Ostermarsch und „Friedensfreunde“ und was das leider auch mit Teilen der SPD zu tun hat

Wie immer fanden dieses Jahr in Deutschland die obligatorischen „Ostermärsche“ statt. Was vor Jahrzehnten und in den 1950er und in den 1960er Jahren noch eine sinnvolle Einrichtung gewesen ist, um vor den Gefahren von Atomwaffen zu warnen, und im Westen in den 1980er Jahren dann sinnvoll war, wenn auch und vor allem die Atomraketen der Sowjetunion in die Kritik gerieten – Parolen wie die der DDR-Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ waren in den 1980ern sehr selten -, ist für die Gegenwart zu einer absurden Veranstaltung Ewiggestriger, DKPler und Putinapologeten geworden. Allenfalls Verschwörungsunternehmer wie Daniele Ganserer profitieren von solchem Publikum, indem sie ihren kruden Unsinn unters Volk bringen.

Die Empörung, die es bei Friedensfreunden hervorrufen würde, wenn muslimische Attentäter, an denen deutlich die Spuren von Folter sichtbar waren, von der US-Regierung derart vor den Augen der Öffentlichkeit gezeigt würden, möchte man sich nicht ausmalen. Von den Kriegsverbrechen Putins in der Ukraine ganz zu schweigen. All das war bei keinem der Friedensmärsche irgendwie Thema und es waren auch keine Plakte zu sehen sein, die die Freilassung der entführten ukrainischen Kinder und der entführten ukrainischen Zivilisten forderten. Und auch der Fall der per Zwang in den Krieg verschleppten Inder durch Putins Schergen dürfte auf diesen Demos kaum Thema gewesen sein:

„Anfang März setzten sieben Inder einen Hilferuf ab. Wegen eines angeblichen Einreiseverstoßes nach Russland hätten Beamte sie vor die Wahl gestellt: 10 Jahre Haft – oder: Küchenhelfer bei der Armee. Doch statt Kücheneinsatz drohte ihnen der Einsatz an der Front. Das Video ging viral, aber der Hilferuf verhallte. Über Telefon konnten wir mit einem der sieben Inder ein Exklusivinterview führen. Wochen nach dem Video meldet sich Gurpreet Singh von der ukrainischen Südfront. Der 20-Jährige schildert, wie er und seine Freunde von russischen Vorgesetzen mit Gewalt in den Kampf getrieben werden. Es habe Tote und Verletzte gegeben. In einem nordindischen Dorf trafen wir zuvor Gurtpreets Mutter. Sie fürchtet, vor Angst um ihren Jungen verrückt zu werden.“ (Arndt Ginzel)

Einen Bericht zu diesem Grauen gibt es im ZDF an dieser Stelle.

Daß in Berlin diese „Friedens“märsche auch diesmal nicht vor der russischen Botschaft stattfinden, sagt viel über die Gesinnung der Veranstalter und ihrer Teilnehmer aus. Und all das läßt sich nicht mehr mit einer gewissen Naivität mancher Teilnehmer entschuldigen.

Allerdings gibt es auch in SPD-Kreisen Stimmen, die irgendwie anehmen, es ließe sich mit Putin verhandeln und es gäbe in den Fragen des Krieges eine Art Äquidistanz. Politiker wie Rolf Mützenich sprechen davon, daß man diesen Krieg „einfrieren“ müsse – was auch immer damit gemeint sein mag. Ob freilich jene Ukrainer, die in den nun von Russen okkupierten Gebieten leben müssen und unter dem Joch und den brutalen Greueln einer Besatzungsarmee stehen, ebenso gerne ein Einfrieren sehen oder ob sie nicht vielmehr den tiefen Wunsch hegen, von Russen befreit zu werden, lassen wir dahingestellt. Und auch eine prominente SPD-Stimme wie Julian Nida-Rümelin schrieb in einem Kommentar bei dem taz-Journalisten Jan Feddersen:

„An erster Stelle Putin, aber auch, diejenigen, die Ukraine daran gehindert haben, frühzeitig nach nur einem Monat Krieg, ihn auch wieder zu beenden, haben schwere Schuld auf sich geladen. Hunderttausende ukrainischer und russischer Soldaten sind seitdem gestorben. Diejenigen, die hartnäckig einen umfassenden Sieg der Ukraine für möglich hielten und damit den Krieg unnötig verlängerten, haben schwere Schuld auf sich geladen. Wer jetzt immer noch einen umfassenden Sieg der Ukraine, der vom Westen möglicherweise mit dem Einsatz von Bodentruppen erzwungen werden soll, verfolgt, riskiert den dritten Weltkrieg.

Ich habe Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre zu denjenigen gehört, die davor gewarnt haben, von einer KaltenKriegsmentalität nun im Zeichen der Entspannungspolitik zu einer Idyllisierung der Diktaturen unter sowjetischer Kontrolle in Europa überzugehen. Ich habe die SPD, obwohl selbst dort aktiv , dafür kritisiert, dass sie zur Solidarnosc nichts zu sagen wusste, und zugleich ist es eine historische Wahrheit, dass ohne die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr es nicht zu Erosion der sowjetischen Herrschaft und nicht zum Ende des Kommunismus gekommen wäre. Die SPD hat keinen Grund, in Sack und Asche zu gehen. Der Menschenrechtsbellizismus der NeoCons in den USA, der Nouveaux Philosophes in Frankreich und nun in unausgegorener Kopie bei Baerbock & Co ist ein gefährlicher Irrweg, der zusammen mit dem russischen Neo-Imperialismus und dem chinesischen Supermachtstreben die Welt destabilisiert. Die SPD muss dagegen halten, um den Frieden in Europa zu sichern und ihrer historischen Mission treu zu bleiben.“

Dieses Umbiegen von Fakten erinnert leider stark an jene schrödersche SPD-Moskau-Connection. Hinzu kommt: Es ist nicht die Aufgabe westlicher Politiker, sich die Gedanken Putins zu machen. Und nein, ganz definitiv haben nicht jene eine Schuld auf sich geladen, die auf den Sieg der Ukraine gegen einen brutalen Angriffskrieg setzten und bereits seit dem 24 Februar 2022 dafür plädierten, die Ukraine mit allen nötigen Waffen auszustatten und die Soldaten daran auszubilden. Was nun die Verhandlungen betrifft, die angeblich hätten aufgenommen werden sollen, so bringt der Blogger und Facebookautor U.M. die Fakten im Blick auf das sogenannten Istanbuler Kommuniqué gut auf den Punkt:

„Am 29. März 2022 – keine sechs Wochen nach dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine – hat die Ukraine weitreichende Zugeständnisse angeboten. Nur um Verhandlungen aufzunehmen und einen Waffenstillstand zu erreichen.
Die Ukraine wäre letztendlich bereit gewesen, auf weite Teile ihrer Souveränität zu verzichten.
Dieser Vorschlag wird inzwischen als Istanbuler Kommuniqué bezeichnet.
Er wird so in die Geschichtsbücher eingehen.
Russland hat diesen Vorschlag einen Tag später abgelehnt und sich geweigert, Verhandlungen aufzunehmen.

Das wird ignoriert. Und gerät in der öffentlichen Wahrnehmung durch die ständige Propaganda in Vergessenheit. Die Ukraine hat quasi alles angeboten, was sie überhaupt anbieten kann. Unter der Prämisse, als eigenständiger Staat weiter existieren zu können. Doch genau darum geht es offensichtlich. Es kann doch nicht sein, dass so viele Menschen das nicht mitbekommen haben. Oder einfach ignorieren.

Wer Verhandlungen fordert, soll deutlich sagen, was er bereit wäre Russland anzubieten. Und er täte gut daran, sich die abgelehnten Vorschläge vorher durchzulesen. Denn es gab noch mehr. Aber womöglich müsste er einsehen, dass Russland nicht verhandeln will.“

Wenige Tage nach dem 29. März wurden die russischen Kriegsverbrechen in Butscha bekannt. Damit war jede Grundlage zur Verhandlung zerstört. Der Fehler des Westens ist es nicht gewesen, nicht verhandelt zu haben, sondern viel zu zögerlich Waffen, Material und Munition zu liefern und die europäische Wirtschaft auf eine Kriegswirtschaft umzustellen.

