Literatur und Literaturkritik und darüber hinaus: Ghostwriters in the sky

Über die Funktion sowie die Arbeitsweise von Literaturkritik schrieb ich anläßlich von Jörg Sundermeiers Kritik an der Kritik bereits zu Anfang des Jahres drei Beiträge, und zwar hier, da und dort. Diese Texte hätten fortgesetzt werden sollen, nun aber bot sich ein Anlaß, weil beim „Perlentaucher“ eine interessante Debatte entstand. Nachzulesen an dieser Stelle. Zum Begriff der „Kritik“ gesellt sich – je nach Konjunktur, nach Zeitgeist und Lage – in schöner Regelmäßigkeit immer einmal wieder das Substantiv „Krise“. Es schwanken die Begrifflichkeiten und wechseln die Konstellation. In dieser Verbindung läßt sich als Headline gut der Genitiv erzeugen: „Die Krise der Kritik“. Wenn wir es gut händelten, ginge daraus die Kritik der Krise hervor. Nur wird dieses Spiel, dieser Prozeß leider nicht ganz leicht werden, denn die Krise der Kritik läßt sich nicht per ordre beseitigen, und eine Kritik der Krise setze nicht nur voraus, die komplexen Bedingungen zu benennen, die zu dieser Krise oder zumindest zu einem Mangel, einer Art von Unbehagen am Betrieb führten. Ein Grund für das, was von einigen als Krise wahrgenommen wird, liegt sicherlich in der Pluralisierung und der Diversifizierung des Kulturbetriebs, der sich in klassisches Zeitungs-Feuilleton, Online-Magazine, Print-Magazine wie „Literaturen“, die mittlerweile Schatten ihrer selbst sind und in die Blogwelt mit mehr oder eher weniger guten Literaturblogs auffächern. Dazu gesellen sich diverse literarische Blogprojekte. Von den meisten kann man getrost die Finger lassen. Weiterhin existieren die unterschiedlichsten Kultur- und Kunstzeitschriften. Vom populären „Philosophie Magazin“, über „Hoheluft“ (ebenfalls Philosophie), von „Texte zur Kunst“, „Monopol“, „Kunstforum“ bis hin zu „Cicero“ oder „Polar“. Es gibt im Internet und außerhalb desselben derart viel zu lesen und zu betrachten, daß uns zwei Augen und zwei Leben nicht ausreichen. Denke ich mir. Und denke mir weiter, daß wir, wenn wir von der Krise der Kritik schreiben, immer weiter und weiter die Metaebenen füttern. Das muß manchmal möglich sein, wir sollten die Zusammenhänge sowie die Strukturen, in denen wir wirken und gewirkt werden, nicht ausblenden. Wir können diese Verquickungen samt dem Changieren zwischen Metaebene und den Diskursen in einem Satz von Marx benennen: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen …“ Jedoch wurde dieser Satz aus der konkreten Praxis geboren und zielte auf genau diese eingreifende und verändernde Praxis ab. Zumindest aber spricht aus ihm, wenn man ihn weiterliest, die Notwendigkeit, daß Theorie praktisch werden müsse. Diese Umsetzung gilt am Ende ebenso für die Literatur- und Kunstkritik, und wir sollten diesen zielenden Satz ummünzen, indem wir eine Literaturkritik betreiben, die mehr ist als das, was man uns bisher vorsetzte. Ein weiterer Grund für diese Krise, die in diesem Falle ebenso als eine Chance sich erweisen kann, liegt darin – und dies hängt mit dem ersten Aspekt zusammen –, daß die Rolle des Großkritikers, wie Thorsten Jantschek auf Deutschlandradio feststellte ausgespielt ist: „Der Kritiker verläßt den Richterstuhl“. Zwar glaube ich daran nicht wirklich, vielmehr handelt es sich eher um einen unfreiwilligen Abgang oder um einen Rausschmiß. Denn kein arrivierter Kritiker gibt freiwillig seinen wohldotierten Posten auf und wirft hin. Das klassische Feuilleton selber hat – nebenbei – zu seinem Bedeutungsverlust massiv selber beigetragen. Zu sehen etwa am Literaturteil der „Zeit“, inwiefern die ästhetische Urteilskraft schwindet. Ausnahmen wie Ina Hartwig oder Andreas Isenschmid bestätigen leider die Regel. Nein, ich will den alten Wein in den alten Schläuchen nicht aufwärmen: Damit panschen wir bloß Glühwein. Dennoch bin ich der Meinung, daß Buchbesprechungen in den Zeitungsmedien