Von Ferch nach Caputh. Oder Szenen vom Nichts und vom Wesen einer kommenden Photographie: Touring on destruction

„Nach meiner Ansicht kann man nicht behaupten,
etwas gesehen zu haben, bevor man es fotografiert hat.“
(Émile Zola. Ich gehöre durchaus zu denen, die, wenn sie
von anderen klauen oder abschreiben, was in der Blogosphäre
mehr als beliebt ist, wenigstens die Herkunft angeben: dieses
Zitat also fand ich bei der geschätzten Bloggerin Irisnebel.)

 

Landschaftsszenen

Daß die Dinge oder die Natur irgendwo einen Platz behielten, ist ein Irrtum. Die Archive des Erinnerns sind begrenzt. Die der Bilder jedoch sind unzählbar und verfließen in ihrer Ubiquität zum weißen Rauschen. Es gibt ein unwiederbringliches Verschwinden. Radikale Auslöschung. Den Archiven verfallen, um endloses Bildmaterial zu erzeugen, zu formen, zu konstruieren? Für andere, für eine mögliche Nachwelt. Für niemanden. „Nirgends eine Spur des Lebens sagt ihr, hm, daran soll’s nicht liegen, noch nicht ausgeträumt, doch gut, ausgeträumt träumen.“ (Samuel Beckett)

Ich möchte im Feld der Photographie einen darkroom erzeugen, Bilder ohne Rahmen, ohne Referenz, ohne Kontur, Ortsnamen, die als Eigennamen sich tilgen, spurlos, oder einfache Spiegelungen dessen, was sowieso ist, wie jene Szene in dem Wald, dessen lokale Lage ich wieder vergessen habe, wenn im Glas als Bild das Laub sich spiegelt, in seinem Grün, die Äste, aber doch alles in den Farben verblassend und so nur noch als Abglanz der Dinge gewirkt. Das Laub und das gespiegelte Laub und jenes Laub, das im Fluß der Zeit von September nach Oktober hin inzwischen verfärbt ist. Nicht die Dinge, die bleiben, sondern die Bilder von den Dingen zum Fetisch machen. Der Fetisch ist als Bedeutungssystem gegliedert. Zurück also in die Höhle Platons. Schatten und Kino. Photographie, vierundzwanzigmal in der Sekunde. Ja, Kino ist das Phänomen der rasanten Bilder, Akzelerationen, die im Ineinanderfließen der vereinzelten Bilder eine Geschichte erzeugen – die platonische Höhle ist ein Cinema. Adorno sah jene septième art sehr viel kritischer als alle andere Kunst. Aus jedem Kinobesuch komme man dümmer heraus, schrieb er in den Minima Moralia. Im Kontext, in dem Adorno vom autonomen Kunstwerk dachte, ist das richtig; nimmt man jedoch den Film – wie auch die Photographie, für die Adorno ebenfalls nicht viel übrig hatte – umfassender, dann trifft dieser Satz nur begrenzt zu. [Man könnte auch schreiben, Adorno verstand nicht viel vom Film, oder er war durch die Filmtheorie Kracauers präformiert.]

Nein, es geht mir nicht um die Natur, die sich ohne Menschen, ohne den Blick des Menschen ihren Platz schafft. Sondern ich möchte, daß auch die Natur verschwindet. Und ich möchte dabei zusehen dürfen. Als einziger. Welt ohne Welt, ohne Dinge, ohne Menschen. Daß ich den Film „Melancholia“ als Wunschprophetie mir beschaute und jede Szene in mich aufsog, brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen. (Der Film ist bedeutungsmäßig überdeterminiert und bricht gerade in dieser Struktur den Horizont jeglicher Konnotation.) Daß den meisten weder der Film noch dessen Intention gefiel, leuchtet mir zwar ein, bleibt mir jedoch im Gesamt unverständlich. Ich habe jede Szene dieses Films begriffen. Lars von Trier ist in allen seinen Filmen (insbesondere den letzten) visionär veranlagt. Protokolle vom Verschwinden wären anzufertigen. Fragt sich am Ende nur für wen. Vielleicht für Prosperos Bücher, darin die Szenen der Welt eintragen sind. (Von wem?) Für Nichts. Fürs nächste Mal, für den nächsten Versuch, sofern die Evolution so gnädig ist, das gleiche Spiel noch einmal hervorzubringen und den Neuen einen Blick in die Archive erlaubt.

