Grenzwerte, Zeichen, Sprache: Juli Zehs Roman „Nullzeit“

Manchmal reicht eine einzige Sekunde aus, in der sich jemand im Akt des Handelns intuitiv und augenblickshaft für die eine Option und damit – ebenso intuitiv – gegen eine andere entscheidet, um durch eine solche Entscheidung nicht nur das Geschehen, sondern zugleich ein Leben in eine völlig andere Richtung zu bringen. Dieses eine Wort, was einer spricht und kein anderes, oder eben: gar kein Wort. Wenn ein Mann schweigt, wie in Truffauts Film „Schießen Sie auf den Pianisten“, worauf sich jene Frau dann etwas später ums Leben bringt. Solche Momente, solche Wendemarken scheinen Juli Zeh zu faszinieren. Sie tauchen in ihren Romanen immer wieder auf. An solchem Punkt des Lebens verdichtet sich die Zeit, und um diesen Punkt herum spinnen sich die Geschichten. Denn wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, so muß es auch einen Möglichkeitssinn geben, Möglichkeiten, daß alles auch ganz anders sein könne. Der Möglichkeitssein ist das Sensorium des Schriftstellers und zugleich sein Arbeitsfeld.

„Nullzeit“ ist ein Begriff aus der Sprache des Tauchens. Er bezeichnet die Zeit, die bleibt, um nach einem Tauchgang ohne den Zwischenstopp der Dekompression wieder über Wasser zu gehen, ohne sich einem Gesundheitsrisiko auszusetzen. Von der korrekten Berechnung der Nullzeit kann das Überleben abhängen.

Was geschieht in „Nullzeit“? Ein Kammerspiel, das einen eigenwilligen Ausgang nimmt. Der ganz normale Alltag eines Tauchlehrers, eines Jedermann, der sich seiner Normalität immer mehr entkleidet: Sven schreibt ihn nieder als Rückblick auf das, was geschah und auf ein Leben, das sich in der Sicherheit des Aussteigers wähnte. Aber dieses Leben kippte mit einem Mal um und entgleitet seiner Kontrolle, und zwar in dem Moment als jene zwei Gäste auf die Insel kamen, um das Tauchen zu lernen. Eine junge Serienschauspielerin und ein Mann in den Vierzigern. Rückblicke geschehen in der Regel im Imperfekt, dies ist die Kunst des Erzählens: „Der einzig passende Ort für all das ist die Vergangenheit.“ So notiert Sven.

Sven lebt und arbeitet als Tauchlehrer auf Lanzarote; er betreibt in dem (fiktiven) Ort Lahora zusammen mit seiner von ihm mäßig geliebten Lebensgefährtin Antje eine Tauchschule. In seinem Leben vor der Zeit als Aussteiger, studierte Sven Jurisprudenz. Eine Wissenschaft, die Exaktheit, Gründlichkeit, Genauigkeit zwar anstrebt, aber diese Begriffe in der Vielzahl an Auslegungen der Gesetze sowie ihrer Kommentierungen nicht ganz einlösen kann. Am Ende berufen sich Kommentatoren oder Richter auf die ständige Rechtsprechung oder die herrschende Meinung – eben auf das, was von den Juristen als common sense, als allgemein geteilte Ansicht aufgefaßt werden kann. Es muß am Ende eines Prozesses ein Urteil gefällt werden. „Spieltrieb“ zum Beispiel handelt genau von einem solchen Moment und der Frage, wie ein Urteil zu finden und zu fällen sei. Die Geschichte wird erzählt, damit sich die Leser ein Urteil bilden, damit jene Richterin, die als „Kalte Sophie“ bezeichnet wird, sich orientieren kann. Auch wenn dem Roman „Nullzeit“ nicht die Frage der Schuld im Sinne der Jurisprudenz zugrunde liegt, so fließen in den Text dennoch Motive und Muster des Juristischen ein – was nicht verwundern mag, ist die Autorin doch ausgebildete Juristin.

