Von den Körnungen der Wirklichkeiten: Antonionis „Blow Up“ im c/o Berlin

Vom Subjektiven der Befindlichkeiten, die meist ohne Belang sind, hin zu solchen Polungen, die Wahrnehmung und Wirklichkeit, das eben, was wirkt, in ein subjektives Bild bringen: Kinobilder, zum Glück diesmal nicht in Cinemascope. (Wenngleich das Format für die Kinoleinwand gut taugt.) „Blow up“ ist ein Film, der das Subjektive seiner Zeit wie auch das Gesellschaftliche, eben den Geist des Swinging London der 60er Jahre, jene Brüche und Veränderungen in dieser Gesellschaft, in eingängige und kluge Bilder bringt: Zwischen dem biederen Geist der ausklingenden 50er Jahre, ungeheurem Elend mitten in Europa, dem aufkommendem Pop samt politischem Protest und dem Faible für Mode. Prägnant und den Ton dieser Stadt einfahrend. Der subjektive besondere Blick ist nur da exzeptionell und von Bedeutung, wenn er auf ein Mehr verweist, das über das alltägliche Befinden ragt: Der Verfasser dieser Zeilen legte sich, nachdem er 1983 zum ersten Mal Antonionis Film in einem Kino sah, eine Nikon F 3 zu. Er besaß aus unergründlichen Quellen einiges an Geld. Ebenfalls kaufte er sich eine Mittelformatkamera. Zu seinem Bedauern reichte das Geld nicht mehr für eine Hasselblad. So wurde es, im führenden Fotofachgeschäft der Stadt erstanden, eine Rolleiflex SLX, die allerdings viel zu viel Elektronik besaß, wie er befand. Leider fehlte ihm für das Photographieren im Mittelformat die Ruhe, denn es muß durch den Schachtsucher alles genau positioniert und exakt angeordnet werden. Das übt zwar den photographischen Blick, hindert aber den nervösen, sprunghaften Geist in seiner Kreativität. Er ist eher der Kameratyp 35-mm. Schnell, unruhig, flexibel, ADHS-mäßig, zielsicher aus der Hüfte, beweglich, agil, taktil. Er machte auch die Mode- und Frauenphotos lieber mit der Nikon, weil es sich aus dem Körper heraus, damit er den Körper der Frau mit dem Objektiv umfinge, besser bewegen ließ.

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Copyright: „Nikon F3HP with 85mm f2“ von Arne List – Eigenes Werk.
Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons

Zudem fanden sich durch die mobile Kameraposition ungewöhnliche und fremde Perspektiven. Filme prägen oftmals die Wahrnehmungen und bringen neue Blicke hervor. Nach „Der weiße Hai“ änderte sich das Badeverhalten. (Adorno prägte für diese Muster treffend und exakt passend den Ausdruck „Kulturindustrie“) Solche Anverwandlungen finden sich auch in Antonionis „Blow up“: Was war im London der 60er Jahre eher da: Eine bestimmte Pose und ein Habitus des Modephotographen, der eher sich selbst als das Modell in Szene setzt, oder lieferte erst der Film die Matrix solcher Exaltiertheiten? Die Szene der Modephotographen in London, die selber bereits ein Stück Pop waren, gab es freilich bereits vor „Blow Up“: die sogenannte Black Trinity (David Bailey, Terence Donovan und Brian Duffy), die sich in Antonionis Film dann im Beispiel des Photographen Thomas verdichtete. Andererseits prägte Antonionis Film, gleichsam als filmisches Narrativ, wiederum die Szene der ambitionierten, der professionellen und der hobbymäßigen Modephotographen. Im Sinne der Stillnachahmung, indem eine Pose kopiert wurde und so in der Kopie der Haltung ein bestimmter Habitus durchschlug. Aber das sind sicherlich Petitessen. Sie weisen jedoch auf den Aspekt des Zeitgeistes, der ebenso mit diesem Film verknüpft ist.

Es ist „Blow Up“ der Film – manche behaupten sogar, es sei Antonionis bester. Wären da nicht „Beruf Reporter“ und „Zabriskie Point“ und „La notte“. Ganz egal, wie gewichtet: Antonionis „Blow Up“ ist nicht nur ein Film, der flott die Geschichte eines Photographen im wilden London der 60er Jahre erzählt und sich dabei ebenso im Detail mit dem Medialen befaßt – das machen insbesondere „Zabriskie Point“ und auch „Beruf Reporter“. Sondern in „Blow Up“ fokussiert sich vielmehr die Medienreferenz und der Modus des Medialen, der bei Antonioni grundsätzlich Thema ist, auf die Apparaturen Filmkamera und Fotoapparat. Das bewegte Bild steht gegen das statische, und beide Bildweisen arbeiten ineinander. (Ich will in einem zweiten Teil noch genauer auf den Film selber eingehen. Darin könnte ich ebenso über das Sexualisierende dieser unten abgebildeten Szene und über Machtpositionen des Blickes schreiben, sofern es mich denn und dann noch reizt. Die Kamera als der wunderbarste symbolische Phallus, was uns die Arbeit des realen Eindringens erspart. Insbesondere im Hinblick auf Lewis Carrol/Charles Lutwidge Dodgson und seine Photographien von Alice P. Liddell, die seinerzeit noch ein Kind war, scheint mir die Position der Blicke, die Macht und der Sexus bedeutsam. Sexualität und Wahrheit gewissermaßen als ein photographisches Dispositiv. Was irgendwann hier im Blog einen eigenen Beitrag zur Folge haben muß.)

blowup_0Im c/o Berlin, das im Oktober 2014 im Amerika-Haus neu eröffnete, gibt es eine Ausstellung zu Antonionis „Blow up“. Diese Ausstellung war 2014 bereits in Wien, in der „Albertina“ zu sehen. Wer sich für die Details und die zahlreichen photographischen Beigaben zu diesem Film interessiert, der ist in dieser Ausstellung gut aufgehoben. Sie gliedert sich in fünf Felder: 1.: die Szene der Londoner Modephotographen und die Mode dieser Zeit im wilden London, 2.: der Voyeurismus des Photographen, wenn er auf seine Suche geht und in die Sphären des Privaten dringt, 3.: die Dokumentation des Sozialen samt dem Elend in Londons East End über das Medium der Reportage- und Dokumentationsphotographie, 4.: das Swinging London der Pop-Musik und die Kunstszene der 60er Jahre in ihrem Abstraktionsprozessen, die die Wirklichkeit in einer eigenen Weise der Bildlichkeit anordnet, sowie 5.: das Verhältnis von Wirklichkeit, Wahrnehmung Medialem und Wahrheit.

Zu diesen fünf Bereichen werden Ausschnitte aus dem Film gezeigt und zudem Photographien präsentiert. Bei diesen Photographien handelt es sich meist um Film stills, die am Set von bekannten Photographen gemacht wurden. Jene sensationellen Bilder, die Thomas im Maryon Park aufnahm und deren Vergrößerung dem Film den Titel lieferte, wurden zum Beispiel von Don McCullin geschossen. Insofern ist das photographische Moment des Films sehr genau an der Sache selbst und von Antonioni gründlich recherchiert. Aber ebenso gibt es die unabhängig vom Film in harter Schwarzweißphotographie gefertigten Dokumentarbilder vom Elend aus dem Londoner East End und insbesondere aus dem Viertel Whitechapel zu sehen, die von Don McCullin geschossen wurden: Bettler, Gestrandete, Gestrauchelte, arme Menschen. Neben dem Glamour der Modewelt ein drastischer Kontrast. Photographien, die eigentlich für sich selber genommen bereits eine eigene Ausstellung wert gewesen wären. Überhaupt wäre dies für diese Ausstellung zu „Blow Up“ ein sehr viel anregenderes und schöneres Konzept gewesen: Gleichsam als eine Art Tunnelsystem Verzweigungen zum Film zu bilden.

Wer „Blow up“ nicht gesehen hat, wird mit den im c/o Berlin gezeigten Photographien, den Filmausschnitten und den wenigen Kunstwerken nicht viel anfangen können. Interessant ist es allerdings, manche der Film Stills als Photo-Abzug sich ansehen zu können. Sozusagen wirkt hier das auratische Moment der Photographie: Anders als die Reproduktionen im Katalog entsteht bei den präsentierten Photographien der Eindruck, dichter dran zu sein. Die Körnung, die Materialität. So werden zum Beispiel ganze Kontaktstreifen von den Mode-Shootings oder von der Verfolgungsszene im Park gezeigt, wo der voyeuristische Mann mit der Kamera jene Frau ablichtet, die den Mann küßt und umarmt. Diese Kontaktstreifen besitzen optisch eine andere Qualität als die bloße Katalogseite. Gleiches gilt für die Photographien von Don McCullin, wenngleich ich es als ungemein störend empfand, daß diese Bilder nicht wie üblich plan an der Wand hingen, sondern auf Brettern an Vorder- und Rückseite angebracht wurden, die im rechten Winkel zur Wand montiert waren, so daß die Betrachter eine Art Eiertanz aneinander vorbei aufführen bzw. eine Halbkreisbewegung ausführen mußten, um dann gedrängt Rücken an Rücken zu stehen, wenn sie dann die Rückseite des Holzbrettchens betrachten wollten. Der Sinn dieser Anordnung hat sich mir verschlossen. Vielleicht war es Platzmangel, vielleicht das Bedürfnis für kommunikative Nähe zu sorgen.