Notizen sozusagen, für eine Theorie der ästhetischen Einbildungskraft und für meine Theorie vom Verschwinden der Welt und des Menschen. Szenen vom Nichts. Beckett, nur ohne den Humor Becketts. So etwas in der Art schwebt mir vor. Dazu, denke ich mir, muß man an die schönen Orte der Welt reisen, um sie zu entstellen. Gleichsam als destruktiver Charakter. Die ist das Wesen der Photographie als Protokollsatz, ihre Welthaltigkeit. Entstellungen und mit dem geschärften japanischen Messer die Schnitte durchs Fleisch legen.

 

9 Gedanken zu „Von Ferch nach Caputh. Oder Szenen vom Nichts und vom Wesen einer kommenden Photographie: Touring on destruction

  1. „Nach meiner Ansicht kann man nicht behaupten,
    etwas gesehen zu haben, bevor man es fotografiert hat.“
    Diesen Satz Zolas kann man auf mindestens zwei Arten interpretieren. Leider habe ich nirgends den Kontext finden können, in dem er ihn gesagt hat. Meint er damit, dass man etwas erst dann wirklich sieht, wenn man es als Motiv betrachtet/begreift? Wenn man es durchs Objektiv betrachtet? (Betrachtet man es dadurch objektiv und nicht mehr subjektiv?) Sieht man dann besser, genauer (hin)? Oder meint er es lediglich als Beweis, der vorzulegen ist, wenn man behauptet, etwas gesehen zu haben, irgendwo gewesen zu sein?
    Aber egal, wie Zola seinen Satz gemeint hat, vielleicht ja auch anders oder komplexer oder schlichter als ich es deute, egal, ich bezweifle seine Aussage, sie ist mir nicht differenziert genug.
    Ich kann etwas sehen und ich kann es anschauen, mich bewusst hinwenden, und zwar mit oder ohne Fotoapparat. Ich kann vor einer Landschaft oder vor einem toten Tier oder vor einer vom Wind bewegten Plastiktüte stehen und nichts sehen. Und genauso können zwei Fotos von ein und demselben Motiv nichts oder alles/ zumindest viel(e Schichten) zeigen. Ob mit oder ohne Fotoapparat, es kommt auf den Blick an.
    Was den Beweis betrifft: Mal ganz abgesehen von den vielen Möglichkeiten der (Ver)Fälschung: Braucht es denn einen Beweis? Das hieße ja – wenn man es auf die Spitze treibt – dass nur die abgebildete Wirklichkeit existiert, eine andere wäre nicht beweisbar, also nicht existent.

    Ich habe so meine Probleme mit dem Fotografieren als Mittel des Festhaltens von Alltags- und Urlaubsszenen zum Zweck der Erinnerung, da verstellt es (für mich) den Blick, hindert das unmittelbare Erleben, tötet die Entwicklung des Eindrucks, indem es ihn konserviert. (Im Zerfall wäre noch Leben.) Deshalb praktiziere ich es nie. Fotografie als Kunstform, das funktioniert für mich. Ebenso Reportagefotografie, die finde ich unverzichtbar.

    Und nochmal eine Stufe weiter (so verstehe/empfinde ich deine Ausführungen): Das Verschwinden festhalten, nicht um es zu stoppen, sondern weil es so schön ist. Melancholia – innere Teilhabe an Tod und Vergehen und zugleich einer der lebendigsten Gemütszustände. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben.

  2. Via Google Books:

    Gerardo Regnani hat im Aufsatz „Futurism and Photography: Between Scientific Inquiry and Aesthetic Imagination“, in: Günter Berghaus, Futurism and the Technological Imagination, auf Seite 178 eine Fußnote, die lautet: „A mon avis, vous ne pouvez pas dire que vous avez vu quelque chose à fond si vous n’en avez pas pris une photographie révélant un tas de détails qui, autrement, ne pourraient même pas être discernés.‘ Zola in an interview with the British magazine, The King, in 1901, (Sontag 1977: 87; Zola 1979: 44)“

    Um Details also geht es, verstehe ich, die man unbewaffneten Auges oder wegen der Flüchtigkeit der Zeit nicht bemerkt und daher ohne solch ein Standbild nicht auf den Grund der Dinge gelangen kann.

  3. Was mir an diesem Satz von Zola gefiel, ist seine Mehrdeutigkeit. Zugleich scheint er mir provokativ, reizt zum Widerspruch, und dieser eben zwingt uns dazu, über unser Wahrnehmen und den Status von Bildern nachzudenken. Insbesondere vom Heute her, wo die Photographie nichts Exzeptionelles mehr darstellt, sondern wir mit Bildern überflutet werden. Seien es private oder solche, die als Dokumente gelten können.