In Zehs Roman stehen sich zwei Arten von Aufzeichnungen gegenüber: einmal die von Sven selbst und dann das Tagebuch der Jolanthe Augusta Sophie von der Pahlen, genannt Jola – eine junge Serienschauspielerin, Ende zwanzig, die für die Filmrolle der Lotte Hass das Tauchen trainieren möchte. Zusammen mit dem um fünfzehn Jahre älteren Schriftsteller Theodor reisen sie auf Lanzarote an, Sven holt sie vom Flughafen ab, und eine eigentümliche Serenade zu viert beginnt.

Allerdings: die Heiterkeit weicht schnell einer angespannten Atmosphäre, die ihren Reiz aus der Gegensätzlichkeit dieser vier Charaktere bezieht. Sven: ein Mensch, der es haßt, andere Menschen zu beurteilen – dieses „allumfassende Netz aus gegenseitigen Beurteilungen“ ist ihm zuwider. Urteilende und Beurteilte befinden sich in einem dauernden Kriegszustand, weshalb Sven es nach dem ersten Staatsexamen aufgab, sich weiterhin mit der Jurisprudenz zu beschäftigen und Deutschland verließ, denn Jurisprudenz bedeutet eben genau das: urteilen und damit auch: beurteilen. Bereits sein Verhältnis zu seiner Freundin ist von dieser eigentümlichen Epoché geprägt: „Antje hob die Hand zum Dank. Wir hatten uns kaum begrüßt. Ich mochte es nicht, wenn sie mich in Gegenwart anderer Menschen berührte. Obwohl wir seit Jahren zusammenlebten, kam es mir immer noch komisch vor, daß wir ein Paar sein sollten. Jedenfalls öffentlich.“ (S. 19) Über andere Menschen zu urteilen, bedeutet bereits, sich in ihr Leben einzumischen. „Raushalten“ ist das Fundament, auf dem Sven seine Weltsicht baut.

Jola von der Pahlen ist die Tochter eines Filmproduzenten, die in einer Vorabendserie eine Rolle spielt und von dort weg zum Film will. Sie ist nervös, willens Karriere zu machen und hocherotisch. Jola versteckt ihren Körper nicht. Der Körper ist kulturelles und soziales Kapital. Und auch ansonsten besitzt Jola Geld; sie kommt aus reichem Hause.

Theo ist ein zynischer, ziemlich viel trinkender, abgebrühter, vom Geld seiner Partnerin Jola lebender, kalt beobachtender Schriftsteller, der vor einem Jahrzehnt – Selbstbezug der Literatur – denRoman „Fliegende Bauten“ schrieb – seinen einzigen. Seitdem ist sein Schreiben blockiert. Dieser Roman „Fliegende Bauten“ diente bereits in „Spieltrieb“, als Buch im Buch, für ein selbstreferentielles und zugleich abgefucktes Spiel postmoderner Menschen-Konditionierung. Sowohl Jola wie auch Theo entstammen jener über die Altersgrenzen verlaufenden virtuellen Generation, die ihre Gewichtigkeit nach den Googletreffern bemiß. Bei Frau von der Pahlen sind es rund 384000, bei Theodor Hast etwa 12000. Die Beziehung von Jola und Theo ist zerrüttet und von gegenseitigem Sticheln und von Kämpfen geprägt.

Antje ist eine brave Frau, die so farblos ist, daß sich ihre Konturlosigkeit am besten dadurch ins Bild bringen läßt, in dem sie von Zeh kaum geschildert wird. Sie ist blond und hat einen Schwedinnenbusen. Diese Attribute bleiben haften. Selbst als Antje gegen Ende des Romans Sven verkündet, daß sie ein Verhältnis zu einem der Inselspanier habe, verstört oder befremdet dies kaum. Im Grunde verkörpert sich in Antje jene Enthaltung von jeglichem Urteil, wie es Sven präferiert. Im Grunde für Sven die ideale Frau.

