„Unruhestifter“ und innig Liebender. Zum Tod des Essayisten, des Schriftstellers und Literaturkritikers Fritz J. Raddatz

Im September 2014 verabschiedete sich Fritz J. Raddatz vom Feuilleton und vom Literaturbetrieb der BRD mit jenen eindringlichen und nachgerade bekenntnishaften Sätzen:

 „Ich habe mich überlebt. Was heißt das für einen Autor, einen Literaturkritiker zumal? Es bedeutet: Meine ästhetischen Kriterien sind veraltet, das Besteck des Diagnostikers rostet, meine Gierfreude am Schönen der Kunst ist zu Asche geworden, der gefiederte Pegasus, mit dem ich durch Bild und Text galoppierte, lahmt. Diese Welt – in der ich mich durchaus noch kundig machen möchte – weicht von mir, gibt mir keine Kunde mehr; ich bin aus der Welt gefallen. Ihre Zeichen werden mehr und mehr zu Rätseln – unlösbar oft, abstoßend nicht selten, sind meiner Lebensart, meinem Habitus, meinem – Pardon für das harte Wort – Geschmack ungemäß.“

„Diese ‚Welt von gestern‘ kommt nicht wieder“ trug Raddatz fünf Jahre zuvor, am 11. Februar 2011 in sein Tagebuch ein.

Nach diesen Interview-Passagen in der „Welt“ und nach meiner Lektüre der „Tagebücher. Jahre 2002 – 2012“ wußte ich, daß Raddatz dieses Jahr 2015 nicht überleben und er sich zu gegebener Zeit das Leben nehmen würde. Glasklar die Andeutungen und Sätze. Den Tod umkreisend im Tagebuch-Schreiben, in immer neuen Wendungen, ein Tagebuch als Stundenbuch, todesreflektiert, in hora mortis, oder kurz davor, denn philosophieren und auch die Literatur betreiben heißt, sterben lernen; todessüchtig fast fielen diese privaten Eintragungen aus. Gelungene Projekte, aber ebensoviele gescheiterte. Im Rückblick. Diese Ambivalenz des Kulturbetriebs, der einen so schnell fallen läßt wie aufsteigen, bekannte Raddatz freimütig ein. Vom streitbaren Großkritiker zum Has-been verläuft die Linie schneller als gedacht und erwartet.

Die Freude am Glück und am Glanz des Lebens, den Raddatz so sehr schätzte, sogar die Lust an der Literatur ging ihm in den letzten Jahren verloren, wenn man diese Zeilen in seinem Tagebuch nicht für Koketterie nimmt. Die Lektüre einst geachteter Texte wie der Prousts oder Thomas Manns, gar Goethe selbst, geriet ihm, während er diese Schriftsteller wieder las oder vorgelesen hörte, schal. Die „Wahlverwandtschaften“ nannte er konstruiert, den „Felix Krull“ fand er „bei aller Vergnüglichkeit doch allzu Rokoko-verzuckert“. „Es spricht deutlich immer der sprachlich hochgezüchtete Autor, nicht seine Figur.“ Thomas Bernhard samt seinen Auslassungen, während er sich in seinem Mallorca-Interview spreizte, „böses Zeugs“ redend, bezeichnete Raddatz als einen „Nihilismuseitelkeitskasper“. Als haltbar erweisen sich von Thomas Mann „Der Zauberberg“ und die „Buddenbrooks“. Raddatz mokierte, klagte, wußte um das Ende. So hauchten Welt, Leben, Lust und Literatur dahin. Ungeheuer bewegend geschrieben, weil dies die Reflexionen eines Menschen sind, der sich dem Tod, seinem eigenen Tod stellt und ihm ins Angesicht blickt. Ohne Eitelkeiten und Kokettieren abgefaßt, die Raddatz ansonsten in anderen Tagebuch- und Biographietexten nicht fremd sind. Mochte man sein Tagebuch der Jahre 1982 bis 2001 wie auch seine wundervolle Autobiographie „Unruhestifter“ noch als den großen Gesellschaftsroman der untergehenden alten BRD lesen, prickelnd und angereichert um manche Anekdote aus dem, was Kulturbetrieb heißt, so waren seine 2014 veröffentlichten Tagebücher der Jahre 2002 – 2012 nicht mehr nur Abgesang, sondern bereits die Chronik eines angekündigten Todes.

