Dialektik der Aufklärung? Oder ihr Umschlag in Affirmation – Kritische Theorie (1)

„Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebenso wenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten.“
(Karl Marx: Briefe aus den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“)

Zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erschien 1947 im Amsterdamer Querido Verlag die „Dialektik der Aufklärung“. Das Buch enthält Essays und Fragmente. Insofern ist es aufgrund der essayistischen Schreibweise Adornos, die er als Form der Philosophie betrieb – er wird rund zehn Jahre später einen Text mit dem Titel „Der Essay als Form“ schreiben –, angeraten, auch den Untertitel dieses Buches mit zu nennen. Er wird gerne fortgelassen: „Philosophische Fragmente“. In den 50er Jahren wurde es still um diese für die ältere Kritische Theorie maßgebliche Schrift. Das Buch war lange Zeit vergriffen, zu den Zeiten der Studentenbewegung wurde es in den 60er Jahren in Raubdrucken weiterverbreitet – bis sich Adorno und Horkheimer 1969 zu einer Neuauflage entschlossen. In ihrem Vorwort legen sie die Gründe dafür dar. (Ich komme darauf gesondert zu sprechen.)

Der Kritischen Theorie und insbesondere jenem Standardwerk, der „Dialektik der Aufklärung“ wird immer einmal wieder ihr Veraltetsein attestiert – je nach Saison und intellektueller Stimmungslage und wie es Mode und Zeitgeist entspricht. „Old-school-Ideologiekritik“ so schallt es als eines dieser beliebten Nicht-Argumente. Als ob modisch aufgepeppter Kittler- oder Biller-Sound oder irgendwas mit Postmoderne und Flachschwimmerironie irgendwie newschooliger daherkämen; als ob die dünne Denksuppe des „Trendforschers“ Matthias Horx in irgendeiner Weise gehaltvoller wäre, außer daß diese Denke auf Bestehendes einpeitscht und insofern sehr viel weniger zukünftig ist, als sie sich ausgibt.

Die andere Variante ist die Befindlichkeitskritik eines simplen Hedonismus, und es wird im Sinne des Ferienkommunismus auf einem Musikfestivals oder beim Besuch vermeintlich subkultureller Freiräume forsch erklärt, es gebe wohl doch ein richtiges Leben im falschen, denn hier an diesem Ort lebe man schließlich gut, so wie seinerzeit Katrin Rönicke schrieb. Man muß nur die Laufrichtung ändern. Als ob es Kritischer Theorie um die personalisierten und individualisierten Befindlichkeiten ginge. Von der Struktur her ist diese Art der Adorno-Kritik in etwa gelagert, wie das Lamento einer Bekannten, die gerne auf Kreuzfahrtschiffen weilt und auch ansonsten hier in der BRD im Luxussegment lebt: „Alle reden davon, daß die Leute immer ärmer werden. Ich sehe hier nirgends Arme.“ Beim richtigen Leben im falschen gilt für manche die Weisheit: Sollen sie doch Kuchen essen!

Aber auch im philosophischen Lager postkritischer Theoretiker der zweiten und dritten Generation gibt es gegenüber der „Dialektik der Aufklärung“ Vorbehalte, die aufs ganze gehen. Diese Einwände sind in ihren Argumenten ernst zu nehmen bzw. zu widerlegen: Weshalb am Ende die kommunikative Rationalität nicht ausreicht, um die Problemen dieser Gesellschaft in den Blick zu bekommen und die Widersprüche zu fokussieren. Der Widerspruch jedoch bleibt als Widerspruch erhalten, bis er zu Grunde geht. Er läßt sich nicht kommunikativ auflösen, weil es sich um einen Widerspruch handelt, der in der Sache selbst und nicht bloß im subjektiven Denken seinen Ursprung hat. Hegel, für den der Widerspruch im dialektischen Prozeß eine zentrale Kategorie ist, schreibt:

„Das spekulative Denken besteht nur darin, daß das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält, nicht aber, daß es sich, wie es dem Vorstellen geht, von ihm beherrschen und durch ihn sich seine Bestimmungen nur in andere oder in nichts auflösen läßt.“ (Hegel, Wissenschaft der Logik)

Zu unterscheiden ist dabei im Sinne Hegels zwischen dem Intelligiblen und dem Empirischen, dem Ort des spekulativen Denkens und der endlichen Sphäre:

„Die endlichen Dinge in ihrer gleichgültigen Mannigfaltigkeit sind daher überhaupt dies, widersprechend an sich selbst, in sich gebrochen zu sein und in ihren Grund zurückzugehen.

 Ob freilich diese dialektische Bewegung, gleichsam als eine Gesetzmäßigkeit sich durchsetzt und ob das Mögliche mit Notwendigkeit wirklich wird, ob der reale Widerspruch im Gesellschaftlichen sich überhaupt noch auflösen läßt, sind die eigentlich zentralen Fragen, die Adorno und Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ stellen. Ihr Befund wird – das Ergebnis sei vorweggenommen – skeptisch ausfallen. 

Angesichts einer heute (scheinbar) nicht mehr aktuellen geschichtlichen Situation, in der Adorno und Horkheimer diese Dialektik schrieben, sei der Pessimismus dieses Buches inzwischen verfehlt, so die Kritik. Der Geist jener dreißiger, vierziger Jahre, zwischen Faschismus, Stalinismus und einem Kapitalismus, der totalitäre Züge annahm, wirke nicht mehr – von den drei großen Totalitarismen blieb einzig der Kapitalismus übrig. Die Demokratisierung westlicher Gesellschaften, technischer Fortschritt, der sich selber kritisch zu reflektieren vermag und ebenso die Entwicklungen im Bereich der Kultur, in Kunst und Kino sowie die angenommene Subversion der Popmusik sprächen gegen die als total genommenen negativitätstheoretischen Annahmen, die Adorno und Horkheimer in jenem Buch setzten. Die Öffnung von Lebenswelten gegen Systemwelt habe ein Ausmaß angenommen und Oppositionskräfte, teils in Subkulturen, teils in politischen Sphären freigesetzt, so daß sich nicht umstandslos mehr von einer verwalteten Welt und einer Vernunft, die rein kalkulierend verfährt, sprechen ließe. Innerhalb der Systemwelt bildeten sich feine, kleine subversive Inseln. Lebensweltrefugien. Das Berlin der 80er und 90er Jahre mochte da gut als eine Art Zierbiotop herhalten. Ein Argument gegen die verwaltete Welt. So scheint es auf den ersten Blick. Nein, es gibt keine richtige Party in der falschen. 

Treffend an dem Befund des Veralteten ist lediglich die rein zeitliche Dimension. Seitdem die „Dialektik der Aufklärung“ erschien, sind bald 70 Jahre vergangen – auch ein Grund also, in regelmäßigen Abständen hier im Blog auf diese 70 Jahre Flaschenpost zurückzublicken.

 

27 Gedanken zu „Dialektik der Aufklärung? Oder ihr Umschlag in Affirmation – Kritische Theorie (1)

  1. die zeitgenössische Kritik an der KdA befasste sich, wie ich hörte, mit Horkdornos Kritik an Kant, die sich jedoch mit einem – jedenfalls heute – veralteten Kantverständnis befasste.

    Auch wenn wir diesbetreffs die mit schönsten Bemerkungen lesen durften.

  2. Naja, so pauschal kann man das von Seiten jener Kritik kaum sagen. Adorno/Horkheimer kritisieren Kant insbesondere im de Sade-Kapitel. Aber Kant ist nicht die zentrale Figur. In anderen Abschnitten der DA geht es um Mechanismen, wie die verwaltete Welt sich organisiert, so im Kulturindustriekapitel.

    Kannst Du einige Texte der zeitgenössischen DA-Kritik empfehlen? Ich habe gegenwärtig eigentlich nur Habermas, Schnädelbach, Thyen, Honneth parat.

  3. mir waren, als ich obiges schrub, die letzten Sätze jenes Interviews im dlf in den Ohren. Anlässlich des 70. Jubiläums der Dialektik der Aufklärung gab es eine Tagung in Marburg, „um den beiden Frankfurtern kritisch auf die Finger zu schauen“, veranstaltet von Winfried Schröder. Ders. am Ende der Sendung:

    „Ich berichte hier über eine Diskussion zwischen sehr verschiedenen Forschern und über eine Diskussion, in der es einige Dissense gab. Aber ich glaube, ich kann doch sagen, es ergibt sich eine Rehabilitierung der Aufklärung, wenn man die Sicht auf die Aufklärung befreit von dem Tunnelblick auf Kant, den Horkheimer und Adorno hatten. Die beiden alten Frankfurter kommen aus einem neukantianischen Kontext. Deshalb ist ihre Kant-Fixierung biografisch verständlich, aber sie ist sachlich nicht angemessen. Wenn wir also die Aufklärung in der Vielfalt ihrer Strömungen sehen, wenn wir zweitens die verengende und zum Teil grotesk regierende Kant-Deutung, die sie bieten, wegnehmen, denke ich, muss man sagen, dass eine Rehabilitierung der Aufklärung das Ergebnis ist.“

    Link

    Schröder räumt ein, dass die Kaprizierung auf Kant „höchst selektiv“, doch: „Wenn man genau schaut, welche Kandidaten müssen wir eigentlich befragen, um die Angemessenheit der Aufklärungskritik zu beurteilen, dann würden Horkheimer und Adorno sagen, Kant ist die dominante Figur.“

    Denn hier blieben beispielsweise die französischen Materialisten außen vor. Ich kann mich nun allerdings nicht ausgerechnet auf die französischen Materialisten berufen, was jene biographische Phase betrifft, in der die Grundsteine gelegt worden sein müssen, weshalb ich immer etwas ratlos blieb bei Lektüreversuchen der DdA (die kamen später). Hinter jedem Satz bei mir ein Häkchen, ja! Aber auch gleich die Frage: Und? Was vielleicht Leute, die etwas älter sind, als ich (verrückterweise sind das nur ein paar Jährchen), nicht mehr sich so ohne weiteres vorstellen können oder präsent haben: die DdA ist nicht der Impact gewesen, der einen „intellektuellen“ Werdegang beeinflusste.

