Eigentlich habe ich keine Lust mehr, diesen Blog zu machen und drohe damit, ihn einzustellen

Ich wollte heute etwas über die Ausstellung des Photographen Larry Clark in den Blog bringen. Der Text ist bereits fertig, aber ich halte ihn aus Protest zurück. Der Beitrag zu Clark ist nicht übermäßig gut ausgefallen, aber auch nicht ganz schlecht. Für das Feuilleton der „Zeit“, „Tagesspiegel“, „Berliner Zeitung“ oder FR hätte es allemal gereicht. Wenn ich Texte von Radisch, Rautenberg oder irgendwelchen Namen, die morgen woanders schreiben oder vergessen sind, lese, kann ich nur den Kopf schütteln. Wenn ich eine Woche Muße hätte, zu recherchieren, zu schauen, zu denken, zu schreiben: es käme nicht zu einem solchen Ergebnis, wie es das Feuilleton der „Zeit“ über ein Jahrzehnt schon bietet – nein: nicht bietet, sondern Leserinnen und Lesern ins Gesicht klatscht.

Von andern Blogs ganz zu schweigen. Mir fällt da keiner ein, wo ich in den Gebieten Essay, Kurzkritik, Literatur und Philosophie sagen könnte, es sei echte Konkurrenz: gut geschrieben, intelligent gemacht. Was das Literarische angeht, so ist das der Blog „Aleatorik“, den ich für ausgesprochen gelungen halte, und im Feld der Theorie und Politik, die Texte auf „Shifting Reality“ vom Alten Bolschewiken. Das ist gut und hat Substanz. Es gibt sicherlich noch viel mehr Blogs, die großartig sind und auf denen mit einer gewissen Regelmäßigkeit Texte erscheinen, und wer mir diese nennen möchte: Gerne und hier im Kommentarteil.

Hingegen: mein Text zu Kassel, der ist, ich lobe mich selten, gelungen, gekonnt, gewitzt, geglückt. Ich würde diesen Text in etwa auf dem Niveau von Heines Reisebeschreibungen, gepaart mit Bernhardscher Übellaunigkeit, sehen. Zugriffszahlen? Nicht meßbar. Heutige Zugriff (klingt wie ein Befehl, wenn das SEK irgendeine Berliner Rockerhütte stürmt: ZUGRIFF!!!): laue 177 – was nicht einmal schlecht ist. Und wer hat da meinen Text zu Kassel gelesen? Doch eher niemand.

Die taz drohte in den 90ern im Sinne einer guten moralisch-ökonomischen Erpressung des öfteren damit, die Zeitung einzustellen, wenn sich nicht mehr Abonnenten fänden. Ich mache das auch. Jetzt und hier. Bis in einer Woche will ich höhere Zugriffszahlen, sonst höre ich auf.

21 Gedanken zu „Eigentlich habe ich keine Lust mehr, diesen Blog zu machen und drohe damit, ihn einzustellen

  1. Manche machen es für Geld, andere für Aufmerksamkeit. Der wahre Künstler jedoch macht es, weil er muss. Vielleicht wird der Text über Kassel 2084 entdeckt und verändert die Kunstgeschichte. Sie sind gerade abgenippelt und haben verfügt, dass Ihre digitalen Fußspuren aus den Google-Archiven zu kratzen seien, aber Brin und Page (die komischerweise immer noch leben) haben sich Ihrem Wunsch widersetzt. So it goes.

    Also beenden Sie bitte diese jämmerliche Wehklage und tun Sie, was Sie tun müssen. Meine Zugriffe tauchen in Ihren überflüssigen Statistiken übrigens nicht auf, da ich Ihr Blog per RSS-Feed verkonsumiere. Ich habe gerade alle mit „Heidegger“ getaggten Artikel noch einmal Revue passieren lassen. Wäre es von Belang gewesen, wenn ich statt dessen eine Runde „Pong“ gespielt hätte?