Heute aber geht der Essayist, der Schriftsteller Fritz J. Raddatz endgültig. Einer jener großen Literaturkritiker der BRD, die den Betrieb wesentlich prägten, ist heute gestorben. Er nahm sich selbstbewußt und selbstbestimmt in Zürich das Leben, weil die BRD ein solches Sterben verbietet.

Raddatz war als Essayist und Kritiker teils verhaßt, oft angefeindet. Im Stil seines Schreibens hoch elegant, ätzend, sprudelnd wie Champagner, fein und schneidend zugleich, dort wo es ihm nötig schien. Treffend im Ton, hochfahrend mit der Freude am besonderen Wort, manchmal vielleicht zu fein ziseliert und gedrechselt die Formulierungen. Dennoch – eine Freude war es, seine Besprechungen und Essays zu lesen. Oft irrte er, war vorschnell im Urteil. Er platzte und plautzte heraus, wo es doch Zeit wäre, genauer zu arbeiten und zu recherchieren. Karl Kraus’ Satz „Mir fällt zu Hitler nichts ein“, mit dem dieser die „Dritte Walpurgisnacht“ begann, deutete Raddatz als Sprachlosigkeit und als Kapitulation vor Hitler. Nur war leider das Gegenteil der Fall. Weder kapitulierte Kraus in der Sprache, noch frönte er seiner ihm häufig zum unsinnigen Vorwurf gemachten Ich-Sucht, wie Raddatz insinuierte. Vielmehr entwickelte sich bei Kraus aus den Idiosynkrasien und dem Blick unter der Perspektive des Besonderen eine unverstellte, kalte, klare Analyse des Allgemeinen, die dieses Gesellschaftliche zuweilen in einem einzigen Satz pointiert verdichtete. Absurde Fehllektüre von Raddatz, wo doch ansonsten – auch im feuilletonistischen Essay – jenes dekonstruktive Misreading den einen oder den anderen Spalt eines Textes auftun konnte und eine Kritik produktiv wendete. Bei Kraus verrannte sich Raddatz. Und nicht nur da. Der satirische, der lyrische Ton Robert Gernhardts blieb ihm fremd. Spinnefeind einander. Aber vielleicht macht gerade der Irrtum und das immer wieder erneute Aufstehen und Gegenanschreiben die Größe dieses Kritikers aus. Aber wie leicht verrennt man sich und ästhetisches Urteilen gerät zum Ressentiment? Offenheit zu bewahren und aufgeschlossen zu bleiben, sollte die Aufgabe des Kritikers sein.

Man kann, muß und darf inhaltlich nicht alles teilen, was Raddatz schrieb. Seine Besprechungen waren streitbar, und wenn man gewillt war, konnte man sie zerlegen. Ich erinnere mich, als Raddatz 1993 in der „Zeit“ Rainald Goetzʼ 5-bändigen Textkonvolut „Festung“ geradezu vernichtend rezensierte, und das Scheitern insbesondere der drei Materialienbände „1989“ auf den Punkt brachte:

„… die drei (!) Bände „1989“, die nichts sind als ein mächtiger – elektronischer – Papierkorb; Pardon: Müllcontainer. Noch einmal wird das vergessen geglaubte Un-Wort von der „automatischen Textgestalt, die Stimme des reinen Materials“ aus der Fünfziger-Jahre-Kiste geholt, um uns Hunderte von Seiten mit Fernsehhäckseln zu quälen. Das Feine an der Organisation dieses Materials soll sein, daß es un-organisiert ist. Die Fernbedienung als Dramaturgie eines Textes – das ergibt natürlich nichts als Hirnflimmern.“