    Vielleicht müsste ich die DdA tatsächlich unter Vorzeichen psychoanalytischer Selbstanalyse, in fact die einzige Möglichkeit, die ich mir derzeit denken kann, lesen, um dem auf die Spur zu kommen, warum mich die kolportierten Aspekte derselben so wenig beeindruckten, ja, langweilten, etwa Odysseus´ Ohrstöpsel-Trick, wohlverstanden als Selbstüberlistung der Vernunft. Vielleicht waren Horkheimer und Adorno erfolgreicher als gedacht. Dass das alle Spatzen von den Dächern gepfiffen hatten, schien mir in jungen Jahren Äonen her.

    Viel enttäuschender war für mich in der Jugend, dass Versuche, die Irrationalität wieder in ihre (vermeintlichen) Rechte einzusetzen, bereits vor langer Zeit und recht dürftig (Surrealismus) gescheitert waren. In der Folge konnte mich natürlich auch Duchamps Toilettenwitz kaum hintern Ofen hervorlocken.

    Aber ich empfinde Hochachtung vor Leuten, die wenigstens in ihrer Zeit es zustandebrachten, ein „intellektuelles Projekt“ zu verfolgen, an dessen Ende etwas wie eine „intellekruelle Biographie“ stehen kann. Deshalb werde ich Dein Blog hier gewiss noch einmal genauer lesen.

  4. Wg. Adorno … ’n‘ all that Jazz…

    Ich wiederhole mich gerne: Odo Marquard, „Beitrag zu einer Philosophie der Geschichte des Abschieds von der Philosophie der Geschichte“ / In Poetik und Hermeneutik / Bd. Ereignis und Erzählung

    In etlichen der vielen guten Seel-Bücher finden sich auch ergiebige Adorno-Passagen.

    Was von Habermas gerne Übersehen wird ist Nachmetaphysisches Denken II und Wahrheit und Rechtfertigung, darin besonders die Einleitung: Realismus nach der sprachpragmatischen Wende – das ist implizit mitlaufend auch eine (nochmalige…) Verabschiedung der Geschichtsphilosophie – es wird eben nun über alles verhandelt – im Sinne von : Fair argumentiert.
    Auf dem Hintergrund der (erheblichen…) sozialen Tatsache, dass „Diskurse in den Zusammenhang lebensweltlicher Praktiken eingebettet b l e i b e n , weil sie die Funktion haben, ein partiell gestörtes Hintergrundeinverständnis wiederherzustellen.“ (S. 53).
    Das geht dann noch eine Weile so und mündet in folgenden Merksatz:“(…) für Subjekte, die sich im Rahmen von Diskursen ihres Wissens reflexiv vergewissern, sind das Wahrsein und die Fallibilität einer Aussage zwei Seiten derselben Medallie.“ (S. 55)

    Das korrespondiert mit dem Satz auf S. 234 oben: „Mit der Verbindlichkeit ihrer Urteile büßt die Metaphsik auch ihren Gehalt ein.“ Und das wiederum ist praktisch Kern-Adorno. Zitat Habermas aus der Negativen Dialektik (a.a. o. S. 233): „Gleichwohl ist Rorty nach wie vor auf der Suche nach einem Denken, das , wie Adorno in der „Negativen Dialektik“ sagt, „mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes solidarisch ist.“
    Das ist immer wieder Adornos Lieblingskunststück: Die Anwesenheit des Deus Absconditus zu denken – against all odds – – bzw. die Abwesenheit des Deus Absconditus ad absurdum zu führen.
    Man könnte auch sagen, es ist ein bisschen wie bei Jean Paul so oft – aber ohne dessen gloriose Aufschwünge nach gehabter Verzweiflung. Das ist etwas, was Monika Grütters zumindest erahnt, was aber Denis Scheck seit Jahren zuverlässig verfehlt. – Karriere hängt von so Subtilitäten offenbar nicht ab. – Kann sie auch gar nicht. Nicht hinieden. Und obdroben jibbet keine: Sonst wäre der Himmel sozusagen nicht er selbst, nicht wahr?
    Wie ich schon sagte – : Einmal Konfirmant, immer Konfirmant.

    Fazit: Wer immer strebend ich bemüht / Soll wach sein, dass er nicht verglüht!

  5. @ auch Dieter Kief

    Meine frühe und intensive Beschäftigung mit Kunst hat mich, wenn ich die heutigen Horkdorno-Diskussionen betrachte, wie oben angedeutet, für dieselben eher ungeeignet gemacht. Aber Martin Seel, ist das, Dieter Kief, Ihr Ernst? War ja mal bei dem in einer Art „philosophisch-ästhetischem Kolloquium“. Dort wollte man allen Ernstes bis zu 5 (in Worten fünf) Werke Anton Weberns in einer (Anzahlwert 1) Sitzung diskutieren, ohne dass den Teilnehmern die Partitur oder wenigstens Klavierauszüge der betreffenden Werke zur Verfügung gestellt worden wären (geschweige denn die sounds selber), diskutieren! Die Philosophie will also über Kunst diskutieren, ohne je auch nur die objektivierten Selbstauskünfte über dieselbe zu Rate zu ziehen die Muße aufzubringen auch nur in Erwägung zu ziehen.

    Philosophie als professionalisierte lange Weile, was mich betrifft, o.k., immer nur weiter so. – Nur bitte nicht auf den Rücken von Künstlern, die, wie Webern, nun einmal einen interessanten Punkt in der Auseinandersetzung mit Schönberg, getroffen haben.

    Ich bevorzuge die Atelier-Situation. Hier ist Seel leider erbarmungswürdig gescheitert. Brahms, Schönberg, Webern.

  6. Ich schreibe und antworte heute Abend, weil mich heute verschiedene Pflichten rufen und diese Dinge doch ein wenig komplexer, anregender und interessanter als Burka-Debatten sind.

    Sie wird es freuen, Dieter Kief: Der Odo Marquard-Aufsatz liegt bereits vor, und zwar mit dem Band 5 von „Poetik und Hermeneutik“: Geschichte, Ereignis und Erzählung. Passend ganz sicher auch zu dieser Lektüre der DA.

    Bei Seel ist es so lala. Er formuliert einige interessante Einsichten, besonders in „Die Kunst der Entzweiung“. Freilich sind sie zu kritisieren. Aber es ist immerhin originell, was Seel hier schreibt. Weiterdenken mit Adorno ist ja keine schlechte Übung, auch wenn dabei mancher Gehalt dieser komplexen Philosophie verfehlt wird. Im Lauf der Zeit trivialisiert und popularisiert Seel leider. Was er zur „Philosophie der Kontemplation“ schrieb, müßte ich mir im Detail ansehen. Ich hege aber den Verdacht, daß Seel hier in die Falle tappt oder es aber bewußt vollzieht: Die ästhetische Entschärfung Adornos und er biegt den kritischen Gehalt der Theorie leicht herunter.

  7. Ziggev –

    – man kennt sich ja nicht, man schreibt sich sozusagen nur: Aber den Seel kenn‘ ich ein bisschen. Hehe, wir hatten als Kinder beide Blickkontakt zum Speyrer Dom: Das hatten wir vor Helmut Kohl – dem emphatischsten aller Speyrer-Dom-Schätzer, die ich kenne – voraus, und das prägt… Und wir haben beide in dieser Gegend bereits als Kinder Heu aufgegabelt und sind selber Traktor gefahren und haben etwas später dann samstags morgens manchmal im Bett gelegen und das Tonband laufen lassen mit Blues, Blues, Blues, Blues, Blues…sind nochmal eingeschlafen und sind dann wieder aufgewacht, wenn das Band durchgelaufen war, die Spule sich aber weiterdrehte, weil die Endabschaltung defekt war, und ans Kopfgehäuse (des Geräts jetzt) flappte. Grundig, tk 145 deluxe, in meinem Fall.
    Als Erwachsene arbeiteten wir hie und da an den selben Fragestellungen, manchmal auch zusammen. Seel war einen Tick älter und erheblich zielstrebiger. Damals teilten wir uns – für Ewigkeiten – – den Blick auf die Mainau – – von oben vom „Grießberg“, wie ich heute noch spotte (1 Harzreise, immer Harzreise…), herunter.
    Das sage ich und fahre fort: Ich fürchte, Ihre Episode ändert nichts an der Welthaltigkeit seiner Texte.
    Er ist ein wenig erratisch manchmal, im persönlichen Umgang, vielleicht auch ein wenig spinös, hie und da: Kann sein er konnte sich nicht vorstellen, dass nicht alle ZuhörerInnen diese paar Stücke, um die es offenbar ging, einfach im Kopf hatten…aber das „tangiert“ seine Texte „nur peripher“ – wie wir – – auch beide , und emt auch beide als Sextaner im Lateinzug wie ich jetzt vermute – – zu sagen pflegten, mit diesem ein wenig frühreifen selbstironischen Dreh; wir, also ich jedenfalls: – Ich steckte ja noch in kurzen grünen, speckig glänzenden Lederhosen, die mir in der Stadt ein wenig peinlich waren. Komischerweise in der Kleinstadt Schwetzingen mehr als in Mannheim. Lederhosen passen ja auch besser nach MANNheim als in das weiblich tiefenkonnotierte Schwetzingen (= schwätzen…), fällt mir grad ein. Nu, Kachelmann, was sagstn Du dazu? – Vielleicht bereut er Schwetzingen mehr als alles andere in seinem Leben. Freilich hatte er auch in Mannheim erst nach langer Durststrecke was zu lachen. Ein Womenizer – wie Adorno, fällt mir gerade ein: Cf. Regina Henscheid, zitiert von Eckhard Henscheid in seiner Autobiographie „Denkwürdigkeiten“ und – – Die Rothschilds, Hermann Peter Piwitt, wo Adorno höchstpersönlich in dieser Rolle des Aufreissers auftritt. Komisch: Nie schreibt einer darüber. Dabei ist Piwitts Roman so gut. Wahrscheinlich tabu wg. Gefährdung von Adorno-Nimbus. Nationalheiligtum: Do not touch, sonst: Schweigen wir (öffentlich zumindest) über Dich.