  2. Genau so ist es, hanneswurst. Auch ich lese hier gern mal mit, ebenfalls per rss. Gut, wer sich selbst öffentlich mit Heine und Bernhard vergleicht, dem liegt das Erheischen von Aufmerksamkeit wohl nahe. Aber bestimmt auch das Müssen, denn sonst würde hier nächste Woche nichts stehen. Doch das wird es, da bin ich mir fast sicher. Wenn ich 177 Zugriffe hätte, würde ich nicht von einem schlechten Tag sprechen…

  3. ja, ja sie haben mir die worte geklaut mein lieber oder per gedankenübertragung ist meine versehentlich gelöschte mail an sie dennoch bei ihnen angekommen. soll heißen, aus genau diesen gründen habe ich meinen blog auch eingestellt, weil in meinem falle zu unkonzentriert, zu ungenau, zu flatterhaft….aber so scheint eh meine seelische grundkonstitution beschaffen zu sein. aber desswegen müssen ja nicht gleich alle den selben weg gehen. immerhin leisten sie sich den luxus eines einzelzimmers im hotel am steilhang……ich dagegen kampiere in der jugendherberge und mehr noch, nicht als riesende sondern als herbergsmutter. da kommt immer irgendwas oder irgendwer zwischen die zeilen…. aber egal, hier wird nicht gejammert weigstens verfalle ich so nicht der digitalen demenz.

  4. Wenn ich bei 177 aufgeben würde, hätte ich das Schreiben längst eingestellt. Der Tiefpunkt war letzte Woche mit 13 (!!!) Zugriffen an einem Tag erreicht.Gestern waren’s immerhin 16. Da hatte shifting reality in der Übergangszeit, als niemand mehr schrieb, mehr Leser.
    Für das Lob allerdings meinen herzlichen Dank – das bedeutet mir mehr als 100 zusätzliche Leser.
    Und ich kann das Kompliment gerne zurückgeben: Die Arroganz der Selbsteinschätzung, daß die Texte hier besser seien als das gesamte deutschsprachige Feuilleton, wird nur dadurch geschmälert, daß es sich einfach um eine Tatsachenfeststellung handelt (vereinzelte Ausnahmen bestätigen die Regel).

  5. @Hanneswurst
    Danke für Ihre guten Worte. Sie haben recht. Und was hinzutritt: Bei Ihnen spüre ich die Stimme des Herren, und zwar allein deshalb, weil kein Mensch zu dieser Uhrzeit schreibt. Sie aber sitzen, einsam und wachen. Sie sind mein Hirte und mir wird es nicht mangeln. Ach, sie haben recht, denn wenn Gott ins Denken einfällt, dann heißt es weitermachen.

    Heidegger und das Pong: es eignet sich dies fast schon für einen Buchtitel, für ein Romanprojekt. Sie schreiben in Ihrem Blog selten, aber wenn es geschieht, dann erfolgt es in den religiös-metaphysischen Bahnen: zu Themen wie Beschneidung, zu Libyen, Syrien, Israel, Iran: allesamt Orte des Orients, wo unsere drei monotheistischen Religionen herstammen. Das ist kein Zufall. Belege genug. Und natürlich schreiben sie nicht über Kasachstan. Was hat Gott auch in Kasachstan verloren? Ich will sogar meinen, daß Gott Kasachstan haßt, und deshalb hat er uns Borat gesandt.

    @ BoleB
    Wahrscheinlich hast Du recht. Ja, den Artikel über Clark will ich nicht vergeblich geschrieben haben. Und fuhr ich zur documenta, um nur zu sehen ohne zu schreiben? Nein. Und die Rote Armee kehrte auf den Seelower Höhen schließlich auch nicht um. Ja, ich bin wohl doch eitel. Mein neuer Beitrag zeigt das.

    @ FraufriederikeWunder
    Ja, schade, daß dieser gemailte Text ins digitale Nirwana entschwand, ein anderer ist dafür angekommen. Ich lese Ihre Texte ausgesprochen gerne und manchmal kann man sich so schön mit Ihnen streiten ;-). Ich mag die Art, wie sie widersprechen.