Damals teilte ich die Sicht von Raddatz nicht, widersprach dieser Kritik, rauchselig im Kreis der postmodernisierten postdramatischen Akademiker, die das Erlebnisdrama des Rausches vorzogen, lebhaft, ahnte aber zugleich, daß Raddatz am Ende recht behalten könnte, wenn ich den Kult der Goetz-Jünger im Sound der Textbeliebigkeit mir betrachtete, den diese um die von Goetzʼ zusammengeklaubten Texte der 90er Jahre veranstalteten als seiʼs Religion: Assoziieren als Methode – bereits hier. Ohne das Material in eine ästhetische Form zu versetzen. Diese Kulthandlungen hatte mehr etwas von Drogenerlebnissen als von Literatur. Raddatz sah diesen Aspekt des Beliebigen, der sich in der Literatur der 90er Jahre zunehmend zu etablieren begann, teils unter dem Titel Pop firmierend. Was bedeutet diese Moderne? In seinem letzten Interview im Samstags-Magazin der „Berliner Zeitung“ im Januar 2015 mit Arno Widmann, pointiere es Raddatz. Das mag nach alter Schule klingen, so schrecklich unmodern und antiquiert, aber am Ende wird es sich bewahrheiten; mal sehen, wann all die Seemannschwätzer und die Schrammfaselerinnen in Ton und Ideologie wie die Fahne im Wind umschwenken werden:

„Ich glaube nicht, dass die zwanghafte Kürze etwa beim Twittern eine neue Ästhetik hervorbringen wird. Das fördert nur Oberflächlichkeit, die vorgebliche Informationsfülle, der wir heute ausgesetzt sind – dabei wissen wir nicht einmal genau, was zum Beispiel in der Ukraine los ist, oder, um bei der Kultur zu bleiben, wer heute in den USA malt. Wer sind dort die jungen Autoren von heute? Wissen nur wir das nicht? Oder weiß man das nicht, weil sie untergehen in der Überfülle von angeblicher Information?“

Sein Stil, dieser Ton des Schreibens blieb unverwechselbar. Raddatz besaß den besonderen Blick für Literatur in den frühen und mittleren Jahren der BRD, in den Jahren des Aufruhrs, nachdem er 1958 die DDR verließ und nach einem Intermezzo beim Kindler Verlag; er entwickelte das untrügliche Gespür für die neue Literatur der BRD, der er 1960 als Cheflektor und stellvertretender Verlagsleiter des Rowohlt Verlags eine Plattform bot, und nicht nur für die Literatur der BRD und der DDR, sondern ganz international nach Frankreich und in die USA ausgreifend. Anders als sein großer Kritiker-Antipode Marcel Reich Ranicki ging es ihm um eine Literatur, die den abbildhaften Realismus zu übersteigen hatte, eine Literatur, die nicht bloß konservierend und konservativ erzählend verfuhr. Raddatz Blick auf Literatur war facettenreich, Unterschiedliches nahm er wahr, die Revolten, selbst im Konservativen wie bei Céline: genauso aber Jouhandeau, James Baldwin, Jean Genet, Elfriede Jelinek, Uwe Johnson, Hubert Fichte, der den meisten Literaturbloggern heute kaum noch bekannt sein dürfte, Faulkner und Gabriel García Márquez, bis hin zu Walter Kempowski, mit dem er befreundet war, wie auch mit Günther Grass, Siegfried Lenz, Peter Rühmkorf, Thomas Brasch, dem Graphiker und Zeichner Paul Wunderlich. Eine schwierige Freundschaft verband ihn mit Uwe Johnson, die im Bruch und mit dem Tod Johnsons endete. Zeugnis davon legt der eigenwillig-eigentümliche Briefwechsel „‚Liebes Fritzchen ‚Lieber Groß Uwe‘“ ab. Wer keine Literaturgeschichte der BRD und der DDR jener Jahre lesen mag, weil diese zu trocken verfaßt, wer gerne hautnah dabei sein will und aus erster Hand erfahren möchte, der nehme sich seine Autobiographe „Unruhestifter“ sowie jene Tagebücher „1982–2001“ samt dem Briefwechsel Johnson – Raddatz.

Über seinen Sturz als Feuilletonchef der „Zeit“, 1985, als er über ein nicht ausgewiesenes Goethe-Zitat stolperte, das er ungeprüft aus der NZZ übernahm und was sich dann als eine Satire entpuppte – Goethes legendärer Bahnhof eben – schrieb er in seiner grandiosen Autobiographie „Unruhestifter“: Zwischen Hektik und der Frankfurter Buchmesse noch einen Artikel auf die Seite 1 der „Zeit“ eingestreut, hineingehauen, weil auf jener Seite der zweite Leitartikel ausgefallen war; kurz vor Sprung auf dem Weg zum Flughafen. „Fritz, nur Sie können helfen, Sie sind so schnell.“, zitierte Raddatz in seiner Biographie. Gegengelesen und geprüft haben diesen Text die Korrekturen der „Zeit“ anscheinend nicht. Raddatz brannte, so sagte es der Verleger Ledig-Rowohlt und so geht die Legende, wie eine Kerze von den zwei Enden her. Lebenswild, Literatur und Kunst als Leidenschaft und so wurde ein Leben zu Berufung und Beruf. Der Idealfall eigentlich.

