Philipp Ruch, das Zentrum für Politische Schönheit und die unruhige Ruhe der Toten

Das „Zentrum für Politische Schönheit“ errichtete gestern „eine 2,5 Meter hohe und 4 Tonnen schwere Gedenk- und Widerstandsstätte aus Edelstahl auf dem Gelände der ehemaligen Krolloper“, darin angeblich, so das ZPS weiter, die Asche bzw. die Überreste von Juden gleich mit eingebaut wurden, um damit gegen die AfD und eine zukünftige Machtübernahme zu protestieren.

Im „Spiegel“ heißt es:

„Bei der „Widerstandssäule“ handelt es sich laut ZPS um einen Bohrkern aus Asche und Knochenresten. Es seien die menschlichen Überreste von Opfern des Holocaust zutage gefördert an einer nicht näher bezeichneten Stelle. An 23 Orten in Deutschland, Polen und der Ukraine habe das ZPS in den vergangenen zwei Jahren mehr als 200 Bodenproben genommen. Überall dort, wo die Ermordung von Menschen industrielle Ausmaße angenommen hat, im Umkreis früherer Vernichtungslager und Erschießungsplätze. Fündig wurden die Aktivisten beinahe überall, sagen sie.“

In diesem Umstand liegt eine berechtigte Frage, wie mit diesen Toten umzugehen ist, die da immer noch verstreut in der Erde liegen, und wie Juden und Deutsche und all die anderen Nachkommen der Ermordeten das Gedenken gestalten wollen. Und dieser Verweis auf die Asche und die Knochen der Toten mag das einzig Sinnvolle an einer Aktion sein, die jene Politaktivisten sich ansonsten besser gespart hätte.

Das Problem bei dieser Aktion ist nicht bloß die Frage der Moral, um für den billigen Effekt die Totenruhe zu stören und jüdische Begräbnisrituale zu verletzen bzw. damit zu spielen und diese toten Juden als Show-Einlage zu mißbrauchen, sondern zugleich der triefende Polit-Kitsch des Selbstdarstellers Philipp Ruch. Ihm ist die Totenruhe egal, ihm sind auch die Lebenden wurst. Ihm geht es nicht um die AfD, nicht um die Toten. Was zählt, ist das System Ruch, das sich in immer neuen und immer weiteren Umdrehungen hochschrauben muß. Denn Provokation und deren Effekte nutzen sich schnell ab, so muß also ein weiterer und noch steilerer Effekt her.

Daß Ruch irgendwie mit Kenntnis der Ästhetik behaftet wäre, daß er nur eine Zeile von Adornos Ausführungen zur Kunst nach Auschwitz und zum engagierten Kunstwerk wahrgenommen habe, um darüber nachzudenken, ob solche Aktionen tatsächlich gelungene Kunst sind und wenn schon nicht das, ob solches Dilettieren wirklich der Sache dient, dürfen wir von Ruch nicht erwarten. Dafür schmiert Ruch sich wieder einmal den Kohlenstaub ins Gesicht, wie die Ein-Mann-Kaserne, die Widerstand simuliert oder daß es irgendwie nach Arbeit oder Guerilla aussehe. Mehr wäre dazu eigentlich nicht zu sagen.

Aber die Spirale von Provokation hat sich leergelaufen. Ruch instrumentalisiert Auschwitz um eines Effekts willen. Ruch macht das, was Guy Debord die „Gesellschaft des Spektakels“ nennt, nur eben von der anderen Seite. Er fügt sich dem kulturindustriellen Schema von dem, was er für Kunst oder für Politik oder für eine Mischung aus beidem hält. Dramatisch die Bilder auf der Homepage des „Zentrums für Politische Schönheit“ wie im Hollywood-Spielfilm. Der Verkitschung der Shoah korrespondiert eine Ästhetik, die in ihrer Komplexität aufs Niveau der History-Dokus von Guido Knopp regrediert.

Dabei manövrieren sich Ruch und dessen „Zentrum für Politische Schönheit“ in eine doppelte Aporie: Versteht Ruch diese Aktion als Kunst und damit also im Sinne einer ästhetischen Kritik, so ist dieses Werk ästhetisch belanglos, denn er produziert schlichte Thesenkunst und unterläuft damit die Frage von ästhetischer Form und ihrem Inhalt. Gelungene und gute Kunst kann und muß oftmals grausam sein, und Kunst ist keine Moralveranstaltung. Aber die Betonung liegt hier eben, weil Kunst nun einmal nur mittels ihrer Binnenkriterien und dem Stand des Materials gemessen werden kann, auf dem Wort „gelungen“. Kunst bei Ruch fungiert am Ende als Schutzzone, insbesondere auch in der Rezeption. Adorno formuliert es in seinen Vorlesungen zur Ästhetik von 1958/59 wie folgt, und ich denke, dieses Zitat veranschaulicht ganz gut das Problem, das Ruch und das ZPS sich ästhetisch einhandeln.

„Es wird nämlich nun nicht etwa die Kunst selbst im Sinne einer Dialektik von Naturbeherrschung und Natur erfahren […], sondern gerade umgekehrt wird die Kunst nun zum Rezeptakulum der Affekte, die man selber hat. Sie wird sozusagen zu einem Naturschutzpark, bei dem man sich gehen lassen kann, bei dem man es sich erlauben kann, überhaupt noch etwas zu fühlen. Und die relativ große Rolle, die in unserer gegenwärtigen Kultur die Kunst spielt – die Tatsache überhaupt, daß in einer rationalisierten Zivilisation die Kunst trotzdem in solchem Maße geduldet wird – , hängt mit genau diesem Funktionswechsel zusammen, daß sie eben als Naturschutzpark den Menschen erlaubt, sich affektiv zu verhalten, überhaupt etwas zu fühlen, überhaupt Leidenschaften zu empfinden, ohne sie verdrängen zu müssen, aber zugleich ohne daß diese Affekte dabei für ihr reales Verhalten Konsequenzen hätten. Das ist gewissermaßen die satanische Parodie auf die Etablierung der Kunst als eines von der empirischen Realität strikt getrennten Sonderbereichs.“ (Adorno, Ästhetik, S. 292 f.)

Insbesondere für die politische Kunst gilt dies – fast schon im Sinne einer Gehlenschen Kompensationstheorie – auch um gesellschaftlich Komplexes simpel und verstehbar zu machen, so daß es für den bloß reflektierenden Verstand handhabbar wird. Eigentlich das Gegenteil von dem, was eine emphatisch verstandene Kunst will, die mehr als nur Polit-Thesen oder Moraltamtam als Spektakel produziert, bei dem sich der Betrachter dann anschaulich wiederfindet.

Die andere Seite der Aporie liegt darin, daß auch politisch diese Aktion mißlungen ist, wenn das Kriterium für politisches Handeln darin besteht, Menschen mit Argumenten oder meinetwegen auch qua Bildern und dem, was bei Hegel im Reich der Vorstellungen angesiedelt ist, irgendwie zu überzeugen und empfänglich zu machen. (Hier müßte man einmal empirisch mittels Sozialforschung herausbekommen, wie und von wem überhaupt solche Aktionen wahrgenommen werden.) Meint Philipp Ruch  es irgendwie doch nur politisch, so ist dies eine banale Aktion mit billigem Effekt und um des Effektes willen – von der Struktur fügt es sich in die Provokationen von Martin Sellner und Martin Lichtmesz. Von der Empörung in Teilen der jüdischen Gemeinde zu schweigen, die diese Aktion als einen Affront gegen die von Deutschen ermordeten Juden und ihre übriggebliebenen Angehörigen sehen. Egal ob mit oder ob ohne Asche werden hier Tote instrumentalisiert. Ramona Abs schreibt jene „moralische Selbstbesoffenheit“ des ZPS treffend auf Facebook:

