Am Landwehrkanal, nahe Eden: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht – im Hinblick auf ein Gedicht von Paul Celan

 „Niemand zeugt für den Zeugen“
(Paul Celan)

Viele der zunächst hermetisch wirkenden Gedichte Paul Celans – sie sind es nicht, wenn man sich auf sie einläßt, insofern ist dieser Slogan problematisch – handeln von der Schwierigkeit bzw. der Frage, wie Zeugnis zu geben sei. Zeugnis von dem was war, ohne im bloßen Beschreiben sich zu verlieren – was auch die Frage des Datums tangiert: wie eine Einmaligkeit in die Struktur der Wiederholung gebracht werden kann. Jacques Derrida stellt diese Frage der Datierbarkeit in seiner Celan-Lektüre „Schibboleth“ ausführlich dar.

Es gibt ein Gedicht von Paul Celan, das trägt den Titel „Eis, Eden“ (1963), es stammt aus dem Gedichtband „Die Niemandsrose“. Dieser Titel paßte ebensogut zu jener Lyrik, die mit dem Satz beginnt „Du liegst im großen Gelausche“ – Celan ließ in seiner späten Dichtung konsequent die Überschriften weg. Dieses Gedicht hat – man wird das vermutlich nur über Umwege und über die Kombination der Textelemente feststellen – die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum Thema. Das Gedicht ist undatiert, obwohl es in seinem Kern an ein konkretes Datum gebunden ist. Es wurde 1971 postum in dem Band „Schneepart“ publiziert, und es geht so:

DU LIEGST im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.

Geh zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden –

Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –

Der Mann ward zum Sieb, die Frau
mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden –

Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
stockt.
(Paul Celan, im Gedichtband „Schneepart“)

Ein Rätsel ist nach Hölderlin Reinentsprungenes. Ein Text als erratisches Moment, das treibt und umschlägt, so will es das moderne und ästhetisch gelungene Gedicht, so realisiert sich die Lyrik Celans. Darin allerdings steckt der Zwang zur Form sowie der zur Poetik, die Motive werden aufeinander bezogen, aus dem Zufall von Eindrücken entstehe ein in sich konsistentes Gebilde. Poetisch, aber nicht im lenor-kuschelweichen Habitus der Sinnlichkeitsfanatiker und ihrer säuselnden Adepten, denen es nie lyrisch gestimmt genug zugehen kann [Rilke noch beim händischen Abwasch: denn da ist keine Stelle, die nicht abgeht], sondern als Wille zur Form und zum Ausdruck in einem. Die Welt als Wille zum Text? Nein, eine Szenerie, ein Datum, ein Anlaß, ein Ereignis. Karl und Rosa, wie man sie in linken Kreisen in jovialer Anbiederung der Duz-Genossen gerne nennt.

Der Fluß der Geschichte, die Geschichte, die vergeht und die bleibt, die Geschichten, die sich erzählen lassen, wenn zwei Menschen nebeneinander spazieren, in Berlin, am 22.12.1967, da gehen Peter Szondi und Paul Celan am Landwehrkanal. Beim ersten Lesen des Gedichts herrscht zunächst Unverständnis, ein Idiom, das sich erst einmal in keinen Kontext oder in keinen deutbaren Sinnzusammenhang überführen läßt, sofern man im Text als Text bleibt. „Verwisch die Spuren“, wie es Brecht 1928 in seinem Lesebuch den Bewohnern der Städte anriet. Ein Vorschlag nebenbei, der fünf Jahre später für die Juden Berlins und anderer Städte überlebenswichtig wurde und der im Lyrischen ebenso die Gedichte Celans bestimmt.

Peter Szondi schrieb einen kurzen Essay über jenes Gedicht „Du liegst“. Der Text heißt „Eden“ und befindet sich in den Schriften Band 2. Bemerkenswert bzw. hart im Faktum ist der Umstand, daß Szondi im Oktober 1971 in den Halensee stieg und sich ums Leben brachte. Eineinhalb Jahre, nachdem Paul Celan von der Pont Mirabeau in die Seine sprang und ertrank – am 20. April, Ironie der Geschichte. Beide waren sie als Juden späte Opfer der NS-Vernichtung. Wasserszenen also, aber kein Undinenzauber und es hat die Deutsche Romantik sich ausgeträumt. Die Wunde Eichendorff, um einen Aufsatz Adornos abzuwandeln.