Lebenstragödie und harte Szenen in seiner Kindheit und Jugend beschreibt Raddatz im „Unruhestifter“. Unbedingt lesenswert. Trotz all seiner Eitelkeiten und kapriziösen Züge. Zugleich ersteht darin eine Welt voll Glanz, Glamour und Intrigen. Literatur fast schon als Adelsball mit Henkel und allem, was in der BRD und der DDR Rang und Namen besaß. Enzensberger, Grass, Rühmkorf. Legendär Raddatz‘ Anekdote über Hans Mayers Egomanie: „Und nun erzählen Sie doch mal etwas über sich“, so Mayer zu Raddatz, „wie fanden Sie mein neues Buch?“ Dennoch verneigt sich Raddatz vor Mayers Leistung. Traurig das Verenden von Thomas Brasch in Alkohol und Drogen. Die Einsamkeiten inmitten des Betriebs und all die Verluste.

Das Private ist insofern politisch als es sich vom Gesellschaftlichen her konstituiert und nicht als Singularität abseits zu haben ist. Ansonsten und ohne diesen Zusatz gerät der Satz, das Private sei politisch zur Gesinnungsschnüffelei. Zwar schätze ich es nicht, in jenem Privaten von Schriftstellern herumzustochern, um irgend einen Rand des literarischen Textes, der sich bei genauer Betrachtung meist als schaler Ranz erweist, hervorzupopeln, weil ansonsten die Kraft der Lendenschwachen zur Lektüre nicht ausreicht. Im Falle von Raddatz muß man jedoch dieses Private nennen, das er selber niemals verschämt kaschierte: nämlich sollte seine Homosexualität bzw. seine Bisexualität nicht unerwähnt bleiben – in der BRD der 70er Jahre und noch hinein bis in die 80er nicht selbstverständlich. Über diese Präferenzen und Affären gab er, nicht nur in seinen Tagebüchern und in seiner Autobiographie, freimütig Auskunft. Vor allem aber lebte er diese Sexualität offensiv, was seinerzeit nicht selbstverständlich war. Das mag im vermeintlich toleranten Literaturbetrieb leichter vonstatten gehen als in anderen Gebieten des Lebens. Doch wie oft hinter Raddatz‘ Rücken ganz und gar unironisch getuschelt wurde „die Tucke!“ wäre sicherlich aufschlußreich. Und selbst die inszenierte Ironie solcher Anwürfe zeugt zuweilen durchaus auch in den sogenannten liberaleren Kreisen noch vom sich perpetuierenden Vorurteil und der Ranküne. Raddatz lebte auch in der Sexualität offensiv. Unerwähnt sollte dieser Umstand nicht bleiben, denn er ist durch und durch nicht nur Literatur, sondern auch politisch.

Für die meisten Menschen ist diese Art des Feuilletons, wie Raddatz es prägte, lebte und schrieb, nicht mehr zeitgemäß. Weder für heutige Leser:innen, noch für die Redakteure unserer Feuilletons, deren „Stil“ häufig grob und an der Literatur vorbeschreibt. Aus der Zeit gefallen. Mochte Raddatz manches Mal oberflächlich und vorschnell urteilen, weil er zu hitzig arbeitete, so blieben viele seiner Beobachtungen dennoch einem besonderen Blick fürs literarische Detail und einer speziellen Ästhetik verhaftet. Fritz J. Raddatz war ein Literaturkritiker, dem der Stil und die Ausdruckskraft der Sprache keine Nebensache waren. Französisch eher als Deutsch im Denken und in der Kraft des Ausdrucks. Dieses Französisches seiner Existenz hob Raddatz in seinen Tagebüchern und in seiner Autobiographie hervorhob: eher in Frankreich für seine belletristischen Werke geschätzt als in der BRD. Insbesondere verzieh man in dieser BRD einem Kritiker niemals, daß er sowohl Literaturkritiken wie auch Romane schreiben konnte. Für diese Art zu formulieren und einen bestimmten Ton in einer bestimmten Diktion zu treffen, liebte ich seine Texte, las ihn gerne, selbst dort, wo er übers Ziel hinausschoß. (Vielleicht sogar gerade wegen dieses Extrovertierten.) Der große Stil eines Homme de lettres. Das Zeit-Feuilleton der 80er Jahre unter seinen Händen war eine einzigartige Freude, wenn wir es lasen; großartige Redakteure wie der wunderbare und feine Theaterkritiker Benjamin Henrichs etwa liefen zur Hochform auf – vertrieben dann vom Grobklotz Siegrid Löffler.

