Antisemitischer Protest (2): Jener offene Brief zur FU-Besetzung  

Von besonderer Bedeutung ist in diesem Kontext der zu einem großen Teil antisemitischen und antiisraelischen Universitätsbesetzung ein sogenannter Öffentlicher Brief, der gestern erschien: „Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten“. Unterzeichnet unter anderem von solchen prominenten Namen wie Patrick Eiden-Offe, Rahel Jaeggi, Eva von Redecker, Michael Celikates, Daniel Loick, Michael Wildt, Diedrich Diederichsen (Akademie der bildenden Künste Wien), Juliane Rebentisch (Hochschule für Gestaltung Offenbach/Main), Oliver Nachtwey (Universität Basel),  und Dominik Finkelde (Hochschule für Philosophie München), die alle vier ganz sicher nicht vor Ort waren und sahen, was an der FU geschah. Und ich wette überhaupt, daß keiner dieser Leute, die dort unterschrieben, an der FU Berlin sich zu diesem Zeitpunkt aufhielt und sah, was sich zutrug und was gerufen wurde – angefangen bei der Behauptung, daß Israel einen Genozid begeht. Und ich glaube auch nicht, daß die Unterzeichner über mehrere Stunden Video-Material sichteten. Kein einziger der Besetzer, der nur im Ansatz die Hamas verurteilte oder gar, als Bedingung für einen Waffenstillstand, die Freilassung der Geiseln forderte. (Ich berichtete gestern über das Geschehen.) Ein Schild, das am U-Bahnhof Dahlem lag, mit der Aufschrift „Terrorismus ist kein Widerstand“, wurde mit Füßen getreten und dann von den Aktivsten weggeschmissen. Als die kleine israelische Fahne, die ich eingesteckt am Hemd trug, herunterfiel, wurde sie ebenfalls mit den Füßen getreten, und zwar indem ein junger Mann darauf herumtrampelte. Als ich dies photographierte (den Boden wohlgemerkt), wurde ich abgedrängt und meine Kamera zugehalten. Von der rechtswidrigen Besetzung eines Gebäudes einmal ganz abgesehen, die völlig indiskutabel und durch nichts zu rechtfertigen ist.

Wer sich mit solcher Szene solidarisch erklärt, muß sich dies zurechnen lassen. Und das gilt auch für die dort protestierenden Studenten, die sich die dort gerufenen Parolen zurechnen lassen müssen. Ich erinnere noch zu Corona-Zeiten 2020 die Kritik, die es von jenen Leuten gab, wenn Kritiker der Corona-Maßnahmen auf Demos mitliefen, wo auch Rechtsradikale und Verschwörungsschwätzer anwesend waren. Sie wurden dafür gerügt und es wurden ihnen gesagt, daß sie sich diese Gesellschaft dann auch zurechnen lassen müssen. Nun ist es aber so: Was in die eine Richtung gilt, gilt auch in die andere Richtung.

Gleich zum Auftakt heißt es in diesem Brief:

„Als Lehrende der Berliner Hochschulen verpflichtet uns unser Selbstverständnis dazu, unsere Studierenden auf Augenhöhe zu begleiten, aber auch zu schützen und sie in keinem Fall Polizeigewalt auszuliefern.“

Einmal von der anbiedernden Phrase „auf Augenhöhe“ abgesehen: Polizeigewalt wäre es, wenn Studenten plötzlich auf dem Nachhauseweg in Polizeiwagen gezerrt und dort verprügelt würden. Das ist aber nicht geschehen. Wer aber nach der Aufforderung sich zu entfernen, sich nicht entfernt, wird, da die Universität richtigerweise von ihrem Hausrecht Gebrauch macht, dann von der Polizei abtransportiert oder mittels einfacher Gewalt weggetragen oder beiseitegeschoben. Die Studenten kamen der Aufforderung, den Platz zu verlassen, nicht nach. Die Polizei schob die Studenten langsam beseite. Viele der Studenten wehrten sich massiv gegen dieses Abdrängen und so kam es aufgrund dieser Gegenwehr zu einem vermehrten Geschiebe. In diesem Kontext von Polizeigewalt zu sprechen, ist zynisch und vor allem bösartig. Und es ist nun einmal so, egal ob Corona-Leugner oder Student: Wer den Aufforderungen der Polizei nicht nachkommt, muß bestimmte Konsequenzen in Kauf nehmen. Beim Widerstand gegen Polizeibeamte kann es zudem geschehen, daß der Störer abgeführt wird, um seine Personalien aufzunehmen und eine Anzeige zu erstatten.

Wer zudem solches wie „auf Augenhöhe“ schreibt, der begibt sich als Hochschullehrer oder Dozent leider auf genau das Niveau solcher Leute, die mit Gewalt einen Boykott gegen Israel erzwingen wollen und dazu andere Studenten in Geiselhaft nehmen. Ob diese Hochschullehrer ähnliches auch schrieben, wenn rechtsidentitäre Studenten die Universität besetzten und sich kritisch zur Migration äußerten? Sicherlich nicht. Weiter heißt es:

„Unabhängig davon, ob wir mit den konkreten Forderungen des Protestcamps einverstanden sind, stellen wir uns vor unsere Studierenden und verteidigen ihr Recht auf friedlichen Protest, das auch die Besetzung von Uni-Gelände einschließt.“

Hier bleibt nachzufragen, ob solche Solidarisierung auch dann gälte, wenn Studenten ein Protestcamp erreichten, um Forderungen aufzustellen, daß die Migration nach Deutschland zu begrenzen sei. Oder eben irgend eine andere Parole, die einem linken Kulturestablishment deutlich weniger genehm ist, etwa ein Protestcamp, das die Wiedereinführung der Atomkraft erzwingen will. Die Phrase von „ob wir mit den konkreten Forderungen des Protestcamps einverstanden sind“ hat zudem etwas Scheinheiliges und es zeigt sich in diesem Satz, daß keiner derjenigen, die solches schreiben und unterschreiben, am FU-Campus anwesend waren. Ein Protest zudem, der Gebäude und Räume besetzt, die ansonsten von anderen genutzt werden würden, ist keineswegs friedlich, sondern hier handelt es sich um Gewalt und Nötigung. Es kann nämlich der Betrieb nicht stattfinden. Bibliotheksbesuche müssen ggf. abgebrochen werden, weil eine aktivistische Minderheit meint, über universitäre Räume und damit über eine Allgemeinheit verfügen zu können. Es waren eben nicht tausende von Studenten wie bei einem Universitätsstreik für bessere Bildungsbedingungen, sondern wenige hundert Aktivisten, davon zudem Zugereiste. Auch aus diesem Grunde und um für weitere Aktionen zu beliebigen Themen keine Präzedenzfälle zu schaffen, war es richtig, daß die Universitätsleitung von ihrem Hausrecht Gebrauch machte.

„Es ist keine Voraussetzung für grundrechtlich geschützten Protest, dass er auf Dialog ausgerichtet ist. Umgekehrt gehört es unseres Erachtens zu den Pflichten der Universitätsleitung, solange wie nur möglich eine dialogische und gewaltfreie Lösung anzustreben.“

Nein, ist es nicht. Aber es ist eine Universität mit diversen Institutionen, von Mensa bis Bibliothek auch nicht der Ort, um alle anderen mit einem persönlichen Anliegen symbolisch in Geiselhaft zu nehmen und ihnen solchen Protest aufzunötigen. Grundrechtlich geschützter Protest wurde im übrigen nicht verhindert. Die Studenten hätten eine Demonstration anmelden können. Das haben sie aber nicht getan. Die Universität ist keineswegs verpflichtet, jedem Hansel mit abstrusen Forderungen eine dialogische Lösung anzubieten. Eine Universität ist kein Streichelzoo und auch keine Therapiegruppe. Würde diese Forderung der Unterzeichner auch für Leute gelten, die gegen die Corona-Maßnahmen protestierten und sich auf dem Campus breit machten? In diesem Fall nämlich würde jemand wie Daniel Loick und der Herr Celikates und die Frau Jaeggi plötzlich sehr schweigsam werden, so steht zu vermuten und es ist da plötzlich schnell vorbei mit „Demokratie“. Der Offene Brief würde still, heimlich und leise im Papierkorb versenkt.

„Diese Pflicht hat das Präsidium der FU Berlin verletzt, indem es das Protestcamp ohne ein vorangehendes Gesprächsangebot polizeilich räumen ließ. Das verfassungsmäßig geschützte Recht, sich friedlich zu versammeln, gilt unabhängig von der geäußerten Meinung. Die Versammlungsfreiheit beschränkt zudem nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts („Fraport“) das Hausrecht auch für Orte, die, wie wohl auch der Universitätscampus der FU Berlin, öffentlich zugänglich sind und vielfältigen, darunter öffentlichen Zwecken dienen.“

Das verfassungsmäßig geschützte Recht ließe sich etwa mit einer Demo wahrnehmen oder mit einem Protestmarsch über den Campus und dann etwa in Richtung Steglitz oder Zehlendorf zu laufen. Das wurde aber nicht getan. Zudem wurden bei dieser Aktion keine Flugblätter verteilt, sondern es wurde ein auf Dauer und Bleiben hin konzipiertes Camp eingerichtet. Das Aufstellen von Zelten und das Aufbauen von Infrastruktur bedeutet, daß diese Leute auf unbestimmte Zeit bleiben wollen und also Besetzer sind: das ist etwas völlig anderes als das Recht auf eine Demonstration. Das Recht, sich in einem öffentlichen Raum zu versammeln, schließt keineswegs ein, den Betrieb derart zu behindern, daß eine gesamte Universität geschlossen werden muß. Auch diesen Aspekt sollten Akademiker, die sich hauptberuflich in irgendeiner Weise, so steht zu vermuten, mit dem Denken beschäftigen, gegenwärtig haben.

„Der Dialog mit den Studierenden und der Schutz der Hochschulen als Räume der kritischen Öffentlichkeit sollte oberste Priorität haben – beides ist mit Polizeieinsätzen auf dem Campus unvereinbar. Nur durch Auseinandersetzung und Debatte werden wir als Lehrende und Universitäten unserem Auftrag gerecht.“

Nur daß es diesen Campusbesetzern keineswegs um Debatten ging, sondern darum, eine in großen Teilen antisemitische Ideologie auf einen Campus zu tragen. „Yallah, Yallah, Intifada“ und das Gefasel von einem Genozid sind antisemitische Positionen, denen es weder um Dialog, noch um Abwägung geht. Die Geiseln und die entsetzlichen Massaker an Juden und Nicht-Juden am 7. Oktober waren auf keinem der Plakate und in keinem der Chöre irgendwie ein Thema. Im Gegenteil: die Besetzer verwechselten Ursache und Wirkung. Die Unterzeichner dieses Briefes hätten das wissen können – wenn sie denn vor Ort gewesen wären. Und wenn sie es denn gewesen sein sollten, zumindest einige, dann ist dieser Brief um so schlimmer. Die Leitung der FU und die Polizei haben hier alles richtig gemacht. Auch vor dem Hintergrund, daß die auf eine bestimmte Dauer gestellte Universitätsbesetzung durch Antisemiten und Israelhasser eine auch symbolisch verheerende Wirkung hat – und dies auf mehreren Ebenen.

Dialog kann in Seminaren stattfinden oder in einberufenen Plena oder einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung, bei der freilich regelmäßig genau jene Aktivisten vom 7. Mai auftauchen, die dann diese Veranstaltungen, wie etwa an der HU seinerzeit, mit Geschrei und Gewalt stören. Insofern ist auch das Wort vom Dialog in vielen Fällen leider nur fadenscheinig.

Es bleibt also solch offener Brief ein leeres Statement. Für die Geisteswissenschaften ein Trauerspiel und vor allem eine entsetzliche Selbstdiskreditierung. Solche wie Patrick Eiden-Offe, Nachtwey, Robin Celikates, Daniel Loick, Rahel Jaeggi, von Redecker, die üblichen Verdächtigen also und teils Vertreter einer woken Linken, unterschrieben solchen Blödsinn. Antisemitismus also als Freiraum an Universitäten. Um sich dann als dritte und vierte Generation einer angeblich „kritischen“ Theorie zu fühlen. Und nein: Das Besetzen von Hörsälen und Universitätsgebäuden, wie das in Berlin geschah, ist eben keine Diskussion – schon gar nicht wenn das mit der Verdrängung anderer Leute erkauft wird, weil die Gebäude nicht für die Lehrveranstaltungen nutzbar sind. Und wie gesagt: die meisten dieser Unterzeichner waren vermutlich niemals vor Ort, aber sie wollen das Narrativ eines friedlichen Protests inszenieren. Daß dadurch Antisemitismus salonfähig wird und an Unis durch solche Aktionen seinen Ort hat, nehmen diese Unterzeichner dabei billigend in Kauf. Sie wissen es nicht, aber sie tun es, um es ihnen mit Marx ins Stammbuch zu schreiben. Allenfalls kann man solche Leute naiv nennen. Das ist die höfliche Lesart. Daß sich Wissenschaftler für ein solches Schmierentheater hergeben, ist traurig und bedenklich vor allem.

Wer anderen Studenten Streik und Besetzung als Widerstandform AUFZWINGT, zumal in einer Sache, die nichts mit dem Universitätsbetrieb zu tun hat, der handelt zutiefst undemokratisch. Das hätten auch jene Wissenschaftler wissen können, die auf die schnelle ihren Offenen Brief hingeschrieben habe. Das in diesem Fall vermeintlich gut Gemeinte ist nicht nur mit heißer Nadel gestrickt, sondern entbehrt zudem noch jeglicher Reflexion auf die Sache. Was bei Wissenschaftlern besonders peinlich ist. Diese Liste ist lang. Und das eben macht sie so erschreckend.

Ging es Adorno und der Kritischen Theorie noch darum, Antisemitismus zu analysieren und damit auch sichtbar zu machen und zu bekämpfen, so haben sich inzwischen die Vorzeichen verkehrt: „Kritische“ Theorie, die ich in diesem Falle nicht mehr kritisch nennen möchte, macht Antisemitismus salonfähig – getarnt als Israelkritik. Es hatte damals gute und richtige Gründe, daß er 1969 bei der Besetzung des Instituts für Sozialforschung die Polizei rief. Ihn erinnerte solche an unheilvolle Zeiten, die Adorno hinter sich glaubte.

