Von den Photographien: Phronesis des Betrachtens – f/stop Leipzig (2)

„Die Fotografie – das ist diese Gesellschaft
der Bilder: Kein einzelnes Bild, sondern alle.“

„Der Terror der Bilder zielt auf den Alltag,
auf das, was lebendig ist in uns.“

Ebenso wie die Philosophie, als Ontologie und Erkenntnistheorie, fragt die Photographie danach: Was ist Wirklichkeit? Liefert die Photographie Abbilder dessen, was ist, oder trägt sie selbst dazu bei, diese Wirklichkeit überhaupt erst zu konstituieren? Die 7. f/stop Leipzig geht genau dieser Frage nach: was Bilder machen, was sie mit uns machen. Insbesondere als Dokumente, in der Reportage eingesetzt oder als Aufmacher einer Zeitung, die auf den Effekt schielt – dazu etwa in der in der Halle 14 im Raum der Künstlerklasse HfG Karlsruhe das Video-Gespräch zwischen dem Filmemacher Harun Farocki und Vilém Flusser über die Machart der Bild-„Zeitung“. „Schlagworte – Schlagbilder“ so heißt das dreizehnminütige Gesprächsvideo.

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Wenn wir das Zentrum der Ausstellung in der Halle 12 betreten, so lesen wir rechts und links vom Eingang angebracht zwei Tafeln, auf denen eine Position für und eine gegen die Photographie angeführt wird. These und Gegenthese begleiten uns. Bei dem Titel „Gegen Fotografie“ denken wir sofort an Susan Sontags Essaysammlung „Über Fotografie“. Sie maß diesem Medium zwar Bedeutung bei, hielt es jedoch aufgrund seines manipulativen Charakters und der Selektion sowie angesichts der Beschränkung der Bilder für schädlich und gefährlich. Allein Bericht und Reportage vermitteln einen Überblick und zeigen in ihren Facetten den Zugang zur „Wirklichkeit“. „Das Fotografieren hat eine chronisch voyeuristische Beziehung zur Welt geschaffen, die die Bedeutung aller Ereignisse einebnet.“ (S. Sontag)

Diese These umkreist implizit auch die f/stop, und man könnte sie überhaupt als einen Ausstellungsessay zu Sontags beiden Büchern zur Photographie betrachten – angereichert mit ungemein viel Bildmaterial, das gesehen und erschlossen werden will. Die f/stop zeigt all diese Bilder nicht explizit, um zu widerlegen oder die Richtigkeit zu beweisen, daß es Bilder braucht, „um sich tief in die Welt zu verstricken“, sondern sie weist auf unterschiedliche Perspektiven, wie Photographien und Text gemeinsam die Welt erschließen und eben auch – konstituieren. Gar nicht so sehr im Sinne eines Radikalen Konstruktivismus, sondern als Interpretationshorizont, der uns zur Verfügung steht oder in den wir genauso gedrängt werden können.

Dieser ruhige Ton – trotz drastischer Photographien – macht die Ausstellung angenehm und sympathisch. Sie analysiert die Weisen der Bildproduktion und der Rezeption. Dazu durchlaufen wir verschiedene Parcours und Szenarien. Gleich zum Eingang das erste Tafelfeld: „Ein aus dem Zusammenhang gerissener Junge“. Jener Aylan Kurdi, das syrische Flüchtlingskind kurdischer Abstammung, tot an einen Mittelmeerstrand gespült. Warum gerade dieser Junge? Weshalb kein anderer, dessen Abbild zur Ikone wurde? Aber die Auswahl, der Name, die Person ist beliebig. Der Anlaß freilich nicht: es ertrinken täglich Menschen, weil Europa ihnen die Flucht erschwert und weil die USA sich um die von ihnen unterstützten (wenn nicht sogar entfesselten) Aufstände und die daraus resultierenden Folge eines Bürgerkriegs nicht einen Deut schert.

16_06_26_P_5_6366Die Titelseiten der Zeitungen, die das Bild des toten Aylan brachten, sind kombiniert mit Photographien von Versehrten und Geflüchteten aus dem 2. Weltkrieg, die dem Life-Magazin entnommen wurde. Darunter Gedichte aus Brechts „Kriegsfibel“, sehr passend diese Zeile, sie mag deklamierend auftreten und insofern kann man binnenästhetisch genommen über den künstlerischen Rang des Gedicht streiten. Weniger avancierte Lyrik, sicherlich, sondern ein Lehrgedicht. Im Ton aber rüttelt es auf: „Und viele von uns sanken nah den Küsten//nach langer Nacht beim ersten frühen Licht.//Sie kämen, sagten wir, wenn sie nur wüßten.//Denn daß sie wußten, wußten wir noch nicht.“