Als Reminiszenz an einen jener Filme, der für die Filmgeschichte insofern bedeutsam ist, als er das Medium Bild zum Thema erhebt, mit ihm spielt, es auffächert und die Weisen von Wirklichkeit samt der Reflexion aufs eigene Medium, das diese Wirklichkeit darstellt, zum Problem bzw. zur Frage macht, scheint mir diese Ausstellung durchaus bemerkenswert. So zum Beispiel, wenn im letzten Raum drei Photographien gezeigt werden, wo aus der photographischen Weitwinkeleinstellung der Parklandschaft im ersten Photo das Gebüsch herausvergrößert wird, vor dem die Leiche liegen soll. In der extremen Totalen ist diese vermutete Leiche  – dieser Bildpunkt, das unkenntliche Objekt X – bei der ersten Photographie im Fadenkreuz des Bildes positioniert, exakt in dessen Mitte in den Schnittlinien von bildteilender Horizontale und Vertikale angeordnet. Aber sie bleibt im ersten Bild lediglich schemenhaft und optische Mutmaßung. Auch im zweiten Abzug, der im Detail herausvergrößert wird, ist nur in Andeutung etwas sichtbar. Von dieser Referenzphotograpahie wird das Objekt im Reproduktionsverfahren, das dem Film den Titel gab, mit einer Großformatkamera herausgearbeitet und noch einmal vergrößert, bis schließlich in der dritten und letzten Photographie der Referenzpunkt nur noch als abstrakte Struktur und als photographische Körnung der Silberkristalle sichtbar ist. Es kann sein, es kann genauso nicht sein, daß da eine Leiche liegt. Dieser Abstraktionsprozeß korrespondiert mit jener modernen abstrakten Malerei, in der das Bild im Auge des Betrachters und in der Phantasie sich entwickelt, wie der Film dann an einer anderen Szene referenziert.

Diese drei Photographien nebeneinander belichten das (Unschärfe-)Verhältnis von Bild und Wirklichkeit und einem photographischem Bild, das Wirklichkeiten nicht mehr darzustellen vermag: wie sich schemenhaft aus dem abphotographierten Realen die Imago, das Phantasma und das je eigene Bild herauskristallisieren, bis am Ende eine Ansammlung photographischer Körnung zurückbleibt. Dennoch und gegen den postmodernen Bildrelativismus: die Wirklichkeit wirkt bei Antonioni, denn als der Photograph Thomas nachts wieder in den  Maryon Park fährt, um zu schauen, was er vorher mit eigenen Augen nicht sah und nur durchs Objektiv der Kamera auf einen Film bannte, findet er die Leiche. Freilich wirkt diese „Realität“ nicht real, sondern im Medium Film, also dargeboten über Bilder, (und wir erinnern uns an Nietzsches Text „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischem Sinne“, an den Bilder- und Metaphernstrom), womit wir wiederum bei einer verschachtelten Konstruktion wären, die zeigt, daß all die Aspekte des neuen Realismus medial in Vermittlung sich befinden. So zumindest könnte man assoziieren, wenn wir an die im c/o Berlin gezeigten Blow ups samt der Referenzphotographie aus dem Maryon Park anknüpfen möchten.

Dennoch bleibt nach dem Besuch dieser Ausstellung trotz dieses Sujets Ungenügen zurück, und es ist jene photographische Exposition zu einem Film nicht mehr als eine Reminiszenz, die thematisch Aspekte dieses Films anspielt. Diese Veranstaltung kann allerdings im Modus der Bilder, in dem solche Ausstellungen nun einmal wirken, den medialen und kulturellen Verschachtelungen, die der Film vermittelt, nicht gerecht werden. Es bleibt ein Reigen an Bildern, an dem die Betrachter vorbeidefilieren. Interessant und weiterführend sind allenfalls die in Fremdphotographien hergestellten Bezüge, so etwa die Modephotographien der Black Trinity oder die Sozialdokumentationen von McCullin. Hier sowie beim Thema der medialen Referenz wäre anderes möglich gewesen, und es bekäme der Ausstellung besser, wenn sie sich in diesen Bereichen verzweigte.

Wer mehr möchte, ist mit dem Katalog zur Ausstellung besser bedient. Darin befinden sich einführende und weiterführende Texte zu den fünf Themenbereichen sowie Photographien und Film Stills. In diesem Schnitt, in dieser Kluft zwischen Text und Bild zeigt sich das Dilemma: was eigentlich im Medium des Films sinnlich erfahrbar werden soll, bedarf am Ende doch wieder des Textes. Den aber kann eine Ausstellung nur schwierig und um den Preis zahlreicher Wandtafeln mit Text vermitteln. Interferenzen über Audioguide oder Smartphone sind in solchen Kontexten eine gute Möglichkeit, den Strom der Bilder zu brechen oder ihn zu untermalen, zu unterfüttern und weiterzuführen.

Der Katalog erschien im Verlag Hatje Cantz und ist für 35 EUR erstehbar. Es lohnt sich, ihn sich anzuschaffen. Er vermittelt einen guten Blick auf die medientheoretischen Korrespondenzen, auf philosophische Implikationen und auf die Umstände dieser Zeit der 60er Jahre.

Die Ausstellung läuft noch bis zum 4. April.

Eloge zum Abschied – das c/o Berlin

Die c/o-Galerie im ehemaligen Postfuhramt schloß am 8.3.2013 endgültig ihre Pforten. Gut ist es, wenn ein Abschied den angemessenen Ausklang findet, wie z. B. einen Tag später mit einer Party. Schön wenn der Rückblick auf einen besonderen Ort so ausfällt, daß einer sagen kann: Nichts bereut und diese Zeit war eine erfüllte. Das ist bedauerlicherweise nicht immer der Fall.

Für die, welche nicht in Berlin leben dürfen: das c/o war einer der herausragenden Ort für Photographieausstellung: Ob nun 100 Jahre Modephotographie, die Bilder von Annie Leibovitz, Nan Goldin, Roger Melis, Photos der Agenturen Magnum und Ostkreuz, die unheimlich-schönen, zerfressenen Industrielandschaften von Edward Burtynsky, diese ausgedienten Container- und Frachtschiffe aus Stahl, die am Strand irgend eines Landes liegen, um ausgeschlachtet zu werden, die verlassenen Erdölfelder, der Müll der Zivilisation; die harten Bilder der amerikanischen Jugend in den 60er/70er Jahren, die Larry Clark schoß, Peter Lindberghs vielseitige Photographien: Models, die mitten in New York zwischen den ganz normalen Menschen auf der Straße sich bewegen. Schnappschüsse aus dem Alltag, die schöne, die harte Welt der Mode und der Models; Sibylle Bergemanns Polaroids, Anja Niedringhaus‘ genial-drastischen Kriegsbilder aus dem Irak und aus Afghanistan. „Unheimlich vertraut. Bilder vom Terror“: eine klug konzipierte Ausstellung über die mediale Darbietung terroristischer Akte. Und und und. Ich möchte mich am liebsten im Aufzählen von Namen ergehen, weil dieses Durchdeklinieren einen Assoziationsstrom an Visuellem, an Eindrücken und an Bildern heraufziehen läßt. Daß eine solche Institution der Photographie nicht mit Geldern des Senats gefördert wird, ist im Grunde schlimm genug. Wenn aber weder Bezirk noch Stadt es vermochten, dem c/o Berlin seinen Platz im Postfuhramt zu ermöglichen, so hinterläßt das nur noch Kopfschütteln. Zumal der Senat über das Baurecht sowie den Denkmalschutz jedem Käufer, Investor oder wie sich die Heuschrecken auch nennen mögen, das Leben hinreichend schwermachen könnte. Andererseits: Von diesem oder von einem anderen Senat in Berlin ist im Grunde nichts zu erwarten.

Das Postfuhramt ist ein gar verwunschener Ort gewesen. An den Wänden bröckelte es, riesenhohe Decken, Stuck, Verzierungen und Wand aus alten Tagen: ideal um Photographien zu präsentieren. Selbst wer sich nicht für die Photographien interessieren mochte, der warf einen Blick auf dieses eigenwillige Gebäude. Und von der Augustraße aus ließ sich der riesige Hinterhof betreten. Man mußte nur das zwar verschlossene, aber oftmals nicht abgeschlossene Tor öffnen und eintreten. Das Unfertige und Ruinöse des Ortes, das Abgebröckelte im Zusammenspiel mit den durchkomponierten Photographien machte den besonderen Reiz dieser Galerie aus.