Fritz J. Raddatz weckte in den frühen 80er Jahren unsere Lust auf Literatur. Mein einzig bester Freund Volli, seinerzeit, und ich lasen in jenen wunderbaren Jahren zu unserer Punkrockschulphase seine Kritiken in der „Zeit“ gerne und ausgiebig – er hörte und lebte die Musik, an die er mich heranführte, ich die halbgare vorlaute Theorie der Literatur mit arroganter und ironischer Geste. Wir lachten über das Geschniegelte und Eitle dieses Kritikers und waren doch tief beeindruckt und voll der Achtung von seinem Willen zum Stil und wie es ihn zur Literatur drängte und trieb. Wir veranstalteten aus Spaß einen völlig absurden Fritz J. Raddatz-Ähnlichkeitswettbewerb. Obwohl wir weder Bärte noch Anzüge trugen. Allenfalls mal Trachtenjacken oder ein zerschlissenes Jackett, an das ich mir einen Tampon heftete, den ich rot bemalten mußte, weil mir jenes Mädchen, das ich liebte, zu meinem Bedauern keinen ihrer benutzten Tampons abtrat. So lasen wir die Texte Raddatzʼ und all diese wunderbaren Literaturen, wenn junge Männer das Lesen entdecken, im wilden Modus, mit dem Gespür für den Bewohner einer Welt, der mehr als nur Bürger sein wollte, sogen seine Kritiken in uns auf, verschlangen „Eros und Tod. Literarische Portraits“, „Revolte und Melancholie. Essays zur Literaturtheorie“, kamen über Raddatz zu Johnson und Fichte, zu Benjamin und Lukács, zu Max Raphaels materialistischer Kunsttheorie, zu Jelinek, zu Genet, zu Faulkner, schätzen das Abwegige – auch auf unsere ganz eigene und besondere Weise. Das, was Raddatz sicherlich als Klamauk verworfen hätte: Boris Vian und Raymond Queneau, das Kino der Surrealisten, die Filme Alejandro Jodorowskys. Die Buchbesprechungen von Fritz J. Raddatz in der „Zeit“ und seine Bücher zu lesen, war für mich Gewinn und Genuß in einem. Es wird im Feuilleton nur wenige Kritiker geben, deren Wille zum Stil und zum pointierten geistreichen Satz derart ausgeprägt war, wie bei ihm.

Mögen an dem Ort, wo Sie, lieber Fritz J. Raddatz, nun weilen, die besten Bücher, schön gestaltet, vom Papier her handschmeichlerisch sich fügend, die erlesensten Weine und Champagner der Marke Bollinger, ein fein drapierter Tisch mit Damastdecken und Messerbänkchen sich befinden. Vielleicht endet an solchen Orten auch die Unruhe, wenngleich ich an dieses andere Reich nicht glauben mag. Endspiele sind Endspiele und nach dem Schlußpfiff ist Schluß. Alle Kostbarkeiten versinken. „Geben Sie Luxus! Auf das Notwendigste kann ich verzichten!“ entgegnete Oscar Wilde mit feinem Lächeln. Denn wer den Gebrauchswert niedriger als den Tauschwert schätzt, der möge in der Hölle verschmoren. Es mag kitschig klingen, aber ich verneige mich vor dem Lebenswerk, der Arbeit, dem Text mit all seinen Fehlern, auch dem Text dieses Lebens von Fritz J. Raddatz. Er würde sich, so steht zu vermuten, über viele der folgenden Nachrufe amüsieren oder echauffieren, so wie er es bereits in seinen letzten Tagebuchaufzeichnungen tat, wenn er darüber klagte, daß man ihm dereinst wunderbare Nachrufe schriebe und Epitaphe meißelte, aber zu Lebzeiten er wenig gegolten und die Anerkennung nur spärlich ausfiel. Das freilich stimmt nicht. Dennoch geht hier eine Epoche und eine Zeit unwiederbringlich ihrem Ende entgegen. Vorbei, verweht.