    Holios Hinweis, was es mit einer Photographie bei Zola auf sich hat, führt in der Interpretation eines Satzes weiter. Zumal, wenn man bedenkt, daß die Photographie zu Zolas Epoche ein relativ neues Medium war, das uns neue Archive bescherte und Blicke auf Dinge bereitet, die wir ohne den Apparat niemals zu sehen bekommen hätten. Szenen von Kriegen oder von anderen Orten in Übersee oder auch nicht ganz so weit entfernt, gelangten bis ins späte 19. Jahrhundert nur als Gemaltes oder Gezeichnetes zu uns. Niemals jedoch als der direkte Abdruck von Licht auf Papier, so daß wir ausrufen: Dies ist die Wirklichkeit! Als Dokument. Auch wenn sie es selbstverständlich in einem vielfachen Sinne nicht ist. Die Photographie war ein Authentizitäts- oder eben: ein Wahrheitsmedium. So also sieht es in den Straßen von Paris aus! Der Amerikanische Bürgerkrieg war einer der ersten, wo Photos als Dokumente von dem, was war und an Grauen geschah, erzeugt wurden, was damals etwas Außerordentliches war.

    Ob Photos Erinnerungen festzuhalten vermögen, bleibt eine schwierige Frage – Roland Barthes versuchte sich an ihr in seinem Buch „Die helle Kammer“. Es gibt in Barthes Sinne zwischen Photographie und Erinnern Korrespondenzen. Ich denke, das Photo als Erinnerungsmedium funktioniert nach einer eigenen Logik, die nicht intentional handhabbar zu machen ist. Betrachten wir uns Photoalben oder wurden, wie früher, in der guten alten Zeit, zu einem Dia-Abend eingeladen, so wage ich zu bezweifeln, daß diese Bilder irgendwie mit Erinnerung in einem emphatischen Sinne aufgeladen wurden. Vielmehr handelt es sich um bloßes Wiedererkennen: hier die Steine der Antike, da der Turm, da Susie in ihren sexy Shorts und da die Susie ohne. Sowohl für die Betrachter als auch für den Reisenden geht es weniger ums emphatische Erinnern, das ästhetisch, sinnlich, denkend aufgeladen ist. Photographien zeigen das Es-war-einmal, sie zeigen in solchen Abenden: Ich bin da gewesen. Da sie oft schlecht gemacht waren, kann man nicht einmal behaupten, daß irgendein Erkenntnisanspruch von diesen Bildern ausginge: zu zeigen, wie es an einem Ort ist, und zwar mit künstlerischen Mitteln.

    In einem emphatischen, nicht-intentionalen Sinne jedoch können Photographien in ihren besten und schönsten Momenten wie eine Madeleine wirken. Gleichsam das, was Barthes das puncutum einer Photographie nennt, das sich aus ganz unterschiedlichen Komponenten zusammensetzen kann. Diesen Akt des Bildersehens und -spürens sprachlich wie phänomenologisch einsichtig zu machen, wäre noch einmal eine Arbeit für sich. Ich denke, daß an besonderen Photos, die besondere Szenen zeigen, etwas hängt, das jeglichen Bildgehalt übersteigt. Freilich dürfte diese Etwas mit einem derart Subjektiven versehen sein, daß es eine besondere Arbeit bedeutet, dieses Moment auch für andere irgendwie nachvollziehbar zu machen. Vermutlich trifft an solchen Stellen der Satz „Individuum est ineffabile“.

    Danke für Deinen Kommentar, der mir noch einmal Anlaß gab, über Photos nachzudenken. Und vielleicht mache ich daraus irgendwann, irgendwie einen gesonderten Text, weil ich Deine Überlegungen interessant fand.

    Dank auch an Holio, der die Lektüre weiterbrachte. Ziemlich cool. Bin mal wieder beeindruckt!