Nun ist das Postfuhramt nicht mehr öffentlich zugänglich, sondern es wird Firmensitz der Biotronik SE & Co. KG, im Privatbesitz von Max Schaldach jr. Das Unternehmen produziert medizinisches Gerät. Zutritt für Unbefugte verboten!

Die Wiedereröffnung von c/o Berlin im Amerikahaus in der City West ist im Herbst 2013 geplant.

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„Fragment von Schwänzen“, eine Ausstellung von Larry Clark und Sexismus – The young ones and forever young

Das ist ein schöner Titel, aber es gehört dieses von Georg Christoph Lichtenberg geborgte Zitat bloß am Rande hierher. Ich benutze es, weil es zumindest im Hinblick auf jenes Substantiv im Plural gut paßt.

Im Zeit-Magazin Nr. 31 vom 26.7.2012 beklagt Elisabeth Raether unter der Überschrift „Bitte, bitte, bitte: Mehr Penis bitte“, daß es in den Medien, in den Magazinen, in der (Kunst-)Photographie kaum bis gar keine Schwänze zu sehen gibt. Der sexualisierte Blick richtet sich lediglich auf den Körper von Frauen, die in Photographie und Kunst regelmäßig dargeboten werden und so heißt es: „Weibliche Nacktheit ist der Normalfall – männliche hingegen nicht. Warum ist das so?“ Diese Kritik ist zwar berechtigt, greift aber in sozusagen sexualdiskurstheoretischer Hinsicht andererseits zu kurz, weil sich dieses Problem der Sexualsierung bzw. der sexualisierte Blick nicht nur auf die Schwanz/Muschi-Anzahl beschränkt. Dennoch: Wer die Museen, Galerien, Photoausstellungen durchkämmt, findet kaum männliche Akte – ausgenommen griechische Götter und Helden, die im Glanz erstrahlen, und vereinzelt nur spreizt sich oder posiert imposant ein irdischer Mann aus Fleisch und Blut. Eine Ausnahme, so Raether, bilden die Photographen Robert Mapplethorpe oder Herb Ritts: sie zeigen das männliche Glied prall und drall. Wesentlich jedoch, so kann man festhalten, fungieren Frauen in der Aktmalerei und -photographie als (über)sexualisierte Objekte: sei es im Modus einer verklärenden Anschauung wie holde Weiblichkeit für den Blick des Mannes sich zu präsentieren hat oder als verdeckte sexualisierte Vorlage, um nacktes Fleisch zeigen zu dürfen, wie auf zahlreichen Gemälden, die weibliche Wesen der antiken Mythologie präsentieren. Diese offenen und verdeckten Blicke des Sexuellen sind ein zwar interessantes Thema, ich will sie an dieser Stelle aber nicht weiter vertiefen.

Andererseits sehe ich diese Dinge marktwirtschaftlich: es existieren eben Angebot und Nachfrage. Männer scheinen da eher ein Bedürfnis nach bildlicher Darstellung zu haben als Frauen, ansonsten müßte das „Playgirl“ sich reißend absetzen, anstatt daß die Zeitschrift 2004 mangels Käuferinnen und Käufern eingestellt wurde. Aber die Analyse will sich dabei nicht beschränken, sondern sie blickt auf die Sexualität und deren Dispositive: Welche Mächte, Kräfte oder Mechanismen wirken zur Durchsetzung der Interessen sowie des Blicks? Welche (erotischen) Photographien wollen Frauen von Männern überhaupt sehen, wenn sie denn welche sehen wollen? Welche (erotischen) Photographien möchten Männer von Frauen betrachten und weshalb? Welche erotischen Bilder wollen Männer von Männern und Frauen von Frauen sich anschauen? Gibt es – in Analogie zum männlichen Geschlecht – wirklich so viele Muschigemälde und -photographien oder nicht doch vielmehr solche, wo der gesamte Körper der Frau und insbesondere das sekundäre Geschlechtsmerkmal der weiblichen Brüste ins Bild verdinglicht wird? („Sekundäre Geschlechtsmerkmale“ ist ein so wunderbares Wort, daß ich es gleich noch einmal schreibe. Es deckt sich mit meinem Faible für die Tatortphotographie.)

Ja, man kann diese Debatte vielfältig hin und her drehen. Dabei interessieren mich weder die moralischen, noch die normativen Aspekte in dem Sinne von: was geht und was geht nicht? Als Tatsache aber, an der sich nichts beschönigen läßt, bleibt dies: es gibt mehr Akte von Frauen als von Männern. Auch ich selber würde eher Frauen als Männer photographieren. (Und die Aktbilder, welche in der Studentenzeit, als ich jung, süß und schmal ausschaute, eine junge Frau von mir machte, wollen wir hier im Blog nicht zeigen. Naturgemäß – um in Th. Bernhards Worten zu schreiben.)

Diese Beobachtungen zum Schwanz korrespondieren ein wenig mit Bildern, die ich vor einiger Zeit im c/o Berlin sah. Dort läuft noch bis zum 12.8. eine Ausstellung, die Photographien bzw. Collagen von Larry Clark präsentiert. (Es sind auch drei Videos zu sehen, die ich mir aber nicht anschaute.) Clark photographiert die andere Seite des American Way of Life samt seiner Jugendkultur, die nicht der geschönten Welt der Prospekte oder der Magazine entspringt. Der Rock ’n’ Roll durchrauscht diese Welt der Jugend nicht nur gefällig und wohltemperiert – ausgleichend und ablenkend von den Tücken des Alltags wie in einer Welt von Peter Kraus, Cliff Richard oder den Everly Brothers –, sondern es zeigen sich die wilden, gleichsam die dionysisch-destruktiven Seiten einer Kultur der Befreiung, die zugleich den Mechanismen kulturindustrieller Steuerung und der Regulierung durch die Märkte unterliegt – diese doppelte Seite des Phänomens Pop. Es ist die Welt des Sexus, der Drogen, der Härte, aber auch die dünne Haut, das Unfertige und Sensible, das trotz der teils bitteren Umstände in manchem Gesicht aufscheint, so wie Jonathan Velasquez in der Serie „Los Angeles“ aus den 00er Jahren. Küssende, sich liebende, kopulierende, mit Waffen hantierende Jugendliche, Männer, Stricher posieren und präsentieren sich vor Clarks Kamera. Clark gelangt dicht ans Geschehen heran. Junge Männer und Frauen schmiegen sich in intimen Posen ineinander, kopulieren, petten: „The young ones“! Und natürlich zu diesen Jungs dazugehörend: Schwänze in Halb- und Vollerektion. Beim Schwanz/Muschi-Zählvergleich will es mir scheinen, daß es mehr Bilder von Männern als von Frauen gibt. Was mich jedoch sehr an einigen der Photographien erfreut: es gibt Frauen mit Schambehaarung zu sehen. Diesen Anblick hat ein Mann heute sehr selten. Mir ist es ein Rätsel, weshalb Männer eine Frau wollen, die im Bereich des Unteren wie eine Zehnjährige ausschaut. Ach, wie schön waren die 90er Jahre. Nur so am Rande.

Clark zeigt ungeschminkt und ungeschönt, teils in schwarz/weiß, wie in seiner Serie „Tulsa“, die Drogen- oder Jugendszene seiner Heimatstadt (eben Tulsa) ab den frühen 60er Jahren. Erstaunlich an diesen Photographien ist die Drastik, ohne daß irgend etwas an diesen Bildern zu stark aufgetragen, inszeniert oder überästhetisiert wirkt – diese Photographien bilden Dokumente des Sozialen. Insbesondere geschieht dies vermittels ihrer Todessymbolik: Waffe und Spritze. Aber diese Objekte verweisen auf mehr als nur das bloß Faktische. Es offenbart sich eine destruktive Gesellschaft. Was bei Nan Goldin bereits in die ästhetische Überhöhung und den Drogen- sowie Junkie-Schick hineinfällt, deckt sich in Clarks Photographien noch nicht mit dem inszenatorischen Moment zu, sondern die Bilder lichten eine Szene ab: Neutral, unberührt und gerade deshalb fallen diese Bilder umso härter und brutaler aus. Und das passiert insbesondere dann, wenn man auf der Zeitachse die historischen Ereignisse mitdenkt, die diesen Photographien korrespondieren.

