Spekulativer Karfreitag

„Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot (dasjenige, was gleichsam nur empirisch ausgesprochen war mit Pascals Ausdrücken: »la nature est telle qu’elle marque partout un Dieuperdu et dans l’homme et hors de l’homme«) -, rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein – weil das Heitere, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien sowie der Naturreligionen verschwinden muß – die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß.“ (G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie)

Sätze, die einen gleichsam in den Taumel und in das Schwindeligwerden versetzen, so daß einem Leser Hören und Sehen vergeht, wie es Hegel auch als Voraussetzung der Philosophie bemerkte. Tod des einfachen Bewußtseins. Eben Karfreitag. Aber auf den Karfreitag folgt die Auferstehung: Was sucht ihr den lebendigen Geist bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden! Und für diesen Wahnsinn des Sinns habe ich schon früh und in Schulzeiten Hegel gerne gelesen – auch wenn ich wenig bis gar nichts damals verstanden habe.

Tintoretto, Kreuzigung, 1565, Sala dell’Albergo, Scuola di San Rocco, Venedig

4 Gedanken zu „Spekulativer Karfreitag

  1. fein….mit Jakob Böhme weitermachen, bei ihm ist immer Ostern!

  2. Ja, das mag stimmen. Wobei: immer Ostern ist wie „Immer Rehrücken“. Es geht das Exzeptionelle verloren. Aber bei Böhme ist das auch wieder anders gedacht.

  3. Es gibt ja, wenn man sich in der Philosophie umguckt – und interkulturell im jüdischen, arabischen, indischen und den persischen Raum – eine Vielzahl von philosphischen Texten, die mystische Elemente enthalten. Für Europa sei noch Marguerite Porète genannt, mit „Le mirouer des simples ames / Der Spiegel der einfachen Seelen“.

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