  4. Oh, meinerseits danke an Holio für das erweiterte (komplette?) Zitat! Das wirft ein genaueres Licht und bringt mich auf folgenden Gedanken:
    Dass man eigentlich blind fotografieren müsste, um Details festzuhalten, die man so nicht sieht, sondern erst auf dem Foto, wenn man in Ruhe und ausgiebig das Abgebildete betrachten kann. Denn sobald man sehenden Auges fotografiert, ist es schwierig, denke ich, sich einer Absicht zu enthalten und eine Auswahl zu treffen, einen bestimmten Ausschnitt zu wählen … Es sei denn, man ist Tatortfotograf …
    Ähnlich wie man einen Satz nur zum Teil zitiert, weil einem ein bestimmtes Detail wesentlich erscheint, man die Bedeutung des Gesamten nicht erkennt, weil ein kürzerer Satz prägnanter ist (habe überall nur das gekürzte Zitat gefunden) …, oder weil es einem nicht um ein redliches Zitieren, sondern um das Unterstreichen einer eigenen Sicht geht und man deshalb absichtlich weglässt/verfremdet …
    Ich sehe da Parallelen.

    Danke auch dir, Bersarin, für deine erweiternden Ausführungen. Würde mich freuen, wenn da noch mehr in der Richtung kommt.

  5. „sondern ich möchte, daß auch die Natur verschwindet“. Das gefällt mir, da sind Sie einen Schritt weiter als Houellebecqs Künstler Jed in Karte und Gebiet, der am Ende ungefähr dreiminüte Videogramme schafft, bei denen im Zeitraffer Elektronik oder auch Porträtfotos von geliebten menschen unter besinnungslos wachsenden Pflanzen verschwinden. Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon, lautet der letzte Satz in der Übersetzung von Uli Wittmann und der vorletzte: „Dann wird alles ruhig, und zurück bleiben nur sich im Wind wiegende Gräser.“ Das ist was billig und es klingt, als gäbe es solche Konzeptkunst schon ein Leben lang. Wenn Sie sagen, dass Sie auch die Natur zum Verschwinden bringen wollen, hat das mehr Qualität. Eine des Geistes ragt da mit herein und eine Überwindung Rousseauscher Schwärmerei von edler Natur (von dem, kann es mir nicht verkneifen, der siebente Spaziergang mit der Strumpfmanufaktur im Schweizer Idyll äußerst lesenwert ist). Also immer auch die Hilfsmittel von uns Menschen im Blick behalten und dekonstruieren. Spiegelungen der Sinne, Zerroptik, Ausschnitte, die frei flottierende Fortsetzungen erlauben, die die Fantasie fordern. Keine Negierung des Menschen, als wäre er ein Gegenstück zur Natur, von der er doch Teil ist, sondern Die Verneinung der Natur möchte vielleicht in kühlen Bildern vom von wenigen Lichtpunkten wenig verschiedener Farben und Größen durchstochenen Nichts des Alls münden, doch wäre das künstlich, wenig künstlerisch und von wenigem Reiz. Richtiger und fruchtbarer finde ich die Abzweigung von Beckett, die Sie hier proklamieren, die Tat des Verschwindenlassens ins Bild zu bannen. Nicht passiv, wie Houellebecqs Jed durch Protokollieren von Pflanzenbewuchs, sondern handelnd durch Frames, irreführende Lunten und Dekontextualisierung. L’homme révolté wäre das (oder révoltant?), während Houellebecqs Erleidende sind. Sorry für den langen Erguß, aber: wat muss, dat muss, wie frau hier sagt.

  6. @Iris
    Das blinde Photographieren mag seinen Reiz haben. Es hat jedoch etwas Aleatorisches: mithin ein Bild, das beim Akt des Auslösens vom Zufall gemacht wurde, was ich für problematisch halte, weil die Komposition fehlt und meist auf solchen Bildern uns ein Wust an Objekten entgegenschlägt. Objektivität freilich ist eine komplizierte Sache. Sie ist durchs Subjekt und sie ist zugleich darüber hinaus. Insofern meint Objektivität auf einer Photographie nicht die tatsächliche Realität. (Ein eh problematischer Begriff und zudem vermittelter Begriff.)

    Das Flüchtige in einer (Lebens-)Szene, das, was wir nicht wahrnehmen, was uns entgeht, was wir im Blick verdrängen, übersehen usw., gehört ebenso zu unserer Wahrnehmung wie das Selektieren und Auswählen. Nähmen wir alles auf und hielten alles das fest, was ist: Wir würden wahnsinnig werden. Manchmal freilich, bei Urlaubsbildern oder auch bei Szenen unter größter Anspannung, wenn ich etwa bei gewalttätigen Demos Bilder mache und meinen Adrenalinrausch auslebe, sehe ich hinterher im digitalen Labor Details und Dinge auf der Photographie, die mir vorher nicht auffielen. Bei den auskomponierten Bildern ist das anders.