Nan Goldins Photographien, die ebenfalls vor einige Zeit im c/o Berlin gezeigt wurden, sind brillant und gelungen, aber auf eine ganz andere Art als Clarks direkte Photos. Goldins Photos repräsentieren bereits jenen kühl-inszenierten Magazin-Zeitgeist der 90er Jahre – freilich auf die geglückte Weise. Die Ästhetik des Post-Rock ’n’ Roll ist Goldins Bildern eingeschrieben. Und alle, die in den 80ern auf der Piste in den einschlägigen Clubs, Schuppen und Kaschemmen unterwegs waren, wissen um dieses heimelig-wohlige Gruseln des Junkie-Schicks: dessen, was wir zwar in letzter Konsequenz nicht machen wollten, das aber zugleich reizte und einen eigentümlichen Zauber ausübte: „I‘m Waiting for the Man“. Das Spiel mit dem Tödlichen ohne die Erfahrung des Todes: Denn wer wollte in jener ungeschminkten Realität schon gerne Sid Vicious sein? In „Tulsa“ spielt Clark nicht mit der Ästhetik des Abgefuckten und jener Faszination für das Abseitige und Exzessive, das bis zur Selbstaufgabe sich steigert, sondern die Photographien schildern ohne Zierat, und lakonisch halten sie das fest, was der Fall ist. Nan Goldin und Wolfgang Tillmans dürften stark von den Bildern Clarks geprägt sein.

Die These, daß jede Photographie ein Voyeurismus sei und indiskret eindringt, läßt sich nicht von der Hand weisen. Und doch: dieser Voyeurismus gerade macht den Reiz der Photographie aus.

Portraithafter werden die Photoarbeiten Clarks dann ab den 80er Jahren, so wie in jener Photo-Dokumentation von Jonathan Velasquez, einem jugendlichen Skater in Los Angeles samt seiner Clique: Post-Post Punk im Jahre 2003. Clarks Bilder betonen hier sehr viel mehr das Portrait eines jungen Mannes, jedoch im Medium des Serielle einer vorgefertigten Welt, die das Widerständische des Punk nur noch im Anklang ahnen läßt. Mittelpunkt der Photographien ist eine Person. Die Kamera zoomt auf das Gesicht von Velasquez, es wirkt wie ein shoulder close-up und doch fallen viele der Bilder in die amerikanische Einstellung (Medium Shot) hinein. Clark faßt den Ausdruck des Gesichtes derart intensiv ein, löst im entscheidenden Moment aus, daß es wie eine Nahaufnahme wirkt. Die Portraits von Jonathan Velasquez üben einen Sog aus.

Zum Abschluß bringe ich noch einen Hinweis zum Thema Sexismus bzw. zu dem Ausstellungsplakat: Leider haben die Kuratoren der Ausstellung vom c/o Berlin, oder wer auch immer für das Konzept verantwortlich zeichnet, ein sehr reißerisches und eindimensionales Plakat gewählt, das auf den bloßen Effekt von Erotik als Werbeträger setzte. Das Plakat am c/o Berlin wurde deshalb mit Farbbeuteln beworfen.

Ich will hier weniger über die Darstellung des weiblichen Körpers (in der Photographie) sowie über den Aspekt des Sexistischen in der Darstellung schreiben (darüber ließe sich lange und trefflich streiten), sondern vielmehr über diese Weise der Werbeinszenierung. Denn jenes Photo ist aus einem Zusammenhang herausgerissen und Bestandteil einer Collage von Clark mit dem Titel „I want a baby before u die“ (2010).

Eine Vielzahl von Photographien, Zeitungsausschnitten und teils auch von Gegenständen werden dort tableauartig und, wie es zunächst scheint, assoziativ ausgebreitet. Das zum Ausstellungsplakat erhobene Photo ist lediglich ein Teil dieser Anordnung. Es ist schade, daß ein Bild auf diese Weise aus dem Kontext gerissen wurde, um auf der Ebene purer sexueller Unmittelbarkeit auf die Wirkung sowie auf die Besucher zu schielen. So gerät die Angelegenheit eindimensional, während jenes Collage-Tableau „I want a baby before u die“ mit vielfältigen Bezügen spielt. Dieses Plakat wird weder Clark noch dem Ort c/o Berlin, der großartige Ausstellungen zur Photographie macht, gerecht. Ich meine, es gäbe in der Sammlung von Photographien geeignetere und auch instruktivere Bilder Clarks. Der junge Mann mit dem Revolver wäre sicherlich auch plakativ, doch spiegelte dieses Bild zugleich das Wesen der Photographie wider. Schuß und Gegenschuß

Zumal diese verwendete Plakat-Photographie für sich genommen viel zu glatt wirkt und insofern der Bild-Ästhetik Clarks entgegensteht. Insbesondere Clarks Collagen erweitern das Feld herkömmlicher Photographie und weisen über das bloße Abbild hinaus.

„Unheimlich vertraut. Bilder vom Terror“ (2)

Politik der Bilder

Der Realität der Bilder entspricht kein Sachverhalt, kein Objekt. Photographien sind anwesend und präsentieren sich, aber ohne einen Referenten. Photographien verweisen auf ein Außerhalb, welches aber nicht das vermeintlich Abgebildete ist. Bilder sollen Dokumente, sollen Zeugnisse abgeben, so wird den Betrachterinnen und Betrachtern schmackhaft gemacht. Die Endlosschleife der statischen und der bewegten Bilder bedeutet aber bloß die Dauersuggestion. Das, was wir sehen, ist das, was geschieht, rufen uns die journalistische Photographie oder das Fernsehbild zu. Dieser Status des Bildes als eine Form von Realitätssicherung trügt. Denn Bilder dienen, so dramatisch sie zugleich ausfallen mögen, einerseits der Narkose, sie sind mithin der aisthetischen Anästhesie geschuldet, andererseits reichen sie das entsprechende Bewußtsein dar, das es herzustellen gilt. Bilder sind Implementeure. „Seht her: Wir sind nun im Krieg!“, so die Bilder aus New York. Der Macht dieser Bilder konnte sich kaum einer entziehen: als die Betrachter die Türme einstürzen sahen und auch später nicht. Um wie viel schwächer freilich fiel die Empörung bei den Bildern von Abu Ghraib aus. Und Photos aus Afghanistan, vom Irakkrieg oder von anderen Schauplätzen wie dem Kongo oder Somalia gibt es kaum. Die Photographien, welche gemacht wurden und nach Kampfeinsätzen nicht so recht in den Rahmen passen wollten, bekam keiner zu sehen.

Embedded journalism produziert keine Bilder, die die gängige Propaganda unterlaufen, sondern zementiert diese. Wie auch sollte solche Kritik durch das Bild geschehen, wenn die Journalisten vorab Verträge mit der US-Regierung bzw. der US-Army unterschreiben müssen? Zudem sind die Soldaten, in deren Kompanien die Photographen mitfahren und über die sie berichten, zugleich die Soldaten, die die Journalisten schützen. Zwischen den Fronten und neutral zu operieren war bei der Besetzung Afghanistans und Iraks kaum möglich. Allenfalls einheimische Photographen vermochten es, ungeschminkte Bilder zu fertigen. Bilderproduktion ist zugleich Bilderpolitik. Anhand der Bilder, die von 9/11 um die Welt gingen und als Bilder des Terrors gehandelt werden, zeigt sich dies sehr gut.

Diese Aspekte von Bildideologie, welche den verschiedenen Bildakten beigestellt sind, sollte man auch im Hinblick auf die Ausstellung „Unheimlich vertraut/Bilder vom Terror“ mitdenken, und ich riß dies bereits im ersten Teil der Besprechung an. Das Zentrum der Ausstellung liegt, trotz des weitgespannten Begriffes von Terror, beim 11. September und das ist dann die Schwäche dieser Ausstellung, so interessant und vielseitig zugleich die Exponate sind. Terror fokussiert sich am Ende auf die Ereignisse um 9/11. Es gibt zwar jene Bilder aus der RAF-Zeit der 70er und das Video „Dial H-I-S-T-O-R-Y“ aus dem Jahre1997 von Johan Grimonprez, welches das Phänomen der seit den 1960er Jahren vermehrt auftauchenden Flugzeugentführungen in die Darstellung bringt. Wie bei vielen Videoprojekten handelt es sich auch hierbei um eine Mischung verschiedener Genres der Bildproduktion: von der Dokumentation, über Science Fiction, nachgestellte Szenen, Nachrichtensendungen, Archivmaterial bis hin zur Werbung werden die Szenen montiert. Auf den Betrachter schießen die Bilder ein, erzeugen die Möglichkeiten zur Assoziation, und insofern handelt es sich hier nicht mehr bloß um eine Dokumentation, sondern zugleich um eine Sicht auf dieses Phänomen des hi-jacking im Spiegel der Ästhetik. (Wobei – trivialerweise – auch die Dokumentation das Reale immer inszenieren muß und in einer bestimmten Pose präsentiert.) Das Medium Fernsehen ist, so der Katalogtext zu diesem Video, das Dazwischen, welches alle Seiten bedient, die Entführer ebenso wie das Publikum: John Grimonprez „beleuchtet die kapitalistische Verwertungslogik der Medien, die sich auf perfide Weise mit der terroristischen Strategien verbindet, größtmögliche Aufmerksamkeit zu erlangen.“ (S. 34) Das Komplizenhafte der Medien ist zwar einerseits richtig, wenn es um die Ware Nachricht geht, andererseits bleibt aber die staatstragende Funktion der Medien ihr Primat. Das Bild hinter dem Bild kommt dabei nicht in den Blick. Marx schrieb bezüglich der Zeitung: „Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein. Dem Schriftsteller, der sie zum materiellen Mittel herabsetzt, gebührt als Strafe dieser inneren Unfreiheit die äußere, die Zensur, oder vielmehr ist schon seine Existenz seine Strafe.“ (MEW 1, S. 71) An solche Sätze sei von Zeit zu Zeit erinnert.