    @ Bersarin: Here is Kurpfalz speakin‘, mind you / bloss kä Hegtig

  8. Schöne Geschichte von Martin Seel, ich habe bei ihm eine Zeit lang studiert. Smarter Mann mit einem Hang zur Ironie, immer ein wenig distanziert, was ich als angenehm empfand. Was er an der Universität machte und wie er es machte, war ausnehmend spannend und hob sich wohltuend vom bloß Professoralen ab.

  9. Zum „Tunnelblick auf Kant“, der den Autoren der DA unterstellt wird: Zunächst einmal fixiert sich Adorno – ich spreche der Einfachheit halber nur von Adorno – auf keine Philosopheme, sondern Adorno liest dialektiktisch. Das heißt Hegel wird mit Marx gegengelesen und umgekehrt und Marx wiederum mit Kant, Kant mit Nietzsche, um wiederum Kant mit Marx gegenzulesen. Was man kritisieren kann – Schnädelbach und Anke Thyen tun es – ist der Umstand, daß Adorno die Erkenntnisform aus der Warenform ableitet. Aber macht er das wirklich so unidirektional, wie dies Anke Thyen etwa schreibt?

    Nichts gegen Herrn Schmidt, ich kannte ihn bisher nicht, aber diese Sätze, die er über die DA schreibt, sind schlicht falsch. Und schon bei solchen Formulierungen wie „um den beiden Frankfurtern kritisch auf die Finger zu schauen“ frage ich mich, ob ich in einem Paukerfilm der 60er Jahre bin: Die Lümmel von der letzten Bank, denen der Oberlehrer Schmidt kritisch auf die Finger schaut und haut. In der Flapsigkeit der Sprache verrät sich die Laxheit des Denkens.

    Was der Motor und was Movens der Kritischen Theorie ist, dazu komme ich sicherlich noch im Verlauf dieser Serie. Der Irrationalismus ist dabei eine Sache für sich. Adorno ist nicht blind und taub für den Gesang der Sirenen, wohl aber für die Ideologie eines Spengler und eines Ludwig Klages. Denn dazu ist Adorno zu sehr materialistischer Dialektiker, als daß er den Betrug nicht durchschaute, auf einer in den Produktivkräften hochentwickelten Stufe wieder ins Bäuerliche oder Archaische, ins vermeintlich Ursprüngliche zurückzufallen. Darin gründet sich ebenfalls seine Kritik Heidegger, wenn er sich in der „Philosophischen Terminologie“ über den Text „Warum bleiben wir in der Provinz?“ sich amüsiert: Als ob ein solches bäuerliches Leben, wo der alte Bauer im Herrgottswinkel sitzt und Holzfäller und Bauern die Felder bearbeiten, der gültige Produktionsstandard wären. Das Dorf ist zwar kein Auslaufmodell, aber es ist ebensowenig Rule Model und bestimmt die Produktionsverhältnisse einer hochindustriellen Gesellschaft, die Deutschland in den 30ern lange schon war.

    Was das nachmetaphysische Denken betrifft und überhaupt die Kommunikationstheorie samt der Diskursethik von Habermas: Mag man in erster bei wohlwollender Betrachtung noch so etwas wie kritische Gehalte ausmachen, die Gesellschaft qua lebensweltlicher Opposition (ob nun Pop oder öffentliche Diskurse und Raisonnieren) im Gesamt kritisiert, so ist sind die Habermasschen Argumentationsmodelle und die Diskurstheorie gleichsam die Sozialdemokratisierung der Kritische Theorie. Es wird auf die Funktionszusammenhänge abgestellt, freilich erweitert um Modelle von Gerechtigkeit und Fairness. Da ist mir der kalte Funktionsblick eines Luhmanns oder eines Foucaults eigentlich lieber. Sie sagen Comment c’est, um eine Prosa Becketts, deren Titel auch Adorno als Redewendung gebrauchte. Während sich Habermas als Sozialdemokrat aufs Bestehende einstimmt, registriert Adorno, der vermutlich ebenfalls die SPD wählte, die Brüche und hakt bei den Widersprüchen der Gesellschaft ein – darin guter und braver Hegelianer und Marxleser. Freilich, freilich, er liefert keine Lösungen. Schwarzes Denken Schwindelfrei. In diesem Sinne kann man mit Adorno gewiß keine Staatsphilosophie oder Rechtsphilosophie betreiben, wie dann in „Faktizität und Geltung“ praktiziert.

    Es ist immer eine Freude, mit Ihnen zu debattieren, Dieter Kief, und da mache ich mir doch mal einen Grauburgunder aus dem Badischen auf und sinniere über Habermas und die DA. Lauter Lesestoff. Wobei ich in dem Band „Wahrheit und Rechtfertigung“ nichts nachschlagen kann, weil der bei mir im in den Regalmetern fehlt.

  10. zur Seel-Episode: ja, stimmt, er reagierte ausgesprochen nichtprofessoral auf meine Einwendung am Ende der Sitzung. Doch kam es ohnehin nicht dazu, die (kurzen) Stücke anzuhören – alles noch im vor-mp3-Zeitalter …

    und, natürlich DdA, ´n´all that´s Jazz:
    „Wenn die Lust des Tanzenden beim Jazz darin gesucht werden darf, daß er von
    der Synkope als der Formel seiner eigenen Verstümmelung sich in seiner kollektiven Funktion nicht beirren läßt, so ist die Lust des Jazzmusikers der des Sportmanns zu vergleichen, der unter
    absichtlich erschwerenden Bedingungen arbeitet.“

    Wenn die geformte Ware irgendwann zurückschaut, dann werde ich als Beobachter dritter Ordnung der Erkenntnisform gewahr; nur ist dies 1) eine einsame Angelegenheit und ist 2) die Beobachtung dritter Ordnung in ihrer kollektiven Funktion tatsächlich ein Horror-Trip.

    Demzufolge dürfte Adorno nie der der Warenform entsprechende Erkenntnisform gewahr worden sein, denn offenbar ist es ihm nie gelungen, einen Gegenstand der geformten Ware oder der Popkultur zu kontemplieren. Seine verstümmelnden Jazz-Beispiele sind ja Legion.

    Wenn aber dem Pop Theorie übergestülpt wird, dann kommt tatsächlich so eine irregeleitete Idee dabei heraus, dem Pop wohne ein subversives Element inne oder es könne sich so verhalten. Es handelt sich lediglich um einen verengten Pop-Begriff. Es können also ebenso jene Pop-Theoretiker falsch liegen, es kann ihre Adorno-Interpretation falsch liegen und es kann beides und Horkheimer und Adorno falsch liegen. Das Pop-Argument hat mich noch nie überzeugt. Aber: Auch ohne Material als Diskussionsgrundlage soll philosophisch über Künstlerische Hervorbringungen diskutiert werden. Offenbar gilt die Devise: Theorie siegt immer!

    Schröder behauptet, die Aufklärungskritik sei nicht angemessen, weil die Kantdeutung durch Horkheimer und Adorno nicht angemessen sei. – Dabei braucht es keine Rolle zu spielen, wer da von welcher Seite durch welchen Tunnel auf wen blickt. Dies nun als Antwort auf die Frage, wie die beiden Frankfurter vorgegangen sind, um zu ihrer „Aufklärungskritik“ zu gelangen; das könnte, nebenbei, auch „auf die Finger schauen“ genannt werden. Zu sagen: „Nun aber! Wir betreiben hier Dialektik, es handelt sich ja auch um die Dialektik der Aufklärung!“ – Wie kann das ein Argument dafür sein, dass der Einwand „schlicht falsch“ ist? – „Wir haben aber eine andere Deutung!“ Ich fühle mich in der Tat an die Lümmel auf der letzten Bank erinnert.

    (Sie schieben sich Zettel zu, auf denen gekritzelt steht: X mit Y, bzw. Y mit X, sowie Y mit K, K mit Z und schließlich K mit M gegenlesen, hähäh)

  11. Ich kann Dir zum Jazz nichts sagen und schreiben, ziggev, auch zu Adornos Kritik des Jazz nichts, weil ich kein Musiktheoretiker bin. Allenfalls zu allgemeinen Sentenzen, die Generellästhetisches betreffen. Der Satz zum Jazzmusiker ist zumindest rhetorisch fein formuliert, was mir wiederum gut gefällt. Freilich kann man das heute auch auf manche Auswüchse der Kunst übertragen. Artifizielle Artistik, die spontan aussieht und doch geplant ist. Während Adorno in diesem Sinne für den Spielcharakter der Kunst votierterte. Nicht umsonst seine Erwähnung des Zirkus in einigen Stellen seiner Aufsätze zur Kunst. Heute aber finden wir bei allem Spiel nur noch das hier: Die Artisten unter der Zirkuskuppel: ratlos. So sehen wir auf der Galerie und betrachten die Virtuosen.

    Adorno beobachtet nicht in dritter oder höherer oder anderer Ordnung, weil seine Theorie auf keiner iterativen der schlechten Unendlichkeit beruht, sondern weil sie dialektisch verfaßt ist, und zudem immanent in dem Sinne, wie z.T. die Hermeneutik vorgeht, die nun von Hegel nicht allzuweit entfernt ist: Bei und in der Sache zu sein, Teilnehmer und doch die Prozesse, die sich abspielen, im Blick zu haben. Sozusagen beobachtendes und beobachtetes Bewußtsein zu vermitteln. Man muß sich dabei jedoch keine Zettel zuschieben, sondern es reicht aus, es einfach schreibend und formulierend zu machen: Marx mit Kant gegenzulesen. Adornos „Negative Dialektik“ zeigt, wie das funktioniert und wie man zudem einen Text auch noch ästhetisch und als Kunst komponiert. (Eine Sache, die Heidegger nie gut verstanden hat.)