    In dem Buch „Das Geräusch des Werdens“ von Aléa Torik kommt übrigens ein Photograph vor, der tatsächlich blind photographiert, weil er nämlich blind ist: Marijan. Eine interessante literarische Figur.

  7. @ holio
    Ich habe dieses Buch von Houellebecq bisher ganz bewußt nicht gelesen. Es gibt solche Bücher, da fürchte ich, daß sie mir meine Ideen und mein Denken aussaugen. Andererseits gehöre ich zu den Distanztheoretikern, die auch das, was mir bei anderen gefällt und was ebenso das Eigene sein könnte, mit Wohlgefallen lesen, um es in meiner Weise fruchtbar zu machen.

    Das Verschwinden ist die eine Kategorie in einer sozusagen dekonstruktiven, dekonstruierenden Photo-Lektüre. Das andere ist das Andenken, das Erinnern im Bild und mittels Photographien. Jenes punctum-Moment einer besonderen Referenz.

    Zugleich gibt es noch in einer anderen Weise dieses Verschwinden der Dinge und Szenen im Digitalen, eine „Fotografie nach der Fotografie“: daß der digitalen Photographie die Indexikalität abgeht, da sie nicht mehr auf real existierende Gegenstände oder Szenen referiert, weil das, was wir sehen, am Computer erzeugt wurde. Portraits, die es nicht gibt. Weshalb wir im Grunde ohne Bildlegende einer Photographie hilflos ausgeliefert sind. Die Bilder von Jeff Wall etwa zeigen dies. Bei einigen spüren wir die Irritation und kommen von allein darauf, daß in der Anordnung und Szenerie der Photographie etwas nicht stimmt: sie ist konstruiert, nachgestellt. Bei anderen jedoch gelangt man ohne Wissen nicht dahinter und wird also getäuscht. In diesen Bereich einer neuen digitalen Referenz fallen auch Thomas Ruffs „Nude“-Bilder, wo er Porno-Aufnahmen im Internet in seiner Weise bearbeitete und präsentierte. Houellebecq schrieb dazu einen Text.

    Die Natur ist grausam in ihrem Wirken (fein immer wieder diese Anfangsszene von Lynchs „Blue Velvet“ oder im „Andalusischen Hund“ – oder ist es „LʼAge dʼOr“? – die beiden Skorpione), und sie ist schön zugleich, wenn ich mir dies mit Abstand oder aus der Perspektive der Kunst betrachte und wenn ich die Muße habe. Klassisches Lukrez- oder Kant-Motiv.

    L’homme révolté ist schön und passend. Sie schaffen es gut, mich durch meine Bibliothek zu hetzen: ich suche, sehe und lese: L’homme révolté. Müßte man aber nicht besser diesen Titel mit „Der revoltierende Mensch“ übersetzen?

  8. Die Genese von Marijans Knipskarriere ist ganz interessant. Zu Beginn muss er eine Rede halten in der Galerie am Meer. Aber Rückblick. Auf Seite 259 bekommt er eine Kamera geschenkt, „weil Sie der Richtige sind“, sagt der fremde Spender ungefähr. Zwei Seiten später macht er zuhause unwillkürlich ein Foto: „Ein Knopf erzeugte ein Summen, als ich darauf drückte, unmittelbar danach vernahm ich ein Geräusch.“ Nun: „Ich hatte ein Foto gemacht und konnte es nicht sehen.“ Ihm fällt ein, dass er seine Wohnungsnachbarn fragen könnte, was auf dem Foto zu sehen ist. Wahrscheinlich nur seine Hände. Später bei Foto Porst lässt er sich die Bedienung der Kamera eingehend erläutern, obwohl der Fachverkäufer Unverständnis zeigt: „Können Sie mir vielleicht noch erklären, warum Sie ausgerechnet fotografieren wollen?“ Böser wäre „ausgerechnet Sie“ gewesen. „Haben Sie vielleicht eine bessere Idee?“, antwortet Marijan.

  9. Vorhin hat Hanns-Josef Ortheil in der Kunsthochschule für Medien am Filzengraben den Naturalisten Zola als akribischen Materialsammler vorgeführt. Er habe morgens um halb fünf die Markthallen von Paris besucht, um zu schauen, wie das Licht fällt, wo diese oder jene Person steht, usw. Eigentlich habe ihm eine Videokamera gefehlt, scherzte Ortheil, so habe er sich halt alles notiert. Von der Photographie indes ließ O. kein Wort fallen und ich wollte ihm auch nicht in seines fallen.

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