Gezeigt werden auch jene Photographien, die verschiedenste Menschen – vom bekannten Photographen über Prominente bis hin zum gemeinen Menschen von der Straße – vor, am und die Tage nach dem 11. September schossen und die zuerst vor einer Ladenfront in der Prince Street in Manhattan in der Nähe des WTC, an Wäscheleinen aufgehängt, gezeigt wurden – ohne Beschriftung oder Hinweis auf den Urheber. Diese Bilder gab es zu kaufen, und erst nach dem Kauf erfuhr der Käufer den Urheber. Diese Ausstellung „Here is new york: a democracy of photographs“ entwickelte sich durch das Anwachsen der Bilder immer weiter. Sinn hat ein solches (unendliches) Archiv freilich nur, wenn es sich um andere Schauplätze erweiterte, anstatt sich „auf die vermeintliche Einzigartigkeit der Opferrolle zu konzentrieren“, wie es Fred Ritchin im Katalogtext schreibt (S. 178).

Die wenigen in der Ausstellung in Berlin gezeigten Bilder aus dem „Here is new york“-Projekt sind sicherlich teils bewegend, zuweilen sehr gut photographiert, teils Dokument, teils erschreckend oder der zufälligen Betätigung des Auslösers geschuldet. Sie entspringen auf alle Fälle dem subjektiven Blick und zeigen Weisen der Wahrnehmung. Sie produzieren aber zugleich die Amnesie für die anderen Orte, die in Verbindung zu 9/11 stehen. Ich bin mir nicht sicher, ob es von den Machern der Ausstellung eine Art Verlegenheitslösung gewesen ist, gleichzeitig die eindringlichen Kriegsphotos von Anja Niedringhaus aus dem Irak und aus Afghanistan zu zeigen, und ob in dieser Korrespondenz und Koppelung die Bilder von Niedringhaus nicht vielmehr zu kurz geraten oder ob das eine Verbindung zu 9/11 ergibt, die als Korrektiv des Blickes fungiert. Zu den Photographien von Niedringhaus schreibe ich einen separaten Text, ich möchte das nicht hier abhandeln, weil das den Bildern nicht gerecht würde. Aber am Ende kann keine Kunstkritik den Bildern gerecht werden, weil sie als Sprache immer reduktiv verfährt.

Attention to Hanneswurst: You are leaving the 1000-Word-Sector

Trend ist es momentan, Disparates oder Antagonismen in den Videobildern zusammenzuführen. Auch wenn dieses Verfahren mittlerweile zum System sich ausbildet, kann solche Koppelung unterschiedlicher Elemente dennoch eine Wirkung ganz eigener Art entfalten. Robert Boyds Videoinstallation „Xanadu“ macht das teils ganz gut. Zu den disparaten Bildern tönt u.a. das Popmusikstück „Xanadu“. Man hätte aber ebenso Metallica geben können, die vorzugsweise in Guantanamo den dort ohne jede Rechtsgrundlage Eingesperrten gerne vorgespielt wurden, was den Sänger James Hetfield in einem Interview mit einem gewissem Stolz erfüllte, dort gespielt zu werden.

Ein grandioser Reigen an Bildern zeigt sich in Boyds Video-Stück. Dabei ist der Betrachter Bestandteil, denn er steht in einem dunklen Raum, der einer Tanzfläche in einer Diskothek nachempfunden ist. An der Decke dreht eine Diskokugel. Auf drei großen Leinwänden werden Fetzen aus Videobildern projiziert – teils simultan auf allen drei Leinwänden und teils auf je einer der Flächen, dazu laufen Musikstücke aus der Pop-Musik. Gezeigt werden die Einschläge von 9/11 samt den Menschen, die aus Fenstern sich stürzen, Sektenmitglieder, Haßprediger aller religiöser Färbungen, Politiker, Szenen aus Spielfilmen, Mussolini, die Geschlachteten, Zerschundene, die Opfer der Geschichte, Opfer von Verbrechen, die postfaschistischen Evangelikalen – Boyd kombiniert alles mit allem: und in der Verbindung mit der Musik und der irrsinnigen Betrachterperspektive hat solcher Bilderreigen sogar etwas Einnehmendes – auch jenseits der Beliebigkeit des Verströmens von Bildern.

Diese Verbindung von zunächst unverbundenem Bildmaterial beruht auf dem Prinzip der unwillkürlichen Anordnung; Bilder und Musik ließen sich auch ganz anders präsentieren, in Präsenz bringen, es sind die Bild/Ton-Sequenzen nicht konsequent durchkomponiert und in der Aneinanderreihung von Brutalität, Politischem oder Trash aus Kulturindustrie eher dem dadaistischen Zufall geschuldet. Auch hier fehlt am Ende die Referenz, das Objekt. Todesbilder, Menschen, die gerade erschossen werden oder Menschen nach einem Massaker, Sektenmorde, Sektenmitglieder, die sich gegenseitig prügeln, Menschentötungen aus der Liveberichterstattung, brutal und echt, nicht das Gefakte aus B- oder Z-Movies, unterlegt mit dieser fröhlichen Musik aus irgendwelchen Discotheken in irgend einer Stadt in irgend einer kapitalistisch angehauchten Atmosphäre, in einer Metropole oder in der Dorfdisko, auf irgend einer Tanzfläche.

Der Tod ist ein Meister von allüberall her. Information existiert nicht, sondern bloß eine Kette von Bildern und Musik wie man es aus der MTV-Clip-Ästhetik kennt. Die Darbietung setzt auf Intensität.

Wie bei vielen (multimedialen) Kunstwerken der Gegenwartskunst seit über zwanzig Jahren richtet sich das Werk auf die Weisen von Rezeption und spielt damit der elendigen Rezeptionsästhetik zu. Es geht um Stimmungen und Gefühle, die angebohrt werden. Nicht mehr ist es die ästhetische Stringenz konzeptueller Kälte und punktueller Grausamkeit eines Bruce Nauman, etwa in „Anthro-Socio“ (gezeigt auf der documenta IX). Dieses Abzielen auf Reaktion – wie bei Boyd – ist zuweilen heikel, weil das zur Wohlfühlkunst herabsinkt. Andererseits kann die Rezeptionsästhetik sowie die Ästhetik der Intensität umgangen werden, indem auf das Werk verwiesen wird: Keine Wirkung ohne Werk, weshalb die Reaktionsweisen beim Betrachten von Boyds Bilderstrom als vielfältig vermittelte zu nehmen sind.

Und eben durch diese Auffächerung und diese (zufällige) Aneinanderreihung von Bildmaterial, das die Betrachter im Konsummodus auf einer Tanzfläche sich zuführen, erhalten diese verschiedenen Aspekte und Momente von Gewalt – den Schrecken umpolend in Vergnügen – bei Boyd eine fast behagliche Anmutung. Vielfach mußte ich beim Betrachten lachen, während andere nur kopfschüttelnd oder angesichts der Gewaltbilder voll von Ekel den Raum verließen. Die Bild/Ton-Spuren evozierten aufgrund ihrer Drastik fast ein Moment von Komik, so wie die stille Kinobesucherin oder der -besucher bei irgend einem Kettensägenmassakerfilm lachen, und es sind diese Bilder doch alles andere als komisch.

Im dritten und letzten Teil dieser Besprechung geht es dann um eine dekonstruktivistische Sicht der Kunst auf 9/11.