    Was diesen eigentümlich-simplen Schröder betrifft – der Herrgott mag wissen, weshalb man gerade ihn für die DA kürte: Adorno lieferte in der DA keine dezidierte Kant-Kritik und das, was er bzw. Horkheimer im de Sade-Kapitel brachten, ging auf die dunkle und regressive Seite von Aufklärung, die sich eben nicht leugnen läßt, wenn wir die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts in den Blick nehmen. Denn keineswegs erstrahlte die Welt dieser Zeit im technischen Triumph und das Kantische Diktum verkehrte sich in sein Gegenteil, und zwar aus Gründen, die dieser Gesellschaft immanent und nicht bloß äußerlich und damit zufällig sind.

    Schröder würde ich von seiner akademischen Provenienz her raten, beim Schauen auf die Finger den Ball hübsch flach zu halten.

    „Die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrieen zu haben, hat den Haß entzündet, mit dem gerade die Progressiven Sade und Nietzsche heute noch verfolgen. Anders als der logische Positivismus nahmen beide die Wissenschaft beim Wort. Daß sie entschiedener noch als jener auf der Ratio beharren, hat den geheimen Sinn, die Utopie aus ihrer Hülle zu befreien, die wie im kantischen Vernunftbegriff in jeder großen Philosophie enthalten ist: die einer Menschheit, die, selbst nicht mehr entstellt, der Entstellung nicht länger bedarf.“(Juliette oder Aufklärung und Moral.)

    Ich war übrigens in dem Seel- Seminar ebenfalls anwesend. Ich hielt damals ein Referat über Paul Austers „Die Musik des Zufalls“. Nein, intensiv im Sinne des Versenken ins Detail war das Seminar nicht, aber es lieferte einen Überblick und Debatten, im Grunde wie in einem Blog und das war dann doch wieder anregend.

  12. hmm-nja. Da ist bestimmt etwas Wahres dran, dass Versenkungstechniken (qua Iteration) zu einer „schlechten Unendlichkeit“ führen. Es ist ein Aussteigerprojekt. Das Beobachtete löst sich von den Rändern des sich iterierenden „blinden Flecks“ des Beobachters zunehmend auf; damit verschwindet aber auch das Bewusstsein für die Unmöglichkeit einer strikten Trennung von Beobachter und Beobachteten, das sich der Tatsache des geschichtlichen Gewordenseins beider verdankt. Jedenfalls rein positivistisch können wir nun kaum mehr sagen, was dann noch übrigbliebe – falls dann noch „etwas“ bleibt. Sicherlich weniger ein historisch gewordenes Selbst, auf dessen schutzloses Residuum nun die Phänomene (als ungeordnete „Natur“) einprasseln. Was sich auf mittlere Sicht ergibt, ist kein Bewusstsein, etwas an den Zuständen verändern zu können, sondern vielmehr eine gewisse Melancholie, die all jenen von der Geschichte vergessenen gilt. (Oder sogar, eine Schutzsphäre vorausgesetzt, eine graduelle Gesundung auf Seiten des sich der Kontemplation verschrieben habenden.)

    An Adorno schätze ich ja seine (erneute) Aufmerksamkeit, die er z.B. dem Organischen – das freilich immer verstümmelt, als bloße „Stümpfe“ eines (ehem.) Lebendigen auftaucht – widmet, ohne dabei in in eine „vorwissenschaftliche“ Philosophie desselben zurückzufallen. – Etwas, das wir vielleicht bei Wittgenstein beobachten können, der, so der Vorwurf von „positivistischer“ Seite, schließlich einem gewissen Mystizismus anheimfiel, was sich in seinen Ausführungen zur Ästhetik und Ethik spiegele. Und so kann ich auch nicht ohne eine gewisse Sympathie wie für alles im Verschwinden begriffene auf jene weniger rückwärtsgerichteten Positivisten des Wiener Kreises blicken, deren Objekte, die sie sich offenbar bar jeder Beobachterperspektive dachten, etwas Melacholisches anhaftet, als antizipierten diese Gegenstände bereits ihr Vergessenwordensein, ähnlich dem einer am Wegesrand liegenden zerknüllten Zigarettenschachtel oder traurigen Bauhaushervorbringungen. (Diese Melancholie nun allerdings auf deubelkommraus konservieren zu wollen wie im Retro-Chic, hat sich allerdings in meinen Augen erst recht totgelaufen.)

    Andererseits sehe ich es an legitim an, die Dialektik der Aufklärung mit einem gewissen zeitlichen Abstand, in welcher Zwischenzeit deren (kritische) Rezeption, wie mir scheint, zwar nicht immer uninteressant, eher immanent oder hermeneutisch (oftmals jedoch lediglich nach Affirmation suchend) vonstattenging, also die Kritik der Aufklärung mit den Aufklärern derselben Epoche nicht gerade „gegenzulesen“, aber gewissermaßen einem Gegentest zu unterziehen.

    Warum nicht einmal so ein „old-school“-Projekt durchführen? Wohlverstanden wird ja wohl kaum das Ergebnis lediglich ein „Ha ! Bacon/Kant in mindestens einem Punkt falsch gelesen ! Falsifiziert, falsifiziert! Mit Gewichten an den Füßen in den See, mit Gewichten an den Füßen in den See!“ sein können.

    Wie oft habe ich (eher unberufene) Versuche erlebt, offenbar im Glauben, irgendeine Pflichtschuldigkeit ableisten zu müssen, die Dialektik der Aufklärung, oder was man dafür hielt, heranzuziehen, sobald auch nur Namen wie Aristoteles fielen, wobei dann jedoch nicht selten bloß irgendetwas Formelhaftes hervorgestammelt wurde. Diese verunglückenden Versuche, etwas aus einer „immanenten“ Lektüre zu ziehen, die nur das Ergebnis unbeholfener Aneignung einer hermeneutischen oder dialektischen Herangehensweise sein konnten, sind für mich einfach zu abschreckend gewesen. Nicht Dein Versäumnis, nicht das Horkheimer/Adornos, gewiss. Aber ich schrecke automatisch zurück, sobald das bewusste Feld betreffend etwas auch nur den äußeren Anschien eines Formelhaften hat.

    Warum also nicht nach 70 Jahren einmal fremdgehen, während doch die Geliebte geduldig wartet, zu der zurückzukehren dadurch ja niemandem benommen bleiben muss?

  13. Ich werde Dir morgen auf Deinen ausführlichen Kommentar antworten, ziggev. Heute ist die Zeit ein wenig knapp und es gesellte sich dies und auch das dazwischen, und so vergeht ein Tag schneller als einem lieb ist.

  14. nur ganz kurz zur Kontemplation (denn ich verlang(t)e ja nicht, dass Du hierauf eingingest): mir schien es – zugegeben – etwas rätselhaft, dass Horkdorno „unidirektional“ die „Erkenntnisform aus der Warenform“ ableiteten. Daher Thyens (u. Schnädelbachs) Kritik nur allzu naheliegend. Wäre es nicht naheliegend, dass zur Hervorbringung von Waren jeglicher Art irgendeine (geformte) Erkenntnis (hinreichende) Bedingung sei? Wie hätte das übersehen werden können – was allem, was ich bisher – zwar noch recht vage – unter „Dialektik“, wie von Dir charakterisiert, langsam lerne: „Bei und in der Sache zu sein, Teilnehmer und doch die Prozesse, die sich abspielen, im Blick zu haben“ zuwiderliefe? – Gerade weil den Waren etwas zeitlos-ewig Falsches anhaftet, sollte es doch einem jeden einmal – und sei es in Momenten „profaner Erleuchtung“ – aufgeleuchtet haben, wie verarmt doch die Erkenntnismöglichkeiten geworden seien, vielleicht nicht ein „falsches“, sicherlich jedoch ein verarmtes Bewusstsein. – Was mich betrifft, handelt es sich um reine Intuition, nach dem Motto: „das sieht man doch!“ Aus der bloßen Kontemplation lässt sich, das ergibt sich für mich aus der obigen kurzen Diskussion, sicherlich keine Erkenntnisform (der Ware) ableiten; auf seiten des Bewusstseins oder des Beobachters ergäbe sich etwas wie ein „unglückliches“ Bewusstsein der Melancholie, eine gewisse Trauer um den Verlust von Erkenntnismöglichkeiten. Die Katastrophe ist ja, dass dieses Bewusstsein nur diese – ihm seine Beschränktheit vorhaltenden – Gegenstände hervorzubringen in der Lage ist ! Also „unidirektional“ ? – Unplausibel, selbst wenn ich mit dem beschränkten Rüstzeug der Kontemplation anfange. (oder läuft Thyens Kritik andersherum und ich habe „unidirektional“ falsch verstanden, als ich als Anthonym „bidirektional“ annahm?)

    Ich will aber (zunächst) beim ganz Profanen bleiben! Es ergab sich über die Tage, dass ich bei meiner Klolektüre auf diesen Satz „Die Erzeugung ist Erzeugung der Einheit, und die Erzeugung selbst ist Erzeugnis“ stieß. „Seltsame Schleifen“, Zirkularität und sofort jegliche Denkversuche umgehend einstellen (Vermeidung von Hegel-Nausea)! Nun, ich recherchierte … Dann aber Ende des Absatzes: „Die Selbsterkenntnis des Menschen in der Gegenwart ist jedoch nicht die mathematische Naturwissenschaft, die als ewiger Logos erscheint, sondern die vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrschte kritische Theorie der bestehenden Gesellschaft.“ So Max Horkheimer, Kritische Theorie Bd. II, „Traditionelle und kritische Theorie“, bei mir S. 147 (dort, Anm. 19 zum ersten Satz).

    Diese horkheimische Kritik lässt sich nun jedoch, wie es scheinen muss, (fast) immer formulieren. Heute würden wir möglw. meinen, er richte sich gegen „die“ Analytische Philosophie. Zunächst egal. Auch Ohne Hegel, Marx – zu Kant später mehr – ist das, was Horkheimer am Ende dieses Absatzes schreibt, wirklich sehr plausibel. Jau! Vielleicht doch erst einmal Horkheimer lesen, bevor Adorno zu seinen verdienten Ehren Kommt.