Vor diesem Hintergrund ist das, was Julian Nida-Rümmelin schreibt, eine Verdrehung von Tatsachen. Man kann es auch Manipulation nennen. Und hier geht es eben nicht bloß, wie manche mutmaßen mögen, um unterschiedliche Meinungen. Meinungen lassen genau dann als Aussagen keine Gültigkeit zu, wenn sie an den Fakten vorbeigehen und diese ausblenden. Als Philosoph sollte Nida-Rümelin der Unterschied zwischen „behaupten“ und „gelten“ eigentlich bekannt sein. Ansichten, die nicht mit den Tatsachen übereinstimmen und wo ein Sprecher dennoch seine „Meinung“ aufrecht erhält, sind entweder Falschbehauptungen oder aber rhetorische Tricksereien und Diskursnebel, der in bestimmter Absicht erzeugt wird.

Was übrigens eine Kapitulation der Ukraine für Europa bedeutet, dürfte sehr viel schlimmer sein als all die halbgaren Drohungen Putins – denn wir sollten nicht vergessen: Putin ist KGB-Mann, das Drohen ist sein Prinzip und nichts macht solche Leute stärker als die Angst, die man vor ihnen hat. Was im Falle einer Kapitulation droht, ist eine Flüchtlingswelle von ungeheurem Ausmaß. Bereits jetzt hat Deutschland, hat die EU erhebliche Schwierigkeiten, die Massenmigration aus den arabischen Ländern wie auch aus Afghanistan sowie aus Afrika zu bewältigen. Was das für Länder bedeutet, die nicht, wie Rußland, eine faschistische Diktatur sind, sondern sich durch Wahlen auszeichnen, läßt sich leicht vorhersagen. Zumal dann, wenn auch konservative Parteien nicht mehr glaubhaft vermitteln können, daß sie das Migrationsproblem angehen. Weiterhin dürfte sich mit einer Kapitulation keinesweg ein „Frieden“ einstellen, sondern zum einen wird der Widerstand gegen russische Besatzung wachsen, es wird einen Guerillakrieg gegen Rußland geben und es steht zu vermuten, daß Putin, wenn man seine weitschweifigen „historischen Exkurse“ zur Geschichte Rußlands nimmt, als nächstes anderer Regionen wie das Baltikum und Teile von Finnland heim ins Reich holen wird, von Georgien und Moldawien ganz zu schweigen. Putins Rede vom Handelsraum, der von Wladiwostok bis Lissabon reicht, ist ganz wörtlich zu nehmen. Nämlich als neue Einflußsphäre einer faschistischen Diktatur. Und in welcher Weise Putin Gründe inszeniert, haben wir nach dem Anschlag in Moskau gesehen und vor allem nach dem 24. Februar.

An Nida-Rümelins Kommentar ist aber noch ein zweiter Aspekt interessant, gerade im Blick auf die sogenannte Friedenspolitik der SPD: Die Sowjetunion und damit auch der Ostblock sind nicht primär zusammengebrochen, weil Willy Brandt und Egon Bahr jene Entspannungspolitik fuhren, sondern weil die NATO Ende der 1970er Jahre gegen die sowjetische Aufrüstung mit SS 20-Raketen einen Rüstungsbeschluß umsetzte und weil Ronald Reagan ein massives Rüstungsprogramm fuhr und auf scharfen Konfrontationskurs ging, der die UdSSR in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten brachte. Ginge es nach der Entspannungspolitik der SPD – zumindest was die Existenz der DDR betrifft, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ist bis heute hin für Europa ein wichtiger Schritt gewesen -, so existierte in den Kopfgeburten mancher Politiker die DDR vermutlich noch heute. Nein, es war nicht die Entspannungspolitik, die die Sowjetunion zu Fall brachte, sondern einerseits die Mangelwirtschaft und daß in der UdSSR ein Politiker wie Gorbatschow auf den Plan trat und dem Elend ein Ende bereitet. Und es war, mit dem Aufstieg Gorbatschows verbunden, der Protest von großen Teilen der DDR-Bevölkerung gegen das Honecker-Regime. Der Ostblock war wirtschaftlich am Ende und das wäre er auch ohne Brandt und Bahr gewesen. Ich halte diese Geschichte der Entspannungspolitik für einen Mythos, mit dem die SPD seit Jahrzehnten lebt und den sie immer wieder reinszeniert und der dafür herhalten muß, wenn Teile der SPD auf Pazifismus machen. Dieses Wiederkäuen ist fast so schlimm wie das Absingen von „Das weiche Wasser bricht den Stein“ auf SPD-Parteitagen. Helmut Schmidt immerhin gehörte zu jenen, die unbeirrbar am Nachrüstungsdoppelbeschluß festhielten – auch gegen weite Teile seiner eigenen Partei und der damaligen Friedensbewegung, bei der auch ich mitdemonstrierte. (Der Irrtum bei jungen Menschen ist nochmal etwas anderes als solcher bei Erwachsenen: letzteren kann man verzeihen, denn es ist das Privileg der Jugend, eine neue und bessere Welt zu träumen. Die schwierige Aufgabe der Alten ist es, dies irgendwie einzuordnen und darauf angemessen zu reagieren. Aber das ist wiederum eine andere Geschichte)

Für die Ukraine, so läßt sich als Fazit für die Ostermärsche festhalten, kann das nur bedeuten, sie mit allen möglichen Mitteln weiterhin militärisch zu untestützen. Und zwar vor allem mit solchen, die es erlauben, die russischen Nachschublinien empfindlich zu treffen. Die Unterzahl der Truppen kann nur durch die Qualität der Waffen und durch die Güte der Truppen ausgeglichen werden. Peace kann man nur eine chance geben, wenn es Waffen gibt, die diesen Frieden erst einmal herstellen und dann vor allem sichern. Krieg ist schrecklich und bringt entsetzliches Leid unter die Menschen. Doch Pazifismus wird sinnlos, wenn er das Recht des Stärkeren bedeutet.

Photographie: Wikipedia, CCC-Lizenz

58 Gedanken zu „Ostermarsch und „Friedensfreunde“ und was das leider auch mit Teilen der SPD zu tun hat

  1. @“All das war bei keinem der Friedensmärsche irgendwie Thema und es waren auch keine Plakte zu sehen sein, die die Freilassung der entführten ukrainischen Kinder und der entführten ukrainischen Zivilisten forderten. “ —- Doch, war es. Jedenfalls wurden in der Tagesschau Transparente entsprechenden Inhalts gezeigt.

  2. Leider eine Minderheit und nicht in Berlin. Dort demonstrierten aber immerhin jene, die sich mit der Ukraine solidarisch erklärten, vor der russischen Botschaft. Die sogenannte Friedensbewegung war daran nicht beteiligt. Wohlweislich nicht.

    Die, höflich gesprochen, Naivität dieser Leute zeigt sich etwa hier im NDR-Beitrag über den Ostermarsch in Hamburg. Immerhin gab es aber auch dort eine Gegendemo. Nur würde ich diese Leute eben nicht als Friedensbewegung bezeichnen.

    https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/hamburg_journal/Hamburger-Ostermarsch-Kritik-am-Regierungskurs,hamj145650.html

  3. Ich selbst bin auf keinem Ostermarsch gewesen, und die Fernsehnachrichten zeigten Bilder rund um die Republik, zum Beispiel aus Frankfurt, München und Paderborn. Da gab es sowohl das Eine als auch das Andere. Und es kamen PassantInnen zu Wort, die sich teils putinfreundlich äußerten, teils äquidistant und teilweise auch dezidiert die Opfer von Butcha und die Verbrechen der Hamas ansprachen.

  4. Im echten Leben bekommt die Bundesmarine demnächst zwei Flugzeugträger namens Friedrichshafen und Konstanz und ein auf diesen stationiertes Marinefliegergeschwader „Graf Zeppelin.“

  5. Ich habe diese Bilder leider nirgends gesehen – außer eben bei jenen, die vor der russischen Botschaft für die Ukraine demonstrierten. Diese Leute würde ich aber nicht zur Friedensbewegung rechnen. Was ich ansonsten auf diesen Demos auf den Photographien sah, waren die üblichen DKPler, eben die Spinnerlinke, die nicht bemerkte, daß Putin keineswegs Kommunist ist, dazu Querfrontler und naive Pazifisten, denen ich ihre gute Gesinnung nicht absprechen will. Nur eben besiegt man mit einer guten Gesinnung leider keinen Diktator, der gerade dabei ist, ein anderes Land anzugreifen und zu annektieren.