 

01_Raddatz

 Copyright: Julian Baumann SZ Magazin
http://www.julianbaumann.com/pages/sz_raddatz.html

12 Gedanken zu „„Unruhestifter“ und innig Liebender. Zum Tod des Essayisten, des Schriftstellers und Literaturkritikers Fritz J. Raddatz

  1. Goethes Bahnhof

    Wer so urteilte, der hatte und hat auch Neider und die schlagen in ihrer Mittelmäßigkeit immer dann zu, wenn eine solcher Fehler macht, etwa Goethe einen Bahnhof andichtet. Ich entsinne mich noch genau der Talkshow, in der sein Rauswurf bei der „Zeit“ Thema war. Abschlußfrage an ihn: Wer war für ihn, wer gegen ihn? darauf Fritz Jott (oder Gott): Alle Journalistenkollegen seien gegen ihn gewesen, alle Literaten für ihn. Darunter dürften auch einige Schriftsteller gewesen sein, die er zuvor nicht immer nur mit Glacé angefasst hatte (wiewohl er ja durchaus Glacélederhandschuhe trug).
    Will sagen: Er gehörte nun einmal zu ihrer Welt, zur Welt der Schriftsteller und sie, die Schriftsteller zu seiner. Was man für die Journalistenwelt eben nicht behauptet kann.

    Er hatte etwas dandyhaftes an sich, freilich ein Dandy mit Stilgefühl dessen zwischenzeitlich zu beobachtenden Fehlurteile das Gesamtbild nicht störten, wie es sich für einen echten Dandy gehört(e). In der Präteritumklammer verbirgt sich schon die Frage, ob die Zeit des intellektuell überlegenen Dandys vorbei ist – eben so, wie er es selbst empfand. Oder ob er mit seiner Verweigerung einfach nur seiner und unser aller unvermeidbaren, biologischen Wahrheit ins Auge blickte: Der Vergänglichkeit. War sein: „Ich gehöre hier nicht mehr hin!“ eine Zeitdiagnose, eine Gesellschaftsdiagnose oder überzeitliche Unvermeidbarkeit?
    Der Schriftsteller sieht die geistigen Ursachen als dominant an. Er hatte sich, sein Denken hatte sich „überlebt“, es war ein „Überleben“ zur falschen Zeit. Wer aber sich selbst überlebt, der ist ja schon nicht mehr. Die Konsequenz ist der Sprung durch das dunkle Tor. Vieles spricht dafür, dass die Zusammenhänge so sind.
    Der Arzt in mir aber antwortet: Das Verschwinden des Körpers kann eben so dazu führen, sich als überlebt anzusehen. Seis drum. Ob sein Körper oder sein Geist erlahmte. Allemal gilt: Unvermeidbar ist das Ende!

    (Ich wollte zunächst bei mir einen kleinen Nachruf schreiben, ich denke bei Dir im Kommentarteil sind diese schmalen Anmerkungen aber ebenso gut wenn nicht besser aufgehoben. Das entspricht auch meiner Auffassung vom Bloggen: Bloggen ist das Fortschreiben von Texten – möglicherweise die einzige sprachliche Avantgarde, die es noch gibt.
    Hatte Raddatz sich für das Bloggen interessiert?)

  2. Woher stammt eigentlich die Theorie: Entweder Schriftsteller oder Kritiker? Irgendwo habe ich mal gelesen, wer nicht schreiben kann, wird Kritiker.