FU Berlin, 7.5.: Antisemitischer Protest (1)

Die Besetzung der FU Berlin durch Israelhasser und Antisemiten
und dazu ein Offener Brief

Gestern wurde von antisemitischen wie antiisraelischen Studenten die FU Berlin besetzt, genauer gesagt an der sogenannten Rost- und Silberlaube. Da ich nicht weit entfernt wohne, dachte ich mir in diesem Falle, daß ich dort mit dem Fahrrad hinfahre, um zu sehen, ob es Gegenprotest gibt und vor allem aber, um zu dokumentieren, was passiert. Da ich diese Nachricht erst gegen Mittag wahrnahm, bekam ich die Besetzung des Theaterinnenhofes nicht mehr mit. Rost- und Silberlaube waren beide abgesperrt, als ich dort ankam. Ich habe mir hinterher dann Informationen durch die Sichtung zahlreicher Videos im Internet verschafft. Als ich an der FU ankam, drang aus dem Gebäudekomplex ein dauernder Feueralarm. Die Türen waren verschlossen. Eine gespenstische Situation. Und traurig vor allem für eine Freie Universität.

Konsequent jedoch und robust (großes Lob!) hat die Berliner Polizei sehr schnell den teils antisemitischen Protest aufgelöst. Vorher bereits wurde im Inneren der Universität geräumt, da der Rektor Günter M. Ziegler, der bisher nicht durch übermäßigen Einsatz gegen Antisemitismus an der Universität auffiel, diesmal rechtzeitig die Polizei zur Hilfe gerufen hat. Das war genau richtig. Denn man darf solchen Leuten in keinem Fall den universitären Raum überlassen. Nicht einmal für wenige Stunden. Die Zelte des Protestcamps im inneren Theaterhof, nomen est omen, Intifada-Theater, wurden rasch geräumt. Draußen vor der FU-Mensa versammelten sich weiterer Aktivisten. Drei Aufforderungen zum Verlassen des Geländes gab es. Diese wurden nicht befolgt. Und dann wurde mit Ketten und Polizeigriffen der Platz leergemacht. Sehr gut. Natürlich gab es das übliche Gemosere und „Ganz Berlin haßt die Polizei“-Rufe.

Es ist nun einmal, auch vom Gesetz geregelt, so: Wer nach der Aufforderung der Polizei, den Ort zu verlassen, sich nicht entfernt, muß mit polizeilichen Maßnahmen rechnen, die bis hin zu einfacher körperlicher Gewalt und Schmerzgriffen gehen. Mein Mitleid mit diesen Leuten hält sich in Grenzen. Zumal die Polizei moderat vorging. Genausogut hätte man eine Hundestaffel einsetzen können oder mit Schlagstöcken und Schildern den Raum zurückgewinnen können. Auf solche Maßnahmen wurde verzichtet. Die Polizei trug nicht einmal Helme. Im ganzen also alles gemütlich.

Bei den Protesten nahmen auch Externe, also Nicht-Studenten, und viele migrantische Araber teil, mit den üblichen Rufen. Eine seltsame Melange: teils aggressiv und mit Macho-Gebaren auftretende Araber, teils Studenten und insbesondere viele Studentinnen aus dem woken Milieu, die hysterisch herumkreischten, als hätte man sie einem Hamas-Hauptmann zugeführt oder daß man sie für Patienten einer psychiatrischen Klinik hätte halten können; teils auch Kopftuch-Frauen, die sich auffallend ruhig, aber präsent verhielten. Die ganze Aktion heute schien mir geplant und orchestriert. Einige der Demonstranten wurden hinterher dann mit Autos abgeholt und luden Transparente und Banner ein. Zelte und Vorräte wurden mitgebracht.

Besonders „Yallah, Yallah Intifada“ fand ich in diesem Kontext interessant und es zeigt, woher hier der Wind weht. Bei den „Free Palestine“-Rufen war kein einziger dabei, der diesem Slogan hinzufügte „from Hamas“. Die Hamas, der 7. Oktober und die israelischen Geiseln wurden von diesen entsetzlichen Leuten mit keinem Wort thematisiert. Daß die Angriffe auf Gaza eine Ursache haben, war überhaupt kein Thema, an keiner Stelle.

Daß diese antisemitische Aktion ausgerechnet am 7. Mai geschah, eine konzertierte Aktion dazu, da parallel auch in Leipzig solche Attacken auf die Universität stattfanden, sehe ich nicht als Zufall an. All das sieben Monate nach dem 7. Oktober: auch solches kann man als symbolisches Statement interpretieren – zumal ich, persönlich vor Ort, keinerlei Rufe „Free Gaza from Hamas“ oder irgendeine Parole oder ein Statement gegen die Hamas und für die Freilassung der Geiseln gehört habe. Was im übrigen Free Palestine für Israel und für die dort lebenden Juden bedeutet, kann sich jeder selbst ausmalen. Die Massaker vom 7. Oktober 2023, die in der Eruptivität denen der SS in Osteuropa in nichts nachstanden und teils noch deutlich bestialischer waren, was die Folter von Kindern vor den Augen der Eltern betraf, weisen darauf. Während die SS ihre schrecklichen Taten verbergen wollte, prahlten die Gaza-Araber vor ihren eigenen Leuten in Videos und Bekundungen mit dem Massenmord. Auch das ist der Umschlag von Quantität in eine neue Qualität des eliminatorischen Antisemitismus. Hier werden Historiker genügend Arbeit haben.

Thema war all das jedoch nicht. Hierüber schwiegen die Studenten und ihre von Außen herbeigeeilten Helfer. (Was es nebenbei für jüdische Studenten bedeutet, Kommilitonen mit dem Arafat- und Leila Chaled-Feudel zu sehen, wäre noch einmal ein Thema für sich. Demnächst wird vielleicht auch die Swastika in linken postkolonialen Kreisen als altes Glücksymbol oder als Symbol indischer Weisheitslehre wieder hoffähig .) Und auch hier zeigt sich einmal wieder, wozu das Mitläufertum von ersichtlich biodeutschen, bioblöden Studenten führt. Jenen Aktivistinnen, die da an der FU steindumm herumkreischten und in schriller Stimmlage ihre Sprechchöre herauskrähten, möchte ich doch gerne einmal zur Anschaulichkeit 72 Gaza-Araber auf den Hals wünschen, die mit diesen Damen genau das tun würden, was sie mit Shani Louk und anderen Frauen gemacht haben. Wir erinnern uns an das Bild der blutig gefickten Frau in der Jogginghose im Auto: Ob diese entsetzlich dummen Aktivistinnen dann immer noch davon fabulieren, daß Terror Widerstand sei und ob sie dann wohl noch immer in schriller Stimmlage „Viva, viva Palestina!“ rufen werden? Insofern: ihr könnt euch euer ganzes Viva-Palestina-Gegröle in eure schlecht riechenden Aktivistengendersternchen-Arsche hineinschieben. Und nein: ich wünsche niemandem eine Vergewaltigung an den Hals, nicht einmal solchen Kindermenschen, aber ich erwarte, daß gerade solche Leute, die sich als Studenten sehen, ihren Kopf gebrauchen. Und da machen solche Hinweise vielleicht für das eine oder andere intersektionale Hamsterköpfchen mit den seltsam getönten Haaren die Sache anschaulich.

Auch glaube ich nicht wirklich, daß die Gaza-Araber eine besondere Sympathie für eine nonbinäre Geschlechterordnung oder für Schwule hegen. Diese Art von „intersektionalem Feminismus“ würde in Gaza, in der Westbank, in Syrien, im Irak, in Saudi Arabien oder im Iran nicht einen Tag überleben. Statt einmal nur die Selbstanwendung zu praktizieren oder zumindest über diese nachzudenken und einen Systemabgleich vorzunehmen, werden Dummheiten auf Transparente geschrieben. Wer dekolonisieren will , sollte zunächst einmal die Frage nach Zwangsverschleierung, Zwangsheirat und Frauenrechten stellen. Und dazu vielleicht auch die unrühmliche Rolle der Araber im afrikanischen Sklavenhandel. Postcolonial Studies at its worst.

Wie dem auch sei: Skandalös ist es, daß eine ganze Universität wegen eines antisemitischen Mobs, teils Studenten, teils Externe, die Gebäude stürmen, abgeschlossen und abgesperrt werden muß. Es wird Zeit, daß es Gesetze gibt, die es ermöglichen, diejenigen Studenten, die derart den Universitätsbetrieb stören und verunmöglichen, zu exmatrikulieren. Two strikes and you are out! Diese Sprache wird verstanden. (Und inzwischen bin ich auch der Ansicht, über Studiengebühren nachzudenken.) Solche Art von Protest, die den Universitätsfrieden stört, darf erst gar nicht einreißen. Diskussionen und Debatten im universitären Kontext: ja. Aber ganz sicherlich keine Besetzung und schon gar nicht das Stören des Universitätsbetriebes samt Herumgekreische.

Dank noch einmal an die umsichtige und zugleich konsequent vorgehende Berliner Polizei. Antisemitismus und Universitätsbesetzungen durch Antisemiten und Israelhasser dürfen in Deutschland keinen Platz haben – auch nicht, wenn sie im Gewand vermeintlicher Israelkritik daherkommen. Was die gezeigten Photographien betrifft, diesmal, so haben andere Photographen deutlich bessere Bilder gemacht. Mit einer ca. 15 x 10 cm großen Israelfahne vorne im Hemd macht es sich leider nicht ganz so entspannt Photos. Man wird automatisch zum Zielobjekt der Antisemiten und kann auch nicht derart agieren, wie ich es sonst mache. Und dazu gehört, mit diesen Gesellen ins Gespräch zu kommen und so zu tun, als ob man ihre Ziele teilt (da bekommt man dann am ehesten die Wahrheit zu hören und wie diese Leute ticken.) Was mir nur eben bei diesem Thema mehr als schwerfällt.

Morgen gibt es dann noch einen Beitrag zu jenem öffentlichen Brief, der heute die Runde machte, nämlich das entsetzliche wie naive „Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten„. Die, nebenbei, mitnichten alle in Berlin lehren, sondern vielmehr aus irgend einer Ferne teils einen traurigen Sermon dazugeben, ohne überhaupt gesehen oder auch nur im Ansatz über Videos recherchiert zu haben, was sich an der FU zutrug. Aber Hauptsache, man kann sich aktivistisch positionieren. Mitten dabei das Erdogan- und Milli Görüs-Fangirl Kübra Gemüsay – mit Wissenschaft hat diese Frau freilich soviel zu tun, wie Björn Höcke mit einem Lehrstuhl für Kritische Theorie. Im ganzen ist dieser Brief ein entsetzliches und auch trauriges Dokument. Und bei einigen der Namen dort zeigt es das vollendete Scheitern der Kritischen Theorie. Diese ist tot. Was bleibt, ist Leichenfledderei. Aber dazu morgen mehr.

Françoise Cactus wäre heute 60 Jahre geworden

Françoise Cactus machte eine Musik, die solitär ist. Berliner Punk, Berliner Chanson im Nachtzug nach Paris. Oder im wegen einer Stellwerkstörung verspäteten ICE nach Berlin. Tief französisch, sehr deutsch. Eine Elektroschock-Therapie. Vor allem aber ist es dieser anarchisch-surreale Witz, der ihre Texte auszeichnet und ihren Humor ausmacht. Es ist aus diesem Grunde und um in diesen Kosmos näher sich zu bewegen, sicherlich nicht verkehrt, die gestern erschienene Textsammlung „Oh Oh Mythomanie: Erlebtes, Erinnertes & Erlogenes“ zu kaufen, weil jenes Buch, so vermute ich, einen (melancholischen) Blick und Rückblick auf ein Berlin(Kreuzberg) liefert, das heute in dieser Form nicht mehr existiert. Eine Zeit, die es in dieser Unbeschwertheit und Naivität so nicht mehr gibt.

Françoise Cactus bleibt, wie auch die Lassie Singers, eine Erinnerung an ein leider längst vergangenes Berlin. Ein Berlin im übrigen, in dem der Antisemitismus in der Sonnenallee bei migrantischen Arabern zwar bereits vorhanden, aber noch nicht sichtbar war. Die Kulturszene damals wollte das nicht wahrnehmen, weil man am Ende eben doch in parallelen Welten und Idealisierungen lebte: Was nicht sein darf, das nicht sein soll. Dieser Milchmann- und Milchmädchenrechnung wurde spätestens mit dem Jubel auf der Sonnenallee und in Kreuzberg nach dem 7. Oktober von der Realität eingeholt. Auch das gehört zu diesem Geburtstag. Die Zeit der Unbeschwertheit ist lange schon vorüber. So wie hier wird man so schnell nicht wieder singen können.

Zum Tod von Paul Auster

Paul Auster ist gestern gestorben. Ich habe ihn damals Anfang der 1990er Jahre gelesen, als an den Universitäten das, was sich postmoderne Literatur nannte, im Schwange war. Austers Prosa fesselte sofort. Es war ein neuer Ton in der Literatur, und wer von Kafka herkommt – nein nicht vom Völkerrecht -, der fand auch an Auster einen hohen ästhetischen Genuß. Denn um diesen geht es mir primär und nicht um selbstbezügliche Formexperimente und Spiele aus Zeichen, die dann aber trotz vollendeter Form erzählerisch öde sind und sich als Selbstzweck schnell abnutzen. Ich nenne das immer jene Prosa für Uniseminare in Literaturwissenschaften. Nur wenige Autoren finden diesen genialen Stil: ästhetisch innovativ, avanciert, den Realismus hinter sich lassend und zugleich kein Glasperlenspiel bastelnd, sondern es wird eine Geschichte erzählt. Auster gehörte zu diesen begabten Autoren. Eine fesselnde Lektüre, insbesondere dieses Auflösen der eigenen Identität, was eben nichts Angenehmes, sondern mit dem Schrecken verbunden war. Ich las die New-York-Trilogie, ich las „Mr Vertigo“, ich las „Mond über Manhattan“ – insbesondere aber schätzte ich diese Art von Abgründigkeit: wie sich ein Leben plötzlich auflöst. Vor allem „Die Musik des Zufalls“ ist ein ganz und gar großartiger und verstörender Roman, und wer sich für Modellbaulandschaften und solche künstlichen Paradiese und Miniaturwunderländer interessiert, wird an diesem Roman eine sehr spezielle Freude haben – die Pointe sei hier nicht verraten.