„Unheimlich vertraut. Bilder vom Terror“ (1)

Einige Bemerkungen anläßlich der Ausstellung im c/o Berlin

„Show you are not afraid. Go to restaurants. Go shopping.“
(Rudolph W. Giuliani)

„Die Olympischen Spiele werden aufgrund von Protesten von Teilnehmern und Zuschauern unterbrochen, einen halben Tag nach der Ermordung der israelischen Sportler aber wieder fortgesetzt. Dazu Avery Brundage, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOK): ‚The Games must go on‘

Avery Brundage (1887–1975), amerikanischer Unternehmer, Teilnehmer der Olympischen Sommerspiele 1912, von 1952 bis 1972 Präsident des IOK. Befürwortete die Teilnahme amerikanischer Sportler bei den Olympischen Spielen 1936 und setzte sich dafür ein, dass jüdische Sportler im amerikanischen Kader durch nicht-jüdische ersetzt wurden.“
(Friedrich von Borries, München. Show You‘re not Affraid. New York. The Games Must go on,
in: Katalog „Unheimlich vertraut. Bilder vom Terror“, S. 102)

Es ist Krieg.

Der Begriff des Terrors ist vielschichtig. Er kann in der Geschichte als Staats- oder Kirchenterror vorkommen, wenn gefoltert, getötet und auf eine Weise bestraft oder normiert wird, die über alles Maß geht – wenngleich die Akteure selber sich derart nicht beschreiben würden. Jeder der Akteure wähnt sich, innerhalb eines Rechtsbegriffes zu operieren. So steht ein Recht gegen ein anderes. Und der Begriff des Terrors, die Festschreibung des Terroristen, dient zugleich dazu, jene Gegenseite (diskriminierend) kenntlich zu machen, jenen Gegner zu beschreiben, der das Gewaltmonopol (eines Staates) in Frage stellt. Fremdbeschreibung und Selbstbeschreibung decken sich beim Gebrauch des Begriffes Terror/Terrorismus nicht.

Die Geschichte ist voll von Terror.

Als Produkt jener Dialektik der Aufklärung tauchte er in der Französischen Revolution als Terreur auf, um die gegenrevolutionären Kräfte in Schach zu halten. Mit der französischen Revolution wird der Begriff des Terrors endgültig zu einer politischen Kategorie, die Anspruch auf ein weitreichend Allgemeines machen kann – auch über den Begriff des Partisanen, wie in der Guerilla-Taktik der Spanier beim Kampf gegen die Napoleonische Besetzung und in den Aktionen der Preußischen Freikorps wie der Lützowschen schwarzen Reiter. Berechtigter Kampf gegen Unterdrückung oder ein terroristischer Akt purer Gewalt?

Es kann das, was als Terror bezeichnet wird, das Recht einer Gruppe bedeuten, Widerstand zu leisten. Wesentlich bezeichnet der Begriff des Terrors Weisen asymmetrischer Kriegsführung. Dabei geraten die Bestimmungen, was nun Terror und was Recht auf Widerstand und damit legitim sei, fließend. Der Angriff auf eine Hochzeitgesellschaft ergibt für die einen lediglich einen Kollateralschaden bei der ruhmreichen Verteidigung der sogenannten Freiheit am Hindukusch, für die anderen handelt es schlicht um einen barbarischer Akt des Mordes – mithin staatlich freigegebener Terror.

Die populäre Devise, daß man nicht nicht kommunizieren kann, zeigt sich am Phänomen des Terrorismus besonders deutlich. Terror ist die Kommunikation von Angst in zwei Richtungen: Du darfst nicht ruhig leben, so sagt es der bedrohte Staat, indem die Terrorwarnungen mal hoch und dann wieder herunter gefahren werden. Du sollst nicht ruhig leben, so sagen es die Seiten, die Terror gegen die zivilen Bevölkerungen ausüben. Insofern ist der Hinweis Giulianis – zumindest in einem guten hedonistischen Sinne – so falsch nicht, in ein Restaurant sich zu begeben und gut Essen zu gehen. Für sauberes und angstfreies Ausgehen in new York sorgte er ja bereits durch seine Politik der „Zero-Tolerance“.

Neben diesen politischen Bestimmungen, gibt es die mediale Dimension, in der den Zuschauern die Bilder des Terrors, die Bilder des Krieges samt deren Auswirkungen präsentiert werden. Terror ist eine Strategie zur Kommunikation, um eine Botschaft zu übermitteln, die nur über Bilder funktioniert, weil sie lediglich im Visuellen eine hinreichend große Zahl an Zuschauern erreichen kann. Diese Visualiserung von Macht, welche sich zuweilen in einer Ikone verdichten kann, fängt mit den abgeschlagenen Köpfen oder mit den zerstückelten Körpern an, die in der grauen Vorzeit (und bis heute hin) am Straßenrand oder in der Ortschaft, gut sichtbar, positioniert werden, damit der Feind erschaudere.

Die Ausstellung „Unheimlich Vertraut. Bilder vom Terror“ im c/o Berlin fällt überbordend und groß aus. Ich bespreche sie deshalb in mehreren Teilen. Zunächst soviel: man muß aufpassen, nicht in die Falle 9/11 zu tappen: Über das eine Ereignis wird ausufernd berichtet, über andere aber gar nicht. Es gibt in der Aufmerksamkeitspolitik der Medien verschiedene Arten von Toten. Und zugleich ist bei einer Ausstellung Skepsis angebracht, wenn im Katalog als Förderungsvermerk „A Public Affairs Programm of the Embassy of the United States“ vorkommt. Leicht verkümmert Kunst zur Staatskunst, so daß qua Ästhetik sich der Diskurs des Politischen in die gewünschte Richtung hin ausbildet. In dieser Ausstellung verhält es sich freilich nicht ganz so, weil die Bildproduktion und das, was gezeigt wird, vielschichtig ausfällt und verschiedene Aspekte und Sichtweisen auf den Terror visualisiert und teils auch künstlerisch dargestellt werden. Wenngleich das Herzstück der Ausstellung sicherlich die Auseinandersetzung mit jenen Bildern von 9/11 ist. Und so läuft auch dieser Essay in jene Falle, indem er die Produktion von Bildern sowie die Momente daran, die zu kritisieren sind, durch einen weiteren Kommentar lediglich verstärkt. Die Bilder teilen und vervielfältigen sich. Andererseits habe ich keine Lust, nichts zu schreiben. Es zirkulieren diese Bilder; und es gilt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sie zu analysieren. Insofern gehört diese Ausstellung ebenso zu meine Lektüre von W.J.T. Mitchells Buch „Das Klonen und der Terror“, dessen Kritik ich demnächst fortführe.

„Unheimlich Vertraut“ zeigt sowohl Dokumentarisches, Journalistisches und die ästhetische Auseinandersetzung mit den Feldern Terror, Krieg, Medien, Kunst. Es beginnt die Ausstellung mit Pressephotographien der Anschläge aus den 70er Jahren: Angriff der RAF in Heidelberg auf die US-Army, die Bilder des zerschossenen Mercedes bei der Schleyer-Entführung, ein IRA-Anschlag auf eine britische Kaserne in der BRD. Die Photos befinden sich in Klapprahmen, so daß man die Rückseiten der Bilder ansehen kann, auf denen sich die Beschriftungen der Agenturen befinden, die dort, teils mit Schreibmaschine geschrieben, genauere Angaben zu den Bildumständen machen. Denn diese zweite Seite des Bildes schafft mit ihren Kürzeln, Stempeln, Hinweisen zur Sache und den Copyrightvermerken aus den Redaktionsstuben eine zweite Ebene – die des Vermittelten. Sie erst erzeugt den Kontext und damit die erste, tentative Einordnung des Geschehens, was dann als Wirklichkeit – und zwar in dem Sinne, daß es wirkt – in den Verkauf gelangt.

Als blutiger Auftakt der 70er Jahre und als Einschreibung eines breit gestreuten Medialen in den Diskurs des Politischen – zumindest innerhalb der BRD – gilt wohl die Geiselnahme und anschließende Exekution der israelischen Sportler bei den Olympischen Spielen 1972 durch palästinensische Terroristen. (Daß Kriegs- oder Terrorbilder immer schon mit dem Medialen paktieren und durch ihre Inszenierungen und Darbietungen ein bestimmtes Bild vom Krieg in die Heimatfront tragen, zeigt etwa Gerhard Paul in seinem Buch „Bilder des Krieges, Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges“ Der erste Irakkrieg etwa wurde uns als Präzisionskrieg verkauft, als gäbe es nur gerechte Tote, die natürlich allesamt nur böse irakische Soldaten waren.)