„an das Zentrum für Politische Schönheit,
ich erklär Euch jetzt mal, wie Salmen Gradowski den Satz: „Suchet in der Asche. Die haben wir verstreut, damit die Welt sachliche Beweisstücke von Millionen von Menschen finden kann“. gemeint hat. Es ist eigentlich ganz einfach: Er wollte, dass die Welt erfährt was passiert ist. Er wollte, dass man weiß, wer und wieviel verloren ging…
Er hat nicht gesagt: ‚Nehmt unsere Toten, grabt sie aus, stopft sie in eine Säule und beleuchtet sie, damit die Nachfahren der Täter mal wieder moralische Selbstbesoffenheit feiern können.‘
Ihr wollt die Toten ‚der Lieblosigkeit entrissen‘ haben? Fuck you. Das war keine ‚Lieblosigkeit‘, sondern mörderischer Hass Eurer Opas und Omas. Das war ihr Gas, ihr Zyklon B, ihre Brennöfen- jede verfickte Wolke am Himmel erzählt mir mehr davon als Eure „Kunst“. Und wie Ihr an den jüdischen Reaktionen bisher darauf sehen könnt, finden die Angehörigen das überhaupt nicht lustig, was Ihr da mit unseren Omas und Opas treibt. Wenn Ihr Euch nur ein wenig mit jüdischer Ethik befasst hättet, könntet Ihr wissen, dass das, was Ihr da macht, NULL mit Judentum zusammen geht. Aber wozu sich mit Juden auseinander setzen, wenn man die Opfer doch prima zweitverwerten kann, um eine politische message zu verbreiten und sich gleichzeitig noch als Retter der toten Juden fühlen? Der Lieblosigkeit entrissen… Ihr habt se doch nicht alle!“

Davon einmal abgesehen, daß wir nicht 1933 haben, daß die Bundesrepublik Deutschland bei allem Hochrüsten der Rechtsextremisten und trotz all der Morddrohungen und der Waffen – fürwahr ernstzunehmende Probleme! –  nicht Weimar ist. Auf all diese Aspekte hätte man sich eine intelligente Aktion gewünscht. Eine Aktion vielleicht, die Menschen die Lage einsichtig macht, statt mit trivialen Klischees und mit Analogien zu kommen, die für die Sache nichts taugen. Geschichte wiederholt sich nicht, und was gegenwärtig politisch geschieht, ist eben keine Wiederholung als Farce, sondern eine neue und bitterernste Dimension einer neuen Rechten. Die Aktionen dagegen sollte man nicht in die Hände von Kindsköpfen legen, die sich wie in einem schlechten Karneval maskieren.Gut zeigt sich an solchen Aktionen die fatale Dialektik der Gewalt: Wie nämlich Kritik an Gewalt selbst wiederum in Gewalt umschlägt.

Ebenso ist die pauschale Verunglimpfung von Konservativen schlicht und simpel, sie zeugt vom Unvermögen zu differenzieren. Lieber pflegt man platte Parolen für die eigene Gemeinde, Parolen zudem, die an geschichtlicher Unkenntnis nicht zu überbieten sind. Auch wieder um eines billigen Effektes willen bringt man es auf einen simplen Nenner, spezifische Differenzen unterschlagend:

„Wir werden nicht zuschauen, wie konservative Kräfte keine 75 Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur schon wieder auf Machtoptionen mit faschistischen Kräften schielen.“

Davon einmal abgesehen, daß in der BRD nun einmal die Politik nicht auf der Straße oder in irgendeiner dubiosen Agora gemacht wird, sondern in Parlamenten: Wer derart ins Pauschale geht, muß sich am Ende nicht wundern, wenn er allein dasteht und eben kein breites Bündnis zustande bekommt, das gegen Rechtsextremismus dringend nötig ist. Doch eines zumindest hat das ZPS wieder einmal erreicht: es generierte für sich Aufmerksamkeit. Für einen sinnvollen politischen Diskurs, der sich gegen Rechtsextremismus stellt und dabei vielleicht sogar konservative Kräfte mit ins Boot holt, reicht es freilich nicht.

Hannah Bethke schreibt in der FAZ ganz richtig:

„Dass es noch menschliche Überreste der Ermordeten aus der NS-Zeit gibt, ist sehr wahrscheinlich. Und es ist richtig, an sie zu erinnern. Noch richtiger wäre es freilich, die offenen Fragen zu beantworten. Das ZPS aber belässt es nicht bei einer Erweiterung der Erinnerungskultur. Es instrumentalisiert das Gedenken. In erster Linie zielt die Aktion gegen die AfD und gegen alle, die sie nicht explizit verurteilen. Auf einer Tafel vor der „Säule gegen den Verrat der Demokratie“ sind die Namen aller Abgeordneten der CDU und CSU aufgelistet. Sie, „die Konservativen“, die ihre Hand „schon wieder“ nach den Faschisten ausstreckten, sollen auf den Platz kommen und feierlich geloben, niemals mit der AfD oder ihrer Duldung eine Regierung zu bilden.

Am Samstag läuft die Genehmigung für die Stele ab. Dann wollen die Künstler das Fundament in Beton gießen und zum „zivilgesellschaftlichen Zapfenstreich“ gegen die AfD antreten, um sich „mit aller Kraft der neuen Gestalt Hitler-Deutschlands und ihren konservativen Helfern“ zu widersetzen. Die ideologische Verblendung dieser selbsterklärten Widerstandskämpfer ist schwindelerregend. Wer solche sachlich falschen Verbindungen zur politischen Gegenwart konstruiert, verharmlost die NS-Zeit, verhöhnt den Konservatismus und wird am Ende die AfD stärken, anstatt sie zu besiegen.“

Bei Philipp Ruch trifft eine Redewendung die Sache gut: Die Banalität des Blöden.

[Die Photographie wurde als Screenshot zur Dokumentation der Internetpräsenz des „Zentrums für Politische Schönheit“ entnommen.]

32 Gedanken zu „Philipp Ruch, das Zentrum für Politische Schönheit und die unruhige Ruhe der Toten

  1. Die AfD ist eine rechtskonservative, im Ursprung nationalliberale Partei, die sich einen rechtsextremen, in Teilen neonazistischen Flügel leistet. Warum sie das tut wäre zu diskutieren, ebenso darum, wieso sozial Abgehängte, deren Interessen eher bei der Linken aufgehoben wären ihr massenhaft folgen. Da gäbe es viel aufzuarbeiten. Statt Leichenschändung in popkultureller Aufmotzung zu betreiben.

  2. Wieder mal ein Super-Che-Kommentar. In drei Sätzen das Problem und die wesentlichen Aspekte exakt auf dem Punkt gebracht!

  3. Ja, es kostet nicht viel, hierzulande einen Hohenspatzesquen, gemütlich systemkonformen Moralpopanz sponsored by Heiko Maas zu etablieren, die Asche der Opfer unserer Großeltern zu missbrauchen, oder gefahrlos über die Vergewaltigung von Eva Hermann zu fabulieren und gleichzeitig einem Julian Assange beim Sterben zuzuschauen. Sehr mutig! Was sich heute so als links bezeichnet ist nur noch erbärmlich!

  4. „The Second World War came to an end
    We forgave the Germans and then we were friends
    Though they murdered six million, in the ovens they fried
    The Germans now too have God on their side“

  5. Die Grundidee hinter dem Zentrum für politische Schönheit finde ich an sich gut, so manche seiner Aktionen, wie eben diese hier, rufen aber meinen entschiedenen Widerspruch hervor. Letztendlich erscheinen die mir eher als eine Art Abklatsch des Büros für notwendige Einmischungen, dessen Geschichte bis auf die 80er-Jahre-Friedensbewegung zurückgeht

    https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/flughafenaktionen-des-bueros-fuer-notwendige

