100 Jahre „Morgue“ von Gottfried Benn – mit einem Seitenblick auf Robert Frost (2)

Als hätte es die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs nicht gegeben, als ob kein Inferno stattfand, als ob die Menschen weiterhin mit Hottehü-Pferdchen durch die Natur streifen werden. Brave old world. Das 19. Jahrhundert endete bekanntermaßen mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Über der entfalteten, entfesselten Technik liegt Schnee, Schnee und nochmals Schnee, und das hat einerseits etwas sehr poetisches: ein letztem Mal noch: diese Stille eines Winterwaldes – zu Weihnachten hin. Es ist, als ob nichts wäre, nichts geschähe. Der Schnee legt sich über alles und jedes. Ein letztes Mal. Immer gibt es ein letztes Mal. Zeremonie des Abschieds. Ähnlich verhält es sich bei jenen zwei Wegen als Modell erinnerter Subjektivität. Es bleibt die Differenz zwischen Form und Inhalt. Verrätseltes und Rein-entsprungenes. Die Formen des Bewußtseins als modernes bleiben außen vor. Kein Ansatz von rhizomhafter Spaltung und Verästelung.

Stopping by Woods on a Snowy Evening
Whose woods these are I think I know.
His house is in the village though;
He will not see me stopping here
To watch his woods fill up with snow.
My little horse must think it queer
To stop without a farmhouse near
Between the woods and frozen lake
The darkest evening of the year.
He gives his harness bells a shake
To ask if there is some mistake.
The only other sound’s the sweep
Of easy wind and downy flake.

The woods are lovely, dark and deep.
But I have promises to keep,
And miles to go before I sleep,
And miles to go before I sleep.
(1922)

Das Gedicht fährt im Modus der Innerlichkeit und rekurriert auf (Kälte-)Bilder der Natur und des Dörflichen bzw. Ländlichen. Orte der Stille, der Einkehr, und zugleich liegen diese Meilen, dieser Weg vor dem lyrischen Ich, gesteigert und als Intensität des Ausdruckes dargebracht durch diese Wiederholung in den beiden Schlußzeilen. Der Schlaf kann die Ruhe oder zugleich das Ermatten bzw. den Tod des Subjekts bedeuten. Die melancholische Schönheit einer Winternacht – es könnte auch ein Abend im Herbst sein. Es gibt freilich im Diskurs der Ästhetik Einschnitte, nach denen nichts mehr so ist, wie es vorher war – auch nicht die Konzeption von Schönheit und Subjektivität. Der Stand des ästhetischen Materials ist hernach ein anderer. Eine solche Zäsur lieferten (unter anderem) Benns Morgue-Gedichte.

Frost gilt als einer der bedeutendsten Lyriker der USA. Kennedy schätzte ihn, Frost durfte zu seinem Amtsantrit 1961 vortragen. Dichtung als Kategorie des Politischen – so wie dereinst Hölderin mißbräuchlich in den Tornistern kaiserlicher Weltkriegssoldaten getragen wurde, so wie die „Todesfuge“ andenkenhaft ritualisiert wurde, um bloß vergessen zu dürfen, so daß Celan es reute, sie geschrieben zu haben. In dem Thriller „Telefon“ spielte jene letzte Strophe in „Stopping by Woods“ eine Rolle.

An Frosts Gedichten zeigt sich aber, wie sehr das Kunstwerk an seinen Zeitkern gebunden ist. 100 Jahre früher wäre diese Dichtung außerordentlich und modern gewesen, insbesondere über die Frage nach der Subjektkonstitution sowie der Stellung des Subjekts zur Natur. Vor der Frage der Subjekt- und Bewußtseinskonstitution der Moderne, wie sie etwa T.S. Eliot oder Ezra Pound entfalten, versagt Frosts Lyrik. Mehrstimmigkeit und der Strom des Bewußtseins sind ihm fremd. Und in die Gegenwart bzw. in das frühe 20. Jhd. transformiert, wird aus dem eichendorffschen oder mörikeschen Restromantiker in der Rezeption und im Zeitalter kulturindustrieller Fungibilität der Reste-Romantiker: Wo Lyrik dann in ihrer Lektüre irgendeiner vulgärheideggerschen Gestimmtheit untergeordnet wird, drückt sie bloß noch das standardisierte Gefühl aus: am Wegesrand der Lyrik aufgeklaubte Empfindungen des suchenden Ich. Alle fühlen irgendwie individuell und doch alle gleich in der selben Pose.