    Ich versuche, es kurz zu machen: In dem betreffenden Absatz wendet sich Horkheimer explizit gegen den Neukantianismus und die Anmerkung verrät seine Quelle, den marbacher Neukantianer Herrmann Cohen ! Das ist nun aber sehr interessant, wie mir scheint. So ungern ich es schreibe, aber gerade weil Horkheimer hier so allgemein, sich lediglich auf einige Aspekte des Neukantianismus konzentrierend, diesen verwirft (sodass wir diesen Satz wie einen Allgemeinplatz versus Analytische Philosophie lesen können oder müssen), wäre es Schröders aus Marburg Job gewesen, diesen zunächst, sofern er Horkdorno kritisieren will, in sein ursprüngliches Recht (wieder)einzusetzen!

    Denn wir finden nun ausgerechnet in der Kritischen Theorie ein letztes Echo (nicht das einzige) auf den Neukantiansismus, wie meine “ quick n dirty“-Recherche ergab! Tatsächlich, der Neukantianismus, wie ich die Tage herausfand, ist etwas wie ein „blinder Fleck“ in der Geschichte der deutschen Philosophiegeschichte. Hat, wen wundert´s, mit WW II zu tun.

    Es handelt sich, so mein starker Eindruck, um eine durchaus nichttriviale Auseinandersetzung mit Kant. (Man kann mit oder gegen Kant denken, aber nicht ohne Kant.) Wenn ich lese: „Kant gegen Marx“ /Hegel oder dergl. lesen, oder vice versa, wo bleibt dann die explizite Kant-Kritik? Kant muss man „können“, denn schließlich wollen wir uns um Adorno, mindestens aber um Marx, der, ohne Zweifel, unerlässlich im horkheimischen Sinne (wie oben) ist, kümmern. Hier bleibt ohne Zweifel eine immanente Kant-Kritik arbeitslos. Und so wurde Kant gelernt – aber eben nur, um Kant anführen zu können, um adornitisch-hegelianisch-marxistische Argumente illustrieren zu können.

    Es gibt aber bei Kant viele Fragen, wenn nicht Unplausibilitäten. Fragen, die eben genau von den Neukantianern gestellt wurden – die mir jedoch nie, niemals auch nur einmal von jenen eilfertigen Kantnichtexegeten untergekommens sind. Die Antworten der (einiger) Neukantianer müssen nun allerdings in der Tat als solche auf Kant gelesen werden. Wir haben Einflüsse auf den Anti-Psychologismus, siehe Husserls, Gottlob Freges (worauf Sheldon Cooper in The Big Bang Theory aufmerksam machte), überhaupt auf die Phänomenologie, u. Frege, ja, und selbst Carnap – Helmholtz und Leute wie Reichenbach mal außen vor – „Urempriristen“ wie Mach ! Aber eben auch auf Heidegger. Letzteren also immer nur aus Nach-Adorno-Perspektive zu betrachten (von Postmoderne nicht zu reden), oder in einem Atemzug mit gewissen Existenzialisten, lässt die wahre Geschichte der Philosophie etwas außer Acht.

    Im Ergebnis traue ich ebenfalls Schröders Kritik wenig. Er müsste selber eine Alternative zur Aufklärungskritik anbieten. Horkheimer scheint den Neukantianismus zu simplifizieren. Dies müsste eher Aufruf sein, sich diesen „blinden Fleck“ der deutschen Philosophiegeschichte etwas genauer anzuschauen. Denken wir etwa auch an Heidegger.

  15. Deine Einsicht, daß Adorno dem Organischen seine Aufmerksamkeit schenkt, teile ich – insbesondere vom leiblichen Moment in der Philosophie handelt ja Adornos „Negative Dialektik“. Und er hegt sicherlich eine Sympathie für die verschwindenden Dinge, fürs Abgelebte. Insofern mag unter diesem Aspekt auch der Satz von der Solidarität mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes motiviert gewesen sein – jener Gedanke, mit dem die „Negative Dialektik“ endet. Ob unters Verschwinden bestimmter Formen und Ausdrücke des Denkens allerdings bestimmte Positionen des logischen Positivismus fallen bezweifle ich. Zu sagen „Comment cʼest“, wie ein Prosastück Becketts heißt: dem widerspräche Adorno sicherlich nicht. Aber das, was ist, ist immer vermittelt. Freilich kann manchmal in der Drastik des einfachen Details so etwas wie Wahrheit und antizipierte Vermittlung aufblitzen. In der Kunst hielt sich Adorno zufolge ein gewisses Reservoir des Drastischen und entfaltete sich insbesondere in den gelungenen Werken. Man denke nur an sein Plädoyer fürs „Endspiel“, wenn da Nell und Nag in den Mülltonen hausen.

    Zur Dialektik von Waren- und Erkenntnisform: Ich teile diese Kritik von Thyen und Schnädelbach nicht. Zumal es bei Adorno nichts Unidirektionales gibt – freilich sollte man diese Dinge am Text selbst festmachen und für eine Analyse ins Detail gehen. In diesem Falle hinein in die „Negative Dialektik“. Es ist sicherlich die Warenform ein Aspekt, der in Anschlag zu bringen ist. Nur daß Adorno diese Bezüge nie systematisch entfaltet, sondern sie spielen in einem Geflecht an Bezüge bei. Marx‘ „Kapital“ bildet eine Säule Adornoscher Theorie.

    Unbenommen spielt der Neukantianismus eine Rolle für die Kritische Theorie. (Man müßte hier zudem die Bezüge von Hermann Cohen zu Walter Benjamin genauer verfolgen. Sicherlich existieren Inspirationen.) Allerdings als Absetzbewegung. Mit dem Begriff über den Begriff hinauszugelangen und sowohl dem Subjekt wie dem Objekt ihr Recht zu gewähren, bleibt das „Programm“ Adornos. Und das schließt ein ästhetisches Verfahren ein, um diese Aufgabe zu leisten. (Wobei dieser Ausdruck des Gewährens und Leistens schon wieder schief hängt, weil dieses Geschehen nichts ist, daß in konzilianten Akten irgendwie großzügig und mit Herablassung in Herrschergeste gewährt würde, sondern in dieser Sache hängt eigentlich alles am Begriff der Freiheit.)

    „Gerade weil den Waren etwas zeitlos-ewig Falsches anhaftet, …“ Absolut richtig. Und genau diesen Mystizismus müssen wir in den Blick bekommen, um der Erkenntnis willen und um diese Verarmung aufzubrechen, die sich ebenso auf die Möglichkeiten der Erfahrung legt. Zumindest sollten wir Modalitäten finden, diese Regression in Momenten auszusetzen. Und mit diesem Satz, ziggev, nennst Du ein zentrales Motiv der Kritischen Theorie. Gegen diese Armut anzuschreiben und gegenanzudenken. Ohne dabei jedoch ins Mythische zu driften oder vorrationale Zustände herbeizupredigen und plötzlich dem Schamanen zu lauschen und zu denken, das wäre ein Ausdruck der Befreiung. Wenn vermeintliche Unmittelbarkeit sich als Korrektiv zu installieren trachtet, wird der Betrug nicht weniger, sondern es perpetuiert sich der Schein als Pseudos und Nebelbild. Dialektik schlägt sich nicht auf eine Seite. Sie vernachlässigt nicht das Moment des Ausdrucks, aber ebensowenig hypostasiert sie es als Katechon und Rettung aus der Misere. Wieweit solcher Ausdruck fehlschlägt, wenn man ihn verabsolutiert, zeigte die Kunst des Expressionismus, die sich auf den Schrei und das Oh zusammenzog. (Wobei ich nichts gegen das Bennsche Oh Nacht, gesagt haben will, das diese Mechanismen herrlich persifliert und im melancholischen Ton vorführt.)

  16. Als Walter-Benjamin- … (seit meinem England-Aufenthalt i.d. 90ern, wo ich verwundert davon berichtete, dass [M. Seel] für ein Seminar ausgerechnet Nietzsche zusammen mit Benjamin zu lesen vorgeschlagen hatte – ich war gefragt worden, was ich (philosophisch) so trieb -, und mir ein „Ualter Bendschamin!“ entgegenschallte mit unüberhörbaren Ausrufezeichen, – seitdem bei mir der Name W.B.´s bitte immer englisch auszusprechen (übrigens, die Oxford-Leute, die wir als kleiner Theater-Trupp – ich als „Musiker“ unterwegs – irgendwo auf den nächsten Zug wartend getroffen hatten, hatten lauter Kafka-Ausgaben auf dem Pub-Tisch vor sich aufgestapelt und waren sehr aufgeschlossen für das kleine Theater-Projekt dieser „Krauts“ …)), … also, als Walter-Benjamin-Nichtexperte (my striking „Unwissenheit“) vermute ich immer, dass meine Intuitionen vielleicht doch mit denen … jetzt bitte englisch aussprechen … zusammengingen, und zwar dort, wo Du schreibst:

    „Freilich kann manchmal in der Drastik des einfachen Details so etwas wie Wahrheit und antizipierte Vermittlung aufblitzen.“ –

    Aber dies nur nebenbei … Diese „Intuitionen“ sind für mich viel grundlegender (jedenfalls biographisch) als meine vorsichtigen „Schlussfolgerungen“ in Sachen Kontemplation. (Hier sind as a matter of fact einige Übungen sowie, ohne dümmlich provozieren zu wollen, die Einlassungen Bhagwan/Oshos zu einigen Techniken ausschlaggebend, die er – noch der „junge“, Nichtdrogenabhängige – i.d. 70gern, anlässlich eines Kommentars zu einem klassischen Text des Kaschmirischen Shivaismus gab, sich auf keinen geringeren als Buddha beziehend (wobei der Kaschmirische Schivaismus bei uns frühestens im frühen Mittelalter zu verorten wäre, so ab 7. Jh. n. Chr.), es handelt sich um mit die konzisesten Ausführungen Bhagwan/Oshos, die ich je gelesen habe. (locker ü. 3000 S.)

    Auch wenn ich glaube, von hier aus gewisse Momente bei Proust aufzuschlüsseln zu vermögen – etwas gewagt, aber ich habe immer noch vor, es zu versuchen – (auf die Schnelle gerad keine Lust, Quelle und Zitate ´rauszusuchen …), so glaube ich dennoch, dass Dein

    „Zumindest sollten wir Modalitäten finden, diese Regression in Momenten auszusetzen“
    nicht ohne Witz ist.