    Die Sache mit dem Flatterhaften: dies hätte ich auch gemutmaßt. Ungenau: manchmal kann darin auch ein Reiz liegen. Schade ist es trotzdem, wenn Sie nicht mehr in Ihrem Blog schreiben und vor allem: daß er nicht mehr zu lesen ist. Aber die Gründe, insbesondere als Herbergsmutter, die kann ich verstehen. Wenngleich es nicht mein Dasein ist. Ach, bei mir ist es nicht einmal ein Einzelzimmer, sondern 90 qm Altbau nur für mich alleine. Aber wer weiß: vielleicht führt uns der Zufall des Lebens irgendwann einmal doch zusammen ins Chelsea Hotel. Hot summer night, bei offenem Fenster, die Geräusche New Yorks … ;-)

    Wo sie jedoch recht haben: Für längere Texte und Distanzen braucht man ganz einfach die nötige Zeit und Ruhe. Hat eine(r) die nicht, bleibt nur der kurze Aphorismus, die Sentenz. Da ich keine Zweit oder Drittverwertungen von irgendwo bereits geschriebenen Texten mache, kostet ein Essay, ein Text Energie, macht zugleich aber Freunde, regt das Denken an.

    @ Iris
    Ja, das stimmt, aber zuweilen ist die Stimmung so trüb, daß man nicht mehr schreiben mag und sich fragt: Wozu dieses Mühsal? Aber da ist ein Müssen, ein Drang. Wozu schreiben wir Texte? Denn am Ende bleiben nur die: eine Welt von Texten.

    @ Alter Bolschewik
    Many thanks. Und beschämt muß ich zur Seite schauen. Die Zahlen, die Du nennst, sind unverschämt, ungerecht und viel zu wenig. Und mein Kleinmut und dieses Gejammere scheint fehl am Platze. Ich bin heute auch schon zufriedener.

  6. Lieber Bersarin,

    jetzt hat es dich auch, dieses Blogger-Bakterium. Man kann genesen, auf die eine oder andere Weise. So könnte ich dir zum Beispiel erzählen, dass ich vor einigen Tagen mit einer Frau gesprochen habe, die bei einem Unfall ein Bein und einen Arm verloren hat. Und die danach auch noch ihren Mann verloren hat. Er fand den Anblick seiner Frau nicht mehr so schön. Aber das ist ein anderer Referenzrahmen und daraus erfolgt auch nicht die Genesung derjenigen, die noch alle Arme und Beine haben. Und richtig schockieren kann uns ja beinahe nichts mehr.

    Das Problem ist die Anerkennung der eigenen Leistung. Du hattest mir einmal, als ich in einer ähnlichen Stimmung war – und als Konsequenz daraus auch meine Kommentarfunktion deaktiviert habe -, gesagt, du schaust nicht nach Kommentaren. Ich habe es dir nicht geglaubt. Jetzt sage ich beinahe dasselbe: ich schaue nicht nach Zugriffszahlen. Und ich tue es auch nicht. Ich habe mit meinem Blog nahezu aufgehört, ich führe noch ein öffentliches, von vielen Dingen gereinigtes Tagebuch. Ich glaube nicht mehr ans Bloggen. Wie immer dieser Glaube zuvor ausgesehen haben mag. Mir klafft die Differenz zwischen Aufwand und Ertrag zu weit auseinander. Allerdings sind Alternativen kaum in Sicht. Nach unten sind Facebook und Twitter, nach oben ZEIT und FAZ. In die ersten beiden will man nicht, in die letzten beiden kommt man nicht hinein. Und der Preis wäre auch hoch: Zeitungen kaufen Texte wie Dinge und redigieren sie entsprechend. Die genannten Medien haben alle sinkende Zugriffszahlen, sinkende Mitarbeiterzahlen und nicht einen einzigen, der auf deine oder meine Texte gewartet hat. LETTRE, Merkur und Kursbuch wird es kaum anders gehen Dasselbe gilt für Verlage. Seriöse Verlage suchen keine Autoren, die suchen Leser.