Solche Lyrik dient lediglich der Erbauung, das Gedicht wird Mittel zum Zweck, und Kunst erbringt wie der Museumsbesuch die Kompensationsleistungen für die Zurichtung der Subjekte im Arbeitsalltag und durch die verwaltete Welt einer entfesselten Moderne. Aber es gibt keinen Weg zurück. Der Kälte gilt es, sich mimetisch zu nähern. Mimesis ans Tödliche, wie es bei Adorno heißt. Der Entfesselung muß Kunst sich gewachsen zeigen, will sie nicht an ihr Ende kommen. Durch Regression gelingt diese Fahrt zwischen Skylla und Charybdis nimmer. Im Grunde sind Naturgedichte zum Beginn des 20. Jhds nicht mehr zu schreiben – zumindest nicht in der hergebrachten Weise –, ganz zu schweigen vom Naturgedicht nach 1945: eben nach Auschwitz, aber auch nach Hiroshima, Nagasaki und dem Gulag versteinerte die Natur unter der Medusa der Geschichte. Insofern mein ceterum censo: daß nach der Lyrik Celans, die ja durchaus auch eine Naturlyrik ist, und der Prosa Becketts nicht viel mehr geht. Andererseits eignet den Es-geht-nichts-mehr-Rufen zugleich der Mangel an Anstrengung, die unternommen werden muß, um sich an der Form abzuarbeiten. Lyrik läßt sich nicht auf einen Nenner bringen.

„Denn der Gehalt eines Gedichtes ist nicht bloß der Ausdruck individueller Regungen und Erfahrungen. Sondern diese werden überhaupt erst dann künstlerisch, wenn sie, gerade vermöge der Spezifikation ihres ästhetischen Geformtseins, Anteil am Allgemeinen gewinnen.“ (Th. W. Adorno, Rede über Lyrik und Gesellschaft, in: GS 11, S. 50)

Dies gilt gleichermaßen für die Produzenten- wie für die Rezipientenseite und berührt damit den ästhetischen Gegenstand vollständig.

Zugleich aber zeichnet es die ästhetische Moderne aus, daß das Kunstwerk der Moderne sich verrätselt und entzieht; oder aber es ist nicht. Und daran scheitert alle Lyrik sowohl als fromme Naturlyrik als auch jene (postmoderne) affirmative Kunst, mag sie auch augenzwinkernd sich gerieren.

Was die Natur bzw. ihre Metaphern in Frost Gedichten betrifft, so idealisiert er die Natur jedoch nicht – darin unterscheidet er sich von einer naiven Romantik. So wie jener mit Schnee gefüllte Wald, in dem ein Mann oder eine Frau mit einem Pferdchen steht (es könnte sogar pfirsichfarbend sein), welcher zugleich das Moment des Unheimlichen in sich trägt: es enthält diese Natur beide Momente: die Schönheit, die Anmut eines verschneiten Waldes als auch die raue Wirklichkeit desselben. In der Natur bergen sich beide Seiten: sowohl das Heimatliche, welches so leicht in den Gesinnungskitsch gleitet, als auch ihre Notwendigkeit, die unter dem Blick des Subjekts etwas Grausames annehmen kann: wenn der Winter den Schnee gegen das Haus wirft, wie in „Storm Fear“.

Es gehört jedoch, und dies ist die andere Seite der Betrachtung, zur Moderne in gewissem Sinne ebenfalls die konservative Seite der abgelebten Form mit dazu. Wenn Frost von der „Klärung der Existenz“ spricht, so ist dies angesichts der Dissoziationen der Moderne allerdings eine anachronistische Position – beyond the reflection. Und das Gedicht beginnt keinesfalls „im Entzücken und endet in Weisheit“. Diese Position ist erschlichen, und wer von Weisheit fabuliert, befindet sich an allen möglichen Orten, nur nicht an dem, welchen sie oder er als Ziel avisierten.