    Bitte mich also nicht missverstehen: Damit, dass ich ebenso Kaschmisisch-Shivaistisch-Buddhistische Versenkungsungstechniken dennoch durchaus als geeignete Methoden betrachte, für sich jenen „benjaminischen Moment“ offenzuhalten, als Möglichkeit, so ist für mich gleichwohl umso klarer, dass hierdurch jeder Schein von „Versöhnung“ desto unmöglicher wird. Weil es sich um eine „ahistorische“, wenn Du so willst, „regressive“ Methode handelt.

    Ich weiß nicht, aber vielleicht ist ja gerade diese „Trauer“ ein Moment der Regression – ein Zeichen einer übriggebliebenen Anhänglichkeit.

    Auf der anderen Seite mag ich besonders diese „Mythen des Alltags“ (während Osho – unter Verweis auf Buddha via Kaschmirischer Shivaismus – vorschlägt, genau die Mitte zw. Wahrnehmung der Rose, also zw. der „Rose“ – und Wahrnehmung der Beobachtung der „Rose“, die genaue Mitte zw. Wahrnehmung und Beobachtung des Wahrnehmenden, einzunehmen). Eine gewisse „Anhänglichkeit“. Wozu bei mir auch die zu dem bauhausähnlichen Baukastensystem, ich glaube, man kann es auch in gewissen architektonischen Hervorbringungen beobachten, die Wittgenstein offenbar in seinem Tractatus vorgeschwebt hatte, gehört.

    Ich habe aber entdeckt, die Negative Dialektik befindet sich in meinem Bestand! – Ich hab einfach alle möglichen Erbschaften, die über Arno Schmidt hinausgingen, einfach angenommen!. – Und jetzt einsortiert.

    Und mir bei IKEA ein adorno-regal angeschafft.

    Etwas dünner als die Ästhetische Theorie. Werde ich wohl lesen müssen – rückwärts.

  17. Was Proust und die Intuitionen oder die Methoden der Meditation betrifft, so mag es sicherlich Berührungen in den Techniken geben. Wie und woher ein Künstler seine Inspirationen und Ideen bezieht – und diese Kreativprozesse gelten mutatis mutandis auch für die Philosophen – bleibt ein interessantes Feld. Zumal ja viele dieser Einsichten oder der Veranstaltung der Memoire Involontaire sich nicht mit Argumenten oder mit irgendwie rationalen Methoden evozieren lassen.

    Was nun Versenkung, Melancholie und Trauer usw. betrifft, so ist im Abstand der Reflexion – und um genau dieses Changieren oder Switchen zwischen Nähe und Ferne geht es dabei ja – das Moment der Geschichte mitzudenken. Zu welcher Zeit, an welchem Ort, an welcher Stelle? Die Rede von anthropologischen Kostanten scheint mir wenig zielführend, weil das, was auf den ersten Blick gleich ausschauen mag, am Ende und bei genauer Betrachtung in den konkreten Verfahrensweisen und in den gesellschaftlichen Verkettungen doch sehr unterschiedlich sich ausnimmt. Und genau da liegt ja der Fehler des Strukturalismus: Die Geschichte nie mitgedacht zu haben. Nichts hängt im luftleeren Raum und Kultur ist kein Bausatz aus einem Periodensystem, denn ein Element greift in den kulturellen Ausprägungen so ins andere, daß wir bei erfolgreicher Koppelung eine völlig neue Entwicklung ausmachen können: einen qualitativen Sprung, den er eine tut und der andere eben nicht oder er nimmt eine andere Biegung. Die Anwendung und der Begriff der Technik zeigen es. Die Chinesen mit dem Kompaß und die Europäer und der Kompaß.

    In Adornos ästhetische Theorie hinein führt kein Weg vorbei, wenn man sich ernsthaft mit Kunst und Kunsttheorie beschäftigt. Zumal viele der gegenwärtigen Debatten immer noch an zentralen Motiven seiner Ästhetik hängen. Insbesondere in ihrem Aufbau und ihren Verschlingungen. Daß sie Fragment blieb ist eine weitere Sache, die womöglich – bei allem traurigem Beigeschmack, die dieses Werk umrankt: bis hin zum gescheiterten Selbsttötungsversuch Gretel Adornos – zu diesem bis heute bedeutenden Werk paßt. Ich denke, daß die Ästhetische Theorie Dir gefallen wird und Du wirst irgendwann sagen: „Warum habe ich nicht bloß früher? Weshalb hörte ich so spät auf Bersarin?“

  18. , nur kurz: … , ich bleibe aber Anarchist, ob ich einem Brasilianer die Harmonien von Caetono Veloso erkläre oder einem Syrier die Flektion im Deutschen — oder einem Punker die Texte von Marianne Rosenberg – ich werde immer für die Außenseiter eintreten!

  19. Das ist sicherlich eine feine Haltung. Über die sich ja auch schwierig debattieren läßt – und wozu auch, wenn ein gutes Ethos dahintersteckt?

    Mir wichtig zumindest ist die kritische Reflexion. Sie nimmt nicht Partei, sondern versucht, die Aspekte zu sichten, sie denkt perspektivisch, jedoch nicht relativistisch.

  20. aber auch zur Ästhetischen Theorie Adornos. Leider muss ich zugeben, dass ich insbesondere den Apparat, den der Suhrkamp-Verlag dem Werke anzufügen sich befleißigte, zuallerförderst schätzen gelernt habe. Wo Freunde aus dem graphisch-künstlerischen Bereich mir (implizit) eine Definition von „Duktus“, z.B. Schriftduktus, geliefert hatten,- nur ein Beispiel, noch nicht in der ÄT nachgecheckt, dort kann man im Suhrkamp (nur Suhrkamp?) -Apparat in der ÄT wunderbar nachschlagen – , an dieser Stelle habe ich schon mehr als einmal einen Begriff, wie er wohl für eine ästhetische Theorie unerlässlich ist, nachgeschlagen. Adornos Ausführungen = immer für einen solchen definitorischen Vorgang mehr als hilfreich. In Sachen Musik habe ich mir ja einen recht gut abgesicherten Grundwortschatz, auf den ich zurückgreifen kann, angeeignet (auch wenn ich hin und wieder etwas nachpauken muss).

    Aber was die anderen Künste anbetrifft, sehe ich immer noch Adorno als mit die vornehmste Quelle an, um einigermaßen verständig sich überhaupt zu äußern. Bitte nicht vergessen: zur Sache!

    Bei dem, was mir sonst in Sachen zeitgenössischer Ästhetik vermittelt über Seel – Danto, Theunissen z.B. – so untergekommen ist, schien mir immer eher eine eher äußerliche Inanspruchnahme der ästhetischen Kategorie (hier sind allerdings die methodologischen Ansätze, siehe auch N. Goodman, als solche interessant). Mir schwebt im Übrigen immer noch eine gewisse humanistische Idee vor, was die Beschäftigung mit Kunstwerken betrifft. Einerseits tendiere ich hier in der Tat zu einer Art vagem Platonismus (Ortega) und ist für mich der pädagogische Aspekt antiker Provenienz (auch Mann, der Tod in Venedig) auch sogar biographisch nicht ganz ohne Belang, hier also eine Pragmatik, die ich in Anschlag zu bringen nicht abgeneigt bin. Ontologisch-kategoriale Fragen lasse ich da schon einmal gerne nicht weiterverfolgt liegen (übrigens der einzige interessante Aspekt in Heideggers Kunstwerkaufsatz); vermutlich ließe sich hier, wenn es denn einem darum gelegen sein sollte, sich hier mit Kant zu beschäftigen, Adorno exploitieren. Durch diesen „Humanismus“ gelingt es mir jedoch – einigermaßen unbekümmert – vom antiken Ideal direkt zu Hölderlin zu springen, daher Kants „Ehabenes“ ziemlich ohne Relevanz – ohnehin, denken wir nur an unterschiedliche „künstliche Paradiese“, eine recht blass-naturalistische Intuition. Andererseits koinzidiert mit der Beschäftigung mit Kunst ein Ethos, also eine Art Höflichkeit, wie ihn zuletzt nicht ohne Zufall Stagneth für das Sprechen über das Böse auf die Agenda brachte.

    Vor diesem Hintergrund bleibt dann bloß noch Adorno, wenn wir glauben wollen, das die Ästhetik auch für uns irgend gesellschaftlich relevant sei, und wie sollte sie es nicht sein? Meine obigen Bemerkungen waren also als Hinweis auf einerseits „aufklärerische“ Impulse (Brasilianer – mit ihrer „überkomlexen“ Harmonik – in Harmonielehre zu unterrichten), andererseits auf „humanistische“ (Syriern Deutsch beizubringen – aus Liebe zur Sprache) oder auf Praxis in (ironischer) Widerständigkeit (M. Rosenberg – Punk) zu verstehen gewesen.

    Aber, wenn wir ins Einzelne zu gehen uns anschicken, ist der Atelier-Besuch ebenso essentiell. Die quasi-wittgensteinischen „Definitionen“ aus dem Munde des nun gerade Schaffenden. Die Atelier-Situation ist für mich schon immer, im Bemühen, jedes Sprechen über Kunst möglichst „´runterzukochen“, für mich die zentrale Situation gewesen. Wittgenstein war schon immer ein Künstler, und hat immer schon – allerdings ohne Werke – lediglich einen Atelier-Bericht abliefern wollen. – Begebe Dich ins Atelier, und befrage den Künstler darüber, was (die Hervorhebung vielleicht etwas voreilig) er macht – Du wirst wittgensteinische Definitionen zu hören bekommen (ok., muss noch gegengecheckt werden, das ist aber meine These als jemand, der seit seinen früheren künstlerischen Versuchen zu diesem Ergebnis gekommen ist).

    Es mag ja eine Frage des Temperaments sein, aber ich habe es nie als einen besonderen Aufreger angesehen, wenn ein Künstler in seinem Werk mehr oder weniger explizit über den Entstehungsprozess desselben Zeugnis abliefert. Diese Selbstreflexivität mag ja ein Signum der Moderne sein, was mich betrifft, habe ich mich aber nie für etwas anderes interessiert. Das ergibt sich ganz natürlich aus einem praktischen Ansatz. Wittgensteins Atelier-Bericht lese ich als den eines Künstlers, Prousts Atelier-Bericht als dessen Werk eines Philosophen.