    Aber vielleicht kannst Du solche Bilder uns Szenen hier verlinken. In der rbb-Abendschau und auch beim NDR im Blick auf Hamburg sah ich nichts dergleichen, sondern genau dieselben Leute, wie ich es bereis 2022 vorfand, als ich da beobachtend und photographierend mitging.

  6. Die im Fernsehen gezeigten Bilder mögen nur einen Auschnitt abbilden, aber nach meinen Erfahrungen spiegeln sie in der Regel gut die auf einer Demo herrschende Stimmung wider, die sich eben durch Transparente und Slogans äußert. Und wenn ein Aggressor ein anderes Land überfällt und dort ein Blutbad anrichtet, dann reicht es nicht aus, auf einer Demo mit einem Transparent voranzugehen, auf dem eine Friedenstaube und/oder ein Peace-Zeichen ist, ohne hier den Aggressor ganz klar zu benennen. Höflich kann man sowas noch als Äquidistanz bezeichnen. Ich lese das aber als eine implizite Parteinahme für Putin oder einfach als Feigheit, die Dinge klar zu benennen. Von den Anti-NATO-Schildern mal ganz zu schweigen: als ob die NATO die Ukraine überfallen hätte und ständig damit droht, Atomwaffen einzusetzen.

  7. Bei diesem Aufruf etwa zum größten Ostermarsch in Deutschland, nämlich in Berlin, findet sich kein Wort dazu, daß Rußland sich umgehend aus der Ukraine zurückzuziehen hat. Sondern ganz im Gegenteil wird hier einfach die Schuld umgedreht:

    https://www.friedenskooperative.de/ostermarsch-2024/aufrufe/berlin

    Beim bundesweiten Netzwerk Friedensinitiative wird immerhin noch von einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Rußlands gesprochen, aber eben auch nicht davon, daß ein solcher Krieg nur zu Ende ist, wenn sich ein Aggressor zurückzieht. War man früher noch mit Parolen wie „USA raus aus Vietnam!“ oder „USA raus aus dem Irak!“ sehr großzügig, so finde ich diese Parole „Rußland raus aus der Ukraine!“ dort leider nicht. Die Forderung nach einer „Beendigung der Kampfhandlungen“ ist sicherlich nett gemeint. (Wobei ich auch hier einen Unterschied zwischen einem Verteidiger und einem Aggressor machen würde.) Wie man solche Beendigung zudem bei jemandem durchsetzen soll, der ganz einfach nicht verhandeln, sondern ein Land zur Kapitulation zwingen will, ist mir nicht ganz ersichtlich. Und ich denke, den Veranstaltern auch nicht.

  8. Verlinken kann ich überhaupt nichts. Ich kann nur schildern, was ich Samstags und Sonntags in den analogen Fernsehnachrichten gesehen habe. Da war ein Bild, das zeigte drei Transpis offensichtlich derselben Gruppe mit den Forderungen Rückzug Russlands aus der Ukraine, Waffenstillstand in Palästina und Freilassung der israelischen Hamas-Geiseln. Dann waren da zwei Transparente, von denen eines sich gegen Völkermord aussprach „Ob Juden, Palästinenser oder Rohinja“ und ein anderes sofortigen Frieden und Einstellung der Kampfhandlungen in Ukraine, Palästina, Syrien und dem Roten Meer forderte. In einer Stadt, ich weiß aber nicht mal wo, hatte es zwei Ostermärsche gegeben, einer vom Pro DKP Lager und einer von Leuten die Pro Ukraine waren.

    @“Nur würde ich diese Leute eben nicht als Friedensbewegung bezeichnen.“ —- Schwierig. Die Friedensbewegung umfasst ja nicht nur das DKP-Querdenker- und unpolitische Bauchpeacenik-Spektrum. Dazu gehören auch die christlich orientierten Gruppen, so Pax Christi und Aktion Sühnezeichen, das teilweise mit diesen verbundene GEPA-BUKO-Robin-Wood-Spektrum, Altpazifisten in den Grünen, die nicht auf Baerbock-Kurs sind und zum Teil noch Aufkleber „Keine deutschen Truppen im Ausland. Keine fremden Truppen in Deutschland“ mit sich führen. Und schließlich die stalinistische MLPD mit sehr expliziten Positionen: Rückzug Russlands aus der Ukraine und der Krim, Rückzug der NATO aus Osteuropa, Rückgängigmachung der NATO-Mitgliedschaften früherer Ostblockstaaten

  9. Na ja, ich habe von diesen Bildern nichts gesehen. Was Du da schilderst, ist eine Ausnahme. Das Gros der Leute trägt entweder irgendwelche pauschalen Slogans und Friedenstauben mit sich herum – ein Logo, das angesichts der Brutalität der russischen Soldateska wie eine Verhöhnung der Opfer wirkt – oder es sind explizit gegen die NATO und gegen Rüstung im Westen gerichtete Plakate – was angesichts des Einmarsches der Russen in der Ukraine letztlich nicht nur absurd, sondern nachhaltig dumm ist. „Rußland raus aus der Ukraine“-Plakate sind mir nicht aufgefallen. Bei der Sichtung etwa der Photos aus Berlin ist von all dem nichts zu bemerken. Und ich vermute, wenn ich mir diese Bilder und die Berichte dazu in den verschiedenen Medien ansehe, daß es genau so wieder war, wie bereits 2022. Ich schrieb darüber:

    “Nur würde ich diese Leute eben nicht als Friedensbewegung bezeichnen.“: Damit meinte ich jene Demonstranten, die vor der russischen Botschaft demonstriert haben. Sie sind für den Frieden, aber nicht zu den Bedingungen, wie es die sogenannten „Friedens“bewegung sich vorstellt. Die klassische Friedensbewegung der 1980er Jahre ist lange nicht mehr existent. Allein schon deshalb, weil ihre Forderungen widersinnig geworden sind und die Welt inzwischen eine völlig andere ist.

  10. Deiner grundsätzlichen Bewertung dieser aktuellen Ostermarschbewegung stimme ich ja durchaus zu, nur ein Teil der gezeigten Fernsehbilder sprach eine etwas andere Sprache. Unter den interviewten Personen überwogen die Naivlinge.

  11. Ja, es war eine krude Mischung aus Naivlingen, alten Menschen, die irgendwie aussahen, wie die letzten Übriggebliebenen der 1980er Jahre, dazu die üblichen DKPler und eine neue Querfront. In Berlin überwogen letztere. Was die rbb-Abendschau zeigte, war ziemlich traurig. Und auch die Tagesschau-Bilder vom Wochennde boten ähnliches. Plakate, die „Rußland raus aus der Ukraine!“ forderten – die einzige legitime Forderung, wenn es um Frieden gehen soll -, sah ich nicht. Und da eben liegt der Fehler dieser Leute: entweder es ist eine traurige Äquidistanz oder einfach nur krude und entsetzliche Parteinahme für Rußland.

  12. Zusammenfassung: Da Menschen grundsätzlich für Frieden sind, machen Friedensdemonstrationen nur dann Sinn, wenn sie sich gegen die wenden, die den Frieden brechen.

  13. Menschen sind nicht grundsätzlich für den Frieden – der Kausalsatz ist falsch. Allerdings sind Friedensdemos dann ein Unsinn, wenn sie ihre Botschaft nicht an den Aggressor richten. Entweder sind diese Leute also Zyniker oder aber schlichtweg dumm. Dummheiten bedeutet: die Unfähigkeit angemessene Urteile zu fällen. Ansonsten aber völlig richtig: Friedensdemos, die sich nicht gegen den Angreifer und Aggressor richten, sind in der Tat sinnlos. Und vor allem sind sie zynisch.

  14. Interessant wäre es allerdings, die Leute, die Ostern demonstriert haben, nach ihren Motiven zu befragen und wie man eigentlich dazu kommt, abstrakt „Frieden“ zu rufen, ohne dabei denjenigen zu benenne, der diesen Frieden gebrochen und ein anderes Land völkerrechtswidrig überfallen hat, um Putin gleichsam als Leerstelle zu belassen. 

  15. In Hannover wurde die Parole „Russische Armee raus aus der Ukraine, israelische Armee raus aus Gaza, türkische Armee raus aus Kurdistan!“ gerufen, aber von Punks aus der Nordstadt, nicht von den üblichen Friedensbewegten.