Aber all das ist lange schon her, liegt weit zurück, in einer ganz anderen Welt, die eine von vorgestern ist. Die Zeit des Studiums, der Philosophenturm, der zehnte Stock, die Germanistik. Ja, man merkt also an solchem Rückblick und im Blick auf das, was wir einmal mit hoher Lust gelesen haben, jenen Abstand, diese Abständigkeit, die sicherlich auch ein Thema von Auster ist: daß wir älter werden, daß wir sterben werden und die Jugend, die späte Jugend, das in die vermeintliche Unendlichkeit herausgezögerte Zeitalter, da man noch ein junger Mann war, Twen sagte man damals wohl noch dazu, nun endgülig und seit vielen Jahren vorbei ist. Verrauscht und unwiderbringlich sind die wunderbaren Jahre vorüber. Und wie es im Leben so ist, bleiben fürs Alter Erinnerungen. Auch solche an hochgelungene Literatur. Und es gibt Bücher, die ihre Zeit haben. Ich verlor Paul Auster dann leider ein wenig aus den Augen. Und ich habe leider immer noch nicht „4321“ gelesen und werde vermutlich auch die nächsten Monate nicht dazu kommen – was schade ist.

Nebenbei geschrieben und was mir gerade in den Sinn kommt, wenn ich aufs Vergangene reflektiere, sei es das, was schon weit zurückliegt, aber auch das Jüngstvergangene: Ich fand schon aus einem einfachen ästhetischen Grund den Satz „Wer sich an die 1990er erinnert, war nicht dabei“ als Unsinn: denn das Wesen von Zeit und von Leben besteht doch genau darin, das, was sich einstmals als gelebte Intensität zutrug und worin einer so ganz und gar aufging, zu erinnern und dies in eine Form zu bringen. Es muß dabei nicht jeder zu einem Proust werden und es heißt auch nicht, beim Durcharbeiten des Vergangenen, das Gegenwärtige aus dem Blick zu verlieren und nicht im Augenblick leben zu können, wie  manche dies als irrige Annahme hegen. Doch solche Momente als reine Gegenwart laden sich gerade deshalb auch auf, weil es eine Vergangenheit und eine Geschichte gibt. Peter Licht brachte diese reine Gegenwart in seinem wunderbaren Song „Sonnendeck“ poetisch-schön, berührend und doch mit einer Prise Ironie zum Ausdruck: „Alles was ist dauert drei Sekunden//Eine Sekunde für vorher, eine für nachher, eine für mittendrin“. Und wie es sich so verhält im gelebten, im erzählten Leben: Alle Literatur ist am Ende das Erzählen eines „Es war einmal …“. Dies kann man in vielfältiger Art und Weise machen, man muß nicht unbedingt zum raunenden Beschwörer des Imperfekts werden. Wobei auch das seine Qualitäten besitzen mag.

Hier aber zumindest meine Geburtstagwürdigung noch einmal. Vom 3. Februar 2017

Literatur ist eine Illusionsmaschine – Paul Auster zum 70. Geburtstag

Wie ist das neue Buch von Auster? „4321“, der Countdown läuft. Neugierig bin ich als Austerianer schon, der ich in grauer Vorzeit einmal war. Heute aber will ich etwas anderes erfahren: Nicht wissen will der geneigte Leser, wie der neue Roman aufgebaut und gewebt ist, wie der Auster erzählt. Was ich über den Roman hörte, klang spannend, aber knapp 1300 Seiten Prosa pur in drei Tagen zu bewältigen? Schwierig, schwierig, es sei denn, ich sähe von sonstigen Aktivitäten außer dem Lesen ab. Insofern wähle ich einen anderen Weg, möchte vielmehr auf das frühe Werk von Auster schauen. Da, wo alles anfing, zumindest in der damaligen BRD der 80er Jahre als 1987 „Stadt aus Glas“ erschien. Wie war das und wie lese ich das Buch heute?

978-3-499-25809-1Ein Buch zum zweiten Mal sich vorzunehmen, nach fast 30 Jahren, kann eine heikle Sache sein. Wie wenn nach der letzten zugeschlagenen Seite schwer die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stünde, wo einst Begeisterung waltete? Trotzdem sind Rückschauen in der Lektüre spannend, selbst wenn sie am Ende ernüchternd ausfallen; zeigen sie doch, wie sich unser Blick auf ein einst für uns bedeutsames Buch wandelte, wie sich unsere Haltung in der Lektüre veränderte, wie die Zeit fortschritt. Bei Thomas Mann z.B. bin ich auch nach wiederholte Lektüre angetan. Das bleibt, das steht, ein Klassiker eben, im guten Sinne.

Paul Austers „Stadt aus Glas“. Was wir damals im Rausch einsogen, weil es im Gegensatz zur oft behäbigen Literatur der alten BRD so neu war. Ein kräftiger Sound wehte damals über den Ozean aus den USA zu uns herüber. Heute liest sich das anders und eine gehörige Portion Gewöhnung kam im Laufe der Zeit hinzu, abgeklärter ästhetischer Sinn, einst neue Tricks wirken alt oder einfach nur als eine Masche, die ich zur Genüge kenne. Jene Frage nach der intellektuellen Mode. Doch Mode ist bekanntlich nach Baudelaire jene Rüsche am Kleid der Ewigkeit.

Paul Auster gehört in seinen frühen Romanen zu den Autoren, die unterhaltsam schrieben – die Storys an den klassischen Detektivroman angelehnt. In „Stadt aus Glas“ ist es ein traurig-gescheiterter Schriftsteller in New York. Einst machte er Gedichte, schrieb kritische Essays, inzwischen hat er sich jedoch unter dem doppelsinnigen Pseudonym William Wilson aufs Schreiben von Krimis verlegte. Hard-boiled storys, die zur Unterhaltung des Publikums verfaßt werden, mit einen knochenharten detectiv. Private eye, was den Protagonisten des Romans, Daniel Quinn, dazu verleite, über den Mehrfachsinn des Wortes „private eye“ und seine Bedeutung fürs Schreiben von Literatur nachzudenken – Detektiv, Auge und Ich, das private Auge des Schriftstellers, der beobachtet, nicht anders als der Detektiv – und dann wird zudem charmant über den Namen William Wilson der US-Schriftsteller Edgar Alan Poe eingeführt. Poe erfand den Detektivroman und er buchstabierte das Motiv des Doppelgängers samt dem Wahnsinn aus. Lauter schöne Referenzen, die man kennen kann, aber nicht wissen muß, um Austers Geschichte zu folgen. Intertextualität ist das Zauberwort dieser Zeit und die sogenannte Postmoderne ist in vollen Zügen nun auch in der Literatur zu finden, kam sogar in den Literaturseminaren der alten BRD an. Schöne alte Zeit.

In Quinns Wohnung, die er mittlerweile allein und vereinsamt „bewohnt“ – seine Frau und sein Sohn sind vor einige Zeit gestorben – klingelt das Telefon. Quinn hebt den Hörer ab und mit diesem Zug beginnt die Geschichte. Der erste Satz des Romans weist auf eine Welt aus Fälschungen bzw. aufs Trügerische von Existenz, immer wiederkehrende Motive im Werk Austers:

„Mit einer falschen Nummer fing es an, mitten in der Nacht läutete das Telefon dreimal, und die Stimme am anderen Ende fragte nach jemandem, der er nicht war.“

Und es spielen ebenso die darauf folgenden Sätze auf zentrale Motive im späteren Werk von Paul Auster an:

„Viel später, als er in der Lage war, darüber nachzudenken, was mit ihm geschah, sollte er zu dem Schluß kommen, nichts ist wirklich außer dem Zufall. Aber das war viel später. Am Anfang waren einfach nur das Ereignis und seine Folgen. Ob es anders hätte ausgehen können oder ob mit dem ersten Wort aus dem Mund des Fremden alles vorausbestimmt war, ist nicht das Problem. Das Problem ist die Geschichte selbst, und ob sie etwas bedeutet oder nicht, muß die Geschichte nicht sagen.“

Das Spiel von Verhängnis und Zufall nimmt seinen Lauf. Besonders und perfid auf die Spitze getrieben zeigt sich der Zufall, der Ungeheures gebiert, in Austers Roman „Music by Chance“, den ich für eines seiner besten Bücher halte. Hier aber, für Quinn und sein weiteres Leben, geht es ums Ereignis, jener Augenblick in einer Geschichte, der alles weitere verändert, sozusagen auch eine Art Kafka-Referenz „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen“, mit diesem Satz endet Kafkas „Ein Landarzt“. Oder aber jener Punkt des Anfangs, der den Fortgang überhaupt erst konstituiert. Denn in diesem Kontext ist es gar nicht so sehr das Geschehen des Romans, die Handlung ist nicht das Problem, sondern die Geschichte selbst. Was geschieht? Textphilosophische Narreteien, aber sie funktionieren bei Auster, auch im Jahre 2017, weil sie in ihrem Spiel den Plot nicht überblenden. Das ist trickreich gewoben.

Die Stimme am anderen Ende der Leitung fragt, ob es sich bei Quinn um einen gewissen Paul Auster handele. „Paul Auster. Vom Detektivbüro Auster.“ Solche Selbstreferenz im Literarisieren erscheint, wenn man es heute wiederliest, zwar wenig originell. Das postmoderne Spiel mit der Autorenschaft, das Auster in diese Geschichte einwob, überzeugt im Nachklang nur mäßig; es besitzt allenfalls literaturwissenschaftliche Relevanz, schlug freilich damals in der BRD ein, weil solche Konstruktion im Text nicht üblich war in einer Literatur, die immer noch im Gestus eines unmittelbar Politischen stattfand, wofür als Stichwort das Engagement stand, oder es fabelte und spann die Innerlichkeit unter dem Zeichen der Neuen Subjektivität in seinen guten wie schlechten Varianten. Verharrte. Und wo erst langsam die postmodernen Enkel von Böll und Grass sich den strengen Banden entwanden. Das waren bereits die 90er Jahre.

Wenn ich mir die bei reclam erschienenen Jahresrückblicke „Deutsche Literatur“ zu den mittleren und späten 80er Jahren durchblättere, dann sticht manch Gediegenes ins Auge. Sauber gearbeitete Prosa, aber mit vielen Nachkriegswehen. Es ist ungerecht und schnöselig, im Rückblick zu schreiben, der Ton dieser Literatur wäre altbacken und behäbig, ob nun Peter Handke oder Jurek Becker. Die hinter den Ohren feuchtgrünen Zeitgeistbürschlein sind mir um einiges suspekter noch als der schlechteste Text von Günter Grass. Dennoch brachte die amerikanische Literatur – und das war nicht nur die aus den USA – der deutschen jenen nötigen Schub fürs zukünftige Schreiben. Doch leider – das erwies sich als der unschöne Nebeneffekt dieser postpopmodernen Tendenz – trieb das auch solche wie Stuckrad-Barre oder Alexa Henning von Lange aus dem Erdreich, die nun ans Tageslicht krochen.

Gewitzt, obwohl literarisch nicht ganz neu (Stichwort Flann O’Brian und Raymond Queneau) wirkte es seinerzeit, wenn in einem Roman der Protagonist auf eine Figur namens Paul Auster traf, der im Buch wohlfeil mit attraktiver Frau schreibend und in hinlänglichem Luxus dahinlebt, während der Protagonist Quinn dagegen einen schäbigen Eindruck erweckt, jener Paul Auster, der zugleich als Autor auf dem Buchdeckel firmierte, und wenn beide angeregt über Cervantes Don Quijote reden, über die Frage nach der Urheberschaft bzw. der Autorenschaft dieses Buches, dann gerät zwar der Kopf noch nicht schwummerig und treibt die Gedanken ins Verwirrspiel, aber für die ausklingenden 80er Jahre war diese Art des Erzählens, die bei Auster in Ton und Stil so leichtfüßig auftrat, doch besonders.

Wobei – eingekeilt ins Spiel der Verschiebungen – der Roman „Stadt aus Glas“ wiederum von einem dritten Mann aufgeschrieben wurde, der am Ende des Buches als Ich-Erzähler auftaucht und vorgibt, mit jenem Paul Auster befreundet gewesen zu sein. Der Roman beruht insofern auf Quinns Aufzeichnungen in einem roten Notizheft, in das er seine Detektiv-Beobachtungen eintrug und die dann von jenem Dritten zu einem konsistenten Text, zu einer Geschichte also, gefügt wurden. (Hoffen wir nur, daß am Ende des Spiels mit den Fakten, bei den Buchhonoraren nämlich, das Geld nicht fälschlicherweise auf das Konto jenes dritten Mannes, sondern auf das von Auster überwiesen wurde.) Es setzt an dieser Stelle des Romans ein Verweis auf ein Spiel an Verweisen ein, das ebenso wie im Roman selbst auch in jenem Don Quijote passiert, über den Daniel Quinn (Initialen D.Q.) und Auster plaudern, ein Spiel im Spiel. Daß Auster von bestimmten Themen nicht losgelassen wird, etwa dem des Zufalls und der fragilen und multiplen Identität innerhalb der Literatur zeigt sich bereits in dieser kleinen Passage zum Don Quijote, die man nun vor dem Hintergrund seines neuen Romans „4321“ lesen muß. Jener Roman-Auster sagt:

„‚Die Theorie, die ich in meinem Essay aufstelle, lautet, daß er in Wirklichkeit eine Kombination von vier verschiedenen Personen darstellt.’“

In „4321“ geht es ebenfalls um vier Identitäten, wenn ich den ersten Besprechungen folge. Es gibt in Austers Romanen insofern viel zu enträtseln und zahlreich sind die Verweise im literarischen Kosmos Austers – untereinander und auf die Welt der Literatur bezogen. Um all diese Bezüge zu entschlüsseln, bedarf es eines Paul Auster-Dechiffriersyndikats, wie wir es von Arno Schmidt her kennen. Andererseits sollte Literatur kein Selbstzweck für Literaturwissenschaftler sein, sondern sie will gelesen werden. Zu arg hineingepreßte Bedeutungen, die sich zudem mit Absichtslosigkeit tarnen, verstimmen am Ende mehr als daß sie hilfreich sind.