  3. Es geht eher um den Unterschied zwischen Schriftsteller und Journalist. Beide schreiben, allerdings schreibt der Journalist, wie der Name schon sagt, für den Tag. Die Tagesaktualität gibt das Thema vor.
    Der Schriftsteller holt seinen Schreibanlass von woanders her, aus seiner Kindheit, seinem Erdulden/Erleiden der Welt und folglich reagiert er zeitverschoben auf die Umstände. Deswegen waren z.B. die Vorwürfe des Jahres 1989 gegen die Schriftsteller, sie hätten mit der aktuellen Entwicklung nicht Schritt gehalten, so absurd. Denn so wie das durch Aktualität ausgelöste journalistische Schreiben funktioniert Literatur nicht. Tolstois Epos „Krieg und Frieden“ reagierte auf die Verwerfungen Europas durch Napoleon – über 50 Jahre später. Und mir scheint, dass gerade deswegen dieser Roman heute noch gilt. Einen Roman über Aufstieg und Fall des Korsen 1816 geschrieben? Nein, das ist unvorstellbar.

    Dass aktuell (aha!) auch die Literatur im journalistischen Präsens angekommen ist, ist allerdings ein anderes, hier auf diesem Blog schon häufig diskutiertes Thema. Aus oben skizzierten Gründen kann das der Literatur nicht gut tun.

  4. ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass ein Schriftsteller eine glaubwürdige Kritik über einen andern Schriftsteller verfassen kann und möchte. Gehören politisch engagierte Publizisten mit literarischen Bestreben, wie die Gründer der Gruppe 47, überhaupt in die Literaturkritik?

  5. „ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass ein Schriftsteller eine glaubwürdige Kritik über einen andern Schriftsteller verfassen kann und möchte.“ in der Tat schwer vorstellbar. Zumindest über Zeitgenossen urteilen Schriftsteller höchst ungern.

    Als Ergänzung zum oberen Kommentar: Kritiker reagieren auf Buchveröffentlichung, sind also die Journalisten des Literaturbetriebs. Der Essayist hingegen reagiert auf länger greifende Entwicklungen der Literatur oder/und der Gesellschaft, ist folglich eher den Schriftstellern zuzuordnen. Z.B. auch Hans Werner Richter, der Gründer der Gruppe 47.
    Das Precedere der Gruppe 47 war allerdings Stehgreifkritik an bis dato unbekannten Texten. Somit fast eine Live-Reportage und damit wiederum: Mündlicher Journalismus. Man sieht schon, das Einfache war unförmlich geworden (geklaut!). Aus Schriftstellern wurden temporäre Journalisten.

    Da fällt mir eine Frage ein: Ist es heute so, dass die Schriftsteller sich kaum noch im daily life, im alltäglichen, politischen Engagement austoben und deswegen ihre Literatur so präsens-journalistisch gerät? Oder ist ist diese Assoziation doch zu clever, zu sophisticated, als dass sie stimmen könnte?

  6. @Gerhard Mersmann
    Vielen Dank! Ich hätte im Grunde noch viel mehr schreiben können und wollen. Aber es soll und darf ein Blogtext nicht überstrapaziert werden. Lang genug ist diese Würdigung ja allemal geraten.

    @summacumlaude
    Raddatz Welt war nicht die der Blogs oder die Literaturkritik derer, die nicht vom Fach stammen. Insofern hätter mein Schreiben kaum wahrgenommen. Ja, er war ein Dandy, einer jener letzten. Diese Eitelkeit hatte etwas Hochgezüchtetes und war zugleich sympathisch. Schreib unbedingt auch bei Dir einen Text zu Raddatz, sofern der Trieb und die Freude dazu noch vorhanden sind. Für Raddatz’ Tod war es vermutlich nicht maßgeblich, daß er im Betrieb der Kultur ein Fossil war. Damit hätte er sicherlich noch leben können. Wenngleich es richtig ist, daß er bestimmte Strömungen schlicht nicht mehr wahrnahm: egal ob Grünbein oder Marthaler. Es mag schwierig sein, für eine ganz andere Form der Kunst als man selber sie vertrat, offen zu bleiben. Ich hoffe für mich selber, daß mein Blick sich niemals schließt. Andererseits sollte man der Versuchung widerstehen, aus Mode und aus Verzweiflung heraus, um nur nicht dem Verdacht sich auszusetzen, zum alten Eisen zu gehören, jeden Blödsinn mitzumachen. Man bleibt nicht dadurch besonders jung, wenn man Karen Köhlers Prosa als gelungen bezeichnet, wie weiland die Kritikerin Ursula März dies in der „Zeit“-Besprechung tat.
    Was Du zum Unterschied Schriftsteller/Journalist schreibst, teile ich.

