Schöne Fremde – Teju Coles Reisebericht „Jeder Tag gehört dem Dieb“

Cole_24772_MR1.indd„Hic sunt leones“ schwang sich als Schrift früher auf Landkarten, darunter die kunstvolle Radierung eines Löwen, um die weißen Flecken der Welt zu markieren. Eine solche terra incognita ist für die meisten Nigeria. Wer keinen Grund hat, dorthin zu fliegen, wird es nicht tun. Um so besser, daß es Teju Coles wunderbaren Bericht aus Lagos gibt: „Jeder Tag gehört dem Dieb“. Nun ist jedoch diese Reise, die Cole oder genauer gesagt der Ich-Erzähler unternimmt, keine gewöhnliche, sondern er begibt sich für einige Zeit in sein Geburtsland und in seine Heimat zurück. Inzwischen lebt Cole in den USA und wurde durch seinen Roman „Open City“  bekannt. „Jeder Tag gehört dem Dieb“ erschien zuerst 2007 in Nigeria und wurde erst 2015 ins Deutsche übersetzt. Es ist Coles erstes Buch.

Wer lange fort war, sieht die Welt, in der er aufwuchs und wo Teile der Familien immer noch leben, mit anderen Augen: Fremder zwar, aber in irgend einer Weise dazugehörig – zumindest zu einem geringen Teil, weil die Kultur einer Region, die Mentalität einer Stadt sich nie ganz herauswachsen – mag man auch Jahrzehnte auswärts gelebt haben. Ebenso daß der Erzähler die Sprache spricht und insbesondere seine Hautfarbe, wenngleich etwas heller als die anderer Schwarzer, tragen dazu bei, daß er nicht sofort als Fremder wahrgenommen wird. Auch das ein Thema, denn die meisten in der BRD lesen das Buch unter der Optik eines Weißen, mitten unter Weißen. Hier aber sind wir in einem anderen Land, auf einem anderen Kontinent und begleiten einen Erzähler dabei, wie er flink und geschmeidig, aber doch auf Leib und Leben achtend, durch Lagos sich bewegt. Eine Stadt mit „non-linearem Wesen“, wuchernd, chaotisch strukturiert. Ein Behemoth, so nennt Cole sie.

Cole bzw. der Erzähler blickt auf diese Stadt, weil er sie als Teil seines Lebens ergründen oder zumindest doch erfahren will, und mit seinen Augen sehen wir, was er sieht, wie jener Erzähler betrachtet und registriert. Wie es ihm in der fremden Heimat ergeht. In diesem Sinne ist das Buch ein Flaneur-Roman. Daß es überhaupt ein Roman sein könnte, entnimmt man nicht dem Ton dieser Geschichten, die wie ein essayistischer Reisebericht gehalten sind, sondern einem Hinweis auf der Impressumsseite in Kleindruck – literarischer Trick und Spiel mit der Fiktion, Schutz, Haftungsausschluß, wie auch immer: „Jeder Tage gehört dem Dieb ist ein fiktionales Werk. Sämtliche Namen, Figuren, Schauplätze und Handlungen sind Erfindungen des Autors oder werden fiktiv verwendet.“ Den Text unterbrechen allerdings Photographien. Insofern suggeriert dies den schönen Effekt der Dokumentation. Wobei es schade ist, daß die Photos nicht auf schönerem Papier und größer gedruckt sind. Ich hätte mir parallel zu diesem Buch einen Bildband von Cole gewünscht, der die Sicht des Photographierenden intensiviert, das was sich nicht in Sprache übersetzen läßt. Gerade in den Photos erfahre ich neben den Beschreibungen zentrale Aspekte wie Straßen, Kleidung und den Rhythmus des Lebens.

Die „Ekstase der Ankunft“, die der Erzähler empfindet – die meisten kennen sie, wenn wir reisen. Der Geruch des Südens, nach Meer oder fremder Landschaft auf einem Flughafen. Aber die Ernüchterung kommt schnell: „innerhalb von fünfundvierzig Minuten bin ich mit drei eindeutigen Fällen von behördlicher Korruption konfrontiert.“ Daheim sein und doch ein Fremder, denn der Blick auf Menschen und Leben ist nach den Jahren in den USA ein anderer. Cole schildert die Grundprobleme Nigerias, die sich in Lagos wie unter einem Brennglas bündeln. Da wirkt zunächst noch das Vergangene nach, das nach Faulkner, den Cole zitiert, nicht tot ist, es ist nicht einmal vergangen: Kolonialismus und Sklavenhandel:

„Einst war New Orleans der größte Umschlagplatz für menschliche Fracht in die Neue Welt. 1850 gab es fünfundzwanzig Sklavenmärkte in der Stadt. Das ist nur deshalb ein Geheimnis, weil niemand etwas davon wissen will. (…) dieser Teil der Geschichte ist heute buchstäblich versunken und war es schon lange vor der letzten großen Flut – er wurde versenkt in Trinkgelagen, Jazz und Mardi Gras. High times, die beste Medizin gegen Geschichte.“

Aber es ist schlicht zu simpel, allein den Kolonialismus für alle Übel verantwortlich zu machen, zumal Nigeria seit 1960 von Großbritannien unabhängig ist. Reich ist Nigeria zwar durch Ölvorkommen, aber das erwirtschaftete Geld wandert in die Kassen von Konzernen und in die Taschen von Kleptokraten.