  16. Interessant wäre es auf alle Fälle, die Verschiebungen zu untersuchen, wie es im Blick auf die doch eher klassisch linke Friedensbewegung der 1980er Jahre (freilich mit sehr unterschiedlichen Akteuren verschiedenster politischer Couleur: vom Sponti und Anarcho bis hin zu linken Christen) hin dann zu den Montagsmahnwachen von 2014 und zu einem solchen Wandel kam, darin seit der russischen Annexion der Krim und des russischen Eonflusses auf die Maidan-Proteste eine neue und politisch seltsame Querfront entstand und eine Melange aus Esoterik, neuer Rechten, DKPler und Übriggebliebenen sich ergab. In gewissem Sinne und auf der historischen Bühne korrespondiert dies ja auch mit der Figur eines Putin: einerseits das KGB-Geschöpf eines alten Sowjetkommunismus und zugleich mit autoritär-totalitären Strukturen und mit einem neuen Großrußland und Kirche behaftet. Dazu ein simples duales Schema. Und von keinem dieser neuen Querfrontler von 2014 kam auch nur ein böses Wort zu Rußland über die Lippen. Schon damals nicht. Es waren teils Leute, die irgendwie in der alten Zeit stehengeblieben waren, darin die USA der Hauptgegner war.

  17. Natürlich sind Menschen g r u n d s ä t z l i c h für Frieden. Es gibt niemanden, der Krieg als Dauerzustand für das menschliche Zusammenleben fordert.

  18. Das Problem bei All-Sätzen ist, daß sie genau dann hinfällig werden, wenn sich ein Exemplar Mensch findet, das nicht für den Frieden ist. Dieses haben wir z.B. mit Putin und seinen Schergen gefunden. Hinterher dann, wenn man einen Satz geäußert hat, immer weitere einschränkende Bedingungen hinzuzufügen („Es gibt niemanden, der Krieg als Dauerzustand für das menschliche Zusammenleben fordert“), ist zudem nicht wirklich zielführend. Also sind anscheinend doch nicht alle Menschen grundsätzlich für Frieden, sondern nur unter bestimmten Umstanden: nämlich wenn Krieg kein Dauerzustand ist. Insofern mein Tip: Einfach solche Sätze nicht mit derartiger Allgemeinheit postulieren, sondern schreiben „einge Menschen“ oder „manche Menschen“. Dann schafft man sich vermeidbare Probleme vom Hals und macht ein Argument weniger angreifbar.

  19. Es handelt sich nicht um einen Allsatz, sondern um einen Satz, der das Wort grundsätzlich enthält, also Abweichungen nicht ausschließt.

  20. Das Wort „grundsätzlich“ ist natürlich in dem Kontext, in dem Du es formulierstest, ein Allsatz: „Da Menschen grundsätzlich für Frieden sind, …“

    Nein. Sind sie grundsätzlich nicht. Sieht man an Putin. Grundsätzlich stimmt also nicht. Was ist daran nicht zu verstehen? Ginge es um Abweichungen, so hättes Du „einige“ oder „manche“ schreiben müssen.

  21. Ich weiß auch nicht, was solche Kausalsätze bedeuten sollen. Was ist der Sinn dahinter? Und was soll das Wort „Zusammenfassung“? Was soll da zusammengefaßt werden? Du hast vorher hier nichts geschrieben, insofern ist „Zusammenfassung“ sinnlos. Und mit dem, was ich schrieb, hat es leider nichts zu tun. Also ist „Zusammenfassung“ in diesem Kontext ebenfalls sinnlos bzw. falsch.

  22. Übrigens wäre schon der Satz „Menschen sind für den Frieden“ ein All-Satz. So wie auch der Satz „Schwäne sind weiß“ (synthetischer Satz a posteriori), „Kreise sind rund“ (analytisches Urteil a priori) „Junggesellens sind unverheiratete Männer“ (ebenfalls analytisch). Bei synthetischen Sätzen a posteriori besteht das Problem, daß sie eben durch jene Erfahrungen widerlegt werden können – wie bei den weißen Schwänen. Insofern muß man bei solchen All-Sätzen vorsichtig sein – gerade dann wenn es um Eigenschaften oder Zuschreibungen geht. Und um eben diesen Allsatz nicht zu überspannen, gibt es gerade für diese snynthetischen Urteile einschränkende Bedinungen („oftmals“, „manchmal“, „viele“ oder „in der Regel“ z.B. – was etwas anderes meint als „grundsätzlich“. „In der Regel“ läßt Ausnahmen zu.) Ich schreibe das deshalb, weil apodiktische Aussagen mehr Probleme nach sich ziehen als daß sie Nutzen stiften.

  23. Man konfrontiere mal Alexander den Großen, Dschingis Khan, Napoleon oder Hitler mit dem Satz „Grundsätzlich sind alle Menschen für Frieden“.

  24. Marc Reicher meint, schon die Friedensbewegung der 80er Jahre sei wesentlich von der Stasi gesteuert gewesen (und kündigt mehr Information dazu an, interessantes Video).

  25. @El Mocho: Ja und nein. Der Krefelder Appell ist in der Tat eine Sache, die starkt von der DDR unterstützt wurde, soweit ich mich erinnere. Der Stasi und der DDR ging es vor allem darum, jenen antiamerikanische Haltung zu fördern: also Plakate gegen Perhing II, aber nicht gegen SS 20. Und oftmals gelang das auch, eine explizit antiamerikanische Stimmung zu erzeugen und die russische Aufrüstung, auf die der NATO-Doppelbeschluß ja eine Reaktion nur war, zu verschweigen. (DPK und SDAJ und alles, was sich in diesem Umfeld tummelte, wie die U.Z., waren hier federführend.) All das waren aber Sachen, die manchen Menschen aber schon damals suspekt waren (so auch mir) und die darauf bestanden, auch die SS 20-Rakteten mitzunennen. Leute wie Wolf Biermann ließen sich darauf nicht ein und auch jene Leute nicht, die mit der DDR-Friedensbewegung verbunden waren. Immer mal wieder gab es auch das „Schwerter zu Pflugscharen“-Logo zu sehen. Die Friedensbewegung, wenn man denn solch ein Kollektivsingular benutzen will, war ein ziemlich heterogener Haufen. Und es waren auch Leute dabei, die keineswegs nur auf „Frieden“ setzten, sondern wie Autonome und radikale Linke der Gewalt nicht völlig ablehnend gegenüberstanden, wenn es etwa im revolutionäre Erhebungen in der Dritten Welt und in Diktaturen ging.

    Ich selber habe in dieser Zeit immer wieder auch genügend Plakate wahrgenommen, die sowohl gegen Pershing, wie gegen sowjetische Raketen waren.

  26. Ich fand diesen Song Bots-Song „Das weiche Wasser“ damals schon schlimm und vor allem entsetzlich kitschig. Sowas beförderte genau diese Stimmung, daß da böse Westrakten sind und die im Bereich der sowjetischen Machthaber im Osten fielen irgendwie unter den Tisch. Was dann am Ende auch nicht weiter verwunderlich war. Denn den Songtext schrieb der Stasi-Spitzel Diether Dehm, der heute im Namen Putins in Deutschland unterwegs ist.

  27. Eine unsere Parolen lautete damals „Schwerter zu Zapfhähnen“, womit wir uns sowohl vom DKP-nahen Spektrum als auch den „Frömmlern“, wie wir das ganze politisch korrekte moralinsaure Spektrum nannten abgrenzten.

    Auch: „Lieber fünf Schwellkörper als ein Marschflugkörper“.

    Die Antiimps skandierten: „NATO zerschlagen, Yankees verjagen, Volksaufstand wagen“ und „Aufruhr, Widerstand, es gibt kein ruhiges Hinterland“.

  28. Na ja, El Mocho, es war das damals schon eine sehr heterogene Szene und es liefen da eben auch Autonome und Antiimps und Spontis mit. Sicherlich auch Leute, die ansonsten mit Frieden eher wenig am Hut hatte. Die riefen dann irgendwas von einem Zwieback und einem Ponton und daß der nächste ein Geier wäre. Seltsame Leute.