Szondi schildert in diesem Text einen Besuch Celans bei ihm in Berlin, Celans Besuch in Plötzensee, Beobachtungen Celans, seine Lektüre einer Dokumentation zu Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg; ein Weihnachtsmarkt, wo Celan einen schwedischen Adventskranz erblickte, aus rotgestrichenem Holz mit Äpfeln und Kerzen bestückt, ein Spaziergang, den Szondi mit Celan unternahm. Wege, die sie gemeinsam abschritten, eine Fahrt vorbei am Hotel Eden, direkt am Europa-Center.

Das Erratische als Block, deutbar als Zeichen vielleicht, in der „Polyvalenz seiner Struktur“ (so Gadamer) jedoch in der Deutung mehrere Möglichkeiten bietend, aber im Gehalt nicht mehr ins unmittelbar lyrische Bild zu bringen, das, irgendwie heiter, stimmungsvoll aufsteigen mag. Trotzdem viele der zunächst rätselhaft erscheinenden Begriffe, die Celan in seinen Gedichten verwendet, einer bestimmten Sprache entnommen sind, die uns freilich nicht immer geläufig ist. Begriffe wie Hungerkerze oder Harnischstriemen, Faltenachsen, Durchstichpunkte und Kluftrose (aus dem Gedichtband „Atemwende“), die aus der Geologie stammen. Es wird in diesen Kontexten ein „semantisches Feld“ (Gadamer) erzeugt, das sich jedoch einerseits vom konkreten Gebrauch in der Fachsprache löst und einen ganz eigenen Horizont erzeugt, andererseits aber (bei Kenntnis der Sache) auf jenes Gestein, die Härte, die Färbung, das Bewahrende desselben zurückverweist.

Auch in „Du liegst“, das auf einen konkreten Anlaß bezogenen ist, findet sich noch die Polyvalenz. Begriffe, die zu mehrschichtigen Chiffren sich sedimentieren Das nährt das Schillernde und Rätselhafte, so daß die Poesie Celans – zunächst – schwierig deutbar sich liest – was aber bei genauer Lektüre nicht stimmt. Jenes „Eden“, das zunächst theologisch aufgeladen zu sein scheint, um dann in einer genaueren Lektüre gleichzeitig eine andere Bedeutung zu erfahren. Denn „Eden“ hieß das Hotel, wohin am 15. Januar 1919 Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verschleppt wurden und die letzten Stunden vor ihrer Ermordung, unter der Folter der Freikorpssoldaten, verbrachten. Es war das Hauptquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, Ecke Budapester Straße/Kurfürstenstraße, nicht weit vom Kanal. Der Kommandeur der Division, Waldemar Pabst, rief beim späteren Reichswehr-Minister Gustav Noske (SPD) an und erhielt von selbigem Noske (SPD) in Absprache mit Friedrich Ebert (SPD) die Genehmigung zum Mord. (Jenes Deutschland samt Ideologie kann man in einer absurden Inszenierung auf YouTube in dieser Sentenz erleben.)

Ein Berlinbesuch und ein gemeinsamer Spaziergang des Literaturwissenschaftlers mit dem deutschen Dichter – dies sind die biographischen Umstände, unter denen dieses Gedicht entstand. Sicherlich konnte Peter Szondi als Zeuge mehr als jeder andere dazu beitragen, das Gedicht zu deuten. Aber was trägt dieses Wissen zur Interpretation eines Gedichtes bei?