  6. @Che Ich muss gestehen, dass ich Bob Dylan erst sehr spät für mich entdeckt habe;)
    ..Und ich gebe dir Recht, einige Aktionen, wie das Mahnmal vor Höckes Haustür fand auch ich gelungen, aber ich stelle mit Erschrecken fest, dass innerhalb der Linken einige Gruppierungen wie zum Beispiel das Zentrum für Politische Schönheit schon so eine Art von Meinungsführerschaft erlangt haben, und dass bei denen der Weg ganz stark in Richtung Pranger und Fingerzeigen – und ganz weit weg von einer fundierten Auseinandersetzung geht. Deswegen muss ich dabei auch immer an den Hohen Spatz aus Game of Thrones denken. Wir steuern in eine Richtung, in welcher inzwischen immer schneller geschrien wird „Der hat Schuld“ oder „der ist ein Nazi“ oder „die hat was gegen Männerschminke gesagt“ und das geht sehr auf Kosten einer dringend notwendigen, differenzierten, rechtstaatlichen Auseinandersetzung und gipfelt analog auf politischer Ebene zum Beispiel in Kriesengebieten darin, das heutzutage meiner Meinung nach viel zu schnell gerufen wird „Hier ist ein Diktator“ und „Wir müssen sofort Bomben!“. Die weltweiten, neutralen Untersuchungen, was wirklich Fakt ist, und wie vorzugehen ist, damit es so wenig Opfer gibt wie möglich, haben fast schon ausgedient. Und ich finde es rassistisch, wie viele Kriegsopfer in fremden Ländern wir westlichen Demokratien inzwischen gewillt sind für unsere angeblich so hehren Ziele in Kauf zu nehmen! Und da diese Art Pranger-Kreischertrupps auch ganz schnell dabei waren, beispielsweise 2014 die neue Friedensbewegung in Grund und Boden zu bashen und als völlig naziverseucht zu desavourien, tragen sie meiner Meinung nach auch mit dazu bei, das wir heutzutage dann quasi leider gar keine nennenswerte Friedensbewegung mehr haben, obwohl sie so bitter nötig wäre. Wenn jemand heutzutage feststellt, es ist in der Friedensbewegung aktiv, dann muss er anschliessend doch seitenlange Erklärungen darüber abgeben, dass er dadurch nicht auch gleichzeitig sofort ein AFD Nazi ist! Für alles kämpfen diese Leute lautstark nur nie für den Frieden! Auch ich habe mich damals davon abhalten lassen, beim Friedenswinter 2014 teilzunehmen wegen dieses Naziverdachts…. Aber ich frage mich inzwischen, wo sind denn die politisch korrekten Friedensaktionen seitens des Zentrums für Politische Schönheit oder seitens der Antideutschen? Und ich glaube diesen Leuten heutzutage auch nicht mehr, wenn sie behaupten, Sahra Wagenknecht, Kenfm oder Dirk Pohlmann seien Nazis. Ganz im Gegenteil!

  7. Nun, Gott auf ihrer Seite, und sei es der rote von Stalin und Mao mit nicht minder vielen Toten, hatten all die Schlächter der Geschichte und auch die Büßer sehen sich in seinem Auftrag unterwegs. Davon abgesehen, daß mich und daß all die Nachkommen eben nicht die gleiche Schuld trifft, wie jene, die tatsächlich Täter waren oder eben dabei als Mitläufer oder als schweigsame Masse mittaten. Es gibt keine Kollektivschuld. Kollektiv oder besser, einer Gesellschaft gemeinsam kann nur das Erinnern sein. Und selbst dazu gibt es unterschiedliche Ansichten, wie solches Erinnern geschieht. Die BRD hat, im Gegensatz zu den USA, zu China, zu Rußland und auch zu vielen Ländern, die in die Verbrechen des Kolonialismus verstrickt waren, immerhin den immensen Vorteil, daß sie sich wenigstens in Ansätzen dieser grausamen Geschichte stellt, wenngleich oft viel zu spät und unter Tücken und daß dabei zahlreiche Täter (wie etwa Filbinger) oder Mitläufer (wie Globke) ungestraft davonkamen. Immerhin aber kamen die Auschwitzprozesse Anfang der 1960er zustande, die Frage nach der Verjährung der NS-Verbrechen wurde ebenfalls bereits 1965 im Deutschen Bundestag und damit auch in der Öffentlichkeit zum Thema, 1979 debattierte die BRD – die DDR weniger – die Serie Holocaust. In der Schule zumindest waren diese Verbrechen und ist diese Epoche von den siebziger Jahren bis heute zentrales Thema. In Rußland laufen immer noch Leute mit Stalinbildern herum. Soviel zu der Frage nach der Erinnerungskultur.

    Die Selbstgefälligkeit vieler Linker mit Aktionen, die mehr oder weniger bequem sind, kann ein Thema sein, und es gibt einen Antifaschismus, der bequem ist. Allerdings sollte man auch hier differenzieren.

    Pohlmanns Kommentar hätte gut sein können, wenn er sich nicht wieder auf diese eindimensionale Sicht eingelassen und dieses Reduzierte mittels Rhetorik aufgeblasen hätte. Angefangen bei seiner Sicht auf die Gedenktage: Daß symbolische Gedenktage auch strukturell nötig sind und daß sie etwas von einem gemeinsamen Erinnern und auch einer Selbstvergewisserung haben, entgeht Pöhlmann. Daß hier in Deutschland der 27. Januar als Befreiungstag von Auschwitz (durch die Russen übrigens!) mit wesentlichen Reden im Deutschen Bundestag begangen wird, und daß es in dieser Gedenkstunde mitnichten darum ging, sich den westlichen Alliierten um der bösen Nato und der Entlastung willen an den Hals zu schmeißen, entgeht Pohlmann. Oder er will das nicht nennen.

    Es ist bei solchen Machwerken immer das gleich: Man meint „einige Aspekte“ und sagt „alle“. Die Kritik an Kranzabwurfstellen, wie Walser das in seiner Frankfurter Rede 1998 nannte, ist nicht unberechtigt, wenn das Erinnern zum leeren Ritual wird. Darauf kann man hinweisen. Und das kann man auch machen, ohne diese Art des Erinnerns im ganzen zu diskreditieren oder sie unter einen generellen Ideologieverdacht zu stellen. Denn es gehören eben auch solche Rituale zum Selbstverständnis einer Nation, die sich mit diesen Verbrechen auseinanderzusetzen gewillt ist. (Und solches Gedenken gilt ja auch fürs Private, denn sonst würden wir keine runden Geburtstage und keine Dienstjubiläen feiern.) Und selbst da, wo ein Ritual zur Routine wird, macht es etwas mit uns. Gäbe es gar keine Rituale, wären nämlich der Weltkrieg samt den Morden der NS-Zeit kein Thema oder zumindest auf eine andere Art als heute. Wie hat eigentlich Rußland 80 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg des Überfalls und der Aufteilung von Polen 1939 gedacht? Ebenso wie die Verbrechen Stalins in Rußland und die Maos in China. Ich vermute, der Gründungstag der Volksrepublik China wurde dort mit Pomp gefeiert. Wie notwendig solche Rituale und Gedenktage sind, sieht man an einem Widerstandskämpfer wie Georg Elser: lange hat es gedauert, bis ein Mensch wie Elser öffentlich zum Thema werden konnte und (mehr oder weniger) positiv besetzt war. Da half sicherlich auch der Abstand der Zeit. Angefangen hatte damit übrigens im offiziellen Rahmen und über den linken Kontext hinaus, wenn man an Peter-Paul Zahls „Johann Georg Elser. Ein deutsches Drama“ denkt, Helmut Kohl Anfang der 1980er Jahre.

    Daß man sich beim Erinnern auf der Seite der Sieger fühlt, ist ebenfalls eine Verallgemeinerung, die in dieser groben Form nicht zutrifft. Zumal ja in Deutschland lange genug der 8. Mai als Tag der Niederlage gesehen wurde. In Westberlin und auch in großen Teilen Westdeutschlands jubelten die Menschen den USA dennoch zu, weil sie eben nur von diesen USA davor geschützt waren, ein Leben wie in der DDR führen zu müssen. Auch diesen recht pragmatischen Aspekt muß man bei der Westbindung mitdenken und auch das ist eine Option. Ein weiteres dazu taten Marchalplan und Wirtschaftswunder. Die Mehrdimensionalität einer Sache mitzudenken und ihre unterschiedlichen Hinsichten zu begreifen, ist Pohlmanns Stärke nicht. Kritisieren kann man, wie Pohlmann das zu recht macht, den einseitigen Bezug zu Rußland und daß deren Opfer oft heruntergespielt oder nicht genannt wurden. Was sicherlich auch mit dem Ost-West-Konflikt zu tun hatte. In der DDR war es dann anders herum.