    @ ohneeinander
    Wer nicht schreiben kann, sollte weder Kritiker noch Schriftsteller werden, sondern generell und in allen Belangen die Finger vom Schreiben lassen.

    @summacumlaude und ohneeinander
    Schriftsteller können durchaus gute Kritiker sein. Das ist nicht ausgeschlossen. Sehr hängt dies vom Blick und von Wissen um Literatur ab. Zwar bin ich gegenüber einem Literaturkritik betreibenden Schriftsteller oft skeptisch, weil die Optik häufig unter der des eigenen Schreibens sich fokussiert und sehr oft lediglich eine Referenzrahmenbestättigung stattfinden. Aber das kann ebenso einem Literaturkritiker passieren, der nicht mehr den Text nimmt, sondern seine im Kopf eingepflanzte Theorie zum Maßstab erhebt. Die Gruppe 47 ist ein interessantes Beispiel. Seinerzeit. Was mich daran erinnert, das Buch von Helmut Böttiger zu lesen:“ Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb“.

    Schriftsteller mögen insofern gut geeignet sein, Kritiken zu schreiben, als sie um die Prozesse des Schreibens wissen. Was sie zugleich wieder ausschließt, weil sie viel zu nah dran sind. Voraussetzung für Literaturkritik bleibt der offene Blick, ein profundes Wissen im Gebiet von Literatur, Philosophie und Ästhetik sowie die Fähigkeit, gut formulieren und schreiben zu können. Unterscheiden muß man in diesem Geschäft dann wiederum zwischen dem Literaturkritiker für den Tagesbetrieb und dem Essayisten. Wie dies auch summacumlaude und ebenfalls ich in meinem Text zur Literaturkritik differenzierten.

    Das Unpolitische und Quasi-Journalistische des bloßen Beschreibens mag ein Zug der Zeit sein. Müßte man genauer beobachten.

  7. Ich denke, meine kurzen Anmerkungen hier genügen. Ich sehe das Blogschreiben ja als ein Gesamtkunstwerk an, zu dem unbedingt die Kommentare gehören, sind sie manchmal auch stilistisch und/oder orthographisch mißraten. Das macht das Neue, das Avantgardistische aus.

    Der Nachteil des Bloggens ist das Unredigierte, das Unlektorierte. Nur pupertierende Stümper glauben, auf ein gutes Lektorat verzichten zu können. Insofern wird das Bloggen ein lektoriertes Buch nie ersetzen können. Es ist ein offenes Skizzenbuch, in das der kundige Leser sofort eingreifen kann, wenn der Text sich selbst vergaloppiert.

  8. „Der Nachteil des Bloggens ist das Unredigierte, das Unlektorierte.“ So ist es. Blogs sind Skizzen. Wobei man sich auch bei diesen Mühe geben sollte. Lektorat ist und bleibt unersetzlich. Und es geht nichts über einen klugen Lektor. In keinem Falle dürfen und können übrigens Schriftsteller Lektoren sein. Sie zerschreiben den Stil des anderen. Lektoren sind Sichtbar-Unsichtbare, die sich, Proteus gleich, den Stilen und Formen anschmiegen (müssen).

  9. Naja.
    Gestern nach der Nachricht ein wenig gestöbert, und diesen dummen Text des Verstorbenen gefunden:
    „[…] Der wohl berühmteste Satz von Karl Marx lautet „Religion ist Opium fürs Volk“. Meine gebildeten Kollegen zitieren ihn fast immer falsch, nämlich „Religion ist Opium des Volkes“; damit ist das Dekret verdreht – statt, wie von Marx gemeint, ein von den Herrschenden verabreichtes berauschendes Sedativum, ist die Religion nun freiwillig konsumierte Droge.[…]

    Ein Schwätzer weniger.

  10. Müßte man nun sehen, ob das Ironie oder Subtilität von Raddatz ist, denn wie der Satz korrekt lautet, ist ein den Zeiten einfacher Recherche eigentlich leicht herauszubekommen.

    Das schlechte Allgemeine im Pauschalurteil „ein Schwätzer weniger“ zu individualisieren, bleibt von Duktus und Denken her in genau jenem schlechten Allgemeinen befangen.

  11. Pingback: Zum Tod von Fritz J. Raddatz

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