Die weitere Geschichte von Daniel Quinn ist schnell erzählt. Er bekommt von jenem ominösen Anrufer, bei dem nicht auszumachen ist, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, einen Auftrag. Den Vater des Mandanten zu beschatten, sobald der aus dem Gefängnis entlassen sei und in New York ankäme. Er habe vor, seinen Sohn umzubringen. Jener Stillman Senior, Philosoph und Theologe, veranstaltete mit seinem Sohn Peter ein brachiales Experiment. Er züchtete sich, um die wahre natürliche Sprache des Menschen zu entschlüsseln, nach der Geburt des Kindes eine Art Kaspar Hauser. In diese abstruse Geschichte einer ungeheuren Kindesmißhandlung schießen Mythologisches von der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, der Einheit einer Menschensprache, die Geschichte vom Turmbau zu Babel und der Sprachvielfalt ineinander. Und so geraten mit der Geburt des Sohnes das Fabulierende eines alten Mythos sowie die Ideensammlung des Professors mit der Realität in Konflikt. Amerika, das ist das neue Jerusalem.

Das neue Paradies, das neue Jerusalem: es liegt in Amerika. Auster reißt in seinem ersten Buch bereits das Thema an, was ihn Zeit seines Schreibens in Atem halten wird: er zeichnet in all ihren Facetten jene Americana nach, die uns als Kultur bis in den letzten Winkel beherrscht, selbst in unseren Kopfkinomythen: die USA, das Land der Freien, das Land des Unbegrenzten, God‘s own Country. Doch vielfach schimmert bei Auster dieses Americana als kaputter Ort durch, bricht sich in apokalyptischen Szenen, in einem Spiel des Grauens, wie etwa in „Musik des Zufalls“, wo zwei Zwangscharaktere ihre zwei Besucher als Sklaven bei sich festhalten, dazu ein wenig On the Road-Romantik und harter Poker. Oder es spiegelt sich dieses Amerika als Trümmerfeld „Im Land der letzten Dinge“, und dieses Derangierte zieht sich bis in die Bewußtseinshöhlen der Sprache:

„So spricht denn jeder seine Privatsprache, und da die Gebiete, auf denen man einander noch versteht, beständig schrumpfen, wird er Gedankenaustausch mit anderen schwieriger.“

Und zum Beginn des Romans heißt es:

„Wer in der Stadt lebt lernt, nichts für selbstverständlich zu halten. Man schließt nur kurz die Augen, dreht sich um, um nach etwas anderem zu sehen, und was eben noch vor einem stand, ist plötzlich weg. Nichts bleibt, verstehst du, nicht einmal die eigenen Gedanken. Ihnen nachzuhängen wäre Zeitverschwendung. Ist etwas erst einmal weg, dann für immer.“

Diese Symptome des Auslöschens zeigen sich ebenso in „Stadt aus Glas“, sie steigern sich, bis Daniel Quinn auf eine rätselhafte Weise im Nirgendwo der Stadt verlöscht, sich ins Nichts auflöst. Unheimlich wie so oft bei Auster, wenn etwa ein Junge zu levitieren beginnt, wie in „Mr Vertigo“. Für einen Schwindel im besten Sinne ist Paul Auster immer zu haben. Abenteuer kann er mit Schwung erzählen. Bereits in den letzten Szenen, wo wir Quinn zusehen, ist er auf die Existenz eines Bettlers regrediert; er haust in einer Mülltonne, worin er sich vor dem Regen schützt, monatelang das Haus seines vermeintlichen Mandanten bewachend.

In „Stadt aus Glas“ pointiert sich der Mythos Amerika in New York – jener pulsierende Stadt. Ein Mann verschwindet darin. Was bleibt, ist seine triste Geschichte, was als Eindruck sich einsenkt, ist das Existentielle: wie mit einem Schlag und weil sich eine Sache im Leben um ein Winziges nur verschiebt, die gesamte Existenz wegbricht und wie ein Mensch, dessen Leben sinnlos und aus den Fugen zu sein scheint, mit der Stadt New York verschmilzt. Die Flanierszenen und die Beobachtungen der Stadt, die Quinn in sein rotes Notizbuch einträgt, gehören mit zu den stärksten Szenen des Buches. Bettler und Menschen in unendlicher Not, die Quinn als Detektiv auf seinen Streifzügen beobachtet. Männer mit zerschürfter Haut, verschlissen. Bis er selber auf genau diesen Stand des Gerade-noch-Menschseins hinabsinkt. Inventar dieser Stadt, aber eigentlich kein lebendiges Wesen mehr.

Die Stärke dieses Buches liegt in solchen Beschreibungen: die Weise, wie Auster den Moloch Großstadt ins Bild positioniert. Das postmoderne Spiel dagegen wirkt wie ein zwar feines und gekonntes, aber doch museal leicht angestaubtes Zierat, das wir vom Heute her mit einem Schmunzeln betrachten. Der Blick postmodern Übersättigter und derer, die inzwischen mit allen Wassern der Literaturtheorie und des Intertextuellen gewaschen sind. In diesem Sinne bin ich dann auch gespannt auf Paul Austers Opus Magnum, auf sein Alterswerk. Ob auch dort noch jenes Spiel von Verweisen vorherrscht oder ob es sich in einer Form komplexeren Erzählens regulierte.

Paul Auster: Stadt aus Glas, in: Die New-York-Trilogie (Stadt aus Glas / Schlagschatten / Hinter verschlossenen Türen), Rowohlt Verlag, EUR 9,99.

Karl Kraus zum 150. Geburtstag

Da ich keine wirkliche Zeit zum Schreiben eines umfassenden Essays habe und ich zudem in meinem Blog schon manche Würdigung brachte – immerhin ist Kraus einer der heimlichen Ahnherren des Grandhotel Abgrund – so lasse ich ihn zu seinem Geburtstag am besten selber sprechen. Vielleicht angefangen mit dem schönsten Zitat:

„Den Weg zurück ins Kinderland möchte ich, nach reiflicher Überlegung, doch lieber mit Jean Paul als mit S. Freud machen.“

Und im Blick auf Kritik und die erste Ausgabe der „Fackel“ nur soviel:

„Das politische Programm dieser Zeitung scheint somit dürftig; kein tönendes ‚Was wir bringen‘, aber ein ehrliches ‚Was wir umbringen‘ hat sie sich als Leitwort gewählt.“ (Kraus, Die Fackel, Nr. 1, 1899)

Vor allem auch im Blick auf die Zeitungen:

„Ich pfeife auf den Text, ich bin imstande, das Antlitz der heutigen Welt mir aus dem hinteren Annoncenteil zusammenzustellen.“ (Karl Kraus, Die Katastrophe der Phrasen)

„Es kommt gewiss nicht bloß auf das Äußere einer Frau an. Auch die Dessous sind wichtig.“ (Kraus, Fackel 272/273 46)

„Man kann eine Frau wohl in flagranti ertappen, aber sie wird noch immer Zeit genug haben, es in Abrede zu stellen.“ (Kraus, Fackel 275/276 28; Sprüche und Widersprüche)

„Nichts ist unergründlicher als die Oberflächlichkeit des Weibes.“ (Kraus, Fackel 229 8; Sprüche und Widersprüche)

„Sie sagte, sie lebe so dahin. Dahin möchte ich sie begleiten!“ (Kraus, Fackel 406/412 148; Nachts)

„Es empfiehlt sich, Herren, die das Angebot einer Zigarre mit dem Satz beantworten: ‚Ich sage nicht nein‘, sofort totzuschlagen. Es könnte nämlich sonst der Fall eintreten, dass sie auf die Frage, wie ihnen eine Frau gefalle, die Antwort geben: ‚Ich bin kein Kostverächter'“ (Kraus, Fackel 315/316 35)

„Wenn ich sicher wüsste, dass ich mit gewissen Leuten die Unsterblichkeit zu teilen haben werde, so möchte ich eine separierte Vergessenheit vorziehen.“ (Die Fackel 251/252 24; Sprüche und Widersprüche)

„Der Fortschritt, der den Kopf unten und die Beine oben hat, strampelt im Äther und versichert allen kriechenden Geistern, daß er die Natur beherrsche. Er belästigt sie und sagt, er habe sie erobert. Er hat Moral und Maschine erfunden, um der Natur und dem Menschen die Natur auszutreiben, und fühlt sich geborgen in einem Bau der Welt, den Hysterie und Komfort zusammenhalten. Der Fortschritt feiert Pyrrhussiege über die Natur. Der Fortschritt macht Portemonnaies aus Menschenhaut.“ (Karl Kraus, Die Entdeckung des Nordpols, in: Die chinesische Mauer)

„Nichts da, ich bin kein Raunzer; mein Haß gegen diese Stadt ist nicht verirrte Liebe, sondern ich habe eine völlig neue Art gefunden, sie unerträglich zu finden.“

„Was Berlin von Wien auf den ersten Blick unterscheidet, ist die Beobachtung, daß man dort eine täuschende Wirkung mit dem wertlosesten Material erreicht, während hier zum echten Kitsch nur echtes verwendet wird.“

„Wien wird jetzt zur Grossstadt demolirt. Mit den alten Häusern fallen die letzten Pfeiler unserer Erinnerungen, und bald wird ein respectloser Spaten auch das ehrwürdige Café Griensteidl dem Boden gleichgemacht haben. Ein hausherrlicher Entschluss, dessen Folgen gar nicht abzusehen sind. Unsere Literatur sieht einer Periode der Obdachlosigkeit entgegen, der Faden der dichterischen Production wird grausam abgeschnitten. Zu Hause mögen sich Literaten auch fernerhin froher Geselligkeit hingeben; das Berufsleben, die Arbeit mit ihren vielfachen Nervositäten und Aufregungen spielte sich in jenem Kaffeehause ab, welches wie kein zweites geeignet schien, das literarische Verkehrscentrum zu repräsentiren. Mehr als ein Vorzug hat dem alten Locale seinen Ehrenplatz in der Literaturgeschichte gesichert.“ (Kraus, Die demolirte Literatur)

Und für die Flaneure und Spaziergänger dieser Welt und jene, die sich in den Großstädten verlieren, etwa in den Banlieus, in den Vorstädten an den Grenzen, wo die Städte in die Natur ausfransen oder in den Zentren, sei zum Abschluß einer der schönsten Sätze von Kraus gebracht:

„Ich war stets anspruchslos, wenn es die Wahl der Anlässe galt, um zu Erlebnisse zu gelangen, und ich verschmähte jene starken Reizmittel, die die schwachen Seelen brauchten, um eine trügerische Wirkung mit Schaden zu erkaufen. Kurzum, die vielen Bibliotheken und Museen, an denen ich im Leben vorbeigekommen bin, hatten sich über meine Aufdringlichkeit nicht zu beklagen. Dagegen zog mich von jeher das Leben der Straße an, und den Geräuschen des Tages zu lauschen, als wären es die Akkorde der Ewigkeit, das war eine Beschäftigung, bei der Genußsucht und Lernbegier auf ihre Kosten kamen. Und wahrlich, wem der dreimal gefährliche Idealismus eingeboren ist, die Schönheit an ihrem Widerspiel sich zu bestätigen, den kann ein Plakat zur Andacht stimmen!“ (Karl Kraus, Die Welt der Plakate)

Zum World Press Photo von Mohammed Salem

Vor einigen Tagen wurde das World Press Photo des Jahres 2024 ausgewählt. Das Bild entbehrt nicht einer gewissen Dramatik und eines ikonographischen Aufbaus. Es besitzt, anders als viele politaktivistische Photographien, eine auch ästhetisch hohe Inszenierungsqualität und dies in einem gleich mehrfachen Sinn in einer zeichenhaften Weise: Pietà-Assoziationen, für die Westler, auch das wird gut von Mohammed Salem bedient, Farbkontraste und ein klar fokussiertes Zentrum, welches freilich fast den gesamten Bildraum einnimmt, so daß weitere Details nicht ablenken. Aber es sind auch andere Lesarten denkbar.

Was wird auf dieser prämierten Photographie inszeniert? Das Leid von Opfern? Was ist auf dieser Photographie zu sehen? Alles und nichts: das Photo bildet eine Leerstelle. Die Photographie könnte auch heißen „Dienstfrau mit Wäschebündel in einem Hamas-Palast in Katar“; oder auch „Gaza-Araberin, nachdem sie Wohnungen in Sderot ausgeräubert hat und sich müde auf ihre Beute stützt“. Ob es sich bei dieser Gestalt überhaupt um eine Frau handelt, ist am Ende nicht sicher. Vor einigen Monaten kamen in Gaza aus einem Krankenhaus fünf verschleierte arabische Frauen in Schwesterntracht auf eine Gruppe israelischer Soldaten zu. Als sie dicht genug an den Soldaten waren, warfen die „Frauen“ ihre Verkleidungen ab, zum Vorschein kamen Männer, die sofort das Feuer auf die israelischen Soldaten eröffneten. Es sollte sich also niemand wundern, daß beim Anti-Terroreinsatz der IDF zuweilen auch Frauen und Kinder zu schaden kommen, wenn sie als militärische Schutzschilde eingesetzt werden oder ihre Gestalt als Verkleidung gebraucht wird. (Aber das ist wieder ein anderes Thema. Wenngleich diese prämierte Photographie indirekt auch diese Geschichten miterzählt: Tricksen, täuschen, terrorisieren.)