  29. Sehr geehrter Herr Bersarin !

    Ich melde mich noch einmal in der Hoffnung, Missverständnisse ausräumen zu können. Hätte mein Einsatzstatement Ihrem sorgfältig ausgearbeiten Text gegolten, wäre er anmaßend gewesen. Er galt aber der anschließenden Diskussion über die Frage, wer welche Plakate hochgehalten hat. Im übrigen haben Sie recht, daß Begriffe, die Allsätze einschränken wie „grundsätzlich“, „an sich“, „im allgemeinen“ selbst einen totalitären Klang haben. Ich glaube auch, daß wir uns einig sind, daß, befragte man Putin, auch er für Frieden wäre, nur leider zum Krieg gezwungen wurde durch faschistische Bedrohung usw usw. Als letztes gestehe ich ein, daß ich im Laufe eines langen Lebens eine zunehmende Neigung zu abstrahierender Reduktion in meinen eigenen Texten entwickelt habe, die mich immer wieder zu verkürzten Kommentaren verführen. In der Hoffnung Ihren berechtigten Unmut besänftigt zu haben verbleibe ich als einer Ihrer Leser ,der froh ist, daß es in Zeiten sich wieder eintrübender Aufklärung Ihre Artikel gibt.

  30. Haben Sie vielen Dank für Ihre Erläuterung. Ich bin nur eben in der Tat über diese doch sehr kurze, eliptische und damit auch apodiktische Formulierung, die mir in dieser Form dann doch problematisch schien, gestolpert.

  31. Zu den Parolen der Friedens- und gar nicht friedfertigen linken Antikriegs-Bewegung damals: Etwas, was die Situation damals von heute sehr grundlegend unterscheidet ist die Tatsache, dass man es damals mit einer in kurzer Zeit anwachsenden Multi-Focus-Bewegung zu tun hatte. 300 000 auf der Bonner Hofgarten Demo, 500 000 in verschiedenen Städten im Raketen-Herbst 1983, Anti-AKW-Umweltschutz-Häuserkampf- und Internationale-Solidaritäts (Südafrika, Nicaragua, gegen die Generäle in der Türkei) Demos, das alles in einer Wachstumsphase. Außerdem streikende Gewerschaften für die 35-Stunden Woche und auf der Gegenseite Johls geistig-moralische Wende. Mancher dachte da an das Entstehen einer neuen außerparlametarischen Opposition, weit stärker als die APO, und in the flash of the moment schien eine neue gesamtgesellschaftliche Reformbewegung aus einer Eskalation der Auseinandersetzungen heraus möglich.

    Das erklärt den Pathos und die Inbrunst mancher Parolen, auf die wir heute nur noch eine historische Sicht haben.

  32. Ja, das ist völlig richtig, man muß diese Friedensbewegung in einem gesellschaftlichen Kontext sehen – eben und vor allem im Anschluß an die anderen sozialen Bewegungen der 1980er Jahre. Und mit diesen einher ging ein neues ökologisches Bewußtsein, dazu eine neue Partei wie die Grünen, die in den Parlamenten von Bund und Ländern plötzlich vertreten waren, Arbeitskämpfe, vor allem auch im Ruhrgebiet, als dort der Abbau der Montanindustrie seinen Höhepunkt erreichte und damit eben die Deinstustrialisierung ganzer Landstriche, der Protest gegen die Volkszählung und gegen Kohl sowie die von Dir genannten Solidaritätsbewegungen mit Ländern wie El Salvadore und Nicaragua. (Daß dort eben auch viel Schmus und Träumerei dabei war, steht nochmal auf einem anderen Blatt.) Aber auch die Bedeutung von Punk, der No-Future-Slogan und damit das Absetzen von der 1968er-Hippie-Bewegung wie auch neue Formen von linker (Protest)Kunst, die damals noch witzig und innovativ war, wenn man etwa an Martin Kippenberger denkt, sind Punkte, die hier zentral waren und den Geist dieser seltsam bewegten und zugleich stagnierenden Zeit prägten. Einerseits diese letzten Hoffnungen und zugleich bei vielen die Gewißheit, daß es kein anderes System geben wird und daß das womöglich auch gut ist, wenn man dann daran dachte, was Revolutionen in Vietnam und dem Iran hervorgebracht hatten. Vielfach war es ein (wunderbarer) Tanz auf dem Vulkan und damit auch das Ausbilden eines (linken) Hedonismus: Du kannst vieles nicht ändern, dann nutze wenigstens das System zu Deinen Vorteilen. Gutes Leben ist nichts Verbotenes! Der Geist der damaligen Zeitschrift „Titanic“ spiegelte das teils gut wider. Man lachte über das übriggebliebene Muff-Milieu der 1970er K-Gruppen wie auch über rigorose Ökos, den Müslimann, dogmatische Fundamentallinke, die Kirchenlinke. Und doch fanden sich all diese unterschiedlichen Fraktionen bei den großen Demos wieder zusammen.

    Die neue gesamtgesellschaftliche Reformbewegung – Du und in anderer Weise auch ich, waren Kinder dieser Zeit, es war unsere Jugend und unser junges Erwachsensein – trat teils durch eine neue autonome Szene, Umweltschützern, Hausbesetzer, Punks, düstere Waver sowie eine Szene von ironischen Hedonisten, aber auch Öko-Hippies zutage, und vor allem sind hier die Grünen als eine Möglichkeit, diese Wege mit parlamentarischen Mitteln auch zu beschreiten, zu nennen. Darin sahen viele eine Chance, gesellschaftlichen Wandel auf einem demokratischen Wege zustande zu bringen.

    Und wenn wir uns die Gesellschaft der 1980er Jahre und die der 2000er ansehen – das Internet hat hier sicherlich eine gewaltige Rolle beim gesellschaftlichen Wandel gespielt – dürften die Veränderungen drastisch ins Auge springen. Und es zeigte sich auch, daß eine gewisse Verspießung der BRD vielleicht gar nicht so schlecht war, weil sie uns in den 1980er Jahren einen Resonanzraum gab. Die Verhältnisse waren im Grunde übersichtlich. Es war einfach sich am hoch nicht ganz so dicken Kohl und an Zimmermann abzuarbeiten. Es gab keine identitäre Linke und keine Woko Haram in einem derartigen Ausmaß. Sie waren zwar da, aber all das blieb intern und in innerlinken Debatten, von denen che ja immer wieder berichtete. Das wurde unter sich ausgemacht. Heute ist das Internet und der Geltungsdrang von Kinderjournalisten oder solchen, die es werden wollen und dafür gerne anbräunen und irgendwelche Säue durch Dorf jagen, leider ein entsetzlicher Verstärker geworden. Und das vermeintlich Gute hat zudem einen Umschlag in Tugendterror erfahren. Oder man kann es auch so sagen: Je weniger Übel es gibt, desto mehr werden, im Sinne des Tocqueville-Paradoxons, die Restübel entdeckt und noch die Frage „Von wo kommst Du denn her!“ kann bereits Ausweis für tiefsten strukturellen Rassismus sein – zumal man mit solchen steilen Thesen dann auch gleich sein neues Buch oder einen Workshop verkaufen kann. Dagegen war die Sowsche Mohrenlampe in Fulda fast noch ein harmloser Klassiker – wenngleich auch dieser bereits Wellen wirbelte. Mir persönlich waren da die 1980er Jahre deutlich lieber.

  33. PS: Ich müßte mal meine s/w-Photographien heraussuchen und schauen, ob ich hier mal ein paar Bilder dieser 1980er Jahre einstelle. Gott wie sahen damals die Polizeizüge noch aus. In diesen grünen Uniformen, keine einzige Frau dabei, die meisten Männer Oberlippenbärte. Aus den dunkelgrünenEinsatzfahrzeugen wurden hellgrüne, aber noch ohne das Weiß dabei – zumindest in Hamburg. Und mitten dabei noch die harten Junges vom BGS.

  34. Eine der stärksten Szenen über die Streiks der Arbeiter in Duisburg und die Besetzung der Ruhr- und Rheinbrücken findet sich in einem der frühen Schimanski-Tatorte – ich glaube „Duisburg-Ruhrort“ war das.

    In der Tat: je älter man wird, desto mehr bemerke ich, wie prägend diese 1980er Jahre waren. Und daß es trotz vielem Unbill, wirtschaftlichem Abschwung und mancher Krise doch eine schöne Zeit war. Aber das sah ich damals schon so. Ich hatte eigentlich nie Angst vor Le Waldsterben und vor Le Atomschlag. Das war für mich eher Le-deutsche-Angst. Wie weit diese Dinge auch bis heute hinein wirken, wäre dann einen anderen Beitrag wert. Denn von dieser Szenerie gibt es leider auch eine direkte Linie zu den Montagsmahnwachen von 2014 und der dort auftretenden kruden Melange einer alten Friedensbewegung mit Esoerikern, DKPlern, Verschwörungsspinnern und Querfrontlern, die bestimmte Teile der Linken und der antiamerikanischen Rechten zu verbinden trachteten. Ich habe mir das einmal am Potsdamer Platz angesehen und was ich da sah, war erschreckend. Thema für sich.