    Das Desaster der übererfolgreichen Alphabetisierung ist, das heute mehr Menschen schreiben als lesen können. Jedenfalls auf hohem Niveau. Und seit jeder und jede – also auch du und ich – über WordPress, Facebook und Zwitter ihr Zeug schreiben und publizieren, wird der Bedarf an guten Texten wohl eher abnehmen, weil die Menge aller Veröffentlichungen die einzelnen Texte nahezu unsichtbar macht. Der Konsum anspruchsvoller Beiträge kostet sehr viel Zeit, und erfordert darüber hinaus auch einen sichereren Geschmack. Beides liegt nicht auf der Straße. Aber genau dort liegt eben sehr viel, was man nur einfach mitnehmen muss.

    Das Problem mit den guten Texten ist, hier wie überall woanders auch: man muss die finden, die die Texte für gut halten. Bedauerlicherweise kann man sich nicht selbst einen Qualitätsausweis ausstellen, sondern ist auf die anderen angewiesen, die lesen wollen, was man schreibt. Die Kamera ist nur dann 1000 Euro wert, wenn ich einen finde, der mir das Geld dafür gibt. Nicht, weil sie das vor Jahren gekostet hat: Die Irreduzibilität des anderen; und seines Portmannaires!

    Ansonsten bleibt nur, und das ist ja bei Texten nicht schwer, ihren sozusagen außermateriellen Wert zu definieren. Dafür brauchen wir dann wirklich keinen anderen, denn dieser Wert entsteht ja beim Schreiben. Beim Schreiben können wir den anderen imaginieren, jenen idealen anderen, der den gerade entstehenden Text ganz wunderbar findet. Und so identifizieren wir uns vorauslaufend schon mal mit ihm, denn er hat ja recht: der Text ist gut!

    Ich schaue mir am Wochenende deinen Beitrag zu Kassel an.

    Aléa

  7. Liebe Aléa,

    Du hast in den meisten Punkten recht. Es schreiben viele. Und alle machen sie Internetliteratur. Was herauskommt: Ein Sammelsurium an Texten, die meisten mittelmäßig. Einige wenige gut. Und es kostet viel Zeit, die Perlen zu finden.

    Ja, es ist ein Virus, eine Infektion: Das Bloggen (Schreiben), und auch die Krise, der Zweifel, der Unwille fallen unter das Moment des Viralen. Und wenn sich das Zweifeln mit biographisch mißlichen Umständen paart, dann ist es nicht gut. Nein, im Vergleich mit dieser Unfall-Geschichte und mit vielen anderen geht es mir im Grunde gut. Ich pflege Luxusprobleme und richte mich in einer Welt voller Ästhetizismus ein. Ich unterfüttere mit Theorie. Ich kann das auf eine ansprechende Weise. Was will ich eigentlich mehr?

    Meinen Text zur documenta verschiebe ich auf Anfang der Woche. Heute gibt es erst einmal Larry Clark im c/o Berlin.

    Ja, der vorgestrige Text war dem Trübsinn geschuldet. Heute erwarte ich die Einschläge der Perseiden.

  8. Interessante Seite. Ich wäre nicht zu enttäuscht, denn ich bemerkte einen Rückgang auf meinem eher unsportlichen Blog hinterindien.wordpress.com während der olympischen Spiele.
    Danke, ich schaue gerne wieder AISTHESIS. Low.

  9. Ich habe längst aufgehört, meine Zugriffszahlen zu verfolgen. Die lagen mal bei 300-1000 am Tag, inzwischen mögen es Dutzende sein. Was soll´s, Hauptsache, ich kann mich ausdrücken.