    Wenn Pohlmann im Übergang von der NS-Diktatur zur parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik „Von den neuen Machthabern“ spricht, dann ist das in bezug auf die Bundesrepublik samt ihrer demokratisch gewählten Organe ein undifferenziertes und vor allem ein dummes Gleichsetzen, quasi rhetorisch im Nebensatz mal eine Diskreditierung zweier ganz und gar unterschiedlicher Staatsformen eingeflochten. Ebenso die Analogisierung der Geschwister Scholl mit Assange, Manning und Snowden, man nimmt zwei ganz unterschiedliche Aspekte und mixt die dann zusammen, gepaart mit einer dazu noch denunzierenden Assoziation: Wer diese Gleichsetzung im Sinne Pohlmanns nicht mitmacht, ist also kein Mensch mit Herz und Verstand. Dieses Verfahren nennt sich Selbstimmunisierung gegen Kritik unter Androhung von Bezichtigungen. Den Unterschied der Regierungsformen wird wohl auch Pohlmann realisieren können und ebenso den Unterschied der Bezüge. Anscheinend aber will er es um einer bestimmten Rhetorik und um seiner Generalisierung willen nicht.

    Gleiches gilt für die Art der Simplifizierung, ein komplexes politisches System, das man sicherlich in manchen oder auch vielen Aspekten kritisieren kann, auf derart simple und monokausale Ableitungen zurückzuführen: „Dieses Imperium hat nur eine Werteordnung, und an deren Spitze steht die Macht“. Klingt markig, ist nur leider eine Leerformel, die sich unter der darin enthaltenen Weglassung jeglicher Differenzierung noch auf den Verein der Briefmarkensammler anwenden läßt und damit unspezifisch gerät. Davon einmal abgesehen, daß Macht eben nicht per se etwas Schlechtes ist, sondern zum Regieren und zum Bestand eines Staates notwendig.

    Solche Vergleiche, die allesamt übrigens für die Sache Assange entbehrlich sind, machen dann diese Art von Kommentar nicht nur angreifbar, sondern vor allem ärgerlich und da wird es verständlich, daß seriöse Medien solche Berichte nicht bringen. Teile im Befund Pohlmanns stimmen, die Generalisierungen hingegen nicht und damit machen Leute wie Pohlmann eine wichtige Sache kaputt, weil sie um der Ideologie willen überziehen und überzeichnen. Die Problemlage Assange ist von Pohlmann richtig genannt. Wie auch vom ZPS im Hinblick auf die Asche und die Knochen, die bis heute noch herumliegen. Durchführung, Rhetorik und Performanz hingegen sind miserabel.

  8. @Partyschreck: Dein Kommentar von 4. Dezember 2019 um 14:05 ist der gegenüber dem Machwerk von Pohlmann gelungene Wortbeitrag. Weil er nämlich die Probleme auf den Punkt bringt, ohne dabei rhetorisch zu sehr überzustrapazieren.

  9. @Partyschreck: Ich gehörte nun von 1981-85 zur alten Friedensbewegung, war gegen die Irakkriege 1991 und 2002 massiv auf der Straße, bin bis heute in der Flüchtlingsarbeit engagiert, war 2011 bis 2016 auch in breiter aufgestelltem Rahmen links aktiv, aber: 2014? War da was? Nichts von mitbekommen, pas du tout. rien.

  10. Inzwischen gibt es eine Stellungnahme und eine Entschuldigung des ZPS. Ich veröffentliche sie hier:

    „Wir verneigen uns vor den Opfern des Holocaust und ihren Nachkommen. Unsere Arbeit, unser ganzes politisches und künstlerisches Handeln ist angetrieben von dem Entsetzen über die Verbrechen der Nationalsozialisten, deren Ziel es war, ihren Opfern jegliche Würde abzusprechen – über ihren Tod hinweg. Die Mörder haben sie jeder Individualität beraubt, außer der einen Eigenschaft, die sich ihnen nicht nehmen ließ: dass sie Menschen sind.

    Wir bedauern aufrichtig, dass wir den zentralen Wirkungsaspekt unserer Arbeit nicht im Vorfeld erkannt haben. Als wir begannen, die Orte aufzusuchen, an denen wir die Überreste der Ermordeten vermuteten, waren wir überwältigt von dem Schrecken.

    Wir waren uns bewusst, dass wir die Gefühle von vielen Menschen aufwühlen würden, wenn wir berichten, was wir vorgefunden haben.

    Wir haben Fehler gemacht

    Dennoch lag uns nichts ferner, als die religiösen und ethischen Gefühle von Überlebenden und Nachkommen der Getöteten zu verletzen. Wir wollen bei Betroffenen, Angehörigen und Hinterbliebenen aufrichtig um Entschuldigung bitten, die wir in ihren Gefühlen verletzt haben.

    Wie geht es weiter?

    Als erste Konsequenz verhüllen wir das Kernstück der Säule im Regierungsviertel, um dem Eindruck der „Zurschaustellung“ zu begegnen und schalten die Crowdfunding-Seite ab. Wir sagen auch den für Samstag geplanten Zapfenstreich, bei dem sich Menschen vor Ort treffen und der rechten Machtergreifung den Widerstand schwören sollten, schweren Herzens ab. Die Vorstellung, dass sich dort Menschen, die sonst auf einer Seite stehen, in Kundgebungen gegenüberstehen könnten, ist für uns nicht vorstellbar.

    Unsere eigentlichen Anliegen

    Wir wollen angesichts der per staatlich proklamierten, ach-so vorbildlichen „Aufarbeitung“ der deutschen Verbrechen erneut darauf aufmerksam machen, dass nichts vollständig aufgearbeitet ist und vermutlich auch nie sein kann, wenn uns nur die Grasnarbe oder ein wenig Laub von der Entdeckung und Dokumentation weiterer deutscher Kriegsverbrechen trennt.

    Wir wollen auf die Verantwortung der Nachwelt hinweisen, die identifizierten Massengräber wenigstens als solche zu deklarieren, zu markieren und zu schützen und speziell die Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland, die bestehenden Gedenkstätten im In- und Ausland mit genug finanziellen Mitteln auszustatten, damit Sie ihre Aufgabe des Erinnerns und Mahnens nach besten Möglichkeiten erfüllen können.

    Wir wollen auf die Gefahr hinweisen, die von rechter Seite ausgeht und in diesem Zusammenhang an den Deutschen Konservatismus appellieren, die Fehler und die historische Schuld, die er 1933 auf sich geladen hat, nicht nur anzuerkennen, sondern daraus auch die notwendigen Konsequenzen zu ziehen und jede Form der Zusammenarbeit mit Parteien, die von Rechtsextremisten unterwandert sind, klar, eindeutig und auf allen Ebenen auszuschließen.

    Wir müssen anerkennen, dass sich die aktuellen Debatten überhaupt nicht im Entferntesten um diese Anliegen dreht.

    Wohin?

    In der öffentlichen Debatte werden Stimmen laut, die fordern: „Sofortiger Abbau.“

    Wir fragen: Wohin? Wo soll der Inhalt denn hin? Zurück in den Wald, in das Versteck, das deutsche Nazischergen vor 75 Jahren ausgewählt haben? Auf einen jüdischen Friedhof, vielleicht in Berlin? Verbrannte Überreste von Menschen? Religion unbekannt? Schwer vorstellbar. Wo auf dieser Erde können diese Menschen ihre letzte Ruhe finden?

    Wir haben auf diese Fragen keine Antworten.
    https://politicalbeauty.de/

    Die letzte Frage ist in der Tat eine, die zu bedenken ist. Wohin und was damit tun? Diese Vergangenheit ist eben immer noch sehr lebendig und diese Jahre sind nicht, wie Gauland und der widerliche Höcke es glauben, ein Fliegeschiß. Sondern gerade diese Knochenerde zeigt uns zunächst mal, wie nah das alles ist. Daß das ZPS dafür eine Aufmerksamkeit geschaffen hat, ist zumindest wichtig.