  35. Ich war in dieser Zeit dann noch auf Orientreisen und habe die zornigen jungen Männer Arabiens kennengelernt, die damals weder Islamisten sondern Antisemiten waren, sondern so eine Mischung aus Nasseristen und prowestlichen Reformwilligen. Die waren nicht grundsätzlich antiisraelisch sondern für Shimon Perez, aber sich im Klaren darüber, dass es im Rahmen ihres legalen Systems nicht gehen würde und sangen laut mit, wenn „Talking about a revolution“, die Vor-Tracy-Chapman-Version aus den frühen Achtzigern, im Radio gespielt wurde.

  36. Als die Machtblöcke noch existierten, die Schwäche des Ostens sich aber allmählich zeigte verfolgten Einige von uns, ich selbst auch, das von Rudi Dutschke initiierte Projekt eines gesamtdeutschen Neutralismus. Die Vorstellung, das Beste aus beiden Welten zusammenzubringen und darau einen Dritten Weg aufzubauen, entsprechend Thematisierung der Deutschen Frage von links her. Das brachte uns sehr viel Ärger ein, weniger von autonomer oder antiimperialistischer Seite als vielmehr vor allem von den späteren Antideutschen, damals noch KB, Z-Fraktion und MG.

  37. Ja, in den Schwellenländern mochte die Perspektive noch eine andere sein – vor allem, weil es dort selten nur demokratisch gewählten Regierungen gab und teils korrupte und vom Westen oder vom Osten alimentierte Regierungen sich brual an der Macht zu halten versuchten.
    Der gesamtdeutsche Neutralismus mochte damals eine Option sein – wenn auch eine falsche. Am Ende hatte Helmut Kohl recht, indem er Deutschland an Europa band. Und es wäre auch kein anderer Weg möglich, da ansonsten Frankreich und GB nicht mitgespielt hätten. Thatcher war eh gegen die Einheit.

  38. Na ja, hier muss mal der zeithistorische Kontext betrachtet werden. Die gesamtdeutschen Neutralisten im linken Flügel der Friedensbewegung gingen, sehr geschichtsbewusst und staats- und völkerrechtlich konsequent, davon aus, dass die deutsche Souveränität und die Wiedervereinigung durch einen Friedensvertrag mit den Siegermächten und eine noch zu erarbeitende gesamtdeutsche Verfassung (für die es dann nach 1989 sogar eine verfassungsgebende Kommission geben sollte) zustande kommen sollten. Dass einfach die normative Kraft des Faktischen in Form einer Übernahme der DDR durch die BRD zur Anwendung kommen sollte, eine solche Möglichkeit hatte damals niemand auf dem Schirm.

  39. „Damals“ heißt jetzt nicht nach 1989, sondern zur Zeit der Anti-Atomraketen-Friedensbewegung 1980-83 und der Störmanöver-Antikriegsbewegung 1984-86.

  40. Nur scheint mir diese Sicht, selbst zeithistorisch genommen aus den frühen 1980er Jahren, doch sehr an den politischen Realitäten vorbeizugehen. Kein Land in Europa hätte einem neutralen, nicht eingebundenen Deutschland zugestimmt. Nicht nach dem, was sich im 20. Jahrhundert zutrug. Die Westbindung war zudem conditio sine qua non der beiden großen Volksparteien CDU und SPD und auch der FDP. Es hätte eine solche Entscheidung hin zur Neutralität und Blockfreiheit, selbst auf demokratischer Ebene, niemals stattgefunden, weil es keine politische Mehrheit dafür gab, und die meisten Menschen in der BRD waren sehr froh, daß die USA als Schutzmacht wirkte. (Man frage mal Westberliner.) Weder inländisch noch außenpolitisch wäre ein solches Szenario realpolitisch durchführbar gewesen. Dazu hätte es einer grundsätzlichen Veränderung des politischen Gefüges der BRD und auch der DDR bedurft.

    Hinzu kommt – im Blick auf die „Herstellung der Einheit Deutschlands“ – die von Kohl genutzte Gunst des historischen Augenblicks: bereits Monate später hätte die Lage in Moskau eine völlig andere sein können. Es mußte also schnell gehen, es mußten Nägel mit Köpfen gemacht werden. Zum Glück war die damalige Sowjetunion wirtschaftlich derart am Ende, daß bereits die Aussicht auf hohe Geldzahlungen Wunder wirkte. Und auf diese Weise wurde dann auch das NATO-Problem gelöst.

    Daß in der Wiedervereinigung vieles falsch gelaufen ist, gerade wirtschaftspolitisch, steht dabei außer Frage, und es wäre vielleicht auch richtig und sinnvoll gewesen, im Sinne des Grundgesetzes § 146 eine neue und erweiterte Verfassung, also ein altes, neues Grundgesetz zu verabschieden. Auch von der Wirkung auf die Ostdeutschen her, daß diese eben keine Beitrittskandidaten zum Grundgesetz sind – andererseits konnten sie sich mit diesem Akt dann eben an den neuen Umgang mit ihnen gewöhnen, so könnte man es zynisch formulieren. Wobei mir nicht ganz klar ist, ob den Ostdeutschen wirklich der Sinn nach einer neuen Verfassung stand oder nicht vielmehr nach der schnellstmöglichen Auflösung der DDR: „Kommt die DM bleiben wir, kommt sie nicht geh’n wir zu ihr!“ Gesamtpolitisch wäre aber, auch im Blick auf Kommendes, eine neue Verfassung sicherlich besser gewesen. Zumal neu eben nicht heißen muß, alles über Bord zu werfen. Frei nach dem guten alten Bibelwort in 1. Thessalonicher 5,21: „Prüft aber alles und das Gute behaltet!“

  41. Nicht umsonst wurde der letzte DDR-Ministerpräsident von uns Lothar DM genannt.

    Die Leute, die „Kommt die DM bleiben wir, kommt sie nicht geh’n wir zu ihr!“skandierten waren für uns Pöbel und Pack.

    Als Systemgegner der Bundesrepublik Deutschland und dennoch Demokrat, Befürworter eines wahrhaft demokratischen Sozialismus konnte ich mit der Wiedervereinigung wie sie gelaufen ist nicht einverstanden sein. Und gehörte zu den ganz wenigen westdeutschen Linken, für die vor der Krise der DDR eine deutsche Frage überhaupt bestand oder eine Wiedervereinigung eine Option war. Klaus Leggewie meinte noch 1988 zu mir: „Es gibt keine deutsche Frage. Die einzige deutsche Frage ist die soziale Frage.“

  42. „Die Leute, die „Kommt die DM bleiben wir, kommt sie nicht geh’n wir zu ihr!“skandierten waren für uns Pöbel und Pack.“

    Ja, das hat eben leider auch etwas mit westlicher Arroganz zu tun. Und das Gros der Westlinken hat zur DDR, den Lebensbedingungen dort und warum die Leute aus diesem Land schleunigst fort wollten, wenig zu sagen gehabt oder sie haben diese Diktatur ganz einfach beschwiegen. Auch hier bereits liegt für mich einer der Gründe, warum ich mich nicht als Linken bezeichne.

    Von einer linken Position aus kann man eigentlich nur sagen: Materiell haben die meisten Arbeiter in der BRD alles gehabt. Und genau diesen Wohlstand wollten auch die Menschen in der DDR.

    Richtig ist sicherlich, wie Du es beschreibst, auf die Wiedervereinigung auch als Linker zu beharren. Leute wie Klaus Leggewie sind da in meinen Augen Teil eines Problems. Andererseits muß man ehrlicherweise sagen, daß 1988 kaum einer die Wiedervereinigung und das, was dann ein Jahr später geschehen sollte, auf dem Schirm hatte. Selbst von Anfang bis Mitte 1989 nicht.

  43. Wir hatten Kontakt zu Widerstandsgruppen in der DDR seit 1984, zu DDR-Autonomen, die sich „Blueser“ nannten. Als später einer von uns nachfragte, ob es über ihn eine Stasi-Akte gäbe wurde das bestätigt. Er wollte sie bei der Birthler-Behörde einsehen, konnte das aber nicht. Sie befindet sich in der Lubjanka.