  10. @ Low
    Na, nicht nur schauen, auch lesen ;-)

    @ che
    Ja, wahrscheinlich ist es so. Es geht um das Schreiben als Akt des Schreibens. Andererseits: ich mag dieses „Der Weg ist das Ziel“, „Werden, aber nicht Sein“ und alles, was zur Statik des Satzes gerinnt, nicht so sehr. Ich weiß nicht. „Some Velvet Morning“. Ich bin sehr unzufrieden im Moment, die erste Flasche Riesling ist fast leer, oder andere reagieren so: Halb voll. Aber das ist Positivismus. Im Kühlschrank lagert der Grüne Veltiner. Warum auch nicht.

    Im Altbau auf dem herrlichen Balkon zu sitzen, Lee Hazlewood/Nancy Sinatra hören und ein wenig Photos zu bearbeiten: kein schlechtes Leben eigentlich. Heute fehlen mir die Zigaretten.

  11. Fishing for compliments, mein Lieber. Es gibt Vornehmeres als das. Aber wenn jemand so flau nach Komplimenten verlangt und diese d e n n o c h erhält – kann man dann nicht einfach weiter trinken? Immerhin ist dieses nun der zwölfte Kommentar zu Deiner Wehklag`. Aber wahrscheinlich immer noch zu wenig.

    Im Ernst: Mehr als einmal habe ich bei Dir und bei Hartmut (das sind die beiden Blogs, die ich regelmäßig verfolge und kommentiere; im Sommer nicht so ausgiebig wie in den dunkleren Zeiten. Beim alten Bolschewiken lese ich aber für einen guten Kommentar langst bei mir nicht) Sprache gelesen, die ich dann später in „angekommenen“ Zeitungen wiederfand. Offenbar wird hier „mitgelesen“ und frech geklaut.

    Bloggen ist Literatur – fast noch interessanter ist das unredigierte kommentieren. Eine Tonmischung aus schriftlicher und mündlicher Diktion. Spontan aber über Tastatur, reflektiert und dennoch schnellgeschossen. Beleidigend, anonym pöbelnd, hochkultiviert. Daraus folgt: Wenn Du den Blog schließt, setzt es was. (Es sei denn, Du schreibst statt dessen einen Bloggerroman mit soundsovielen Kommentatoren/ineneneninen (habe ich eine Silbe vergessen?), die sich im Verlauf der Handlung alle treffen, ohne voneinander zu wissen. Gerade noch im Netz schwer gegenseitig beleidigt, fallen sie in willenloser Ekstase übereinander her. Und ziehen dann die Browning)
    Bloggen ist Literatur… kann folglich tödlich sein. Und kommentieren ist manchmal einfach nur quatschen also notwendig.

    Lass Deinen Roman weiter spielen, Bersarin, und hol den Veltiner heraus. „Alles andere ist primär“ (Hans Krankl).

  12. @ summacumlaude
    Da sage ich jetzt mal: Cooler und zutreffender Kommentar und auf den Punkt gebracht.

    Nein, ich schreibe keinen Bloggerroman. Das sind Schreibprojekte, die sich totlaufen. Das Internet vergißt schnell und Seiten gehen verloren. Und wenige lesen über lange Strecken am Rechner. Ich denke nur an das Projekt von Thomas Hettsche namens Null: Anhand dieser Karte ist im Grunde über das Prinzip alles gesagt: http://www.hettche.de/buecher/null/karte.htm

    Ich halte diese Weise einer rhizomartigen Wucherung und Durchdringung des Heterogenen zwar für interessant, aber es ist von der herkömmlichen Literatur geborgt, Stichwort Borges, Calvino und natürlich Cortázars Rayuela. Ja: Die Technik bestimmt das Schreiben, Schreiben hängt (auch) am Medium. Nietzsche, der erste Philosoph, der mit einer Schreibmaschine seine Texte machte. Diese ganzen Thesen von Kittler sind nicht uninteressant, aber sie erschöpfen sich schnell und geraten trivial, wenn sie in extenso umtriebig ausgewalzt werden. Und zugleich muß ein Medium wie das Internet, das einen ganz neuen Zugriff auf und andere Formen von Identität praktiziert und fordert, im Blick bleiben, und Schreiben samt Theorie reagieren eben darauf. Als Texte.