    Genau betrachtet kann man Prousts Recherche als einen einzigen Atelier-Bericht auffassen. Hier sind fast willkürlich irgendwelche Stellen anzuführen. Wir hätten ein selbstreflexives Moment, welches Heideggers Phänomenologie – abgesehen von seinen Reflexionen zum Gegestandsbegriff – als eine hoffnungslos zirkuläre Veranstaltung erscheinen lassen muss.

    Denn bei dem Atelier, dessen Türen Proust für uns öffnet, handelt es sich um einen Raum eines „geistigen“ wo er über den „Entstehungsprozess“ kontemplativer Vorkommnisse Rechenschaft abliefert. Die Memoire Involontaire, deren Schilderungen sich über das ganze Werk der Recherche verteilen – ein Irrtum, dass es dieses eine Ereignis gegeben habe, das Schlüsselerlebnis, welches die Abfassung des Werkes motivierte – und sogar recht früh sich finden, sind eher „Radikale“, die sich wie Kirchtürme in einer durchfahrenen Landschaft in die Höhe strecken, denn hier handelt es sich um Widerfahrnisse – nicht um Ergebnisse im Geiste des in Kontemplation begriffenen. Interessanterweise gibt hier Proust die rein phänomenologische Schilderung seiner Bewusstseisnvorkommnsisse auf, bei welchen er es besonders auf die richtige Wiedergabe des Nacheinander mit besonderem Augenmerk auf grammatikalische Akkuratesse angelegt hat. – Als Hinweis auf „meditative Zustände“ dürfen wir m.E. zwei Momente auffassen. Erstens, eben dass es sich um Widerfahrnisse handelt, d.h. um die Abwesenheit von Absichtlichkeit. Zweitens, dass Proust von einem unbekannten Glück spricht, das ihn überwältigte. Während er sonst mikroskopisch genau die Abfolge seiner Affekte und Reflexionen schildert, die einander teilw. bedingen, so bleibt hier die Quelle unbekannt. Typisch für Meditation: Paradoxerweise führt das Erlöschen jeder Emotion, ja geradezu jene „Gefühlskälte“, zu einer eigentümlichen Ekstase …

    In dem sehr zu empfehlenden Essay „Marcel Proust“ von Erst Robert Curtius, zuerst erschienen 1925(!), führt Curtius aus, dass Proust tatsächlich sich gewisser kontemplativer „Techniken“ bediente. So berichtet Reynaldo Hahn, Proust sei bei einem Spaziergang stehengeblieben und habe ihn gefragt: : «Würden Sie es übelnehmen, wenn ich etwas zurückbliebe? Ich möchte die Rosensträucher noch einmal ansehen.» Reynaldo umwanderte also das Schloss – Proust immer noch an derselben Stelle … Das habe sich oft ereignet, „wo er mit der Natur, mit der Kunst, mit dem Leben ganz kommunizierte, in jenen „tiefen Augenblicken“, wo sein ganzes Wesen sich sammelte in der Anstrengung des Eindringens und, damit wechselnd, des Aufnehmens, wo er sozusagen in einen Trance-Zustand geriet …“

    Ein weiterer Bericht „der treuen Céleste“, den Stephen Hudson mitteilt:

    «Er nahm Gegenstände niemals wahr, außer wenn er ein bestimmtes Interesse oder eine bestimmte Schönheit an ihnen fand. Wenn zum Beispiel die Sonne ihre Strahlen in die Zimmerecke fallen ließ und sie in einer Weise beleuchtete, die ihm gefiel, oder wenn sie eine phantastische Farbe über einen Gegenstand breitete — einen Krug, oder eine Kaffeetasse, oder ein halb geleertes Glas Bier, dann konnten seine Blicke auf irgendeinen solchen Gegenstand fallen und sich darauf heften, manchmal für eine Stunde oder länger, und, ob es Tag oder Nacht war, er erlaubte dann nicht, daß der Gegenstand weggenommen wurde. Manchmal bestand er darauf, daß er unbestimmte Zeit an jener Stelle verblieb, weil er die Empfindung zu erneuern wünschte, die der Gegenstand ihm gegeben hatte. So geschah es oft, daß in verschiedenen Teilen des Zimmers allerhand Gebrauchsgegenstände tagelang an ganz unpassenden Stellen liegen blieben, für den Fall, daß das Licht oder die Atmosphäre sich wieder geneigt zeigen sollte, sie in etwas anderes zu verwandeln.» – Wir denken natürlich an die treffliche Françoise, die möglicherweise wenig Verständnis dafür hatte.

    Das sind natürlich nur Schlaglichter. Ich halte mich an Curtius, der von Prousts „Perspektivismus“ spricht. Der sich in dessen „neuer“ Sichtweise – und Sprachbehandlung – spiegelt. Der Hinweis auf die Malerei erübrigt sich für Proust-Leser. Curtius´ Reflexionen von 1925 sind m.E. interessant genug, um sie einer kritischen Inaugenscheinnahme zu unterziehen, beispielsweise spricht er im Gegensatz zu Prousts „Perspektivismus“ vom „skeptischen Relativismus“. Nur damit klar ist, dass es sich bei Proust mitnichten lediglich um eine Aneinanderreihung solcher „Schlaglichter“ handelt. Vielleicht genügt es, darauf hinzuweisen, dass zu der proustschen Kontemplation, die nicht mit einem (proustschen) Sehen ineinszusetzen ist, betrachten wir das Werk als ganzes, immer auch die Dimension der Zeit – als Wiedervergegenwärtigung, Melancholie des Vergangenen – hinzutritt. Die Dinge sind natürlich nicht bloß die Dinge – deren wir, so „wie sie sind“, unmittelbar habhaft werden können.

  21. Ich würde, was den Apparat der „Ästhetischen Theorie“ betrifft, sanft widersprechen: Da Adornos Denken sich in den sogenannten Konstellationen und in Modellen vollzieht und er Begriffe richtigerweise nicht definiert – was in der Kunsttheorie zu Unsinnigem und zu erschlichener Logik führt und damit die Sache verfehlt: so nach dem Motto: Ausdruck ist beim Kunstwerk, wenn xy und zy der Fall sind – insofern kann es eben passieren, daß ein Aspekt wie der Ausdruck nicht komplett vom Register erfaßt wird. (Es gab sogar einen Kritiker, der das Register der ÄT als das große Ärgernis dieses Buches bezeichnete, eben weil es ungenau sei.) Aber dennoch: im Text die einzelnen Abschnitte zu den Begriff zu lesen, die im Register aufgeführt sind, kann trotzdem erhellend sein. Und ansonsten gibt es ja auch noch das Inhaltsverzeichnis.

    Tja, die Ästhetik (oder gerne auch die Philosophie der Kunst genannt) – ein komplexes Feld. Natürlich kann man Goodman nehmen und Danto, was dann wieder die Lektüre von Hegel voraussetzt, denn ansonsten ist seine These vom Ende der Kunst nicht angemessen zu verstehen. Sowieso, die Tradition: Sie ist maßgeblich, sie strukturiert bis heute das Feld, denn im Grunde bewegen sich die Ästhetikdebatten immer noch zwischen Aristoteles und Kant einerseits, und zwar hier wesentlich im Hinblick auf die Wirkung eines Werkes, was man heute mit dem Begriff der ästhetischen Erfahrung gut übersetzen kann, und andererseits Hegel, dem es um den immanenten Gehalt des Werkes ankommt und das, was sich darin gesellschaftlich und eine Gemeinschaft stiftend vollzieht: Also jener Aspekt, den wir heute mit dem Begriff der Wahrheitsästhetik bezeichnen. Und an dieser Stelle der Wahrheit des Kunstwerkes treffen sich, bei aller Differenz ansonsten, Heidegger und Adorno. Wobei letzterer eben konkret die gesellschaftliche Situation sieht, in der ein Werk sich siedelt. Freilich treffen sich in der Ästhetik die Gegensätze, ohne sich sogleich vermitteln zu müssen. Wesentlich für die Theorie bleibt freilich die Zeit zwischen Kant und Hegel. Denn da liegen so unterschiedliche Ansätze wie Goethe, Schiller, Novalis, Tieck, Jean Paul, Hölderlin, Kleist. Um es nur an ein paar Namen aus der Produktion festzumachen. Baumgarts Ästhetik kann man sicherlich als anregenden Auftakt nehmen, der es rund 40 Jahre vor Kants KdU mal wissen wollte, wie es mit dem sinnlichen Erkennen ist, aber ob es vom Inhalt wirklich so vielversprechend ist wie die Texte von Kant, Novalis, Hölderlin, Hegel und Schlegel, bezweifle ich. In der Epoche um 1800 finden wir einen Höhepunkt und es klingt mit Hegel gegen 1831 dann aus – wobei man in der Ästhetik eben nicht bei Hegel stehenbleiben muß. (Aber zugleich auch wissen sollte, daß jene bei Suhrkamp erschienene am Ende nicht die von Hegel selbst ist, sondern ein Hegel-Hotho-Konstrukt.)

    Ich habe gar nicht gegen den Werkstattbesuch, solange man nicht alles für bare Münze nimmt, was ein Künstler über sein Werk sagt. Anregend für die Kunst und auch wichtig ist es allemal, wenn man die Berichte und die Probleme sich anhört: womit ein Künstler sich auseinandersetz, was seine Verfahren sind. Wenn man dann in der Deutung nur im Kopf behält, daß das Werk eben doch schlauer ist als sein Schöpfer. (Was nicht gegen den Schöpfer spricht, sondern vielmehr für ihn.