in ihrer Qualität nachließen – und dies ohne jeglichen Anlaß und ohne wirkliche Notwendigkeit. Dieses Abflauen hat nichts damit zu tun, daß wir der Literaturrichter überdrüssig wären. Wir sind dies ganz und gar nicht, was sich bereits darin zeigt, wenn ein Format wie „Das literarische Quartett“ wiederbelebt wird. Das Publikum hat Reich-Ranicki genau für dieses Richteramt geliebt, ja verehrt, und es glühte in seiner Fernseherregung, wenn das Fallbeil rauschte oder der Daumen hochschnellte und der Mann mit dem rollenden R Hymnen zu Sex bei Haruki Murakami sang. Das Problem ist nicht der Richter und eine scharfe, aber begründetet Kritik, sondern vielmehr die vielen, die sich als Richter aufspielen, aber Geist und Witz nicht mehr mit profundem Wissen und Kenntnis zu paaren verstehen. [Daß Reich-Ranickis Begriff von Literatur eher konventioneller Natur war, steht auf einem anderen Blatt. Er tappte jedoch nicht in die Falle, Bildungsfeindlichkeit als dummen Fetisch zu kultivieren.] Vielleicht fehlt es an geeignetem Personal, nachdem die Gilde der Großkritiker sich auflöste bzw. deren Akteure nach und nach verstarben. Vielleicht mangelt es an ästhetischer Kraft. Womöglich beides. In den entindividualisierten Zeiten, da wo jeglicher ostentativ bemüht ist, als Individuum sich zu erweisen und mit originellen Phrasen sich sichtbar zu machen, im Zeitalter einer neuen, sich spreizenden Subjektivität, ohne daß da irgendwie noch ein Subjekt im emphatischen Sinne sich zeigte, feilen wir an unserer Außenperformance: Das, was wir produzieren, klingt zunächst nach Subjekt, aber leider tönen im Chor des Ich, Ich, Ich die Stimmen ungemein ähnlich und singen unisono und mehr oder weniger das gleiche Lied. Das gilt auch für zahlreiche Blogs, die Bücher besprechen oder sich mit Literatur befassen: Es steht im Diskursraum bloß ein Meinen neben dem anderen; unverbindlich und lose, wie all die Literaturbesprechungsblogs, die zwar locker vernetzt sind, und es kommentiert da eine beim anderen, aber diese Blogs besitzen lange nicht die Wirkung und Reichweite, die einst das klassische Feuilleton mit seiner Debattenkultur und den Besprechungsessays auszeichnete. Zudem schwankt die Qualität erheblich. Wenn ich, wie kürzlich auf einem dieser Blogs einen Beitrag zu Ingeborg Bachmann mir betrachten muß, wo über dem Text eine Photographie präsentiert wird, in der Herzchensteine auf einer Flauschdecke drapiert sind, die ausschaut wie ein geschmackloser Klovorleger mit Pisseflecken, und wenn ich dazu erlebe, daß rund 62 Blogger solchen höheren Blödsinn, der mit Literatur rein gar nichts, mit Gesinnungskitsch jedoch einiges zu tun hat,  liken, dann befällt mich ein arger Reiz: nicht zur zum Erbrechen, sondern auch der Wunsch, das Internet lahmzulegen und einen Wühlarbeiter oder einen Maulwurf auf den Weg zu schicken, Glasfaserkabel zu nagen, damit für einige Tage wenigstens Ruhe herrscht. Die letzten Tage der Menschheit wiederholen sich in einer schrecklichen Schleife. Aber wir müssen all dies nehmen, wie es ist: Die Kombination von Texten und Bildern ist nicht jedermanns oder in diesen letztens betrachteten Fällen jederfraus Sache, um hier korrekt zu gendern. Die wesentlichen und gehaltvollen ästhetischen Diskurse und Dispute finden immer noch im akademischen Betrieb statt, weil einzig dort ein hinreichendes Niveau herrscht. Dennoch: das Interesse an Kunst, an Ästhetik, an Literatur, an fundierter, lustvoller, geistreicher Kritik ist vorhanden. Es will den abgezirkelten Bereich sprengen. Philosophie ist eigentlich und wenn man sie beim Wort nimmt ein komplexes Feld, das voll von Tretminen steckt und eher weniger ein freundliches Platon-Plaudern wie manche annehmen, oder ein Herausgreifen von Bröcklein und Büchlein. Dennoch erfahren Philosophie-Magazine eine Renaissance. Was tun? Im Sinne von Gille Deleuze und Felix Guattari könnten wir von einer