  44. Was den materiellen Wohlstand angeht waren damals ja die Meisten von uns der Auffassung, dass dieser Wohlstand des Westens hauptsächlich auf der Ausbeutung der Dritten Welt beruht und zu ächten sei. „Uns gehts zu gut“.

    Ein Genosse, der in den Neunzigern von Arbeitslosengeld lebte bezeichnete sich selbst als reich, weil man zum Thema Wohlstand die Einkommensverhältnisse von Ländern wie Pakistan mit einberechnen müsste. Und sprach von „Umverteilung“, die vorzunehmen sei als ich 2500 DM netto verdiente (als Referent einer Menschenrechtsorganisation, ABM-Stelle) und damit der Reichste in unserer WG war und nannte mich „Karrierist“, als ich mich weigerte umzuverteilen.

    Ein Anderer meinte, wer in einer Wohnung mit Parkettfußboden und Marmorkacheln im Bad, mehrfarbiger Textiltapete, indirekter Beleuchtung und möglicherweise gar Privatsauna lebe umgäbe sich mit Insignien der Macht und stünde damit zwangsläufig auf der anderen Seite.

    Als ich erwiderte, dass ich das nicht so sähe und unter Sozialismus Luxus für alle verstehe fand er das „heftig“ und erklärte es damit, dass ich ein Mittelstandsspross und er ein Arbeitersohn sei und verband das durchaus mit einer moralischen Wertung zu seinen Gunsten.

  45. Du bist eine der wenigen und löblichen Ausnahmen. Es gab sehr wenige Linke, die diese Kontakte hatten. Zudem einige Grüne, die in der Tat der DDR kritisch gegenüberstanden und jene Linke im Umfeld von Wolf Biermann. Der dann auch bei „konkret“ schnell ungelitten war, als er Anfang der 1980er Jahre mit den kommunistischen Utopien abrechnete. Horst Tomayer schrieb auf Biermann ein Spottgedicht. Die Liedermacherlinke im Blick auf Hannes Wader, Dieter Süverkrüp und Degenhardt war zumeist stramm DKP. Bots und ähnliche Bands fielen nicht gerade durch DDR-kritische Lieder auf. Und mit dem Liedtexter und Stasimann Dieter Dehm bleiben da auch keine weiteren Fragen offen. Ton Steine Scherben interessierten sich in ihrer Musik für die BRD und für ihren eigenen Befindlichkeitsblues. (Ich mag deren Musik, aber man muß das halt immer auch mit dazunehmen. Andererseits kann man im politischen Kampf eben auch nicht alles und jedes erretten und thematisieren.) Und den meisten in der autonomen Linken war die DDR schnurzegal oder sie war ganz einfach nicht Thema – bzw. allenfalls am Rande. Die große Abhandlung der Kritischen Theorie zum Ostblocksozialismus blieb ungeschrieben – was nichts gegen Kritische Theorie der zweiten Generation sagt, aber eben doch zeigt, was ungesehen oder zumindest ungesagt blieb. Die Common Sense Intellektuellen aus dem sozialdemokratischen Milieu mit Hang zum Linken oder Linksliberalen – und Leggewie kann man wohl dazuzählen – blieben in solchen Fragen schweigsam. Der blinde Fleck der Linken sind die Schriften von Manè Sperber, Arthur Koestler, George Orwell und Alexander Solschenizyn.

    Die Fragen zur Dritten Welt sind nochmal eine Extrasache. In Süd- und Mittelamerika und in Asien haben die USA Entsetzliches verbrochen. Und wer „westliche Werte“ oder „Werte der Aufklärung“ sagt, muß eben immer auch die Dialektik der Aufklärung mitnennen. Westliche Werte beinhalten zugleich – autoreflexiv – die Selbstkritik am eigenen Handeln innerhalb eines ungezähmten kapitalistischen Systems. Wie das konkret vonstatten geht, steht dann wieder auf einem anderen Blatt. Theorie muß in einem solchen komplexen Zusammenhang notwendig abstrakt bleiben und sich zugleich auf das Konkrete beziehen. Aber das eine ist die Theorie und das andere aktuales politisches Handeln unter bestimmten historischen Konstellationen, die irgendwie bewältigt werden müssen.

    Diese doch sehr unterschiedlichen Leuten, die in der DDR diese Parolen riefen, als Pöbel und Pack zu bezeichnen, ist in meinen Augen eine absurde Hybris, wie sie leider auf linker Seite oftmals anzutreffen ist. Es zeigt aber vor allem, wie weit die Linke an der Lebenswelt der Menschen vorbeigeht.

    In gewissem Sinne, so würde ich das als Theoretiker sehen, der perspektivisch und in unterschiedlichen Hinsichten denkt, haben all die Positionen teils einen wahren Kern. Der Ostler mit seiner Demark und der Kritiker des Vereinigungsprozesses, der zu recht sieht, wie da die große Abzocke übers Land fährt und denen, die nicht ganz zu Unrecht nach ein wenig mehr Wohlstand schielen, das Geld aus der Tasche zieht.

    Erschreckend im Kontext der Wiedervereinigung ist jener Satz von Helmut Kohl, als er sagte, daß er sich von der Wirtschaft mehr erhofft hätte. Ich frage mich, ob das Naivität ist oder die bewußte Täuschung von Menschen, indem man so tut als ob. Ich vermute aber eher das erstere, da ich eher annehme, daß Kohl davon ausgegangen ist, daß es eine patriotische Pflicht sei, in einer solchen Lage zu helfen. Das freilich zeigt nur um so mehr, daß er das System Kapitalismus in der Tat nicht im Ansatz verstanden hat.

    Der verlinkte Artikel ist als Erzählung teils lustig. Er verweist auf jene Aspekte, die bei der Einheit mißrieten. Wie das meistens bei solchen großen Projekten ist. Und auch die Seite der DDR-Bürgerrechtler war unzufrieden: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“, so schrieb es Bärbel Bohley. Vor allem zeigt er, wie weit entfernt bestimmte Lebenswelten voneinander liegen. Die meisten Leute wollen keine Theorie, sondern sie möchten genau von solchen Theorien verschont werden. Oder aber den guten Odo Marquard zitiert, jenen Mann auch der Joachim-Ritter-Schule, den ich von Lebensjahr zu Lebensjahr in seinem konservativen Skeptizismus immer mehr zu schätzen weiß:

    „Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kömmt darauf an, sie zu verschonen.“ (Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie)

    Und aus diesem Grunde bin ich ein inzwischen ein Konservativer: die Menschen wollen nicht befreit, sondern gezähmt werden.

  46. Während der Kreuzberger Häuserkämpfe 1979-82 haben Autonome von den Dächern besetzter Häuser aus mit Jagdzwillen Glasmurmeln, Stahlmuttern und Schrauben auf NVA-Grenzsoldaten an der Mauer geschossen und die so in die Deckung getrieben, dass in einem Fall jemand rübermachen konnte.

    Köstlich auch das Plenum, auf dem ein Spartakist auftrumpfend sagte: „Wir stehen immerhin im Verfassungsschutzbericht!“ und dann von uns jemand konterte: „Wir auch. Aber in einer andere Abteilung. Da, wo auf Landkarten Blitze eingezeichnet sind.“

  47. Dieses Beispiel nanntest Du bereits. Es sind, wie geschrieben, leider Ausnahmen. Als etwa Mitglieder der Friedens- und auch der Umwelbewegung Mitte der 1980er Jahre in der DDR verhaftet wurden, gab es auf den bundesdeutschen Straßen keinerlei oder kaum merkliche Proteste – und die DDR hat kaum die Entfernung wie etwa Nicaragua, El Salvador oder Chile. Als bei der Gruppe „Frauen für den Frieden“ unter anderem Ulrike Poppe und Bärbel Bohley in den Stasiknast in Hohenschönhausen einfuhr, waren es insbesondere die westberliner Grünen, die massiv trommelten und auf diese Weise auch international die nötige Aufmerksamkeit erzeugten. Von großen Solidemos ansonsten in Hamburg damals habe ich nicht viel mitbekommen.

