände der Bibliothek Suhrkamp, insbesondere an Adornos weiße Minima Moralia. Nur daß die schwarze Banderole bei Bude farbig ist – von Dunkelrot bis Orangensaftgelb.
Und so können wir zwar nicht diese Epoche, aber doch den Weg, den Bude mit uns Lesern schreitet, mit einem Zitat abschließen:
„68 dauerte, wie Peter Gente unmissverständlich darlegte, im Grunde nur einen Sommer lang. Die Vorgeschichte mag zwar um 1964 begonnen haben, aber 1972 oder, wenn man großzügiger ist und den Terror des Deutschen Herbstes dazunimmt, spätestens 1977 war die Geschichte vorbei.“
Die Zeiten mögen vorbei sein. Aber Geschichte dauert eben in ihren Deutungen. Adorno für Ruinenkinder mag in dieser Hinsicht kein besonderer theoretischer oder praktischer Wurf sein, und das Buch wirkt leider wie eine auf die Schnelle nochmal in der Zweitverwertung aufgerührte Speise, weil halt gerade Jubiläum ist. Aber als Anekdote dann doch auch wieder ganz nett lesbar. 1968 war, wie es Paul Veyne in dem Buch bemerkt, das letzte heiße revolutionäre Ereignis und die erste coole Revolution. Der Protest aus dem Geist des Pop eben, so möchte ich hinzufügen. Daß Adorno damit nicht viel anzufangen wußte, verwundert nicht.