kleinen Literatur sprechen, wie beide sie für Kafka positionierten, und damit dann ebenfalls von einer kleinen Literaturkritik, von einer Bewegung der Deterritorialisierung, von den Rhizomen, die wuchern. Nur bereinigt um Deleuzes/Guattaris Ödipus-Trauma und den Schizo-Fetisch. Es bleiben die Wucherungen und ein paar markige Sätze der Postmoderne, die nun selber schon wieder Post ist: jene Anleihe an den Surrealismus, wenn ein letztes Mal Wind der Moderne Segel bläht: „Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! Macht nie Punkte, sondern Linien! Geschwindigkeit verwandelt den Punkt in eine Linie! (…) Seid der rosarote Panther, und liebt euch wie Wespe und Orchidee, Katze und Pavian.“ (Deleuze/Guattari, Rhizom) Regenschirm und Nähmaschine küssen sich nur noch sittsam wie selten, und seit dem NSU-Terror geht leider auch der rosarote Panther nur noch bedingt. Formal sind die Produkte der Kulturindustrie in alle Richtungen hin nutzbar wie man sieht. Den Vielheiten ist in jenem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ eben auch der Bedeutungsverlust eingeschrieben sowie das Prinzip der prinzipienlosen Fungibilität. Selbst das fragmentierte Subjekt ist irgendwie allgegenwärtig ganzheitlich an jeder Stelle, die dich ansieht oder eben auch nicht, weil sie mit anderem sich befaßt, anwesend. In den Digitalgewittern änderten sich die Produktionsbedingungen von Text, und dies affizierte naturgemäß ebenfalls die Form der Literaturkritik: Nun ist jeder seines Textes Schmied – sei es im literarischen oder im kritisierenden Genre. Dieser Wandel ist einerseits gut, mit dieser neuen digitalen Moderne sollten und müssen wir umgehen. Denn so absurd wie es vor über 100 Jahren war, die Photographie als Ablöse der Malerei oder aber als bloße Verfallsform zu sehen, anstatt sie als ein ganz neues Medium mit eigenen Möglichkeiten zu begreifen, so absurd ist es, die Welt des Internets nicht zu nutzen. Andererseits haben wir eine völlig andere literarisch und überhaupt anders kulturell orientierte Öffentlichkeit: nicht nur, daß Kultur zu einem Standortfaktor wurde und damit als eine Art von Kapital symbolischen Mehrwert erzeugt, der sich am Ende auch in barer Münze zeigt – so geriet Kultur ubiquitär wie Ballonskulpturen von Jeff Koons. Sondern jene Pluralität überfordert – wie oben geschrieben – unsere Aufnahmefähigkeit. Um überhaupt wahrgenommen zu werden, muß etwas Besonderes geboten werden. Klick und Kick schrauben die Aufmerksamkeitsspirale ein Stück weiter in die Höhe. Man könnte es freilich statt mit Spektakel oder Befindlichkeiten ebenfalls mit Qualität versuchen. Und in den Angelegenheiten der Kunst mit ästhetischer Urteilskraft, die besticht, die bezirzt. Text, der Lust auf Text macht. Vielleicht wieder wie eine Art literarischer Salon. Womit ich beim zentralen Thema bin. Seit Anfang des Jahres, angestoßen durch jenen Beitrag von Jörg Sundermeier, häufen sich wieder einmal die Klagen über die Funktion von Literaturkritik. Daran anschließend die Frage, was ihre Aufgabe sei. Wolfram Schütte äußerte sich dazu kürzlich im „Perlentaucher“ unter dem Titel „Über die Zukunft des Lesens“. Mit diesem Beitrag brachte er ein Stück weit etwas auf den Weg, was all jene Meta-Ebenen einer Kritik der Kritik und einer Krise der Kritik überstieg. Schütte wartete mit einem konkreten Vorschlag auf und plädierte für ein digitales Zeitungsprojekt namens „Fahrenheit 451“: sozusagen, der Punkt, an dem sich das Papier der Bücher in anderen Stoff auflöst und sich selber entzündet. Die Idee ist gut, allein es fehlt der Glaube. Aber wie es so geht, griffen manche diese gute Idee auf. Etwa die NZZ-Kulturkorrespondentin Sieglinde Geisel auf ihrem Blog. Wie auch Ekkehard Knörer von der Redaktion des „Merkur“. Ich werde in einem zweiten Teil auf verschiedene Aspekte dieser Debatte zu Literatur und Kritik beim „Perlentaucher“ eingehen.