  11. @“Für alles kämpfen diese Leute lautstark nur nie für den Frieden! Auch ich habe mich damals davon abhalten lassen, beim Friedenswinter 2014 teilzunehmen wegen dieses Naziverdachts…. Aber ich frage mich inzwischen, wo sind denn die politisch korrekten Friedensaktionen seitens des Zentrums für Politische Schönheit oder seitens der Antideutschen?“ —- Da wo ich lebe ruft man noch auf jeder 1-Mai-Demo lauthals „Raus aus der NATO, rein ins Vergnügen“. Zugegeben, den Aufklaber „Keine deutschen Truppen im Ausland – keine fremden Truppen in Deutschland“, flankiert von schwarzem Stern und Anti-AKW-Sonne findet man heute auf keinem Auto mehr.

  12. @Che: Ich vermute, 2014 bezieht sich auf eine Reihe von Friedensdemonstrationen und Mahnwachen im Frühjahr 2014, die entweder gar keinen nennenswerten medialen Widerhall fanden oder in die braune Ecke gerückt wurden, weil da nicht nur Linke marschierten, sondern auch Friedensfreunde vom rechten Spektrum, Keb-Jebsen-Fans, Putin-Versteher und Chemtrail-Kritiker.

  13. Dass es die gegeben hat, meines Wissens nur im Osten, den Namen Jebsen kenne ich allein deswegen, ist mir bewusst, aber das war so marginal dass es unter meinem Beachtungshorizont blieb. Zeitgleich waren die Aktionen gegen Nazi- und Hooliganaufmärsche, gegen westliche Pegidaableger bei uns der Aufreger. Aluhutträger sind für mich eher son Thema der Titanic, und Antideutsche kenne ich, außer der Zeit unmittelbar nach 2011 auch nur aus dem Netz. Die Bahamas zum Beispiel wurde in den linken Buchläden die ich so kenne schon vor 2010 aussortiert weil sie niemand liest. Die Reallifelinken mit denen ich so zu tun habe sind völig anders.

  14. Dass diese Veranstaltungen unterhalb Deines Radarschirms blieben, ist sicher kein Zufall. Ich denke, den staatstragenden Blättern und Sendern mit ihren transatlantischen Beziehungsgeflechten kam es gerade recht, dass bei diesen Montagdemos auch zweifelhafte Gestalten mitmarschiert sind für den Frieden. Events, die zu groß waren, um sie totzuschweigen, konnte man mit dem Hinweis darauf schön bequem in die Schmuddelecke (Stichwort „Querfront“) schieben. Und wer die NATO-Einkreisungspolitik gegen Russland kritisch thematisiert, ist nach dieser Logik halt Putin-Versteher oder Kreml-Troll.

  15. Tja, und auf den Demos auf die ich so gehe heisst es „Gegen die Konstrukte Volk Nation und Rasse – Klasse gegen Klasse!“, „Widerstand muss praktisch werden, Feuer und Flamme den Abschiebebehörden!“ und „One Solution – Revolution!“

  16. @che: Also den Ca Ira-Verlag, obwohl im antideutschen Milieu angesiedelt, und auch die Leute von „Kunst, Spektakel, Revolution“ mit einer klaren Pro-Israel-Haltung, die übrigens auch die meine ist, würde ich schon als links bezeichnen. Und auch das Conne Island in Leipzig, das mir schon deshalb gut gefällt, weil das mal Linke sind, die einen Arsch in der Hose haben und Probleme ansprechen, statt sie zu deckeln und wegzuschweigen: weil: das könnte ja rassistisch sein, halte ich für ein linkes Projekt. Aber diese Frage „Was ist links?“ ist zugleich immer dieses Suchen nach dem roten Stein der Weisen, statt zu
    realisieren, daß es eben unterschiedliche Hinsichten von links gibt und daß es da kein Dogma gibt. Und deshalb bin ich aus diesen Dingen seit Ende der 1980er draußen und residiere im Grandhotel Abseits. Gemütlich mit Hegel, Marx, Nietzsche, Heidegger, Adorno und Derrida im Gepäck.

    @Mark: So ist es, das sehe ich ganz ähnlich. Zwar liefen auf diesen Demos teils auch seltsame Gestalten herum, aber genauso waren dort sogenannte linke Kräfte, vor allem auch von der Partei DIE LINKE. Den Zeitungen war es nur recht, daß da auch jene Seltsamen mitliefen, so konnte man schön diskreditieren. Und irgendwann wichen die Leute dann eben auch zu den alternativen Medien aus, weil sie sich in den etablierten nicht mehr zureichend informiert fühlten. (Über die Berichterstattung in deutschen Medien zum Ukraine- und Syrienkonflikt sehr lesenswert: Uwe Krüger: Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen, München 2016. Er zeigt auf sachliche Weise, wo es in der Berichterstattung klemmt. Unterfüttert auch mit empirischen Studien.). Und so kam gerade bei diesem wichtigen Thema Ukraine und der Stimmungsmache gegen Rußland die Querfront-Theorie im Umlauf. Und je mehr man diskreditiert, desto weniger liefen am Ende bei den Demos mit. Daß Demos immer aus unterschiedlichsten Menschen bestehen, hätte man auch schon von den 1980er Jahren her und ebenso von den 68er Protesten aus wissen können. Bei den großen Friedens- und Anti-AKW-Demos der 1980er war da von Graswurzelleuten, Autonomen, SDAJ, DKP (also stramme DDR), Kirchenleuten, Jusos, Esoteriker, Marx-Gruppen, Radikale, Spontis alles dabei.

    Deine Demos, che, sind wieder etwas ganz anderes. Grob gesagt, könnte man es Spezialistentum bzw. eine ganz bestimmte politische linke Szene nennen. Auf Demos mit solchen Parolen bewege ich ich zum Photographieren, weil ich weiß, daß da immer gute Bilder entstehen. Die Ziele dieser Leute teile ich in den meisten Dingen nicht – allein schon aus dem Grunde, daß ich diesen Rechtsstaat nicht abschaffen, sondern qua Politik verändern will. Und in diesem Sinne haben sich inzwischen auch die Lager auseinanderdividiert und separiert vor allem. Die Demos, die Mark nennt, halte ich da schon für konkreter. Die Forderung nach Revolution muß man wohl eher als Metapher oder als Spiel begreifen. Berechtigung mag beides haben: eben aus Gründen der Aufmerksamkeitsökonomie ändert sich Politik auch dadurch (wenn auch sehr langsam und oft nur durch die List der Vernunft), daß möglichst viele Menschen auf den Straßen protestieren, gewaltfrei und mit kreativen Formen des Protestes. Und daß Medien darüber berichte, daß also sowas wie Öffentlichkeit entsteht. Und zu diesem Entstehen tragen Medien sehr viel bei.

  17. Nun ja, die von mir genannten Demos sind die 1.Mai Demos in Bremen, Braunschweig und Göttingen, ich würde die schon für relevanter halten als regionale Friedensdemos 2014 in Ex-DDR. Was die Revolution angeht hielt ich noch in der ersten Hälfte der Achtziger, als Friedens- Anti-AKW, Häuserkampf- und die diffuse Menschen- und Bürgerrechtsbewegung (gegen Volxzählung, gegen Abschiebungen, Antifa) eine Aktionsenheit bildeten, die Millionen auf die Straße brachte das bis zu einer vorrevolutionären Situation für eskalierbar. Davon ist so gut wie nichts übriggeblieben, die Grünen mit ihrem Gang nicht durch sondern in die Institutionen hinein inklusive großzügig verteilter Karrieretickets tragen ein gut Teil Schuld daran. Damals waren daran sehr viel mehr Leute als 68 ff.beteiligt.

    Der Ca-ira-Verlag gehört für mich ins Feindeslager, Conne Island nicht, das würde ich eher mit dem JUZI vergleichen. Maßstab für linke Positionen in Deutschland sind für mich Karl-Heinz Roth, Detlef Hartmann, die Reemtsma-Stiftung, Materialien für einen neuen Antiimperialismus und Wildcat. Zu Israel habe ich ein ambivalentes Verhältnis. Also einerseits positiv zu den Positionen der Demokratischen Front für die Befreiung Palästinas mit ihrem Zwei-Staaten-Modell, andererseits so in die Richtung, dass wir als Deutsche speziell in diesem Konflikt eigentlich nichts verloren haben. Den bedingungslosen Proisraelismus der Antideutschen halte ich für eine neue Form des nationalistischen Imperialismus, Leute wie Wertmüller wären früher in einem Flottenverein gewesen und hätten dem Kaiser zugejubelt.