Svens Welt, in der er sich auskennt, ist die Welt unter Wasser – im Grunde eine Welt ohne Menschen. Für Sven eine Welt des Friedens, weil nichts von der Sprache, von Bedeutungen erstickt wird „Kommunikation wurde zu einer tänzerischen Choreographie aus Zeichen und Gesten. Unter Wasser waren die Beziehungen einfach, die Bedürfnisse eindeutig und Reaktionen radikal“ Der Mensch reist beim Tauchen in zehn Millionen Jahre Evolutionsgeschichte zurück und zugleich an den Anfang der eigenen Biographie, so geht die Rede Svens: „Dorthin, wo das Leben begann, im Wasser schwebend und stumm. Ohne Sprache keine Begriffe. Ohne Begriffe keine Begründungen, ohne Begründungen keine Kriege. Ohne Kriege keine Angst. Nicht einmal die Fische fürchten uns.“ Aber dieser Ort ist eine Welt des Scheins, denn es gibt kein Außerhalb, keine urteilsfreien Zonen. (Davon abgesehen, daß das Urteil eben auch ein Modus ist, um Wahrheit und Gerechtigkeit zu spreche, zu schreiben.) Es gibt jedoch in letzter Konsequenz keine Enthaltungen. Und so gerät der „Rausch der Tiefe“ während des letzten großen Tauchganges für Sven zum Alptraum.

Jola und Theo taktieren während ihres Aufenthaltes, sie sind ein exzessives Paar, das sich mehr durch Haß und Zorn als durch Freundlichkeit verbindet, und Sven gerät in ein Spiel, das zwischen Machtausübung, Zuneigung (zumindest von Seiten Jolas für Sven) und Psychokrieg switcht. Am Ende des Textes sind die Würfel zwar gefallen, aber im Grunde hätte, frei nach der Viele-Welten-Theorie in Zehs Roman „Schilf“, alles auch ganz anders sein können.

Das Buch von Zeh ist eine Mischung aus Psychothriller, Krimi, Kammerspiel, Menschenerkundung. Es bezieht sich, wie so häufig in Zehs Büchern, auf die Welt der Jurisprudenz. Und dennoch sind die Bezeichnungen Krimi oder Psychothriller ungenügend. „Nullzeit“ schildert auf komprimiertem Raum einen post- oder spätmodernen Mann ohne Eigenschaften, der vor der Welt samt ihren Aporien, Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten abtaucht. Aber Urteile, Beurteilungen und der Blick des anderen holen jeden Menschen irgendwann ein, denn es gibt kein Draußen, es existiert keine Epoché, und auch die Ataraxie vermag einer nur im Raum ohne Menschen auszuüben. Aber solche Räume lassen sich nicht dauerhaft bewohnen und sie sind selten; nicht einmal unter Wasser in der Welt der Schiffswracks gibt es sie, weil jeder Mensch irgendwann aus der größten Tiefe wieder auftauchen muß – die Dekompressionsphasen beachtend. Und es geschieht dieser Aufstieg nur dann auf eine nicht die Gesundheit schädigende Weise, wenn der Taucher jene Nullzeit beachtet. Die Zeit, die bleibt.

Mit „Nullzeit“ schrieb Juli Zeh ein außergewöhnliches Buch. Ihre analytisch-philosophische Schärfe, die sie teils essayartig in ihren Romanen „Spieltrieb“ und „Schilf“ entfaltete und wo sie sich trotz der Brillanz (oder gerade deshalb) an mancher Stelle des Textes in die Theorie vergaloppierte, abdriftete und das Schreiben zu bemüht wirkte, diese philosophisch-essayistische Sicht kommt ihr in „Nullzeit“ zugute, weil diese Weise von Philosophie bzw. Theorie die Handlung strukturiert und die Theorien nur noch selten den Figuren als eigenes Sprechen in den Mund gelegt werden. Das, was in „Schilf“ an manchen Stellen als überambitionierte Reflexion eines externen Erzählers auftritt, gelingt, wenn Zeh diese Reflexionen in die Figuren selbst verlegt. So scheint die Innenperspektive, die Leserinnen und Leser durch Jolas Tagebuch erfahren überzeugend. Und auch die philosophisch angereicherten Überlegungen Adas in „Spieltrieb“ sind stimmig. Jola ist eine von Zweifeln, Erfolg und Verzweiflung betriebene junge Frau Jahrgang 1981.