Photographien, gerade solche, die mit Photopreisen bedacht werden, sollen uns berühren, doch dieses Bild trifft mich nicht. Auf mich wirkt es wie ein Filmstil aus einem surrealen Jodorowsky-Film: absurd und von einer erschreckenden Leere. Oder vielleicht wie eine (ungeschriebene) Szene aus Samuel Becketts „Quadrat I+II“. Ich denke zugleich an all die Pallywood-Bilder, wo scheinbar tote Kinderkörper in der nächsten Einstellung plötzlich wieder munter durchs Bild hüpfen, oder wo immer derselbe arabische Opferdarsteller immer einmal wieder als Leichen sich zur Schau stellt. Vielleicht sind es Fünflingsbrüder – wer weiß das schon? –, aber ich glaube daran nicht. Leider wissen wir als Betrachter bei solchen Photographien, die von arabischen Aktivisten stammen, nicht, ob sie echt oder inszeniert sind. Und ich gehe davon aus, daß solche Inszenierung nicht in derselben Absicht geschieht, wie dies etwa der kanadische Photograph Jeff-Wall betreibt, der genau mit diesem Moment von Inszenierung, Dramatisierung und Echtheit spielt.

Auf dem World Press Photo von 2023 – einer Kriegsphotographie aus der Ukraine, diesmal von einem tatsächlichen Angriffskrieg – sind Menschen zu sehen, die ein Gesicht haben. Auf dieser prämierten Photographie jedoch ist niemand zu sehen. Außer Stoffballen. Das berühmte „Napalm-Mädchen“ von 1972 aus dem Vietnamkrieg wirkte gerade deshalb, weil man ihr Gesicht sah, darin sich die Angst zeigte. Dieses Gesicht und der nackte Körper spiegelten das Entsetzen und das Grauen eines Krieges. Hinzu kommt: Wir kennen weitgehend die Situation und die Umstände, unter denen das Bild entstand. Auch das Vietnam-Bild ist zwar komponiert, da Teile des Bildausschnittes nicht gezeigt werden, aber es ist dies keine Manipulation, sondern eine Fokussierung auf die Szene. Das Bild wirkt durch Emotionen – wobei auch solche Emotionalisierung kein Selbstzweck ist, sondern einen Kontext besitzt. Während das World Press Photo von 2024 eine seltsame Kälte zurückläßt und auch die Frage, weshalb Frauen in der arabischen Welt derart gesichtslos sind. Diese Photographie ist insofern gelungen, weil sie zwar wenig von der durch die Hamas verursachten Gewalt zeigt, aber sehr viel von der Unterdrückung der Frau in vielen muslimischen bzw. arabischen Ländern. Es paßt diese Photographie insofern gut zu einer Religion, die Frauen zwingt, sich zu verhüllen. Stichwort Iran auch, wo die tapferen Frauen einen Kampf dafür führen, so auf die Straßen zu gehen, wie sie es wollen.

In diesen Kontext manipulativer Photographen, die hier aber nicht der Ästhetik, sondern einer Propaganda dienen, passen auch die Bildarbeiten von Mohammed Salem. Wenn ich mir seine Photographien anschaue, die er auf Instagram zeigt, dann sehe ich keinen Journalisten, sondern einen arabischen Aktivisten, der tendenziöse Photos präsentiert, die lediglich die eine Seite zeigen. Ursache und Wirkung werden aufgehoben, wenn nicht vertauscht. Aber vielleicht gibt es von ihm auch andere Bilder, etwa solche von den Massakern an Juden und dem Dauerbeschuß aus Gaza auf Israel. Nur habe ich diese bisher bei meinen Recherchen nicht entdecken können. Und was die Bezeichnung „Journalist“ betrifft: auch dort ist Kritik angebracht, seitdem bekannt wurde, daß angeblich „seriöse“ Photoreporter, mithin „Journalisten“ von Agenturen jene mordenden Gaza-Araber beim Überfall auf Israel und bei den Massakern an Juden und Nicht-Juden begleiteten. Als was wollen wir sowas bezeichnen? Embedded Journalism würde ich es nicht nennen, sondern Beihilfe zum Terror.

Was nun diese Preisvergabe anbelangt, kann man aber auch, so wie es die postkoloniale Linke teils gerne tut, ideologiekritisch nachfragen: Wer prämiert solch eine Photographie? Und warum gerade diese? Wer sitzt in solchen Jurys? Da es üblich ist, die Mechanismen der Macht und Strukturen zu befragen, die eine bestimmte Auswahl von Bildern ermöglicht und andere verunmöglichst, wäre es dann in diesem Fall angebracht zu fragen, warum, nach dem entsetzlichen Massaker vom 7. Oktober, ausgerechnet eine Photographie (mutmaßlich aus Gaza) mit einem solchen renommierten Preis ausgezeichnet wird. Wird hier einmal wieder Bild- und damit Machtpolitik gemacht, um aus brutalen Tätern arme Opfer zu machen? Ich bin mir, wenn es um die Bilderauswahl geht, sicher, daß es Photographien gibt, die deutlich preiswürdiger wären als ein solches mich vielmehr an eine Theater- oder Filminszenierung gemahnendes Bild, das zwar eine ästhetische Wirkung hat, aber seine Absicht bei mir und bei vielen Menschen völlig verfehlt. Von den völlig verdrehten politischen Implikationen einmal ganz zu schweigen.

Das Problem ist: Photographien – gerade politische und journalistische, aber im Grunde auch rein ästhetisch rezipierte – haben immer Hintergründe, die wir für eine adäquate Beurteilung kennen müssen. Solche Photographien erzählen nur sehr bedingt eine Geschichte, eher noch liefern sie Emotionen. Und Emotionen sind leicht zu mißbrauchen. Tote in Ruinen stimmen einen Betrachter selten heiter. Tote Terroristen, ohne Kenntnis, um wen es sich handelt, werden wir, wenn wir ein solches Photo sehen, möglicherweise betrauern. Wissen wir aber, daß es sich etwa um SS-Männer handelt oder um Hamas-Terroristen, die noch Monate zuvor Menschen folterten, läuft unsere Bewertung möglicherweise anders. Man sollte also beim Betrachten von Photos seine Emotionen gut prüfen. Und guter Betrachter muß bereits viel Hintergrundwissen mitbringen.

Bei Kunstphotographien ist solche Kenntnis von Hintergründen oftmals zweitrangig: Fällt sie weg, mag das nicht so sehr von Gewicht sein: eine Frau in einem blauen Kleid, die durch New York geht – etwa wie Saul Leitner sowas photographiert haben mag –, ist einfach eine Frau in einem blauen Kleid, die durch New York schlendert, und es zeugt für die Schönheit oder auch den Reiz einer Szene, weil Kontraste, Struktur, hell-dunkel, also die Bildkomposition in diesem Fall eine zentrale Rolle spielen. Wir betrachten solche Bilder rein ästhetisch und mit einem gewissen Wohlgefallen oder manchmal auch belustigt oder angeregt, wenn wir Streetphotogaphy sehen. Freilich gibt es auch dort Ausnahmen, wenn wir etwa an Doisneaus berühmtes Kußphoto denken: A kiss isnʼt just a kiss. Bei politischen Photos ist es jedoch etwas grundsätzlich anderes. Wir müssen die Kontexte kennen. Die Photographie benötigt eine Geschichte.

Freilich wirken zugleich auch solche ausgestellten oder derart präsentierten journalistischen Photographien ästhetisch – etwas, das Roland Barthes in seiner Abhandlung zu Schockphotographien in „Mythen des Alltags“ scharf kritisierte, und auch Susan Sontag hat diesen Aspekt des Lustgewinns in ihrem Buch „Über Fotografie“ – eigentlich müßte es „Gegen Fotografie“ heißen – bemängelt. (Etwas anders dann in ihrem späteren Buch „Das Leiden anderer betrachten“.) Roland Barthes schreibt:

„Genevieve Serreau erinnert in ihrem Buch über Brecht an eine Photographie in Paris-Match, das eine Szene der Hinrichtung guatemaltekischer Kommunisten zeigt. Mit Recht bemerkt sie, daß diese Photographie nicht als solche grauenhaft ist, daß das Grauen vielmehr daher rührt, daß wir sie aus unserer Freiheit heraus betrachten. Eine Ausstellung von Schockphotos in der Galerie d’Orsay, von denen uns strenggenommen nur sehr wenige schockieren konnten, gibt Genevieve Serreaus Bemerkung dennoch recht: Es genügt für den Photographen nicht, uns das Schreckliche zu bedeuten, damit wir es empfinden.

Die meisten der Photographien, die hier versammelt wurden, um uns zu erschüttern, bleiben wirkungslos, gerade weil der Photograph sich beim Aufbau seines Sujets allzu großzügig an unsere Stelle versetzt hat: Fast immer hat er das Schreckliche, das er uns vorführt, überkonstruiert und durch Kontraste oder Nebeneinanderstellungen dem Faktum die effektheischende Sprache des Grauens hinzugefügt: Einer stellt eine Menge Soldaten unmittelbar neben ein Feld von Totenköpfen; ein anderer zeigt uns einen jungen Soldaten bei der Betrachtung eines Skeletts; wieder ein anderer nimmt eine Kolonne von Verurteilten oder Gefangenen in dem Moment auf, in dem sie einer Schafherde begegnet. Doch keines dieser allzu geschickt aufgenommenen Photos erschüttert uns. Das liegt daran, daß wir ihnen gegenüber jedesmal unserer Urteilskraft beraubt sind: Man hat für uns gezittert, für uns nachgedacht; der Photograph hat uns außer dem Recht auf intellektuelle Zustimmung nichts übriggelassen. Was uns mit diesen Bildern verbindet, ist ein technisches Interesse; …“

Aus diesem Grunde bin ich skeptisch, wenn qua journalistischer Photographien irgendetwas vermittelt werden soll, was über eine Zeitungsmeldung hinausgeht. Bilder illustrieren sie. Das sollte ihre Funktion sein, oder sie sind Teil einer größeren Reportage. Wobei auch in solchem politisch-journalistischen Kontext die Wirkung eines Photos niemals ganz abzusehen und vorauszubestimmen ist. Auf mich etwa wirkt das prämierte Bild in einer ganz anderen Weise erschreckend: nämlich die Art, wie man solche Preise vergibt, aber auch das ganze Szenario. Es hat für mich, wie es oben beschrieb, etwas von einer Szene aus einem surrealistischen Film. Sofern die Photographie Leid ausdrücken soll, so funktioniert das bei mir nicht. Ich sehe ein Stoffstücke, von denen man vermuten kann, daß sich dahinter ein Mensch verbirgt. Hinzu kommt in meiner Sicht: Dem ganzen Anlaß ist diese Photographie nicht angemessen. In seiner Kritik an dieser Preiswahl schreibt Thomas Schmid:

„Zu einem Skandal wird die diesjährige World-Press-Photo-Award-Veranstaltung aber durch ein Fehlen, eine Unterlassung, eine Leerstelle. Es passierte im vergangenen Jahr viel Furchtbares, das durch Fotografien festgehalten werden sollte. Zu diesem Furchtbaren gehörte auch die Hamas-Mordaktion vom 7. Oktober 2023. Sie war das schlimmste und brutalste antiisraelische und antisemitische Pogrom seit dem Holocaust. Terroristen der Hamas ermordeten mehr als 1.200 Menschen, vergewaltigten israelische Frauen, schändeten Tote. Und anders als beim Holocaust waren die Täter keineswegs bemüht, ihr Morden vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Sie wollten die Welt teilhaben lassen an ihrem Wüten. Sie filmten, sie dokumentierten ihre Taten und stellten sie ins Netz. Noch Tage wie Wochen später waren die Spuren dieser Mordaktion zu sehen und zu besichtigen: Blut, Leichenteile, zerstörte Wohnungen, verwaiste Dreiräder. Viele Fotografen haben sie dokumentiert. Doch die Stiftung „World Press Photo“ hielt keine dieser Aufnahmen einer Anerkennung für würdig. Die Hamas-Morde kommen in dieser ästhetisierenden parteiischen Foto-Welt einfach nicht vor.“

Dem ist nicht viel hinzuzufügen.

Sicherlich ist es schrecklich, sein Kind zu verlieren, wenn wir davon ausgehen wollen, daß diese Szene nicht inszeniert ist. Doch wer Ursache und Wirkung nicht mitnennt, macht sich mit den Tätern gemein. Erst recht, wenn eine Jury zu bestialischen Folterungen an Juden, zum Zerstückeln und Verbrennen von Kindern und Babys schweigt. Es gibt Unterschiede zwischen Tätern und Opfern. Die deutsche Mutter, die 1943 in Hamburg ihr Kind verlor, ist – einerseits – sicherlich genauso ein Opfer wie eine britische Mutter, deren Kind 1940 in Coventry im Hagel deutscher Bomben starb. Aber dennoch gibt es zwischen beiden Opfern qualitative Unterschiede. Für die Opfer in Gaza ist primär die Hamas verantwortlich. Eine solche Preisvergabe will falsche Emotionen zu schüren. Sie ist in diesem Sinne Propaganda für Hamas-Terror. Insofern sagt eine solcher Preis viel über Jurymitglieder aus, die in dieser Weise ihre Gewichtung vornehmen.

Ostermarsch und „Friedensfreunde“ und was das leider auch mit Teilen der SPD zu tun hat

Wie immer fanden dieses Jahr in Deutschland die obligatorischen „Ostermärsche“ statt. Was vor Jahrzehnten und in den 1950er und in den 1960er Jahren noch eine sinnvolle Einrichtung gewesen ist, um vor den Gefahren von Atomwaffen zu warnen, und im Westen in den 1980er Jahren dann sinnvoll war, wenn auch und vor allem die Atomraketen der Sowjetunion in die Kritik gerieten – Parolen wie die der DDR-Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ waren in den 1980ern sehr selten -, ist für die Gegenwart zu einer absurden Veranstaltung Ewiggestriger, DKPler und Putinapologeten geworden. Allenfalls Verschwörungsunternehmer wie Daniele Ganserer profitieren von solchem Publikum, indem sie ihren kruden Unsinn unters Volk bringen.