  18. „Nun ja, die von mir genannten Demos sind die 1.Mai Demos in Bremen, Braunschweig und Göttingen, ich würde die schon für relevanter halten als regionale Friedensdemos 2014 in Ex-DDR.“

    Da irrst Du aber, che. Der 1. Mai ist eine symbolische Demo, eher ein Ritual der Linken, so wie Ostern der Papst vom Petersdom herab segnet. In diesem Sinne ist der 1. Mai ein Stück säkularisierte Theologie.

    Bei jenen Friedensdemos, die übrigens auch in Berlin, Hamburg, Frankfurt und anderen Städten stattfanden, handelt es sich um eine konkrete Reaktion auf ein konkretes Ereignis. Nämlich eine US- und eine NATO-Außenpolitik, die qua Ukraine-Politik auf eine Konfrontation mit Rußland zielt. Was brandgefährlich werden kann und eben nicht einfaches Symbollaufen ist. Eine Außenpolitik zudem, die übrigens gerade für die NATO-kritische Linke relevant sein sollte, damit es eben nicht nur bei den Sprüchen „Raus aus der NATO, rein zu McDonalds“ bleibt, wie man sie manchmal in witziger Weise hörte. Aber solche Demos wurden eben schnell auch von der Linken diskreditiert. Und da sehe ich schon ein Problem. Lieber in Berlin Genderklotüren für zehn verschiedene Geschlechter fordern oder jeden Abweichler des Rassismus bezichtigen, als sich tatsächlich einmal wieder der realen Politik sich zuzuwenden. Da liegt bei der Linken inzwischen ein erhebliches Problem. Und all diese Revolutionsparolen sind in meinen Augen einfach nur Folklore. In der BRD hat nicht mal im Ansatz eine revolutionäre Situation bestanden und das einzige Westeuropäische Land war Frankreich im Mai, als auch Teile der Arbeiterschaft sich am Streik beteiligten. Aber ob das qua Masse schon revolutionär war und also zu einem Umsturz hätte führen können, dazu muß man sich die Quellen ansehen und schauen, wie in diesen Monaten generell die Stimmung war. Es gab ja im Gegenzug auch riesige Demos für De Gaulle. Am Ende wäre es also auf einen Bürgerkrieg hinausgelaufen. Und der wäre qua Militär eher nicht revolutionär ausgegangen, so meine Prognose. Insofern sollten wir solche irren Spielereien lieber lasse und den Rechtsstaat samt Gewaltenteilung und parlamentarischem Prozedere sowie der „Legitimation durch Verfahren“ stark machen. Und für die öffentliche Meinung ist eben ein starker Straßenprotest auch wichtig. Man sieht das ja beim Thema Atomkraft 2011 und beim Thema Umwelt. DAS waren die letzten großen Demos. Der 1. Mai in Berlin ist dabei lediglich ein Ritual, dessen Relevanz, wie oben geschrieben, eher im Symbolischen liegt.

    In der Ukraine-Krise zumindest haben große Teile der Linken erheblich versagt. Vielleicht liegt es auch daran, daß es in diesem Konflikt, wie auch beim Syrienkrieg, kein eindeutiges Gut und kein eindeutiges Böse gibt.

    Nationalismus halte ich nicht per se für schlimm. Den auch eine gute Sozialpolitik kann nur in einem funktionierenden Nationalstaat getätigt werden und nicht weltweit oder muti- und supranational, wie uns das Teile des Neoliberalismus immer wieder einreden wollen. No border, no nation könnte genauso die Parole multinationaler Konzerne sein, die für weltweite Freihandelsabkommen plädieren. Man sollte zudem Nationalstaat von Nationalismus unterscheiden und es muß dies auch nicht Abschottung bedeuten. Und da in absehbarer Zeit keine Alternative zum Nationalstaat in Sicht ist, halte ich diese Einrichtung nach wie vor für sinnvoll. (Das heißt nicht, daß sie nicht denkbar ist. Nur eben: Politisch im Moment nicht machbar)

    Ob Wertmüller dem Kaiser zugejubelt hätte bezweifle ich sehr. Er ist ja Antideutscher und hat mit Deutschland nichts am Hut. Aber Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten, ist nun wieder ein kompliziertes Thema für sich.

  19. Das Diskreditieren eines sinnvollen Anliegens ist ja sowieso nichts Neues. Man denke an die Zeiten der Friedensdemo gegen den Nato-Doppelbeschluß: auch da hieße es von Seiten der CSU und von Strauß: „Die nützlichen Idioten Moskaus!“ Daß da auch Leute wie ich mitgingen, die die Atomwaffen in Ost wie in West reduziert wissen wollten und daß auch die DDR-Parole „Schwerter zu Pflugscharen“ auf diesen Demos ganz zu recht verbreitet wurde und nicht nur das SDAJ- und DKP-Gewäsch, die Ostraketen seien sozialistische Friedensraketen, wurde bei solcher Polemik bewußt ausgeblendet. Wie ja überhaupt bei solchen Kundgebungen meist sehr unterschiedliche Menschen zusammenkommen. Mit den K-Gruppen und Leuten, die einen blutigen Diktator wie Mao, der in Sachen Massenmord mit einen der obersten Plätze in der Rangfolge belegt, oder das Ostregime, das große Arbeitslager, feierten, mochte man eigentlich nicht zusammengehen. Und man ging eben doch. So hätte das auch bei den Demos 2014 sein können. Nicht daß ich da mitgegangen wäre, außer als Photograph, aber von der Idee her gedacht, scheint mir dieses Miteinander von Verschiedenen nicht ganz verkehrt.

  20. Was 1968 in Frankreich angeht: Da waren sogar auf der Peripherique schon Panzer aufgefahren, um notfalls per Militärputsch de Gaulle an der Macht zu halten. Mit Staatsstreichen kannte der sich ja aus. 1981-84 waren in der BRD aber viel mehr Leute in Bewegung als 1967-69, und auch viel alters- und schichtenübergreifender. Bei mehr Koordination zwischen Friedens- Anti-AKW-Häuserkampf-und Bürger/Menschenrechtsbewegung hätte auch mehr herauskommen können als nur die größten Demos der deutschen Geschichte und Grüne in den Bundestag. Ich denke auch, dass wir mit unserer konkreten Utopie „deutsche Wiedervereinigung bei Blockfreiheit und Demokratischem Sozialismus“ unter den damaligen Zeitzeichen gar nicht so daneben lagen, was allerdings von allen Seiten, staatstragenden wie DKP-Linken wie dem MG-KB-Spektrum (aus dem später die Antideutschen hervorgingen) hysterisch niedergebrüllt wurde.

    BTW: Parolen als linksradikale Folklore sind eine Art Brauchtumspflege. Ich würde so weit gehen dass wir, als wir dem damaligen rassistischen Mehrheitskonsens „Bleiberecht für alle und auf Dauer“ entgegensetzten nie gedacht hätten, dass das einmal in der Weise wie heute wörtlich genommen würde.

  21. @“Und man ging eben doch. So hätte das auch bei den Demos 2014 sein können. Nicht daß ich da mitgegangen wäre, außer als Photograph, aber von der Idee her gedacht, scheint mir dieses Miteinander von Verschiedenen nicht ganz verkehrt. “ —- Das Zauberwort bei den Bündnisdemos 1979 – 85 und in Göttingen 1989 – 2000 lautete „Minimalkonsens“, ein Begriff den heute niemand mehr auf dem Kasten zu haben scheint. Auf der Basis entstanden auch die Grünen die sich aus ökofundamentalistischen Hippies, geläuterten Maoisten, enttäuschten Jusos und Jungliberalen und sich nicht mit den Neonazis gemein machen wollenden Nationalbolschewisten selber neu zusammenwürfelten – oder analog die Autonomen aus Punks, Anarchos, Spontis und Antiimperialisten und Rätekommunisten.