    Es gab in einem größeren Rahmen keine Öffentlichkeit, der sich mit den Protesten in der DDR, sei es innerhalb der Kirchen- und/oder der Umwelbewegung solidarisierten. Die Bürgerrechtsbewegung in Ost und West fanden selten zusammen. (Walter Mossmann immerhin thematisierte in seinem „Lied vom Lebensvogel“, das von Gorleben handelt, die entsetzliche DDR-Grenze. „Da, wo die Elbe rauskommt, aus dem Zaun, der unter Strom steht und schießt ….“) Und ebenfalls das Thematisieren der tschechischen Opposition in der Bürger- und Menschrechtsorganisation Charta 77. Es fiel eher verhalten aus. Während es zahlreiche Nicaragua- und El-Salvador-Demos in Hamburg gab, waren die, die sich für die Freiheit in der DDR und der Tschechoslowakei oder in Polen einsetzten, eher gering anzusetzen. Ich würde sogar kühn behaupten: es gab sie auf der linken Seite ganz einfach nicht. Die Solidarität westlicher Linker mit der Solidarność Anfang der 1980er Jahre wäre ein weiteres Thema. Nach meiner Erinnerung waren die Artikel in „konkret“ nicht wirklich wohlwollend zu nennen. Wolf Biermann schrieb es im Blick auf Polen sehr treffend: Lieber Jesus im Herzen als Marx im Arsch. Vermutlich war es auch dieser Aspekt, der vielen Linken zumindest suspekt war.

  48. Nebenbei, ich will mich nicht rühmen, aber ich hatte das große Glück, daß ich durch die Musik von Wolf Biermann bereits Ende der 1970er Jahre wußte, was von der DDR zu erwarten war. Und ich höre bis heute noch all die abwiegelnden Stimmen auf der Seite der Linken auf all den Demos, an denen ich früher teilnahm. Und dabei spreche ich noch nicht einmal von den durch die DDR gesteuerten SDAJ- und DKP-Gesellen, deren Mitglieder immer fünf Fahnen bei sich trugen, damit es mächtiger und wirkungsvoller aussah. Das RAF-Thema wäre auch noch so ein Ding und Inge Viett und Konsorten. Die Widersprüche dieser Leute hattest Du bereits herausgestellt.

    Mir geht es auch weniger darum, daß einzelne Linke sehr wohl vieles taten, sondern um das, was man den kollektiven Strom eines gesellschaftlichen Bewußtseins nennt. Da trennte Ost und West nicht nur physisch und realiter ein fester Zaun, sondern vor allem in den Köpfen. Die DDR war als grauer Schleier irgendwie präsend und man mochte daran eigentlich nicht wirklich erinnert werden. An die ungeliebten „Brüder und Schwestern“ im Osten. Zumal es eben auch noch solche hardcore-Konservativen wie das „Kuratorium unteilbares Deutschland“ und Gerhard Löwenthal gab, die stark gegen die neue Ostpolitik der SPD unter Brandt polemisierten. (Freilich hatte Löwenthal, wenn ich mir manche seiner Sendungen auf Youtube anschaue, am Ende doch recht gehabt, zumindest was die Mißstände anbelangte, die er ansprach.) Solche Frontbildungen trugen vermutlich ebenfalls dazu bei, daß das Unrechtsregime der kommunistischen Diktaturen nur wenig zum Thema gemacht wurde. Man darf ja keine rechten Narrative bedienen.

  49. Das Jahr 1990 war mit Sicherheit ein Epochenbruch, danach war nichts mehr so wie vorher. ich habe das auch ointesiv erlebt. War dmals in der SPD aktiv, aber sah die Wiedervereingung eher kritisch (ohne sie wäre mein Freund Oskar Lafontaine Kanzler geworden. Dachte ich zumindest). Meine Eltern hingegen war höchst bewegt, es war ihnen die Emotion und die Freude anzumerken.

    Im Grunde stehen wir heute vor ähnlichen Problemen. Die Ossis wollten das gleiche wie die Migranten aus der III. Welt: ein besseres Leben, wie der Spruch von der D-Mark ja zeigt. Und sie holten sich die 100 DM Begrüßungsgeld an mehreren Banken ab, genau wie die Migranten heute ihren Pass wegwerfen und dann mit mehreren Identitäten in mehreren Ämtern Sozialhilfe kassieren. Und die „Integration“ der Ostdeutschen ist bis heute nicht völlig geglückt, trotz gleicher Sprache und gleichem historischen Background (was will man da von Afghanen und Somalis erwarten?).

    Meine Position ist heute auch eine im wesentlichen konservative. Ichdenbke unsere westliche Kultur ist das beste, was die Menschheit bisher erreicht hat, und wir sollten alles tun, um sie zu erhlaten.

    Zur Illustration: Peter Santenello ist ein amerikanischer Journalist, der hochinteressante Videos macht, sehr empfehlenswert.

    https://www.youtube.com/@PeterSantenello

    Besonders aufschlussreich finde ich dieses von der Grenze zwischen den USA und Mexico, es beschreibt die Probleme mit der Migration:

    Es ist ziemlich irre was da abgeht. Die Grenze ist 3000 km lang, kaum zu kontrollieren. In den letzten Jahren sind Millionen illegale Migranten über die Grenze gekommen, von Mexikanern und anderen Latinos weiß man ja, aber es kommen inzwischen Menschen aus aller Welt: Chinesen, Inder, Afrikaner, und immer mehr Russen, die auf kompiziertesten Wegen einreisen über Dubai oder Ecuador. Also Bürger der BRICS-Staaten, die angeblich demnächst die Weltherrschaft vom Westen übernehmen wollen.

    Pustekuchen, nichts derlgeichen wird geschehen, weil die Menschen um jeden Preis ins gelobte Land der unbegrenzten Möglichkeiten wollen, wie vor 150 Jahren.

    Nach wie vor ist die westliche Kultur die einzige, die für alle Menschen eine positive Perpsketive zu bieten hat. Wir sollten sie erhalten.

  50. Der Unterschied zwische Migranten, also Menschen, die nach Deutschland einwandern wollen oder hierher aus was für Gründen auch immer fliehen, und Ostdeutschen, die nicht nach Deutschland einwandern, sondern per se in Deutschland leben, ist ein erheblicher. Trotz unterschiedlicher Systeme teilen wir eine Sprache und teils auch eine Kultur, Mentalitäten, Religion und ähnliches aus der Sphäre des kulturellen Überbaus. Und so wie auch Nord- und Süddeutsche teils völlig unterschiedlich in ihren Mentalitäten und Lebensweisen sind, so ist das teils auch zwischen Ost und West, was aber meist nur für die politischen Systeme gilt und selbst dort nur bedingt, weil nämlich Menschen nicht alle gleich denken. (Was übrigens auch bei Migranten der Fall ist.) Ich würde sogar die These vertreten, daß ich mit einem Menschen aus Rostock mehr gemeinsam habe als mit jemandem aus München. (Und ein linker Aktivist hat vermutlich mehr Gemeinsamkeiten mit einem kurdischen Peschmerga-Kämpfer als mit dem Vorsitzenden eines SPD-Kreisverbandes.)

    Daß Menschen einen Teil vom Wohlstand abhaben wollen, halte ich für mehr als verständlich. Ostdeutsche sind jedoch nach dem Grundgesetz Deutsche. Somalier sind dies nicht. Und aus diesem Grunde wird Unterschiedliches auch unterschiedlich behandelt. Zwei deutsche Staaten wären nach 1990 so oder auch anders kaum denkbar und vor allem realpolitisch kaum haltbar gewesen. Politik ist der Umgang mit dem Wirklichen und nicht mit dem, was irgendwie möglich sein könnten. Und die Fakten setzen in solchem Fall dann auch die politischen Realitäten.

    Es gibt eine Autorin, die hat versucht, Migranten in Deutschland und Ostdeutsche von ihren Diskriminierungserfahrungen anzugleichen. Auch diesen Bezug halte ich für zumindest problematisch.

  51. Was die westliche Kultur betrifft, so ist das zwar einerseits richtig. Aber auch dort gibt es ja nun einmal sehr unterschiedliche Strömungen und Richtungen, die es irgendwie zu vermitteln gilt. Politik ist die Kunst solcher Ausmoderierungen. Richtig ist allerdings auch, daß solchen, die nach Deutschland einwandern und nicht bereit sind, sich an einige Grundregeln zu halten – angefangen beim Erlernen von Sprache -, klargemacht werden muß, daß sie in diesem Fall nicht erwünscht sind und sie keine Chance auf einen bleibenden Aufenthalt haben. (Von Straftätern und antisemitischen muslimischen Migranten ganz zu schweigen. Stichwort Aufenthaltsgesetz §§ 53 und 54.)

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