Da ist vor allem die Korruption und die Neben-Ökonomie, die dem Erzähler an allen Ecken und Enden der Stadt begegnet. Sie fängt schon bei den Reisevorbereitungen im Konsulat in New York an, wo Bearbeitungsgebühren erhoben werden, die niemals für den Staat bestimmt sind. Und in Lagos sind es die Polizisten und die Soldaten, die sich ihr Zubrot verdient, in dem sie vermeintliche Übertretungen ahnden. Oder Händler, die betrügen und Straßenbanden, die rauben. Denn die Löhne reichen zum Leben nicht aus. Auch die Bevölkerung sowie deren Einstellung tragen ihren Teil an der Misere des Landes:

„dass niemand irgendetwas im Griff hat und niemand für irgendetwas verantwortlich ist. Das Leben in Nigeria, insbesondere in Lagos, erfordert unablässige Wachsamkeit.“

„Früher war die Regierung das Problem, doch wer heute in Lagos vor die Tür tritt, begegnet der Tyrannei in Gestalt seiner Mitbürger, deren Ethik durch jahrelanges Leid und ein Leben am Rande der Verzweiflung erodiert worden ist.“

Ein weiteres Problem ist die Magie und der Aberglaube: „Nichts hat natürliche Ursachen. Der Glaube an Magie und an die Kräfte des Bösen ist weit verbreitet. Und als wäre dieser Animismus nicht genug, breiten sich neuerdings die evangelikalen Christen im Lande aus, vor allem im Süden.“ Nicht daß ein alter Mann starb, weil er krank war, sondern weil er das Opfer schwarzer Magie wurde. Fanatische Religionen als Geißel. Evangelikale Kirchen sind „eines der größten Wirtschaftsunternehmen Nigerias geworden, an jeder Straßenecke schießen neue Ableger und Gemeinden wie Pilze aus dem Boden. Diese Christen sind militant und predigen eine durchschlagkräftige Mischung aus Furcht vor der Hölle und Liebe zum finanziellen Erfolg.“

Cole beobachtet jedoch nicht aus der Perspektive einseitig-absurder Critical Whiteness, deren Critical, meist „Jenseits von Afrika“, eher an selbstgefälliges Moralisieren erinnert, sondern er schreibt unter doppelter Optik: der Perspektive des Schwarzen, der einmal in diesem Land geboren war und in seine Heimat zurückkehrt, aber inzwischen mit dem Blick des Westlers, von seiner anderen Heimat her, auf Nigeria schaut und Mängel wahrnimmt, die nur bedingt mit der Herrschaft der Weißen zusammenhängen. Das Verhältnis von Sein und Bewußtsein zeigt sich auch hier. Koloniale Strukturen sowie christliche Religion und eine bestimmte Mentalität samt autochthonem Aberglaube bilden eine unheilvolle Melange. Cole nimmt sie wahr und benennt sie in pointierten Sätzen, ohne die Menschen zu denunzieren. Gerade dieser perspektivische Blick macht das Buch für Europäer interessant und lesenswert. Wir schauen mit Coles Augen, die ja durchaus auch die unsren sind. Wir sehen, wie er mit Entsetzen den Verfall beschreibt. Aber wir spüren ebenso, durch Coles Sprache, wie faszinierend und anregend diese Stadt Lagos sein kann. Ohne diese Fremde sogleich sozialromantisch als schöne Fremde zu verklären. Es mischt diese Prosa differenziert, und es läßt sich der Beobachter trotz so viel Trostlosem doch nie entmutigen:

„Und dennoch. Dieser Ort übt eine elementare Anziehungskraft auf mich aus. Seine Faszinationskraft ist unendlich. Die Leute reden ununterbrochen, angetrieben von einem Realitätsempfinden, das mir fremd ist. Sie haben wunderbare Lösungen für unangenehme Probleme parat; ich erkenne darin eine Vornehmheit des Geistes, wie sie selten ist auf diesem Planeten. Doch ich sehe auch viel Leid.“

„Während dieser ziellosen Spaziergänge komme ich wirklich in der Stadt an. Die Tage vergehen. Und gegen eine Erwartung schwelge ich nicht in meiner Kindheit. Ich suche meine alte Schule nicht auf, ich forsche nicht nach alten Freunden.“

Am Ende aber steigt der Reisende von Malaria oder einer anderen Krankheit geschüttelt in den Flieger, der ihn zurück in die USA bringt. Was bleibt von Lagos? Die Kunst des Flanierens? Nein, das Buch erschöpft sich nicht in purem Ästhetizismus, der verklärt, oder in zweckfreiem Schlendern. Es mischt genau richtig die Temperamente und Töne.

„Keine zwei Straßen verlaufen parallel. Wenn ich meinen Orientierungssinn verliere, wird mir mulmig zumute. Die fehlende Kenntnis meines Standorts setzt mich Gefahren aus, und immer besteht das Risiko, mit Feindseligkeit konfrontiert zu werden. Andererseits muß ich meine Sicherheiten aufgeben, damit ich die Stadt in ihrer reinen Erscheinung erleben und mich treiben lassen kann, ohne zu wissen, was mich hinter der nächsten Straßenecke erwartet.“

„Jeder Tag gehört dem Dieb“ endet mit einer wunderbaren Flanier- und Wahrnehmungsszene, die noch einmal ein ganz anderes Lagos einfängt: Das der Toten, das der Ruhe, das von Menschen, die Menschen sind. Man mag diese Würde, die Cole zu sehen vermeint, als Sozialkitsch abtun. Aber es zeigt doch, wie intensiv man eine Stadt in ihrer Vielschichtigkeit wahrnehmen kann. Für alle Reisenden, die ihren Blick schulen möchten und die lernen wollen, wie man aufschreibt und Eindrücke notiert, ist dieses Buch eine feine und unprätentiöse Anleitung zum Betrachten der Fremde. Und für die, die mehr über ein fernes Land wissen möchten, ein guter Einstieg.

Teju Cole: Jeder Tag gehört dem Dieb, Hanser Verlag Berlin, 176 S., 18,90 EUR

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