  22. Nun komme ich erst jetzt dazu auf deine Frage bezüglich der Friedensdemos zu sprechen @Che, und inzwischen haben @Bersarin und @Mark793 das Anliegen der Demos damals schon perfekt resümiert. Ich habe mich damals auch von Jutta Dittfurth und Co davon abhalten lassen, dort mitzugehen, und große Teile der LINKE offenbar auch. Das muss denen perfekt in die Hände gespielt haben, die damals Sorge hatten, dass die zahlreichen Zweifler, die damals der Meinung waren, dass man nach den Vorgängen: Proteste auf Maidan – Erfolgreiche Verhandlungen zu Neuwahlen – Danach ungeklärte Heckenschüsse auf Maidan – die erstaunlicher Weise zur Etablierung einer rechten Regierung ganz ohne Neuwahlen mit westlichem Segen führte und – und der offizielle Terroristisierung einer kompletten Ukrainischen Bevölkerungsgruppe führten – seine Empörung hätten lautstark auf die Straße tragen sollen. Abgesehen, dass sich bei den Demos offenbar laut Frau Dittfurth einfach vor allem ein Haufen durchgeknallter Nazis versammelt haben sollte, weiß ich bis heute nicht, wie die Dame denn nun selber zu den Ereignissen in der Ukraine steht!!! Das weiß ich auch beispielsweise bei Herrn Lederer oder Frau Kipping nicht und bei den Grünen schon mal überhaupt nicht! Ich warte da bis heute! Ich höre immer nur Frau Beck kreischen, sobald es jemand es auch nur wagt, Hakenkreuzbinden in der Ukraine zu thematisieren.
    Und es scheint bei diesen selbsternannten Müttern Teresas der Flüchtlinge die Geschichtserzählung offenbar immer erst dann zu beginnen, wenn sich ein paar der Opfer nach Deutschland geschleppt haben. Dann feiern wir vor allem uns selber für unsere Güte und verplanen die Traumatisierten, schon als neue Dumpinglohnkräft für unsere Wirtschaft , weil wir ja sooooooo ausländerfreundlich sind. Nur fragt leider niemand die Opfer, was ihnen lieber gewesen wäre:
    Das diese weiterhin ihre ursprünglichen intakten Häuser besessen hätten und ihre vollzählige Verwandschaft gesund um sich herum wissen würde und auf Kriegstraumata verzichten hätten können oder ob es ihnen lieber ist, wie es ist, dass ihr Zuhause in Teilen aussieht, wie Deuschland 1945, sie hier aber wärmstens weit weg von überzeugten Helfern empfangen werden, die bezügliche der Kriegshandlungen, die sie erst in die Flucht getrieben hatten, nicht wahrzunehmen waren…? Ich hätte da eine Vermutung, aber dafür hätte man besonnen und differenziert die Geschehnissen während der Schülerproteste in Syrien und die Foltervorwürfe seitens Assads aufarbeiten müssen und bestenfalls eine Lösung ohne Kriegshandlungen finden müssen, infolge der grundsätzlich keine „Kollatoralopfer“ in Kauf genommen worden wären weil der „Schlächter Assad weg musste“. ‚Es ist erschütternd, für was für platte Parolen sich heutzutage Linke vor den Karren spannen lassen! Für Frieden und gegen Tod in Syrien hab ich hierzulande wie zu den Opfern in der Ukraine leider Niemanden außer den „Querfrontlern“ auf der Straße wahrnehmen können, und schon gar nicht Frau Dittfurth. Hab ich das verpennt, oder wo waren die?

  23. @“Und es scheint bei diesen selbsternannten Müttern Teresas der Flüchtlinge die Geschichtserzählung offenbar immer erst dann zu beginnen, wenn sich ein paar der Opfer nach Deutschland geschleppt haben.“ —– Also ich bin seit 1982 in der Flüchtlingssolidarität engagiert, und die Leute die ich aus der Flüchtlingsarbeit kenne setzen sich auch für eine andere Entwicklungspolitik ein, für faire terms of trade (=afrikanischen Bauern europäische Preise für ihre Produkte zahlen und afrikanischen Fischern die eigenen Fischgründe zurückgeben), teilweise unterstützen sie linke Parteien oder Friedensbewegungen oder auch BESTIMMTE bewaffnete Konfliktparteien in den Herkunftsländern. Und weiterhin engagieren sie sich dafür, Geflüchtete am Arbeitsmarkt unterzubringen. Von naiv-unpolitisch die Flüchtlinge betuddelnden Gutmenschen bekomme ich nur aus den Medien mit, im real life erlebe ich nur hochpolitische Menschen die sich nicht selten als linke Staatsfeinde (=Anarchisten, Autonome, Kommunisten) oder aber als zur Partei die Linke oder dem linken Flügel der Grünen verorten.

    Wir haben auch schon so etwas gemacht wie Großparties veranstaltet („Saufen für Kurdistan“) und die Erlöse in bar in den Irak gebracht (Reisen mit angemietetem Jeep mit MG auf Lafette) und dort den Leuten in die Hände gedrückt die sie brauchten.

    Beim Majdan jubelte ich als ich die schwarz-roten Fahnen und Armbinden sah, bis ich erfuhr dass die nicht für Anarchosyndikalismus sondern für Neofaschismus stehen und dass sowohl die Milizen der Ukraine als auch der russischen Separatisten (eine heißt „Smert“, „Tod“ und ist auf dem Ausbildungsstand der Green Berets) mit dem Spitznamen SS ultrabrutal ganz gut beschrieben sind. Beim Ukraine-Konflikt bin ich tatsächlich ratlos.

    Und wie gesagt, von diesen Demos 2014 habe ich nichts weiter mitbekommen als einen Video den mir Bersarin zugemailt hatte und der Jebsen als Redner auf einer dieser Veranstaltungen zeigte. Ich muss allerdings auch sagen dass mein Wahrnehmungshorizont bezogen auf Protestaktionen stark auf Niedersachsen und Bremen bezogen ist und ich ansonsten eher etwas das in Suleymania oder Kobane passiert mitbekomme als etwas in Berlin oder Potsdam.

  24. @Che Bitte nicht missverstehen: Die wertvolle Flüchtingsarbeit, die sich beispielsweise für weltweiten, fairen Handel einsetzt, dafür hab ich größten Respekt und die will ich auch in keinster Weise kleinreden. Um diese wichtige Arbeit ging es mir überhaupt nicht, sondern viel mehr über diesen seltsamen, die schlimmen Umstände bagatellisierenden Kriegsflüchtlingskult von 2015, der im direkten Zusammenhang mit Syrien stand, und den ich tasächlich so unserer Medienwelt wahrgenommen habe und der für mich in Teilen – ich weiß, dass klingt jetzt echt schlimm – nach „Flüchtlingsverwusten“ klang, wenn sich einige Grüne dazuhinreissen liessen Verlautbarungen von sich zu geben, die schon schwer nach „also Euch haben wir dringlichst herbeigesehnt weil wir Euch für unsere Rentner brauchen“ klangen! Der vorrangegangene Krieg, gegen den sich diese Partei ursprünglich einmal gegründet hatte, verschwand in diesen Schwärmereinen fast wie ein weißer Fleck oder es wurde stillschweigend akzeptiert, dass dieser am Kochen gehalten wurde und wird. Auch unsere Regierung hat deutlich zu verstehen gegeben, dass Aufbauhilfe so lange für sie keine Option sein wird, bis ihrem politischen Willen „den Schlächter Assad weghaben zu wollen“ genüge getan wird. Das schockiert mich!

  25. @partyschreck: Das waren ja nicht nur einige versprengte Grüne, die fabulierten, die Flüchtlinge würden dereinst unsere Rente zahlen, das war zu Beginn der Flüchtlingskrise mehr oder weniger common sense der veröffentlichten Meinung. Ebenso wie die Annahme, da kämen vor allem Fachkräfte und Höherqualifizierte. Mancher Wirtschaftsexperte schwärmte gar von einer Sonderkonjunktur durch den Nachfrageschub der Zuwanderer. Aus der Regierung hieß es, keinem werde was weggenommen, um die Flüchtlinge zu ernähren, unterzubringen und medizinisch zu versorgen, man habe ja gut gewirtschaftet. Zeitungen und Sender haben das alles unhinterfragt weiterverbreitet, und dann wundert man sich, wie das Stichwort „Lügenpresse“ zum Topos werden konnte.