Die Empörung, die es bei Friedensfreunden hervorrufen würde, wenn muslimische Attentäter, an denen deutlich die Spuren von Folter sichtbar waren, von der US-Regierung derart vor den Augen der Öffentlichkeit gezeigt würden, möchte man sich nicht ausmalen. Von den Kriegsverbrechen Putins in der Ukraine ganz zu schweigen. All das war bei keinem der Friedensmärsche irgendwie Thema und es waren auch keine Plakte zu sehen sein, die die Freilassung der entführten ukrainischen Kinder und der entführten ukrainischen Zivilisten forderten. Und auch der Fall der per Zwang in den Krieg verschleppten Inder durch Putins Schergen dürfte auf diesen Demos kaum Thema gewesen sein:

„Anfang März setzten sieben Inder einen Hilferuf ab. Wegen eines angeblichen Einreiseverstoßes nach Russland hätten Beamte sie vor die Wahl gestellt: 10 Jahre Haft – oder: Küchenhelfer bei der Armee. Doch statt Kücheneinsatz drohte ihnen der Einsatz an der Front. Das Video ging viral, aber der Hilferuf verhallte. Über Telefon konnten wir mit einem der sieben Inder ein Exklusivinterview führen. Wochen nach dem Video meldet sich Gurpreet Singh von der ukrainischen Südfront. Der 20-Jährige schildert, wie er und seine Freunde von russischen Vorgesetzen mit Gewalt in den Kampf getrieben werden. Es habe Tote und Verletzte gegeben. In einem nordindischen Dorf trafen wir zuvor Gurtpreets Mutter. Sie fürchtet, vor Angst um ihren Jungen verrückt zu werden.“ (Arndt Ginzel)

Einen Bericht zu diesem Grauen gibt es im ZDF an dieser Stelle.

Daß in Berlin diese „Friedens“märsche auch diesmal nicht vor der russischen Botschaft stattfinden, sagt viel über die Gesinnung der Veranstalter und ihrer Teilnehmer aus. Und all das läßt sich nicht mehr mit einer gewissen Naivität mancher Teilnehmer entschuldigen.

Allerdings gibt es auch in SPD-Kreisen Stimmen, die irgendwie anehmen, es ließe sich mit Putin verhandeln und es gäbe in den Fragen des Krieges eine Art Äquidistanz. Politiker wie Rolf Mützenich sprechen davon, daß man diesen Krieg „einfrieren“ müsse – was auch immer damit gemeint sein mag. Ob freilich jene Ukrainer, die in den nun von Russen okkupierten Gebieten leben müssen und unter dem Joch und den brutalen Greueln einer Besatzungsarmee stehen, ebenso gerne ein Einfrieren sehen oder ob sie nicht vielmehr den tiefen Wunsch hegen, von Russen befreit zu werden, lassen wir dahingestellt. Und auch eine prominente SPD-Stimme wie Julian Nida-Rümelin schrieb in einem Kommentar bei dem taz-Journalisten Jan Feddersen:

„An erster Stelle Putin, aber auch, diejenigen, die Ukraine daran gehindert haben, frühzeitig nach nur einem Monat Krieg, ihn auch wieder zu beenden, haben schwere Schuld auf sich geladen. Hunderttausende ukrainischer und russischer Soldaten sind seitdem gestorben. Diejenigen, die hartnäckig einen umfassenden Sieg der Ukraine für möglich hielten und damit den Krieg unnötig verlängerten, haben schwere Schuld auf sich geladen. Wer jetzt immer noch einen umfassenden Sieg der Ukraine, der vom Westen möglicherweise mit dem Einsatz von Bodentruppen erzwungen werden soll, verfolgt, riskiert den dritten Weltkrieg.

Ich habe Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre zu denjenigen gehört, die davor gewarnt haben, von einer KaltenKriegsmentalität nun im Zeichen der Entspannungspolitik zu einer Idyllisierung der Diktaturen unter sowjetischer Kontrolle in Europa überzugehen. Ich habe die SPD, obwohl selbst dort aktiv , dafür kritisiert, dass sie zur Solidarnosc nichts zu sagen wusste, und zugleich ist es eine historische Wahrheit, dass ohne die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr es nicht zu Erosion der sowjetischen Herrschaft und nicht zum Ende des Kommunismus gekommen wäre. Die SPD hat keinen Grund, in Sack und Asche zu gehen. Der Menschenrechtsbellizismus der NeoCons in den USA, der Nouveaux Philosophes in Frankreich und nun in unausgegorener Kopie bei Baerbock & Co ist ein gefährlicher Irrweg, der zusammen mit dem russischen Neo-Imperialismus und dem chinesischen Supermachtstreben die Welt destabilisiert. Die SPD muss dagegen halten, um den Frieden in Europa zu sichern und ihrer historischen Mission treu zu bleiben.“

Dieses Umbiegen von Fakten erinnert leider stark an jene schrödersche SPD-Moskau-Connection. Hinzu kommt: Es ist nicht die Aufgabe westlicher Politiker, sich die Gedanken Putins zu machen. Und nein, ganz definitiv haben nicht jene eine Schuld auf sich geladen, die auf den Sieg der Ukraine gegen einen brutalen Angriffskrieg setzten und bereits seit dem 24 Februar 2022 dafür plädierten, die Ukraine mit allen nötigen Waffen auszustatten und die Soldaten daran auszubilden. Was nun die Verhandlungen betrifft, die angeblich hätten aufgenommen werden sollen, so bringt der Blogger und Facebookautor U.M. die Fakten im Blick auf das sogenannten Istanbuler Kommuniqué gut auf den Punkt:

„Am 29. März 2022 – keine sechs Wochen nach dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine – hat die Ukraine weitreichende Zugeständnisse angeboten. Nur um Verhandlungen aufzunehmen und einen Waffenstillstand zu erreichen.
Die Ukraine wäre letztendlich bereit gewesen, auf weite Teile ihrer Souveränität zu verzichten.
Dieser Vorschlag wird inzwischen als Istanbuler Kommuniqué bezeichnet.
Er wird so in die Geschichtsbücher eingehen.
Russland hat diesen Vorschlag einen Tag später abgelehnt und sich geweigert, Verhandlungen aufzunehmen.

Das wird ignoriert. Und gerät in der öffentlichen Wahrnehmung durch die ständige Propaganda in Vergessenheit. Die Ukraine hat quasi alles angeboten, was sie überhaupt anbieten kann. Unter der Prämisse, als eigenständiger Staat weiter existieren zu können. Doch genau darum geht es offensichtlich. Es kann doch nicht sein, dass so viele Menschen das nicht mitbekommen haben. Oder einfach ignorieren.

Wer Verhandlungen fordert, soll deutlich sagen, was er bereit wäre Russland anzubieten. Und er täte gut daran, sich die abgelehnten Vorschläge vorher durchzulesen. Denn es gab noch mehr. Aber womöglich müsste er einsehen, dass Russland nicht verhandeln will.“

Wenige Tage nach dem 29. März wurden die russischen Kriegsverbrechen in Butscha bekannt. Damit war jede Grundlage zur Verhandlung zerstört. Der Fehler des Westens ist es nicht gewesen, nicht verhandelt zu haben, sondern viel zu zögerlich Waffen, Material und Munition zu liefern und die europäische Wirtschaft auf eine Kriegswirtschaft umzustellen.

Vor diesem Hintergrund ist das, was Julian Nida-Rümmelin schreibt, eine Verdrehung von Tatsachen. Man kann es auch Manipulation nennen. Und hier geht es eben nicht bloß, wie manche mutmaßen mögen, um unterschiedliche Meinungen. Meinungen lassen genau dann als Aussagen keine Gültigkeit zu, wenn sie an den Fakten vorbeigehen und diese ausblenden. Als Philosoph sollte Nida-Rümelin der Unterschied zwischen „behaupten“ und „gelten“ eigentlich bekannt sein. Ansichten, die nicht mit den Tatsachen übereinstimmen und wo ein Sprecher dennoch seine „Meinung“ aufrecht erhält, sind entweder Falschbehauptungen oder aber rhetorische Tricksereien und Diskursnebel, der in bestimmter Absicht erzeugt wird.

Was übrigens eine Kapitulation der Ukraine für Europa bedeutet, dürfte sehr viel schlimmer sein als all die halbgaren Drohungen Putins – denn wir sollten nicht vergessen: Putin ist KGB-Mann, das Drohen ist sein Prinzip und nichts macht solche Leute stärker als die Angst, die man vor ihnen hat. Was im Falle einer Kapitulation droht, ist eine Flüchtlingswelle von ungeheurem Ausmaß. Bereits jetzt hat Deutschland, hat die EU erhebliche Schwierigkeiten, die Massenmigration aus den arabischen Ländern wie auch aus Afghanistan sowie aus Afrika zu bewältigen. Was das für Länder bedeutet, die nicht, wie Rußland, eine faschistische Diktatur sind, sondern sich durch Wahlen auszeichnen, läßt sich leicht vorhersagen. Zumal dann, wenn auch konservative Parteien nicht mehr glaubhaft vermitteln können, daß sie das Migrationsproblem angehen. Weiterhin dürfte sich mit einer Kapitulation keinesweg ein „Frieden“ einstellen, sondern zum einen wird der Widerstand gegen russische Besatzung wachsen, es wird einen Guerillakrieg gegen Rußland geben und es steht zu vermuten, daß Putin, wenn man seine weitschweifigen „historischen Exkurse“ zur Geschichte Rußlands nimmt, als nächstes anderer Regionen wie das Baltikum und Teile von Finnland heim ins Reich holen wird, von Georgien und Moldawien ganz zu schweigen. Putins Rede vom Handelsraum, der von Wladiwostok bis Lissabon reicht, ist ganz wörtlich zu nehmen. Nämlich als neue Einflußsphäre einer faschistischen Diktatur. Und in welcher Weise Putin Gründe inszeniert, haben wir nach dem Anschlag in Moskau gesehen und vor allem nach dem 24. Februar.

An Nida-Rümelins Kommentar ist aber noch ein zweiter Aspekt interessant, gerade im Blick auf die sogenannte Friedenspolitik der SPD: Die Sowjetunion und damit auch der Ostblock sind nicht primär zusammengebrochen, weil Willy Brandt und Egon Bahr jene Entspannungspolitik fuhren, sondern weil die NATO Ende der 1970er Jahre gegen die sowjetische Aufrüstung mit SS 20-Raketen einen Rüstungsbeschluß umsetzte und weil Ronald Reagan ein massives Rüstungsprogramm fuhr und auf scharfen Konfrontationskurs ging, der die UdSSR in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten brachte. Ginge es nach der Entspannungspolitik der SPD – zumindest was die Existenz der DDR betrifft, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ist bis heute hin für Europa ein wichtiger Schritt gewesen -, so existierte in den Kopfgeburten mancher Politiker die DDR vermutlich noch heute. Nein, es war nicht die Entspannungspolitik, die die Sowjetunion zu Fall brachte, sondern einerseits die Mangelwirtschaft und daß in der UdSSR ein Politiker wie Gorbatschow auf den Plan trat und dem Elend ein Ende bereitet. Und es war, mit dem Aufstieg Gorbatschows verbunden, der Protest von großen Teilen der DDR-Bevölkerung gegen das Honecker-Regime. Der Ostblock war wirtschaftlich am Ende und das wäre er auch ohne Brandt und Bahr gewesen. Ich halte diese Geschichte der Entspannungspolitik für einen Mythos, mit dem die SPD seit Jahrzehnten lebt und den sie immer wieder reinszeniert und der dafür herhalten muß, wenn Teile der SPD auf Pazifismus machen. Dieses Wiederkäuen ist fast so schlimm wie das Absingen von „Das weiche Wasser bricht den Stein“ auf SPD-Parteitagen. Helmut Schmidt immerhin gehörte zu jenen, die unbeirrbar am Nachrüstungsdoppelbeschluß festhielten – auch gegen weite Teile seiner eigenen Partei und der damaligen Friedensbewegung, bei der auch ich mitdemonstrierte. (Der Irrtum bei jungen Menschen ist nochmal etwas anderes als solcher bei Erwachsenen: letzteren kann man verzeihen, denn es ist das Privileg der Jugend, eine neue und bessere Welt zu träumen. Die schwierige Aufgabe der Alten ist es, dies irgendwie einzuordnen und darauf angemessen zu reagieren. Aber das ist wiederum eine andere Geschichte)

Für die Ukraine, so läßt sich als Fazit für die Ostermärsche festhalten, kann das nur bedeuten, sie mit allen möglichen Mitteln weiterhin militärisch zu untestützen. Und zwar vor allem mit solchen, die es erlauben, die russischen Nachschublinien empfindlich zu treffen. Die Unterzahl der Truppen kann nur durch die Qualität der Waffen und durch die Güte der Truppen ausgeglichen werden. Peace kann man nur eine chance geben, wenn es Waffen gibt, die diesen Frieden erst einmal herstellen und dann vor allem sichern. Krieg ist schrecklich und bringt entsetzliches Leid unter die Menschen. Doch Pazifismus wird sinnlos, wenn er das Recht des Stärkeren bedeutet.

Photographie: Wikipedia, CCC-Lizenz

Engelseis. Im Trakt, 18. Oktober

Hier nun die im letzten Blogbeitrag angekündigte Lovestory.

Vorbemerkung: Die folgende Geschichte vom Liebespaar Gudrun Ensslin und Bernward Vespers geht auf ein Schreibprojekt zurück, das Gunnar Kaiser 2018 ins Leben rief, und zwar eine Kurzgeschichte über bekannte Liebespaare der Literatur zu schreiben. Leider zerschlug sich das Projekt und so wurde dieser Text nie gedruckt. Gunnar Kaiser ist im Oktober 2023 an einem Krebsleiden verstorben. Ich habe über eines der interessantesten Liebespaare der bundesrepublikanischen Geschichte eine kleine Skizze gefertigt.