16_06_24_P_5_6017Diese Korrespondenz von Text und Bild wie auch den Bezug der Vergangenheit zur Gegenwart entdecken wir ebenfalls in dem Raum „Gerade eben jetzt“. Dort werden der Facebook-Timeline von Khaled Barakeh, Paul Feigelfeld und der Gruppe Lampedusa die Aufzeichnungen aus Brechts Arbeitsjournal von 1941 gegenübergestellt. Unter Photographien Notiertes. Text/Bild-Kombinationen – seinerzeit noch auf Papier, heute im Digitalen. Geschichte gleicht sich nicht, und auch Schrecken und das Grauen variieren. Wir, die das sehen, sind die Beobachter, die Betrachter von sicherem Land aus. Daß diese Ordnung der Dinge und der Welt, in der wir stehen, brüchig ist, bemerken wir meist nicht. Gestoßen werden wir auf das Fragile und Zufällige unserer Existenz, das gar nicht so zufällig ist, wie es anfangs scheint, sondern es ist durch Gesellschaft und damit von Menschen gemacht, wenn wir im dunklen Raum davor die Geschichte der Stadt Leiden von Johann Peter Hebel uns anhören.

Oder wenn wir in der Sektion „In den Trümmern des Alltags“ die Photographien aus der Stadt Paris betrachten, nach den Anschlägen vom November 2015. Eine leergefegte Stadt am Tag danach, Bilder wie von Atget. An der gegenüberliegenden Wand die Anschlag-Szenarien, wie sie auf den Titelseiten der Zeitungen prangten und uns in der Logik der Sensation in die Augen sprangen. Der Einbruch willkürlicher Gewalt, dieses Anderen, was für uns die Ausnahme bedeutet, ist für die aus Syrien oder dem Irak Geflüchteten nichts Ungewöhnliches. Dennoch leben auch in Syrien Menschen ihren Alltag, insbesondere dort, wo Krieg und Zerstörung bisher nicht hingelangten. Dokumente eines Alltags finden wir, wenn wir die private Photosammlung der syrischen Familie Khalil sehen. Bilder vor allem aus glücklichen Tagen in Syrien, Familienleben, Erinnerungsphotos. Sie befinden sich in der Sektion „Empathie ist Arbeit“. Die Familie floh 2014 aus Aleppo. Wer diese Photographien betrachtet, bekommt vielleicht ein Gespür für das Leid dieser Menschen und daß es Pflicht und Aufgabe ist, ihnen zu helfen, wo es geht. Der unbedingt kaufenswerte Katalog bei Spector Books bringt zu dieser syrischen Familie einen ausführlichen Bericht.

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Aber nicht nur im Innenraum halbmusealer feiner Werkshallen wie der alten Baumwollspinnerei gibt es Photos zu sehen. Die f/stop erweiterte das Bildkonzept, indem die Kuratoren die Ausstellung in die Stadt hineinverlagerten: an mehreren ausgewählten Orten finden wir Phototafeln, unter anderem die sehenswerten und zu entdeckenden Photos von Gerda Taro. Als Jüdin und Sozialistin flüchtete Gerta Pohorylle, wie sie ursprünglich hieß, 1933 von Nazi-Deutschland nach Paris, erfand sich dort unter dem Namen Gerda Taro neu. Sie lebte zusammen mit dem Photographen André Friedmann, wurde seine Schülerin. Beide erfanden als Kunstfigur Robert Capa und verpaßten ihm das Image eines reichen, amerikanischen Photographen. Capa wurde, wie bekannt ist, einer der bedeutendsten Kriegsphotographen. Sie reisten zusammen in den Spanischen Bürgerkrieg und schossen auf der Seite der Republikanischen Brigaden Photos. Taro starb dort 1937. Zudem sehen wir an anderem Ort Photos des besagten Capas, nahe des Capa-Hauses, wo er den zunächst sich auf einem Balkon mit einem MG postierenden und dann von einem Wehrmachtssniper getöteten GI photographierte, der in seinem Blut ertrank. Den die Kameraden nicht retten konnten, weil sie sich sonst den Kugeln ausgesetzt hätten. Grausamkeit in nur einer einzigen Szene. Auch die Kriegsphotographinnen Lee Miller und Margaret Bourke-White sind bei dem f/stop in-Situ-Projekt mit bemerkenswerten Bildern zu sehen, die zudem Bezug zu Leipzig haben.

Daß alle Photographien einen Referenten besitzen, erfahre ich, als ich mich auf die Photosafari begab und die im Stadtgebiet verstreuten Orte aufsuche. Bei Andreas Langfelds „Stationen – Fotosammlung der Familie Khalil, 1998–2016“, am Döser Weg 27 – mein Navi zeigt mir diese Adresse als nicht existent an – befinde ich mich plötzlich vor einem verfallenen Haus. Keine Photos, keine Tafeln, nichts. Drei Stockwerke, verhängte Fenster, manche zum Lüften gekippt. Vor dem Gebäude lungert ein Wachmann. Nichts deutet auf Menschen und Leben hin, aber irgend etwas muß hier sein. Hinein ins Haus dürfe ich nicht; auch das Photographieren des Gebäudes sei strikt verboten, so der Wachmann, der mich nun argwöhnisch anblickt. Ein Ort, der im anonymen bleiben soll.