    Ukraine-Berichterstattung ist auch ein gutes Stichwort, da ist es vielen erstmals so richtig aufgestoßen, wie einseitig-verzerrt unsere Medienblase bei bestimmten Themen berichtet.

  26. Du gibst mir das Stichwort, Mark! Ich zitiere mal einen klugen Kommentar aus der „Zeit“ vom 21. November 2019, von Marc Bost:

    „Am Ende von Merkels Kanzlerschaft ist das Land ausgezehrt und erschöpft. Auch wenn Angela Merkel die wirtschaftsliberale Agenda, mit der sie 2005 Kanzlerin werden wollte, nie eins zu eins umgesetzt hat: Die Denke der Nullerjahre (Staat schlecht, Markt gut, Schulden schlecht, Sparkurs gut) hat die Gesellschaft verändert. Wettbewerbsdruck und Gewinnstreben sind in Bereiche vorgedrungen, in denen sie zuvor nichts zu suchen hatten – etwa in die Krankenhäuser, wo inzwischen Betten leer bleiben müssen und Patienten nicht behandelt werden können, weil das Geld fürs Pflegepersonal fehlt. Merkels Politik hat das Land und seine Bürger unter Stress gesetzt – so sehr, dass nun ausgerechnet die CDU darunter leidet.

    Man muss sich nur einmal in Behörden oder auf Ämtern, in Schulen oder Gerichtssälen umhören, um zu begreifen, welche Kehrseite Merkels vermeintlich größter Erfolg hatte – die Politik der schwarzen Null, ein Begriff aus dem Politmarketing, die vielleicht erfolgreichste ökonomische Irreführung des vergangenen Jahrzehnts.

    Im öffentlichen Dienst fehlen 200.000 Leute. Der Zoll bräuchte 50.000 Mitarbeiter mehr, um effektiv gegen Schwarzarbeit vorzugehen. Bei den Berufsfeuerwehren im Land sind 3000 Stellen offen. Im Notfall schaffen es manche Feuerwehren nicht mehr, innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Zeit am Brandort zu sein.

    An den Grundschulen werden bis zum Jahr 2025 etwa 26.000 Lehrer fehlen. Und weil es an den Universitäten zu wenig Studienplätze für Lehrer gibt, wird sich der Lehrermangel auch so schnell nicht beheben lassen. Es fehlen mehrere Tausend Richter und Staatsanwälte. Immer wieder müssen Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil ihre Verfahren zu lange dauern.

    Deutschlands Schulen müssten mit 43 Milliarden Euro saniert werden; 66 Milliarden Euro bräuchte die Bahn, um Strecken und Züge wieder auf Vordermann zu bringen (und da sind die zusätzlichen Investitionen im Rahmen der Klimapolitik noch nicht mit eingerechnet). Unglaubliche 90 Milliarden Euro hat die öffentliche Infrastruktur (mit anderen Worten: das Staatsvermögen) seit 2003 an Wert verloren.

    Angela Merkel ist keine Neoliberale. Aber weder war ihre Klimapolitik so grün, wie man lange glaubte, noch ihre Wirtschaftspolitik so rot, wie Mindestlohn und Mütterrente suggerierten. Es war auch Merkels Politik des schlanken Staates, die dazu geführt hat, dass viele Menschen von diesem Staat nichts mehr erwarten. Vier von fünf Bürgern sagen, dass die Privatisierung staatlicher Leistungen zu weit gegangen sei. Mehr als 60 Prozent der Deutschen halten den Staat für überlastet und überfordert. Wer einmal den Polizeinotruf 110 wählte und viel zu lange warten musste, bis irgendjemand dranging, der glaubt nicht mehr an das staatliche Versprechen von Sicherheit und Schutz.

    Die CDU stand nie für puren Wirtschaftsliberalismus, sondern für den Interessenausgleich zwischen oben und unten, für Wirtschaftskompetenz und Soziales. In der CDU konnte sich der Unternehmer genauso wiederfinden wie der Kleinbürger. Das Versprechen der CDU lautete: Wir sorgen dafür, dass der Laden läuft, und kümmern uns darum, dass die Gesellschaft zusammenbleibt. Wir sind kritischer gegenüber Sozialleistungen, als es die SPD sein kann und muss, aber wer sich anstrengt, kann es zu etwas bringen. Man zahlt in der sozialen Marktwirtschaft etwas mehr Steuern als in den USA, bekommt dafür als Bürger aber auch mehr. Dieses Versprechen glauben sehr viele nicht länger.

    Vor allem nicht seit dem Sommer 2015. Dass Angela Merkel eine Million Menschen in ein Land holte, in dem vieles bereits auf Kante genäht war, in dem Lehrer, Sozialarbeiter, Polizisten und Krankenpfleger fehlten und in dem sich der Staat immer weiter zurückgezogen hatte – das haben sehr viele nicht mehr verstanden. Doch wenn eine Regierung immer nur von der im vergangenen Jahrhundert aufgebauten Substanz zehrt, darf sie sich nicht wundern, wenn am rechten Rand eine Partei größer wird, die den Bürgern weismachen will, dass die bessere Zukunft im Vergangenen liegt.“

    https://www.zeit.de/2019/48/cdu-angela-merkel-schwarze-null-wirtschaftspolitik-klimapolitik-infrastruktur?

    (Bost, Läuft nicht. Merkels Kanzlerschaft hat das Land ausgezehrt. Nun wendet sich die Politik der schwarzen Null gegen ihre Partei. in: DIE ZEIT Nr. 48/2019, 21. November 2019)

  27. Und nichts mißverstehen: Diese Defizite haben nichts mit den Flüchtlingen zu tun und die sind da nicht schuld dran. Aber wer sagt „Wir schaffen das!“, der muß auch sagen, wie das zu schaffen ist. Und vor allem muß man dafür Geld in die Hand nehmen. Geld, das leider schon vorher nicht vorhanden war, um es in die öffentliche Daseinsvorsorge und in Infrastruktur, in die Bahn, in die Polizei, in die Feuerwehr, die hier in Berlin auf Null fährt, zu stecken.

    Wenn man also monetär so wenig auf solchen Einsatz vorbereitet ist, wäre es besser gewesen, wenn die EU in Syrien moderierend eingegriffen hätte statt konfliktverschärfend, wenn die EU nicht 2014 Gelder für Flüchtlingslager im Nahen Osten kürzte, sondern vielmehr dort weiter finanzierte.

  28. Dazu müsste die EU ein einheitlich auftretender Player sein der sie nicht ist. Ich sehe all diese Dinge sehr ähnlich wie Mark und Bersarin, allerdings mit ein paar partiellen Unterschieden:

    1. Der Begriff Lügenpresse entstand durchaus unabhängig von diesen Vorgängen
    2. Ich habe bewusst oben Wolf Wetzel verlinkt. Schon 1990 hatten die Architekten des grünen Multikulturalismus, Daniel Cohn-Bendit und Dan Nitescu, ganz unverblümt für Einwanderung geworben weil es Leute für die Drecksjobs geben müsste die Deutsche nicht machen wollen. In der migrantischen Schwarzarbeitsszene ist das dann auch noch ethnisch gestaffelt. Für 6 Euro Stundenlohn arbeitende Kurden im Schnellimbiss bezeichnen die Lohngruppe 2, 50 Euro als „Tamilentarif“. Multikulturalismus ist eben Multirassismus mit einer äußerlich freundlichen exotizistischen Sichtweise ihrer weißen Protagonisten, man könnte auch „Völkerzoo“ dazu sagen.

    3. Die soziale Frage in Deutschland mit der Flüchtlingsfrage zusammenzubringen statt beides gegeneinander auszuspielen ist die eigentliche Aufgabe der Linken, neben der ganzen Auseinandersetzungen um politisch korrekte Sprache, Schneeflockenbefindlichkeiten und Mohrenlampen Pillepalle sind.

  29. Man muss das auch in the Long run sehen, vom keynesianischen Wohlfahrtsstaat mit deinem deficit spending hin zum Neoiliberalismus. Was jetzt passiert hat eine mindestens vierzigjährige Vorgeschichte.

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