Engelseis. Im Trakt, 18. Oktober

Das Leben spult im Augenblick des Todes noch einmal in Bildern ab, so sagt man, und das ist kein Gerücht oder die Legende von Mystikern, die es den Wissenschaftlern und den Theologen zeigen wollen, und das ist auch kein idealistisches oder materialistisches Manifest vom Vorrang des Geistes vorm Hirn oder umgekehrt, daß da im Augenblick des Todes nur noch Hirn nachlebt und Neuronenzauber veranstaltet. Denn ich muß das wissen. Ich weiß das jetzt. Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Es passiert der Reigen an Bildern, wenn man an diesem Punkt steht, wo nichts mehr geht, weil ein Leben endet: daß es sich fügt. Beim Paniktod in der Zelle auf dem engen Raum. In der Angst, vor dem, was nun kommt, wenn du weißt, was geschieht, laufen diese Bilder kurz davor an. Alles sprang noch ein einziges letztes Mal zurück, bevor wie hier aufhören. Rückblenden und all der Furor meiner Zeit und Epoche, was wir taten und waren, unsere Kämpfe und unser Lieben, mein Bernward, wie das Private politisch wurde. Sie schießen auf uns! Wie damals. Wir drehten die dicken Dinger, so dachten wir, und am Rad der Geschichte. Wir trugen den Kampf in die Städte. Wir fuhren ein. Manches von der Zeit mit dir liegt inzwischen im Nebel. Manches von den Tagen in Tübingen mit dir in den frühen 1960er Jahren. Geh endlich fort, Bernward! Aber du bist es ja längst. Hier im Trakt. Eppendorfer Schlaf mit Tabletten. Bücherpläne, Projekte, Anthologien, die wir in Tübingen planten, das weiß ich noch. Diese Literatur, von deinem Ich her geschrieben und die des Nazi-Vaters. „Letzte Ernte“. Gehetzt, gewütet, gedichtet. Bernward Irrsinnsreise, wie ich dich nannte. Ich habe in Paris im Hotelbett gelegen und dein Buch gelesen, deine Reise, unser gemeinsames Kind. Nein, es stimmt nicht, da war ich bereits weg und ein paar Monate später tot, als Jörg das Buch auftat. Ich habe all das gelebt, ich habe es nicht gelesen. Ich habe in Paris gelegen und ein neues Leben angefangen. Mit ihm, mit Andreas, mit diesem Schalk im Nacken. Grete und Hans, der fürchterliche Ahab und sein schmalgliedriger Smutje mit den kleinen und schön festen Brüsten. Nun geht das Zeichen, es ist weit nach zwölf und Mitternacht vorüber, aus der Wüste heraus im afrikanischen Staub, Mogadischu klingt wie ein Traumland, weit weg, das Radio, im Versteck, im Plattenspieler, Feuerzauber los; die Nachricht, die Nachrichten bloß. Es ist Nulluhrvierzig, gleich dreiviertel nach Mitternacht. Ich nehme den Stuhl, ich knote und knote es fest, wir knoten es haltbar, sie knoten, sie knoten ein Tuch, da hängt man gut und eng, sie werden gleich knoten kommen. Ich höre die Schritte im Gang, im siebten Stock. Sie sehen mich. Die ganze Zeit, sie hören uns. Nur wir. Reglos bleiben ist besser und weil sich nun die Tür öffnet. Und lose baumelnde Beine am Strick, am Zellenfenster. Ein weißes Auge gleich.

Dieses Arrogante in deinem Auftritt und doch ganz verdruckster Junge, das paßte ganz und gar nicht zueinander. Ich mochte das aber, deine Widersprüche, deine Verklemmtheit und deine Aggressivität, mit der du die Thesen zur Literatur vortrugst oder Literatur in Thesen hämmertest – ach was, deklamiertest, im Weinsuff, der Poser aus Tübingen, der um die Frauen buhlte, nicht nur um mich, um Ricke auch. Im Dreierpack. Dein Schwadronieren im Park, am Necker, die Häuser spiegeln im Fluß und Frost an den Schuhen von der Wiese im Abend, wie du täppisch den Arm um mich legtest und die Überlegenheit zu spielen versuchtest. Hölderlintage, die deutsche Misere, die sich durchzieht, und bleierne Zeit nun, durchzechte Nacht, Liebster, du konntest schön davon sprechen, als wir so endlos im Park gingen und uns in unsere Worte und in unser Sehnen verloren. Ein unendliches Gespräch wie wir glaubten. Männerding, das Frauending war zuhören und lauschen. Ich tat es nicht, ich sprach. Deine Haltung, deine Schüchternheit und deine Anmaßungen zogen mich. Intellektuelle Überheblichkeit stelltest du zu Schau. Ein lächerliches Anzugjackett trugst du beim ersten Mal, als wir uns beim Brunnen trafen, der nur in deiner Erinnerung ein Brunnen war und in Wahrheit doch nur eine Bank auf dem Marktplatz, Eitelkeit, in der du dich spreiztest, dein so unvorteilhaft dir stehender Nadelstreifenanzug mit Weste, Uhrkette samt einer Uhr, die sich als schäbig erwies. In der Hose staksten verbeulte Cordhosenbeine und dazu ein weißes Nyltest-Hemd. Abends das Hemd auswaschen und auf den Bügel hängen, morgens wieder das gleiche Hemd anziehen. Darüber ein Pullunder manchmal. Eine ausgeleierte Baumwollunterhose, wenn ich Dir den Cord abstreifte. Deine Zimmer-Buchte in den Tübinger Tagen, die wir heimlich aufsuchten, Damenbesuch verboten, eng im Roigelhaus, nichtschlagende Verbindung. Nicht ganz so links, wie wir das später anklingen ließen. Aber Leben sind veränderbar. Was liegt zwischen diesen 15 Jahren? Ein beschauliches Tübingen, die neue Bibliothek im Hegelbau, wo wir lasen und studierten, Walter Jens‘ Kolloquium am Donnerstag, wo alles, was Namen hatte, zuhörte, Berlin, das Kind und der Computer von Horst Herold – ein Name wie von Nabokov. Oder von Disney. Ein Leben im Stift. Deine Schreibübungen, dein Übervater, dessen Vermächtnis du vollstrecken wolltest, aber das kam alles anders, als du es dachtest. Wie viel Wut und Gewalt ist für einen Ausbruch aus dem Käfig nötig, wie viel Stemmkraft, wie viel Denkkraft? Die Ideen müßten ästhetisch werden, die Revolution sinnlich spürbar machen. Vielleicht. Anschaulich zumindest haben Andreas und ich diese Ideen gemacht, die im Vorfrühling in Köpfen keimten, tickten und anschlugen – das fing in Tübingen an, 62, 63, daß da ein Geist wehte. „Praxis, du sagst es, Baby!“ Frei, ungebändigt tobten wir los. Optimismus der Tathandlungen war die Parole, die wir riefen, was wir auch lebten in dieser Keimzeit, die am Ende, Hölderlinturm, so bleiern wurde und nichts Offenes mehr hatte. Ungastlich. Und auch die gestundete Zeit, was wir da lasen. Das schießt jetzt alles zusammen in diesen Sekunden im Trakt, die lyrischen Verdichtungen der braven Germanistikstudentin von einst, die ich mal war. Studienstiftungswesen im dritten Anlauf immerhin. Anders als ich das damals dachte, geht das jetzt in der Praxis hier. Big raushole. Aber anders als geglaubt. Eine Art metaphysischer Flug. Ohne Funken. Ein Abgang. Ohne dich.

Aber es mußte sein. Ich bin die Aktive, ich habe einen Sprung getan. Du nicht. Los, sag es mir jetzt und gib es zu, kneif mich, beiß mich in die Brustwarze, in meine kleinen Brüste, fasse sie, umfasse die Hüfte! Saug sie und beiß mich, sag es einfach, das Wort, sag es mir! Küsse. Ich bin dabei gelähmt. Nimm mich. Aber das ist lange her. Als du dich nicht trautest und als du in der Besucherritze des Pensionsbettes verschwandst, weil das dumme Bett auseinanderglitt, als du endlich zur Sache kommen wolltest. Du warst sturzbetrunken. Wie so oft. Und lagst auf dem Boden. Ich glaube, du wolltest nicht. Nein, du konntest nicht. Physisch. Geistig. Worte.

Wir wollten das offenhalten, was sich Beziehung nennt, im Bürgerlichen, dieses Tübinger Nest und Pfarrerskram bei mir, darauf rotzten wir schließlich, und unter dem Kuppelparagraphen war es nie leicht, für die Nacht gemeinsam eine Unterkunft zu ergattern, uns miteinander zu paaren. Ich mochte es, wenn du mir deine Finger reinschobst. Oder die Zunge und später dein pralles Glied. Da gab es alle diese Buchprojekte, die er im Kopf hatte. Mein du. Mein unbeholfenes, freches, selbstgefälliges du. Er hat russische Lippen, dachte ich mir. Wußte er das? Die Deutsche Geschichte punkt Null ist gerade sechzehn Jahre her und wir fangen jetzt an, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Auch mit Gewalt. Wem die Fragen nicht brennen, bei dem zünden vielleicht die Antworten. So geht das, nicht anders. Heidelberg, Frankfurt, Kommando Petra Schelm. Zieht den Trennungsstrich, jede Minute!

Fast ein Medeaspiel dann. Das Felixkind ist fort und ich bin auf meiner eigenen Reise. Für ein Kind ist kein Platz, nicht hier und nicht anderswo. Primat der Praxis. Ich blicke mit Haß und Verachtung auf jene Zeit zurück, ich reise nun in dieser Zeit, nichts anderes mehr. Wir lösten unser Verhältnis, ich löste mein Verhältnis zu Welt. Ich bin nun Schauspielerin, war Schauspielerin bereits im Schultheater in Cannstadt, damals, und später in Frankfurt haben wir uns verkleidet, haben uns Perücken aufgesetzt, auf Andreas‘ Kopf, auf meinen Kopf, und auch auf den von Thorwald, im Frankfurter Kaufhaus nachts. Das Warenfetischding. Die ganze alte Scheiße. Es geschahen die unerwarteten Dinge, doch das Erwartete blieb aus. Knapp war die Zeit, knapp war unsere Zeit. Sie schießen wieder auf uns. Auf Ohnesorg damals, auf Dutschke. Osterunruhen. Wir hätten nichts von Bedeutung falsch gemacht, schriebst du mir in den Arrest. Und dabei haben wir uns geändert, schriebst du, und dabei ginge unsere Geschichte zuende, schriebst du. Wie du dich nun nach meinem Geschlecht sehnst, jetzt wo ich nicht mehr bei dir bin. Wie du wartetest, wie du mir die Briefe nach Preungesheim in den Knast schriebst und die Bücherpakete dazu und die Kosmetik, die ich wollte, weil es im Knast häßlich ist, wie du mit Felix in Berlin mit Liebe umgingst, unser Kind, und wie du hofftest.

Ich habe dich geliebt. Über jedes Maß, und das erinnere ich noch. Bis zum letzten Zug, jetzt am Knoten, Reisende, wir im Herbst 1962, Spanien, Europa, in die Estramadura, Cervantesspuren. „Er lebt in Texten“, sagte ich mir – sogar auf den Reisen. Großer Walfang dann später. In Chiffren schreiben, big raushole und Kassiber. Zweite Feuerbachthese, die bürgerlichen Fotzen wollten von ihrem Leben nicht lassen. Das geht durch den klaren Kopf, das Leben mit dir, jetzt hier, letzte Sekunden ohne Kairos. Dreiviertel nach Mitternacht nun. Feuerzauber vorbei. Mühlhausen. Aber da war ich schon nicht mehr dabei. Man sagt, der Mensch könne etwa zwei Minuten ohne Luft aushalten. Das kommt in etwa hin. In weniger als drei Minuten werde ich fort sein. So wie du es lange schon bist, mein Bernward, mein Andreas, nach Tübingen, nach Berlin, nach Eppendorf, 1971 nach den Tabletten. Wir bringen unsere Reise zu ihrem Ende, mein Geliebter, wir haben ein Kind. Call me!

„immer finde ich die altdeutsche Weisheit bestätigt, daß alle schwüre der liebe falsch werden, sobald sich etwas besseres findet, in unserm fall ist das weib der skruppellosere teil, aber das ist auch egal.“ (Bernward Vesper im Februar/März 1968 in einem Brief ins Gefängnis nach Frankfurt-Preungesheim an Gudrun Ensslin)

„‚Unsere‘ Geschichte mag zehnmal zuende sein, die Geschichte ist es nicht.“ (Gudrun Ensslin am 19. April 1968 in einem Brief aus dem Gefängnis Frankfurt-Preungesheim an Bernward Vesper)

Rezipierte Hintergrundliteratur:

Gudrun Ensslin/Bernward Vesper: „Notstandsgesetze aus Deiner Hand“. Briefe 1968/1969

Ingeborg Gleichauf: Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin

Michael Kapellen. Doppelt leben. Bernward Vesper und Gudrun Ensslin. Die Tübinger Jahre

Das RAF-Ding oder wie die Kindheit dieses in ein Miniaturwunderland brachte

Nun ist durch die Festnahme von Daniela Klette die RAF also wieder einmal im Gespräch. Ich weiß bis heute nicht, was ich von diesem RAF-Ding halten soll – gerade auch im Blick auf einen Facebook-Beitrag von Birgit Kelle anläßlich des nun in einer Neuauflage wieder erschienen Buches der Meinhof-Tochter Bettina Röhl: „Die RAF hat euch lieb“. Die Bundesrepublik im Rausch von 68 – Eine Familie im Zentrum der Bewegung. Ich kann die Apodiktik gegen Meinhof ganz nicht teilen, weil ich diese entsetzliche Entwicklung aus der Zeit heraus verstehe. (Den journalistischen und auch politischen Fanatismus von Meinhof teile ich nicht, sehr wohl aber manche ihrer Anliegen in den frühen Jahren als konkret-Autorin.) Ich halte es am Ende mit Rudi Dutschke – sanft war er, sanft wie alle echten Radikalen, wie Wolf Biermann 1979 in einem Nachruf damals sang. Und ich kann zugleich diese Aussagen von Meinhof zum Olympia-Massaker 1972 nicht im Ansatz goutieren. Das ist nicht nur Haß auf Israel, das ist dezidiert antisemitisch.

Zum Phänomen RAF etwas zu schreiben, ergäbe ein Buch – auch in biographischer Hinsicht als einer, der die 1980er Jahre mit einigen Sympathien für eine zutiefst radikale Linke der Autonomen erlebte und als Zaungast verfolgte. Ich kann die Kritik an der RAF und an Meinhof verstehen, was deren widerlichen Antisemitismus betrifft (und auch Meinhofs Umgang mit ihren Kindern) – das ging mir schon in den 1980er Jahren so, nachdem „Der Baader-Meinhof-Komplex“ von Stefan Aust erschien, und doch sehe ich zugleich die Verzweiflung dieser Leute nach dem 2. Juni 1967 und nach den Schüssen auf Rudi Dutschke dann knapp ein Jahr später.