Intensiv und eindringlich beschreibt Juli Zeh Szenen: wie zwei Menschen interagieren, unter Wasser: an jenem Ort, wo es keine Sprache, sondern nur Zeichen gibt. Juli Zeh besitzt die wundervollen Gabe, absurde und zugleich anrührende Liebesszenen zu schildern, die in die Intensität des Moments getaucht sind. So zum Beispiel jener Augenblick, wo sich inmitten der für Sven so friedliche Unterwasserwelt zwischen ihm und Jola körperliche Liebe anbahnt, die aufgrund der Neoprenanzüge im Grunde jeglicher Sinnlichkeit und jeglichen Sinnes entbehrt, weil sich kein Millimeter Haut ertasten läßt, und Brüste sowie Schwänze unter einem Tauchanzug mögen allenfalls für Gummifetischisten eine gewissen Reiz ausüben. Dies Art aber wie der Protagonist seine Tauchschülerin berührt, und bereits vorher: die ganze Szenerie erotisch knisternd aufgeladen: diese Beschreibung gelingt ausnehmend gut.

Zeh nennt ihr Buch vorweg auf dem Titelblatt einen Roman, aber dies ist im Grunde nur die halbe Wahrheit, denn bei „Nullzeit“ handelt es sich zugleich um eine Novelle: Die Schilderung einer unerhörten Begebenheit. Doch diese Begebenheit erweist sich als ausgesprochen variabel, und im Rahmen einer Viele-Welten-Theorie könnte sie auch ganz anders sich zugetragen haben. Allenfalls das Erzählen selbst, jenes (raunende) Beschwören des Imperfekts, vermag es, die Ereignisse zusammenzutragen. Zumindest aus einer von vielen Perspektiven heraus. Doch egal wie die Perspektive sei, nur der Akt des Schreiben bannt: „Andernfalls würde das Gedächtnis bald anfangen seine eigene Geschichte zu schreiben. Nichts sei korrupter als die menschliche Erinnerung. Erst würden die Details der Ereignisse verschwimmen, dann die Ereignisse selbst.“ Liquidierung eben, Verflüssigungen, Unterwasserwelten, die sich eintrüben. Das Ereignis – egal welches es sei – bleibt nur, indem es in einen Text gebracht wird. Allerdings ist das Ereignis offen für Interpretationen und damit: für neue Texte.

2 Gedanken zu „Grenzwerte, Zeichen, Sprache: Juli Zehs Roman „Nullzeit“

  1. Es gibt einen Fehler im obigen Text: „…Sven lebt und arbeitet als Tauchlehrer auf einer der Kanarischen Inseln, Lahora genannt, Lanzarote bezeichnend;…“ Keineswegs ist im Buch mit Lahora die Insel Lanzarote gemeint. Lahora ist ein (möglicherweise fiktiver) Ort an der Küste von Lanzarote, „eine Ansammlung von Wochenendhäusern, erbaut von wohlhabenden Spaniern, die in Tinajo bereits ein schönes Anwesen besaßen“, „eine Mischung aus Bauruine und Geisterstadt“. Ansonst ist er gut geschrieben.

  2. Stimmt, Lahora ist der (vermutlich Fiktive) Ort und die Insel ist Lanzarote mit dem Flughafen Arrecife. (Im Text nun geändert.)

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