    Was nun Proust betrifft, so zeigt sich darin aufs schönste das Verhältnis von Philosophie und Kunst, insbesondere, was Du in bezug auf Heidegger schreibt: Mag er phänomenologisch oder fundamentalontologisch noch so viel über das Ding schreiben, über die Dinge, so geht einem bei aller Tiefe und bei allem Grundsätzlichen Heideggers bei Proust sofort etwas aus. Springt an und wir wissen mit einem Male, es zeigt sich, erhellt sich über eine sprachliche Wendung, wie Proust etwas beschreibt, einen Sommer an der See, den Salon der Verdurins. Adorno hat für diese Differenz die Wendung vom Sagen und vom Zeigen. Diskursives und Sinnliches. (Komplexe Sache, ich spare mir hier die Ausführungen, nur soviel als Zitat:
    „Die Werke sprechen wie Feen in Märchen: du willst das Unbedingte, es soll dir werden, doch unkenntlich. Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables.“

    Schöne Episode auch, wie Proust die Rosen anschaut. Genau das ist es, was wir heute nicht mehr oder zu selten noch machen: Sich einer Sache überlassen, ohne Zweck – darin sind wir dann dicht bei Kants „Kritik der Urteilskraft“ und dem dritten Moment des Geschmacksurteils, allerdings in Hinblick eben auch auf die Kontemplation. Insofern auch hier: Subjekt/Objekt-Dialektik, eines nicht ohne das andere. Das Über-lassen zum Ding geht nur vermittels einer aufgeschlossen, gesteigerten Subjektivität, die zugleich von sich abzusehen vermag.

    Danke für den Hinweis auf den Romanisten Curtius, ich wußte vom ihm, habe jedoch sein Buch zu Proust leider nie gelesen. (Erschien das Buch zu Proust tatsächlich schon 1925 oder ist es ein Zahlendreher und Wikipedias Vermerk von 1952 ist korrekt?)

    Prousts Perspektivismus nicht als singulären Relativismus oder als eine Theorie radikaler Vereinzelung des Blickes, der den Strom in Momente spaltet, zu lesen, halte auch ich für ratsam. Der Hinweis auf die Malerei ist hier ebenfalls wichtig, Es geht in diesem Werk aufs Ganze, nicht nur eines Lebens, sondern einer eigenen Welt. Die im letzten Band als fratzenhaft sich erweist. Großartige Szene, wo der Erzähler Marcel den ansonsten erlesenen Baron Charlus plötzlich in einem Etablissement entdeckt, wo er mit schmerzverzehrtem Gesicht und gefesselt an irgendwelchen Gerätschaften hängt – eine Höllenszene fast, so zumindest habe ich sie in Erinnerung. Noch ein Hinweis zu Proust: antiquarisch, z.B. bei Langer-Blomqvist gibt es von Jean-Yves Tadié, „Marcel Proust“, von Suhrkamp, damals als gebundene Ausgabe für 69,00 EUR, nun für 29,90. Kann sein, daß das Buch dann bald auch als Taschenbuch rauskommt. Und natürlich noch zu empfehlen: der Beckett-Text zu Proust und von Brassaï „Proust und die Liebe zur Photographie“. Und vielleicht noch ein ganz besonderes Fundstück: Josepf Czapski „Proust. Vorträge im Lager Grjasowez“, erschienen bei der Friedenauer Presse mit ihren wunderschönen, feinen Büchern.

    Aus diesem Gespräch hier, ziggev, könnte man nun faßt einen kleinen eigenen Blog-Beitrag zur Ästhetik machen. „Entretiens oder aus dem Zwischenrausch des Digitalen“. Vielleicht tue ich es auch, damit diese schönen Gedanken nicht im Nirwana der Kommentare versinken. (Solltest Du also noch etwas umformulieren und abändern wollen, so kannst Du es gerne machen, ziggev. Schick es mir als Mail. Adresse bei hier im Blog unter „Über mich“. Ich würde beides gerne als eigenen Beitrag bringen.)

  22. oh, das freut mich ja, das Du diese Diskussion anregend genug für eigenen Blog-Beitrag findest !

    zunächst als Änderung nur: „Die Dinge sind natürlich nicht bloß die Dinge – derer wir, so „wie sie sind“, unmittelbar habhaft werden können.“ (wg. der Curtius-Veröffentlichung melde ich mich auf jeden Fall noch einmal – bin mir ziemlich sicher, was das Jahr ´25 angeht …)

  23. „Höllenszene fast“ nachgelesen. Empfindungsfrei schildert der Erzähler, was er versteckt beobachtet. Es geschieht auch einfach zuviel, als dass er seinem Choque Ausdruck leihen kann. Seine Überraschung markiert Proust, indem er den Namen bis zum Ende des langen Satzes aufspart, eine Stellung, die Rechel-Mertens beibehielt:

    Alors je m’aperçus qu’il y avait dans cette chambre un œil-de-bœuf latéral dont on avait oublié de tirer le rideau ; cheminant à pas de loup dans l’ombre, je me glissai jusqu’à cet œil-de-bœuf, et là, enchaîné sur un lit comme Prométhée sur son rocher, recevant les coups d’un martinet en effet planté de clous que lui infligeait Maurice, je vis, déjà tout en sang, et couvert d’ecchymoses qui prouvaient que le supplice n’avait pas lieu pour la première fois, je vis devant moi M. de Charlus. (es, Bd. 12, S. 184)

    Die Höllenszene im Empfinden des Lesers sicherlich durch den falschen Vergleich mit Prometheus‘ Leiden hervorgerufen, da Charlus doch Lust durch Schmerz _sucht_. Und am Ende sieht der Erzähler auch ein, dass er gleich ist:

    En somme, son désir d’être enchaîné, d’être frappé, trahissait dans sa laideur un rêve aussi poétique que chez d’autres le désir d’aller à Venise ou d’entretenir des danseuses. – Im Grunde verriet sein Verlangen, gefesselt und geschlagen zu werden, in seiner Häßlichkeit einen ebenso poetischen Traum, wie es bei anderen der Wunsch war, nach Venedig zu reisen oder Tänzerinnen auszuhalten. (S. 220)

    Befremden tut mich beim Wiederlesen das Zimmer 43. Erst wird’s Prousts Erzähler zugewiesen (S. 183), um sich bei einem Glas Johannisbeerlikör ohne weitere Dienstleistung zu regenerieren, und er beobachtet Charlus in einem _anderen_ Zimmer des Etablissements (das Charlus übrigens gehört), dann aber rückt Charlus‘ Perversion dem Erzähler erschreckend nah, denn:

    Et M. de Charlus tenait tellement à ce que ce rêve lui donnât l’illusion de la réalité, que Jupien dut vendre le lit de bois qui était dans la chambre 43 et le remplacer par un lit de fer qui allait mieux avec les chaînes. – Monsieur de Charlus aber verlangte von diesem Traum freilich eine so weitgehende Illusion der Wirklichkeit, daß Jupien das hölzerne Bett, das in Zimmer Dreiundvierzig stand, verkaufen und durch ein eisernes Bett ersetzen mußte, das sich besser mit den Ketten vertrug. (S. 220)

  24. @ bersarin – mir liegt in der Tat die Surkamp-Ausgabe von 1952 vor. Jemand aus der Nachbarschaft arbeitet für eine Haushaltsauflösungsfirma. So komme ich dann zu meinen Küchengeräten – und sonstigen literarischen Liebhabereien (die der Professorensohn zum Glück kennt – neulich steckte bei mir W. Benjamins Über Haschisch – Suhrkamp 1. Auflage, 1972, im Briefkasten, daher auch meine KdU, noch einiges mehr …)

    Über die Freundin laufen dann auch Sachen ohne die Firma – so hatte er dann Zugriff auf die Bücher eines wohlhabenden Haushalts hier in der Gegend, dachte an mich, und so komme ich zu dem Curtius-Band. Ich kann nur vermuten, welche Schätze da nicht gehoben werden konnten, das war wohl nicht mehr zu bewältigen (und die Kokoschka-Originale gingen – soweit ich weiß – über andere Kanäle …). Um so mehr schätze ich mich glücklich über diese „Connection“!

    Auf der 2. Seite der Erstausgabe (erstes bis fünftes Tausend) finden sich folgende Angaben:
    „Der Essay erschien zum ersten Mal in der Sammlung „Französischer Geist im Neuen Europa“ von Ernst Robert Curtius, Stuttgart 1925, und wurde neu gedruckt in „Französischer Geist im zwanzigsten Jahrhundert“, Bern 1952.“

    In der Suhrkamp-Ausgabe übrigens ein seltenes Proust-Foto:

  25. Wegen solcher Kommentare, ziggev und holio, liebe ich meinen Blog – das sind die Perlen und davon lebt solch ein Ding namens Blog. Zumindest scheint mich meine Erinnerung an diese Szene, die lesend 30 Jahre zurückliegt, nicht ganz getrogen zu haben. Die Hölle freilich, die tat dann der Leser mit hinzu. Anhaltspunkte dafür liefert freilich der Text.

    Danke für den Hinweis auf Curtius, ziggev. Der Name ging mir ja immer mal wieder durch den Kopf, besonders zur Zeit des Studiums, aber nun scheint es Anlaß zu geben, das Buch doch zu erstehen.

    Was für ein seltsames Bild von Proust! Erst im April war ich in Paris an seinem Grab. Habe aber keine Blumen niedergelegt – das tat ich lediglich bei Becketts Grab, grau, kalt, leer, nichts lag darauf, obwohl es doch nicht lange her war, daß er 110. Geburtstag gehabt hätte. Ich war rund zehn Tage später dort und nichts, kein Gedeck, keine Blume. Wie unendlich traurig, Also bin ich vom Friedhof zum Markt in der Nähe des Gare Montparnasse gegangen und kaufte eine langstielige, weiße Rose. (Ich werde vielleicht darüber schreiben, weil sie mit dieser Geschichte eine andere Geschichte verspinnt, die ganz typisch für Paris ist und diese wunderbare Stadt in ihrem Kern faßt.)

    Ich hatte übrigens gerade antiquarisch den Materialienband zu Peter Weiss‘ „Die Ästhetik des Widerstands“ gekauft, und zwar aus dem Nachlaß von Fritz J. Raddatz stammend.

    Eine schön-traurige Lebensauflösungsverbindung, von der Du schreibst, ziggev. So wenigstens wandern die Schätze nicht in die falschen Hände. Hat ja auch etwas für sich, wenn Bücher weitergegeben werden.

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