Trotzdem besitzt dieses Gedicht von Frost in seiner unmittelbaren Rezeption etwas Anrührendes, dieses Moment der Schönheit, das bereits einer vergangenen Epoche angehört, versetzt mit jener süßen Melancholie unvergänglicher Schönheit, welche das Lebenselexier der Jugend darstellt und von dem diese Jugend nicht weiß, daß es am Ende ins Nichts vergeht, und es ist solches Gedicht zugleich von seinem Gemachtsein her, indem es ans Gefühl appelliert, Pop avant le pop. All dieses Seichte und Gefällige samt dieser doch bei sich seienden Subjektivität als Anwesenheit und In-sich-Ruhen, selbst im Moment der Unruhe, gibt es bei Benn nicht. Seine Gedichte in „Morgue“ überführen qua Form im Versmaß diese Haltung der Ideologie.

Wenn man es in den Sound der Popmusik übersetzten möchte, dann ist es bei Benn eher dieses hier:

„I‘m waiting for my man
Got 26 dollars in my hand
Up to lexington 125
Feelin‘ sick and dirty
Huh, I’m waiting for my man“
(Velvet Underground)

Bei Benn am Ende freilich subtiler und weniger schmutzig gestaltet.

„O, Nacht! Ich nahm schon Kokain,
Und Blutverteilung ist im Gange.
Das Haar wird grau, die Jahre flieh‘n,
Ich muß, ich muß im Überschwange
Noch einmal vorm Vergängnis blühn.“

Entgrenzungen einer Moderne, die die Natur rein ins Innere verlagert; Schneeverwehungen, und zwar – anders als in Frosts Lyrik – konzipiert als Riß, der mitten durchs Subjet verläuft, vermittels Chemie; Gedichte, kurz vor dem epochalen Einschnitt. Wunschphantasien und die Phantasmagorie der Blüte, die sich einzig noch durch jene künstlichen Paradiese hervorzaubern läßt. Die weiße Metapher.

Und das Gedicht „Nachtcafé“ treibt einen Klang der Vorkriegszeit hervor, der in seiner Hektik, in den Formen des Abgeschmackten, jenem Menschlich-Allzumenschlichen einer kontingenten Existenz so niemals dagewesen ist. Der menschliche Makel und die Musikalität der Sprache:

Nachtcafe
824: Der Frauen Liebe und Leben.
Das Cello trinkt rasch mal. Die Flöte
rülpst tief drei Takte lang: das schöne Abendbrot.
Die Trommel liest den Kriminalroman zu Ende.

Grüne Zähne, Pickel im Gesicht
winkt einer Lidrandentzündung.

Fett im Haar
spricht zu offenem Mund mit Rachenmandel
Glaube Liebe Hoffnung um den Hals.

Junger Kropf ist Sattelnase gut.
Er bezahlt für sie drei Biere.

Bartflechte kauft Nelken,
Doppelkinn zu erweichen.

B-moll: die 35. Sonate
Zwei Augen brüllen auf:
Spritzt nicht das Blut von Chopin in den Saal,
damit das Pack drauf rumlatscht!
Schluß! He, Gigi! –

Die Tür fließt hin: Ein Weib.
Wüste ausgedörrt. Kanaanitisch braun.
Keusch. Höhlenreich. Ein Duft kommt mit.
Kaum Duft.
Es ist nur eine süße Verwölbung der Luft
gegen mein Gehirn.

Eine Fettleibigkeit trippelt hinterher.
(1912)

Hernach kann eigentlich keiner mehr dichten wie vordem. Natur und Subjekt verschränken sich, ohne daß aber irgend etwas aufgeht oder sich vermittelt. Und da ist es wieder – en avant Dada: Diese Nähmaschine und jener Regenschirm, welche auf dem Operationstisch (des Vivisecteurs) sich begegnen. Jener Vivisecteur, der aussaugt, ausschöpft, komponiert und sporadisch als Restsubjekt fungiert. Nachtleben, Berlinerisch. Es ist die Großstadt, welche – auch in ihrem Sound – als Signum der Moderne fungiert. Dem Gesang der Vögel wohnt noch der Mythos inne, wie Adorno in seiner „Ästhetischen Theorie“ schrieb. Wenn die Räder der Straßenbahn sich an den Stahlschienen reiben und kreischen, während die Tram vom Nordbanhnof die Invalidenstraße hochfährt, hin zum Zionskirchplatz und weiter, so eignet sich diesem Geräusch ebenfalls der Mythos und das Moment von Natur zu. Benjamin erkannte diese Bedeutung der Großstadt für die Moderne und brachte es in seinen Aufsätzen zu Baudelaire sowie in jenem Fragment gebliebenen Buch über die Pariser Passagen auf den Punk. Und auch heute noch sind es die Metropolen, welche in den Bann ziehen.

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