5 Gedanken zu „Literatur und Literaturkritik und darüber hinaus: Ghostwriters in the sky

  1. „Die Idee ist gut, allein es fehlt der Glaube.“ – sehe ich durchaus positiver. Zu verhindern wäre aber das Andocken der bereits Arrivierten an das Projekt, womit im Fall eines ersten Erfolgs unbedingt zu rechnen wäre. Bekanntlich machen Trittbrettfahrerei und Opportunismus auch vor dem Literaturbetrieb nicht Halt. Gerade diese Haltungen haben ja die Literaturkritik zu einem reinen Marketinggeschrei degradiert.

    (Kannst Du mal diesen Bachmann-Artikel mit dem gefühlsseeligen Bildchen verlinken? Solche Bilderchens sollen ja eindeutige Gefühle hervor locken – etwas, das zu Ingeborg Bachmann ja nun gerade NICHT passt. Oder willst Du diesem Schmarrn keinen Link geben?)

  2. Was Du zum Trittbrettfahrer und zu den Opportunisten schriebst, stimmt leider nur allzu genau.

    Weg vom Marketing und hin zu einer neuen Qualität wäre die Parole.

    Eigentlich führe ich andere Blogs nicht vor, insofern habe ich auf diesen Beitrag nicht verlinkt und es im Unklaren gelassen. Ich will hier auch niemanden dissen, wie es neuenglisch heißt. Besser ist es sowieso, solchen Schwachfug sich nicht anzusehen. Geschweige, ihn zu lesen.

  3. „Ich will hier auch niemanden dissen…“ – ehrt Dich und entspricht auch durchaus meinen Grundsätzen. Ob aber eine Verlinkung schon ein Diss ist? Nun, man kann auch mit der Wahrheit lügen und mit Fakten dissen, das stimmt schon.

    Was immer wieder auffällt ist die Lockerheit im Handgelenk so mancher Internet-Surfer. 62 (!) likes für eindeutig behauptete Gefühle, für Ingeborg mit Herzchensteinen. Da kommen wir nicht mit. Und eine Internetzeitschrift für Kritik müsste genau GEGEN diese 62 likes bestehen können. Da scheint der Kern des Problems zu liegen.

  4. Ich sag es mal so: Ich formuliere meine Kritik in der Regel ganz direkt in solchen Blogs. Meist ist dies jedoch ganz und gar sinnlos, weil überhaupt nicht im Ansatz ein Bewußtsein für den Anlaß meiner Kritik besteht. Die, welche Gülle machen, meinen leider allzu häufig, es wäre Rosenwasser, und sie neigen zu arger Selbstüberschätzung.

    Das Problem beim Internet und zugleich sein großer Gewinn ist die ungeheure Pluralität. Von Arschfickbildern bis zum Kunstblog ist alles vertreten. Alles nebeneinander, anything goes. Korrektive gibt es nicht, weil qualitative Kritik in der Regel nicht gewünscht ist. Am liebsten herzen sich alle und liegen sich in den Armen. Bei Politi-Blogs ist dies etwas anderes, da setzt dann manchmal das gegenteilige Extrem ein.

    Ein weiteres Problem ist die ungeheure Dummheit der Menschen, die Unfähigkeit, Texte richtig und sachgemäß lesen zu können. Anläßlich der Homophobie-Debatte hatten wir dies bereits auf dem Teller. Und ich könnte hier aus aktuellem Anlaß weitere Beispiele nennen. Mittlerweile bin ich, was diese Dinge betrifft, radikaler Antidemokrat und für die Elitenbildung. Freilich anders als es unsere sogenannten Eliten und die selbsternannten Leistungsträger sich vorstellen. Eine kluge und kompetente Agora, wie wir es aus dem antiken Athen kannten, gibt es nicht mehr. Das Mittelmaß hat auch im Internet (oder gerade dort) das Wort ergriffen. Wahrhaben will es keiner, denn man macht dann all die schönen Kuschel- und Spielwiesen und die Plaudertaschenblogs kaputt.

  5. Pingback: Schlegel über Bersarin (Literaturkritik 3) | Kritik und Kunst

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