Die einzelne Photographie ist im Grunde stumm, die Geschichte, die das Photo zeigt, kann so oder auch ganz anders sein. Eine journalistische Photographie in einer Zeitung illustriert lediglich, sie gibt einen Rahmen, damit es den Leser in der Bleiwüste nicht zu sehr ödet. In diesem Akt der Visualisierung des Geschehens stechen bestimmte Bilder heraus und gelangen in das kollektive Gedächtnis. Meist sind es statische Bilder, also Photographien, seltener Fernsehbilder. Ihr Charakter ist der, daß man kurz nur anzudeuten braucht, was darauf zu sehen ist und (fast) jede und jeder weiß, welches Bild gemeint ist, man realisiert mit seinem inneren Auge: so etwa das in der Ausstellung gezeigte Photo eines der maskierten Geiselnehmers auf dem Balkon des israelischen Quartiers. Es hat sich im Gedächtnis festgebrannt. Insbesondere die Kapuze dürfte ein zentrales Element des Bildes sein, was zu seiner Unheimlichkeit einiges beiträgt. (Dies wird bei jenem bekannten Folterbild aus Abu Ghraib sinnfällig. Ich komme darauf dann im Rahmen der Lektüre von Mitchell zurück.) Die Olympischen Spiele 1972 in München waren die ersten, die europaweit Live und in Farbe übertragen wurden. Und die Geiselnahme mit dem tödlichen Ausgang war eines der ersten Ereignisse, bei dem Journalistischen fast rund um die Uhr vor Ort dabei waren und ihre Teleobjektive auf das Geschehen richteten. So sehr vor Ort und berichtend, daß auch die Attentäter bereits im Vorfeld von den Aktion der Polizei wußten und entsprechend reagierten. Der spätere Magnum-Photograph Raymond Depardon hielt dieses Ereignis in Bildern fest, wovon eine Auswahl in der Ausstellung gezeigt wird. Überboten wurde diese unmittelbare Präsenz der Medien wohl nur durch das Gladbecker Geiseldrama 1988.

Mit dem Journalistischen korrespondierend steht die Photo-Serie „My Neck is Thinner than a Hair“ von The Atlas Group/Walid Raad. Dort werden in s/w ausgebrannte, zerfetzte Autowracks gezeigt. Opfer sind keine zu sehen. Die Betrachter assoziieren das Bombenattentat, aber es kann sich ebenso um einen Unfall handeln. Doch auch die beschriftete Rückseite der Photos sagt dem Unkundigen nichts, weil der Text in arabischer Schrift steht. Erst durch die Übersetzung ins Englische erhalten die Photos einen Kontext. Die meisten der Aufnahmen wurden im Libanon gemacht. Eine Serie von zerfetztem, zerstörtem Autoschrott, teils harren Menschen um das Wrack, manchmal ist nur noch das Knäuel aus Metall abgebildet. Es wirkt wie gepreßter, verbrannter Automobilschrott als Kunstwerk. Die Bilder gleichen sich und sind doch unterschiedlich. Auch bei The Atlas Group/Walid Raad wird das Serielle betont.

Neben diesen Journalismus-Photographien zeigt die Ausstellung Bilder der österreichischen Künstlergruppe G.R.A.M., die jenes Moment des Ikonenhaften, zu dem bestimmte Bilder geraten, herausgreifen und persiflieren, indem sie solche Ikonen nachstellen: so jenen maskierten Terroristen auf dem Balkon in München, der ermordete Benno Ohnesorg oder die Festnahme Ulrike Meinhofs. Da unser Blick im Grunde bei diesen unzählige Male reproduzierten, durchlaufenden, präsentierten Presse-Bildern gar nicht mehr genau hinschaut, sondern lediglich auf das Zeichenhafte der reinen Präsenz eines Bildes reagiert, läßt sich der Unterschied teils erst auf den zweiten Blick ausmachen. Inmitten des dokumentierenden Stroms von Bildern, diesem unendlichen Fluß von Information fallen diese nachgestellten Bilder kaum heraus, und sie irritieren erst auf den zweiten Blick.

Die Ausstellung selbst macht sich dieses Strömen und Überlagern der Information zu nutze. So stört sie den Besucher in seiner kontemplativen Haltung, indem gleich zum Beginn von überall her aus den Bildschirmen Geräusche dringen. Im ausliegenden Gästebuch wurde dies negativ vermerkt, aber diese Kakophonie hat durchaus System. Im Eingangsbereich die Berichterstattung von ZDF und dem DDR-Fernsehen über das Geiseldrama in München. Auf der anderen Seite des Raumes stehen weitere Monitore, unter anderem Chrisoph Draegers „Black September“, in dessen Video inszenierte, rekonstruierte Ereignisse aus dem Olympischen Dorf mit den realen Ereignisse vermischt werden. Inmitten dieser Klangcollage, die es ebenfalls im ersten Stock gibt, betrachtet man die Photo-Serien.

Information verkommt dadurch, daß sich die Ströme vervielfältigen, überlagern und verflechten zur Desinformation, zur Nullinformation, zum (weißen) Rauschen und zur reinen Bildlichkeit des Bildes, es ist seines Inhaltes entleert und fungiert als Selbstzweck – im Fernsehen gab es dieses entleerte Spektakel als endlosen Loop der einstürzenden Twin Towers zu sehen. Insofern wäre in diesem Falle zu unterscheiden zwischen der Bild-Ikone und dem Bilderstrom.

Bei allem Krieg der Bilder und bei all den neue Fakten schaffenden Bildakten, während die Bildzeichen flottieren und Wirkungen zeitigen, sollte dabei nicht übersehen werden, daß es sich nicht um ein bloßes Zeichenspiel handelt, das sich semiotisch, ästhetisch oder im Rahmen der Bildwissenschaften lesen läßt, sondern es geschieht der Mord zugleich, und dies nicht bloß zeichenhaft oder als irgendwie zu überhöhendes „Ereignis“. Menschen töten und werden ganz real getötet. Diese pure Faktizität ist nicht zu hintergehen. Dies schließt freilich die Frage nach der Darstellung von Mord und Leid ein. Und insofern ist jene Frage Adornos in bezug auf eine Ästhetik nach Auschwitz noch lange nicht abgegolten.

Ende des ersten Teils

Unpäßlichkeit – Photographien aus Stendal

Krank, leicht kränkelnd. Kann ich derart derangiert heute alkoholische Drogen zu mir nehmen? Nein. Sollte ich zur Genesung abends einen Riesling trinken? Nein. Oder einen italienischen Rotwein aus meinem Lager? Sagt man den Rotweinen doch heilsame Wirkung nach. Besser nicht. Also gibt es nichts als Tee. Sowieso ist die Konzentration den Tag über geschwächt. Insofern liefere ich den Text zur Ausstellung „Unheimlich vertraut. Bilder vom Terror“ in dem wunderbaren Ausstellungsort c/o Berlin erst am Montag. Heute zeige ich lediglich Bilder aus Stendal. Das kann frei von Anstrengungen getan werden und liegt durchaus im Rahmen des Möglichen. Stendal ist, kommt man von westwärts, der nächste Halt für ICEs auf dem Weg nach Berlin, wenn der ICE, wie gerade letzte Woche  und auch zuvor schon geschehen, wieder einmal verpaßte, in Wolfsburg zu halten. Von Stendal kann man dann nach Wolfsburg zurückfahren.

2012 muß das c/o Berlin aus diesen herrlichen Räumen des ehemaligen kaiserlichen Postfuhramts in der Oranienburger Straße ausziehen, weil ein Investor in die Räumlichkeiten ein Hotel hineinsetzen will. Berlin hat sehr wenige Hotels, da braucht es auch eines in dieser Gegend der Spandauer Vorstadt. Schade um dieses Gebäude, welches an der Kreuzung Oranienburger-/Tucholskystraße als Raum für Photos so imposant aufthronte, teils ranzig, verfallen, morbide. Ach, wie ich diese Ecken liebte. Aber es ist um Grunde egal, denn die letzten Reste von Urbanität sind aus diesem Viertel längst getilgt, es ist dies ein Zoogebiet für die Touristen geworden, ebenso wie die Oranienstraße. Hier wohnt nicht mehr der Koran und da drüben fängt schon lange nicht mehr die Mauer an.

Zumindest aber gibt es einen im ganzen doch sehr guten Platz für das c/o Berlin, nämlich das Atelierhaus im Monbijoupark, wo im Sommer die Ausstellung „Based in Berlin“ stattfand. Immerhin. Und sich in den Darkrooms des Bunkers Photos anzusehen: Na, das hat doch etwas.

Aber all das ändert nichts an meiner Übellaunigkeit, weil ich die Dinge, welche ich tun wollte, nicht recht tun kann. Hauptsache ich werde heute von allen in Ruhe gelassen. Es gleicht sich die mäßige Laune aber dadurch aus, daß ich mir am Sonntag vielleicht Lars von Triers „Melancholia“ ansehen werden. Im fiebernden Wahn schleppe ich mich ins Kino: the show must go on, denke ich. Ich denke, „Melancholia“ ist ein Film ganz nach meinem Sinne. Kalte Sterne, das Tristan und Isolde-Vorspiel. Und wie von Trier, so kürzlich im Interview, habe auch ich wohl manches mit der Protagonistin, gespielt von Kirsten Dunst, gemeinsam. Ein Szenario, das ich oft imaginierte.

Nun seien aber die Bilder aus dem mittelöden Stendal gegeben.