Ich habe in den 1980er Jahren die frühe RAF teils mit Sympathie gesehen, was 1972 die Anschläge in Heidelberg und aufs Hauptquartier des V. US-Korps in Frankfurt/M betrifft: das hielt ich noch lange Zeit für richtig: Den entsetzlichen Krieg der USA in Vietnam gegen die Zivilbevölkerung in die USA tragen! Das war zumindest eine sinnvolle Reaktion, glaubte ich. Und zugleich doch auch naiv, ohne dabei auf die Sowjets zu sehen und jenen totalitären Kommunismus damit implizit zu tolerieren, von dem steindummen Vergleich der US-Bombardierungen mit Auschwitz und Endlösung in der RAF-Verlautbarung von 1972 zum Anschlag in Frankfurt ganz zu schweigen. Schleyers Entführung war bestialisch, zumal dabei Menschen erschossen wurden, die nichts mit seinen Verbrechen zu schaffen hatten. Allenfalls ohne Tote hätte diese Aktion einen Sinn ergeben, indem man Schleyer in seinem „Volksgefängnis“ derart verhört hätte, wie es die RAF tat, um ihn dann mit diesem an die Medien und die Bevölkerung weitergegebenen Wissen wieder freizulassen. Es möge die Öffentlichkeit über jenen Mann richten, der sich an Juden bereicherte.

Wenn von der RAF und den Toten aus ihren eigenen Reihen gesprochen wird und wurde, habe ich niemals „unsere Toten“ gedacht, schon damals in den 1980ern nicht. Es waren nicht „meine Leute“ und Rufe wie „Wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen“ fand ich schon damals lächerlich, irgendwie saßen sie ja doch zu recht dort im Knast – was erwarteten sie? daß Helmut Kohl die Genossen zu einem Saumagen einlüde? Das ganze Genossentum, bis in die linken Bewegungen hinein, war mir immer suspekt. Aber ich hatte ein politische Interesse an diesem RAF-Ding einerseits. Und es war für mich die RAF zugleich ein Faszinosum.

Als Kinder der frühen 1970er Jahre spielten wir diese Fahndungen und diese Bilder, die wir im Fernsehen sahen, nach. Polizeisperren, Kontrollen, Schüsse. Mit den Matchbox- und Siku-Polizeiautos und sogar einen BMW gab es für die Terroristen, obgleich ich damals nicht wußte, daß BMW im Volksmund eben auch Baader-Meinhof-Wagen hieß. Polizei und Terroristen wurden mit Airfix-Figuren, Maßstab 1:72 nachgestellt. Besonders gut eigneten sich für die Polizei die Airfix-Soldaten der Briten und teils auch der Deutschen aus dem ersten Weltkrieg, weil sie Schirmmützen trugen. Für die Polizei in Demo-Ausrüstung mit Helm kamen die deutschen Soldaten der Wehrmacht und auch des ersten Weltkrieges und für den Bundesgrenzschutz die des Afrikacorps mit dem Mützen in Betracht. Die Panzerwagen der Polizei wurden durch Roco-Modelle der Schützenpanzer abgebildet und auch ein Schützenpanzerfahrzeug von Matchbox, das den BGS-Fahrzeugen, die auf den Flughäfen fuhren, im kindlichen Blick verblüffend ähnlich sah, kam zum Einsatz, wenn es darum ging, ein von Terroristen bewohntes Haus zu umstellen. (Das nur nebenbei für jene, die auch in diesen Zeiten aufgewachsen sind und solches wunderbares Spielzeug von Airfix, Matchbox und Roco gut kennen.)

Vermutlich habe ich die RAF vor allem und bis in die späten Jahre als ein ästhetisches Phänomen immer wahrgenommen und muß aus diesem Grunde nun bald einmal auch Frank Witzels Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ endlich lesen.

Und weil mich dieses Thema RAF seit Jahrzehnten im Bann hat, gibt es morgen oder übermorgen auch eine Liebesgeschichte dazu. Ich verspreche aber, daß diese nicht glücklich ausgeht – frei nach einem Lied von Georges Brassens: „Il n’y a pas d’amour heureux“.

Die Buchphotographie wurde der Facebookseite von Birgit Kelle entnommen

Was, nebenbei, die frühen Jahre der Studentenbewegung betrifft und auch den Weg von der Subversiven Aktion bis hin zu den Kaufhausbrandstiftungen, da sei unbedingt auf das im Hinblick auf die Ästhik instruktive Büchlein von Karl Heinz Bohrer verwiesen: „Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror“. Nämlich im Sinne einer Ästhetik des Schocks, der Überwätigung und eben auch, was dann später Bohrers Thema werden sollte, der Plötzlichkeit. Und auch auf diesen Blogbeitrag von mir::

Christopher Nolans „Oppenheimer“: in dunklen Zonen

Ich habe Christopher Nolans Spielfilm „Oppenheimer“ im Sommer letzten Jahres gesehen. Es ist ein spannender Film über die Entwicklung und den Einsatz der Atombombe im Rahmen des Manhattan-Projekts wie auch über Oppenheimers Leben. Als Film in seiner Machart nicht überwältigend, daß ich es als ein cineastisches Meisterwerk wahrnähme, aber doch eine in großen Teilen solide Arbeit. Der Oscar ist vermutlich teils auch der gegenwärtigen politischen Lage geschuldet, darin ein faschistischer Diktator samt seinen Gehilfen immer wieder einmal mit dem Einsatz von Atomwaffen droht.

Die Erzählweise von „Oppenheimer“ ist verschachtelt, die Zeitebenen greifen ineinander – auf eine freilich gut nachvollziehbare Weise. Die rund drei Stunden werden dem Zuschauer nicht langweilig, was fürs Kino ein wichtiger Aspekt ist, zumal es bei diesem Plot schwierig sein dürfte, ihn zu verhunzen, und bei Sommerhitze ist es in Berlin im Kino angenehm kühl, so daß eine gewisse Milde vorwaltete. Die Zuschauer gleiten in die für die meisten Menschen abstrakte und schwer fassbare Welt der Atom- und Quantenphysik. Aber es gibt auch Negatives zu sagen: der Soundtrack ist ungemein nervig: schwirrende, schrille, überdramatisisierende Geigenmusik, Streicherorchester, die im Rahmen der Jagd nach Kommunisten in der Nachkriegs-USA unter McCarthy die Vernehmung Oppenheimers durch einen Ausschuß untermalen und auch vielen andere Szenen suggestiv begleiten, zuweilen pathetisch ins Wagnerisch-Orchestrale sich steigernd – was kein Manko sein muß, wenn es denn passen würde. Vor allem aber geschieht diese Beschallung in einer enervierenden Lautstärke, von der ich nicht weiß, welche filmische, narrative Funktion solches Getöse haben soll – außer vielleicht, um auf mimetische Weise die Unerträglichkeit dieses Ausschußverhörs der McCarthy-Ära zu zeigen oder den Schrecken der Bombe als schrillen Laut zu illustrieren.

Die Bildeinblendungen von Sternenhaufen, Galaxien und den unendlichen Weiten des Weltenraums beim Thema Atom, wirkten zuweilen aufgesetzt: viel Pathos, wenn nicht Kitsch. Es gibt Szenen, wo diese Kombination, diese Sternenwelteneinblendungen gut funktionieren, gerade wenn es um den möglichen Weltenbrand geht und das Feuer alle Welt überzieht und zu zerstören droht. Das Promethische, was solchen Ausgriff plausibel macht: Prometheus, der den Göttern das Feuer raubte und es den Menschen brachte, wofür er zu Strafe zu unendlicher Qual von Hephaistos an den Kaukasus geschmiedet wurde. Mit dieser Beschreibung taktete der Film auf, dazu die kalten Bilder des Filmes, blaulastig und also in hoher Farbtemperatur. Das Feuer kann zugleich auch der Weltenbrand sein, eine Art Ragnarök, das nur in diesem Falle nicht das vermeintlich germanisch-nordische Deutschland, sondern eben Japan mit voller Wucht traf. Man kann über solche Art der Darstellung vermutlich lange streiten, warum sie gelungen oder eben mißlungen ist. Ich fand sie im großen und ganzen zumindest nicht mißlungen.

Schön auch jene Sexszene mit der hübschen, freilich psychisch derangierten Geliebten Oppenheimers, darin er nach dem Koitus und auf Bitten der Geliebten aus dem Bhagavad Gita vorlas: „Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.“ Großer und kleiner Tod: La petite mort wie auch Weltenfeuer. Vielleicht ein bißchen zu offensichtlich, aber dieses Göttliche und der Feuerschein als Vernichtungsschlag sind ja nun einmal ein Thema, das in Wort und Bild und Erzählweise irgendwie abgebildet werden muß. In dieser Form und in dieser Art des Filmstils paßt es zusammen und auf diese ästhetische Stimmigkeit kommt es am Ende an: ob der Film seine eigenen Anspüche hält. Und das tut er in den meisten Fällen. (Wenngleich man aus den über drei Stunden gut und gerne auch zwei hätte machen können.)

Dummerweise ist jene Geliebte, die sich später dann umbringen wird, Kommunistin und es bewegt sich Oppenheimer auch privat in solchen kommunistischen bzw. im Grunde sozialdemokratischen Kreisen, etwa über seinen Bruder Frank. Das wird sich fürs spätere als verhängnisvoll erweisen, und dabei verquicken sich in dem Film zwei Ebenen: Einmal jener Wettlauf zur Bombe und deren Einsatz. Und zweitens die private Ebene und die Ära McCarthy, die Kommunistenhatz und der Kalte Krieg sowie die Vorladung Oppenheimers vor einen Ausschuß, darin er einem üblen Verhör unterzogen wird, bei dem das Ergebnis bereits feststeht: daß Oppenheimer die nötige Sicherheitsfreigabe, um weiterhin für die Regierung zu arbeiten, nicht erhalten wird. Gelungen auch jene Szene relativ zum Beginn des Films, wo Oppenheimer mit Einstein in einem Garten parliert. Wir hören nicht, was die beiden sprechen und nehmen diese Szene nur aus der Sicht von Lewis Strauss, dem Leiter der Atomenergiekommission, wahr. Strauss glaubt, daß Oppenheimer bei Einstein gegen ihn intrigiert. Die Auflösung des Gespräches sehen wir zum Ende des Films, und es zeigt sich einmal wieder, wie sehr die eigenen Gedankenkonstrukte und Vorannahmen sowie Geglaubtes in die Irre führen können. Der Film verbindet in solchen Szenen und in solchen Elementen der Narration auf ästhetisch gelungene Weise Privates und Politisches.

Der Blick ins Katastrophische jedoch, zumindest was ihre empirisch-faktischen Auswirkungen auf die Japaner betrifft, wird bei Nolan ausgespart bzw. lediglich angedeutet. Zuweilen hatte ich den Eindruck, die Ära McCarthy sei eigentlich schlimmer als jene Japaner, die da von einer Bombe verbrannt und verstrahlt wurden. Aber genau dieser Eindruck ist eben das, was Nolan als Effekt erzeugen will. Die seltsame Leerstelle des Filmes sind die japanischen Opfer. Und daran können auch die grellweißen Lichtblitzüberblendungen nichts ändern, die Oppenheimer zuweilen überfallen und die wohl an jene Atomstrahlung gemahnen sollen. Der bestirnte Himmel über uns samt einem Höllenfeuer deuten ins Allgemeine. Trinity-Test hieß die erste Zündung einer Atombombe am 16. Juli 1945, wenige Wochen vor dem ersten Abwurf. Diesen zeigt uns der Film bis ins Detail. In diesem Sinne hat Nolan das Problem der Darstellbarkeit gut gelöst. Zumal bei solchem Katastrophischen immer diese ästhetische Frage bleibt, wie ein nur schwer darstellbares Grauen im Kino und überhaupt in der Kunst in Bilder gebracht werden kann – und das gilt seit Adornos bekanntem Satz fürs Gedicht nach Auschwitz wohl ganz allgemein für eine solche Kunst, womit wir implizit auch bei „The Zone of Interesst“ wären – jenem Film über das Todeslager Auschwitz-Birkenau und seinen Lagerkommandanten Rudolf Höß.

Und es liegt diese Leerstelle auch darin gegründet, daß zum Zeitpunkt der Entwicklung niemand ahnte, welche Auswirkungen solche Bombe haben könnte und weil ein solches Szenario dessen, was sich dabei in Japan dann am 6. August abspielte, die Geschichte von Oppenheimer und der Atombombe in eine andere Richtung gedreht hätte. Das Ausgesparte und Unsichtbare ist das Zentrum dieses Films. Der Film spielt insofern mit dem Wissen der Zuschauer, setzt dieses voraus. Vielleicht müßte man sich parallel dazu Alain Resnaisʼ „Hiroshima, mon amour“ aus dem Jahr 1959 ansehen.

Wer eine gut erzählte wie auch spannende Geschichte schätzt, samt einem Blick in die USA der 1940er Jahre wie auch der Ära McCarthy, dem sei dieser Film empfohlen. Dennoch: beim ersten Drittel war ich noch beeindruckt, so könnte man es als Fazit sagen, aber dieses Affiziertsein ließ im Laufe der Zeit nach. Man kann all das, was in „Oppenheimer“ gezeigt wird, im Interpretieren bedeutungsreich aufladen – mir selbst war es im Film teils zu überambitioniert und dann dafür doch zu wenig subtil. Vom Bildbombast der Sternenwelten – Makrokosmos und Mikrokosmos – fühlte ich mich an den späteren Terence Malick und solche Tree-of-Life-Schauder erinnert. Doch das kann man sicherlich auch anders bewerten. Oder man nimmt diesen Film einfach als gelungene Unterhaltung über eine wenig unterhaltsame Angelegenheit. Ich muß mir den Film irgendwann nochmal anschauen – vielleicht auf DVD, wenn Nachbarn eine zu laute Party machen und ich den Lärm der Feier mit der Filmsmusik und dem Sound of Fire übertöne.