Die Photographien deuten auf Menschen. Und diese wiederum weisen zurück auf die Bilder vom Krieg, die in ihren Köpfen bleiben. Dieser Spagat zwischen Realem, Welt, Referenz und Medium bekommt die f/stop Leipzig gut hin, ohne dabei moralisierend mit dem Finger zu winken oder aufdringlich zu wirken.

Neben den Dokumenten finden wir die Werke der Kunst. Oder sind Dokumente, die aus dem medialen Rahmen wie einer Zeitung herausgelöst wurden, bereits Kunst, indem sie auf einer Ausstellung präsentiert werden? Auch eine dieser Fragen, die wir stellen. In der f/stop-Plattform werden Arbeiten von drei Kunsthochschulklassen (Karlsruhe, Arles und Moskau) gezeigt. Insbesondere die Exponate der HfG Karlsruhe sind kollektiv gehalten. Thema ist die Produktion von Nachrichten ebenso ist wie deren medialen Vermittlungsformen – bis hin zur Bildmanipulation. Dabei kommen die Positionen aus Karlsruhe ohne ein einziges gehängtes Bild aus, was im Zeitalter des Digitalmedialen konsequent ist. Um all das zu betrachten und insbesondere um die Videos anzuschauen, muß man Zeit mitbringen und sich auf diese kompakte Installation einlassen, die sich bei flüchtigem Durcheilen nicht erschließt. Wer sich für die Produktion und Distribution von Bildern interessiert, dem sei insbesondere das Interview mit Estelle Blaschke empfohlen: „Photo Agencies and the Photographic ‚Dispositif‘“ Sehr viel klassischer gehalten und deshalb ein schöner Kontrast sind die Photographien der Kunstklasse der Rodchenko Art School Moscow. Eine Serie wie „Self-Employed“ von Alexander Anufriev. Sie zeigt uns Menschen, die auf Märkten durch den Verkauf von Produkten ihren Lebensunterhalt fristen oder die kühle Bildästhetik der Serie „Instant Tomorrow“ von Dimitry Lookianov.

All das, was es an Material auf der f/stop Leipzig zu entdecken gibt, läßt sich kaum in einem Text unterbringen. Es ist eine Flut an Bildern. Und genau das will uns diese Schau demonstrieren: eine Art phronesis im Umgang mit der Photographie zu entwickeln; den Bildern in Medien, die über die Bildschirme fluten, die langsame und geübte Betrachtung entgegenzusetzen. Die stillen Momente eines Bildes zu spüren. Wie etwa in Eva Leitolfs Serie „Deutsche Bilder – eine Spurensuche in Rostock, Thale, Solingen und Bielefeld, 1992-94“. Das, was nach einem Brandanschlag bleibt, Wohnungen und Kinderzimmer von Rechtsradikalen. Konsequent ist es deshalb auch, daß neben den Bildern keine Kärtchen mit Namen von Photographen hängen. Jedes der Photographien muß sich aus sich selbst heraus erschließen. Die Bilder sind nicht an die Namen gebunden. Sie stehen für sich. Deuten auf eine Welt, wie sie nicht sein soll.

Die 7. f/stop Leipzig ist noch bis zum 3.7. abends geöffnet. Der Katalog ist bei spector books erschienen. 

 
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3 Gedanken zu „Von den Photographien: Phronesis des Betrachtens – f/stop Leipzig (2)

  1. Spätestens seid Marwan in syrischer Wüste bin ich sehr skeptisch gegenüber Fotos. Was man allein durchs Framen, und das heißt: Wirklichkeit auslassen, an Aussagen evozieren kann! Alles, was Beobachter rundum sieht, geht flöten. Und Betrachter ergänzt das Rundum, vielleicht verkehrt. Es wird ein Moment festgehalten, der Rest der Zeit fehlt. Fotografierende werden just den Moment festhalten, der ihrem Dreh am besten genügt. Doppelt schädlich, da ein Bild mehr sagt als tausend Worte.

  2. Das ist auch die – in gewissen Punkten – berechtigte Kritik von Susan Sontag, und dieser Frage geht ebenso die Ausstellung nach. Bilder dokumentieren nicht nur, sondern erzeugen genauso Wirklichkeit. DAS ist eigentlich die Crux der Photographie.

    Im Journalismus können Photos nur im Zusammenhang mit dem Text bestehen. Anders als bei der künstlerischen Dokumentation oder der Sozialreportage in Bildern wie es bswp. Werner Mahler (und viele andere) machten. Das steht für sich, und wir lesen eine Erzählung aus Bildern. Eindrücke können eigentlich nur umfangreiche Bildserien vermitteln. Die einzelne Photographie sagt wenig oder täuscht sogar. Man denke an Thomas Höpkers 9/11-Photo mit den jungen Leuten, die scheinbar unbeteiligt picknickten und betrachteten, während auf der anderen Seite die zwei Türme brannten.

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