„Show you are not afraid. Go to restaurants. Go shopping.“
(Rudolph W. Giuliani)

Kurvenstar

Die für den letzten Samstag geplante Fahrt in den Osten des Ostens wurde zu einer Fahrt in den Westen des Ostens, weil ich bei meinen Vorbereitungen des Ausfluges befand, daß es nicht gut ist, in der ersten frühmorgendlichen Angriffswelle direkt in die aufgehende Sonne hineinzureiten, denn die Sonne steht momentan tief und sie blendet. Auf der abendlichen Rückkehr ereignete sich dann diese Blendung zum zweiten Mal. Ich sehe nichts und das ist beim Autofahren anstrengend. Ist das auf der Autobahn ein Igel, ein Apfel, der Teil eines Reifens, eines Unfallopfers, eines Kopfes? Bremste da jemand vor mir? „I see the light.“  Solcher Unbill muß nicht sein. Bei jedem Angriff der Sioux auf das Fort reiten die Sioux aus der Sonne heraus gegen das Fort, während die Soldaten der Kavallerie in den Laufgängen der Fortbrüstung in die Sonne blicken. So lernte ich es zumindest im sogenannten Western von Hollywood, der unser Bild von den Ureinwohnern prägte. Ob diese tatsächlich auf Pferden angriffen? Ich weiß es nicht. Also fuhr ich am Samstagmorgen westlich, über die Autobahn, Berliner Ring, auf die A 2, dann via Umgehungsstraßen an der Stadt Brandenburg vorbei, schöne Nebellandschaften in den Senken und an den Gewässern, über die Dörfer, über die Landstraße, die Elbe querend nach Stendal, was mich daran erinnert, daß ich demnächst mit der Lektüre Flauberts anfangen muß, um im Dezember einen Essay zu seinem Geburtstag schreiben zu können.

Nach dem Besuch in Stendal ging es in das Jerichower Land – und auch in das Dorf Jerichow. Was mich wiederum daran erinnert, mir den Debütroman von Jan Brandt „Gegen die Welt“ zu besorgen, zu lesen und vielleicht, insofern er bedeutsam ist, hier im Blog zu besprechen.

Die Photo-Serie „Ausgesucht öde Orte“ findet über das Städtchen Stendal mithin ihre Fortsetzung, wobei die Ödigkeit in Frankfurt/Oder größer ausfällt als die in Stendal. Was mich wiederum daran erinnert, daß sich am 21.11. der 200ste Todestag Heinrich von Kleists nähert. Auch dazu muß ein Text geschrieben werden. Die Öde Stendals will gesucht sein. In den Nebenstraßen findet man sie noch. Und es sprach mich beim Photographieren eines verfallenen Hauses eine Frau an: „Ausgerechnet das häßlichste Haus dieser Stadt müssen sie photographieren!“

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In den meisten Städten, in die ich einen Tagesausflug unternehme, mache ich es so, daß ich einfach drauflos spaziere, ich bereite mich nicht vor, ich weiß nicht, wo es hingeht, es kann also geschehen, daß ich das beste möglicherweise verpasse. Demnächst zeige ich – vielleicht – einige Photos aus Stendal, wenngleich ich mit der Ausbeute nicht recht zufrieden bin.

Am Sonntag ging es ins c/o Berlin, um die dort stattfindende Ausstellung „Unheimlich vertraut. Bilder vom Terror“ anzusehen. Weiterhin gab es dort Photographien der Kriegsreporterin und Photo-Journalistin Anja Niedringhaus. Der Titel der Ausstellung lautet „At war“. Ich habe selten bessere Photographien gesehen. Nein, das ist nicht ganz richtig: es ist das beste an Photos, was ich seit Jahren betrachten durfte. Robert Capa, Donald Mc Cullin oder Philip Jones Griffiths schossen eindringliche Bilder von den Kriegen dieser Welt. Was Niedringhaus machte, kann man kaum in Worte fassen. Die Photos bilden nicht nur den Schrecken des Krieges ab und dokumentieren ihn, sondern sie schlagen durch eine Art der Komposition und durch die Bildsprache sowie das Formbewußtsein vor den Kopf. Ich bin immer noch wie im Rausch von diesen Photos, und bereue es heute fast ein wenig, 1987 nicht ein Angebot angenommen zu haben, nach Israel zu gehen, um dort Photos zu machen. Ich wäre kurz vor der ersten Intifada in Israel eingetroffen. Ich wäre heute berühmt oder tot. Nach dem Besuch der Ausstellung tat ich etwas, das ich sonst eigentlich nicht mache: ich kaufte mir das Plakat der Niedringhaus-Ausstellung. In der Regel hänge ich mir keine Photographien fremder Photographen in die Wohnung, weil ich an den Wänden meine eigenen Bilder rahme. Hier aber tätigte ich eine Ausnahme.

(Photographie von Anja Niedringhaus)

Ich schreibe über beide Ausstellungen demnächst. Nach dem Besuch im c/o Berlin flanierte ich durch Mitte und begab mich dann als Zielpunkt auf den Alexanderplatz. Der Photograph Harald Hauswald photographierte und photographiert häufig auf dem Alexanderplatz, beobachtete und verharrte dort, bis er das passende Motiv fand, wartete, bis die Anordnung der Menschen und die Konstellation stimmten. Es bilden sich im Vorbeigehen und im Stehenbleiben der Menschen Strukturen und Formen. Der Alexanderplatz eignet sich ganz hervorragend zum Photographieren von Menschen. Still setzt man sich an eine bestimmte Stelle und beobachtet. Es findet auf dem Alexanderplatz momentan ein Event namens „Oktoberfest“ statt. Ich werde dazu vielleicht eine Bildserie zeigen. Allerdings verspürte ich wenig Lust, dort so lange und bis in den Abend zu verweilen: wenn der Alkoholpegel steigt, so daß sich dann vermittels des Suffs von Menschen die richtig guten Photographien fertigen lassen.

Bevor ich meinen Heimweg antrat, blickte ich von der Empore unten am Fuße des Fernsehturms in den Sonnenuntergang der deutschen Herbstsonne – es soll mir keiner nachsagen, daß ich nicht ebenso einen Blick für das Schöne habe. Die intensiven Rötungen des Himmels entstehen durch die Aschepartikel in der Luft, in denen das Licht die Brüche erzeugt, welche sich als Rötungen niederschlagen. Partikelgestöber, wie es in Celans „Engführung“ heißt. Alles übrige war Meinung.

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Weiter ging es, nach Sonnenuntergang, in die Richtung zu meinem Auto, die Karl-Liebknecht-Straße herunter, dann rechts am Uferweg an der Spree entlang auf die Burgstraße und kurz bei Walther König in die Auslage geschaut. Wer gute Kunstbücher und Bücher zur Ästhetik möchte, wer gerne stöbert, der schaut mit Freude in dieser Buchhandlung vorbei. Natürlich nicht am Sonntag, sondern dann, wenn das Geschäft geöffnet ist. Den Hackeschen Markt sowie die Höfe ließ ich für heute rechter Hand liegen, obwohl sich insbesondere dort von Zeit zu Zeit Straßenszenen zutragen, die es lohnen, festgehalten zu werden. Unter den Gleisbögen der Bahn durch die Kleine Präsidentenstraße ging es am ehemaligen „Kurvenstar“ vorbei, wo ich einmal mit einer Frau einkehrte, die diesem Bar-Namen alle Ehre machte. Eine tolle, wunderbare Frau – noch heute: interessant, witzig, geistreich, lebendig und lebhaft und leider schwierig, kompliziert sowie durch und durch chaotisch. Ich hätte sie seinerzeit gerne geheiratet, aber dazu hätte ich ihr wohl einen Antrag machen müssen. Nein, ich heirate nicht. Zumindest nicht heute.

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Über den Monbijouplatz hielt ich auf die Oranienburger Straße zu. Eine interessante, verfallene Straße war dies. Einstmals. Es standen früher die Huren dort, der Straßenstrich spielte sich hier ab. Aber das ist alles ausradiert, sieht nun anders aus.

Denn es stört das Gewerbe der Sexarbeiterinnen den geordneten, verordneten Konsum von Cocktails, Drinks, Latte macchiato, und es nimmt sich die Nahrung beim Blick auf die Haut, auf grelle Jacken und auf Hotpants lange nicht so gut auf. Die Straße wurde glattgebügelt und nichts davon ist mehr zu sehen, wie es hier früher einmal aussah. Ich gehe am Fenster meines Zahnarztes vorbei, der dort schon lange nicht mehr praktiziert, weil das Gebäude grundsaniert wurde.

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Der abgebildetet Mercedes SL gehört mir zu meinem sehr großen Bedauern nicht. Der Reisebus zum Glück ebensowenig. Nicht daß jemand auf die Idee käme,  ich sei Busfahrer und auf dem Wege zu meinem Reisebus. And I’m not the passenger.