„Indessen macht die Kenntnis der Realien, der realen Erfahrungen, die aus Celans Aufenthalt in Berlin um Weihnachten 1967 in das Gedicht Du liegst … eingegangen sind, noch keine Interpretation des Gedichts aus. Vielmehr eröffnet sich solcher Kenntnis die entstehungsgeschichtliche Dimension, in welcher zwar fast jede Stelle des Gedichts auf ein bezeugtes Erlebnis zurückverweist, nicht minder aber der Weg von den realen Erlebnissen zum Gedicht sichtbar wird, ihre Verwandlung. In dem Spannungsfeld zwischen dem halb vom Zufall gefügten Allerlei der Berliner Tage Celans und der kunstvollen Konstellation, welche das Gedicht ist, erscheint dieses dem Leser, der Celan in jenen Tagen begleiten durfte. Darum kann seine Absicht nicht sein, das Gedicht auf die Daten und Fakten zurückzuführen, aus denen die vierzehn Verse zusammenschossen, wohl aber zu versuchen, die Vorgang dieser Kristallisation nachzuvollziehen.“ (Peter Szondi, Eden)

Wer Gedichtete deutet, muß auf einer anderen Ebene lesen, auf anderes rekurrieren als aufs factum brutum. Eine Absage an jeglichen literaturwissenschaftlichen Positivismus. Szondi thematisiert – gleichsam als negative Größe, als Leerstelle – genau dieses Biographische, das Autobiographische jeglicher Dichtung im Grunde, das bis heute Thema der Lektüren und eine Art Fetisch ist und die Konstruktion, die Fiktion, das lyrische Ich überwuchert und in einen handhabbaren Kontext gelebten Lebens einzuhegen versucht. Deutbar durch Daten, das lyrische Ich nur eine krude Funktion des empirischen Ichs. Aber solche Sicht beraubt am Ende einen Text – egal ob Prosa oder Poesie – und bringt ihn ums beste. Gedichte sind keine Berichte. Insofern ist dieser knappe Essay von Szondi auch aus Gründen der Methode für die Textinterpretation bedeutsam. Szondis Methode ist eine dialektische. Denn er schaltet das Biographische nicht krude im Sinne einer immanenten Lektüre des Hermeneutikers aus und markiert es als irrelevante Größe, sondern er nimmt diese Bezüge als Zeugnisse ernst. Oder wie es bei Adorno in seiner „Ästhetischen Theorie“ heißt: ein Kunstwerk ist immer beides. Fait social und autonom.

„Inwiefern ist das Verständnis des Gedichts abhängig von der Kenntnis des biographisch-historischen Materials? Oder prinzipieller gefragt: Inwiefern ist das Gedicht durch ihm Äußerliches bedingt, und inwiefern wird solche Fremdbestimmung aufgehoben durch die eigenen Logik des Gedichts?“

Doch das Gedicht, so Szondi, läßt all diese (privaten) Beobachtungen Celans, die biographischen Prämissen und die Flanier-Szenen des Dichter-Beobachters hinter sich. Der Nachmittag eines Schriftstellers ist hier nicht das Thema des Gedichts, genausowenig das, was er an den Phänomenen beobachtet und ebensowenig das Betrachten selbst als kontemplativer Zustand des Dichtens, aus dem heraus wie durchs Wunder oder das Ingenium des genialen Künstlers das Gedicht sich ergießt. Das Gedicht erzeugt eine Wirklichkeit sui generis – wie überhaupt das gelungene Kunstwerk eine Welt eigener Art und Ordnung ins Werk setzt – eine „nicht auf subjektive Zufälligkeiten reduzierte Wirklichkeit“. (Der Bezug zu Hegels Ästhetik wie auch zu Heideggers Kunstwerk-Aufsatz, der darin von Hegel die Redewendung von der stiftenden Funktion des Kunstwerks borgte, liegen auf der Hand.) Es verknüpfen sich dabei in dem Gedicht die Motive: das Weihnachtsfest und der (politische) Mord, Fleischerhaken und rote Äppelstaken, der Tisch mit den Gaben und das Eden, und sie schließen sich zu einem gänzlich neuen Kontext zusammen. Doppeldeutig allemal. Einerseits das Hotel, andererseits ein Garten der Lüste und der Freude.

Was ist es, das in einem Text, in einem Gedicht seine Spuren als Chiffre hinterläßt, ein Zeichen als poetisches Wort, lesbar zwar, doch schwierig zu deuten, rätselhaft, schön und auch hart, als Ton? Schwer zu Entzifferndes. Ein im Gedicht ansprechbares Du – wie Celan dies in im „Meridian“ formuliert –, ein Imperativ in Poesie, als Satz, als Aufforderung und Anforderung zum Gehen, wie wir es bereits aus Celans „Engführung“ kennen. („Lies nicht mehr – schau!// Schau nicht mehr – geh!“) Hier in „Du liegst“ eine Winterszenerie. Und das Gelausche steht – auch reimmäßig – im Zusammenhang mit jenem Kanal, der nicht mehr rauschen wird, sondern dahinfließt, der die Leiche der Frau mit sich führt. Nichts stockt.

Das Gedicht ist eine Momentaufnahme, während die Leiche der Luxemburg treibt. Das Gedicht bringt eine Bewegung hervor („Geh“, die Namen der Flüsse Berlins und jenes Kanals) und zugleich friert es ein, um sich dabei im nächsten Zug als Bewegung wieder zu lösen („Nichts/stockt“). Das kann man zusammenlesen als „nichts stockt“, nichts fixiert sich – auch im Sinne der literarischen Romantik als die Auflösung aller Bilder – und nichts kann zur Festigkeit gerinnen – das mag man sowohl positiv wie auch negativ als Unbeständigkeit sichten. [Und niemand steigt zweimal in denselben Fluß. Das wußten am Ende auch wir, in Paris, unter dem Pont Mirabeau, wo die Seine so träge dahinfließt und wo wir uns im Wissen Apollinaires und unter Abendsonne innig küßten. Deine Zunge, Deine Haut und Spurung des blonden Haars. Unter uns ein Fluß und unweit davon trieb 1971 die Leiche Celans.] Aber im Enjambement deutet sich dieses „Nichts/stockt“ ebenso als Bruch, als Spaltung, als „Nichts“ und als „stockt“, die – jeweils – als Ausfluß von Negation, Nichtigkeit und Nichtung im Gedicht stehen, bleiben und harren. Abgetrennt. Als Schluß eines Gedichts und als Chiffre der Zeit.

Es bleibt, auch im Kontext der Zeitdimension des Gedichts – einmal als historische, dann als metaphyisch-lyrisch sich realisierende Zeit – in diesem Gedicht insbesondere das Paradies- und auch das Erlöser-Motiv (als Edenbezug, „für sich, für keinen, für jeden“) festzuhalten und zu zeigen, wie es bei Celan mit dem Tod kontaminiert wurde. Eine negative Geschichtsphilosophie, fern jeglicher Utopie. Was tun und was geschieht? Es zeigt sich im letzten Wort, in den letzten beiden Zeilen, im Bruch, der den Satz und damit einen dialektischen Fluß auftrennt, die Umkehrung des Heraklit zugeschriebenen Bildes vom panta rhei in der Verneinung und als Anspruch und Abbruch:

Nichts
Stockt.

Der Engel der Geschichte, den Benjamin schilderte und den Heiner Müller als glücklosen ins Bild setzte, erstarrt. Nein, nicht einmal das. Er dröselt sich auf, bricht ab. Im großen Gelausche zu liegen, umbuscht, umflockt – ein eigentlich romantisches Bild: die eingedeckte Tote im Fluß. Eine Art Ophelia. Eigentlich geht es nur noch ums Minimale, um den letzten Rest: Ums Überleben. Doch selbst dieses Weiterleben ist nicht selbstverständlich. Rosa Luxemburg, der „roten Sau“, war es nicht vergönnt.

Das Gedicht „Eis, Eden“ schließt mit diesen Zeilen:

Das Eis wird auferstehen,
eh sich die Stunde schließt.

In einem entfernten Sinne geben diese Zeilen sogar ein Stück weit Hoffnung. Die Erlösung noch des Unerlösbaren. Die Auferstehung des Eises. Was allerdings ebenso den Einbruch der Kälte bedeuten kann. Der Ausgang ist offen.

(Der Text ist eine Überarbeitung zweier bereits auf AISTHESIS erschienener Texte.)

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