    Die Browning zu ziehen, ist immer gut. Ich denke da nur an André Bretons Zweites Surrealistisches Manifest: „Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen.“ Das ist nicht nur im Sinne eines literarischen Bildes gemeint.

    Ja, kommentieren kann Quatschen, kann Sprechen sein. Ich bin da nicht kleinlich, ich lasse vieles durchgehen, widerspreche freilich, wo ich denke, daß es nicht stimmt. Ziggevs oder Frau Wunders Art teils wild zu schreiben, ist nicht die meine, aber beide machen es auf ihre Weise dennoch interessant. Wenngleich ich mir zuweilen mehr Bewußtsein für die Form wünschte. Aber Du hast recht: wer kommentiert, spricht auch. Wobei ich es am Ende doch wieder mit Adorno halte: Druckreif zu sprechen.

    Grüner Veltiner kann eine ausgesprochen angenehme Alternative zum Riesling bieten. Ein einfacher Wein, doch gerade so etwas zu produzieren, daran liegt große Kraft. Und wenn Österreich bei den Olympischen Spielen keine einzige Medaille erhielt, so sollten wir unsere unverbrüchliche Solidarität mit Österreich dadurch bekunden, daß wir deren Weine kaufen und trinken. Gerade Samstag entdeckte ich bei einem meiner flanierenden Spaziergänge einen ganz wunderbaren Österreichischen Weinladen.

  13. Nachtrag: „Kritik und Kunst“ lese ich ebenfalls gerne, aber eher die Texte zu Literatur und Philosophie. Es ist ein wenig schade, daß dort wenig erscheint. Aber ich weiß es selber: das Bloggen, das man in der Freizeit und ohne Bezahlung macht, kostet: und zwar Zeit. Mein Preis dafür: ein Leben ohne nervende Kinder und Frauen, mit denen ich die Durchführung und Abwicklung der Hausarbeiten diskutieren muß und die hinterher auch noch vögeln wollen, wenn ich wieder mal zu viel beim Schreiben getrunken habe. „Spiritus longus, penis brevis“, so kommentierte bei mir Nörgler. Und er hat recht. Beides geht nicht.

  14. sonst bin ich ja nicht so, dass ich dauernd meine Verdienste hervorkehrte, aber um das auch mal erwäht zu haben, jetzt habe ich ihn auch gelesen, den Kassel-Text, jedenfalls angefangen, es ist allerdings der erste Satz, wo ich hängen blieb. nun, da dir schon einmal solche Bild/Text-Collage auf entzückende Weise gelungen war, hatte ich, das zu tun, mir ohnehin schon lange vorgenommen. und diesmal war es noch schlimmer: ich scrollte über den Text, sah die Bilder, die mich auf das Wort/Bild-Verhältnis neugierig machten und mich in bange Erwartung versetzten. ach, hier wäre das Präsens doch besser, wie gesagt, ich blieb beim ersten Satz hängen:

    „Wenn einem nichts mehr bleibt, verklären sich die kläglichen Handlungen und die Lebensvollzüge in einem Akt der Ästhetik.“

    hier las ich die kläglichen Handlungen und die Lebenlügen. Vielleicht passt das zum Naturschönen. Ohne in die in der Ästhetik stattgefunden habenden Diskussionen um das Erhabene usw., dann käme wohl Kants K. d. Urteilskraft, einsteigen zu wollen oder zu können, sei kurz veremerkt, dass ich mich eigentlich immer ein wenig gewundert habe über die Vehemenz, mit der in der Folge, so wollte es mir zumindest scheinen, das Naturschöne als unzureichender Gegenstand der philosophischen Ästhetik mit dem Bann des modernen/postmodernen/postpostmodernen (usw., oder überhaupt des) Kritikers belegt wurde. selbst bin ich ja ein verhältnismäßiger Naturbursche.

    Wenn du nicht genug meditierst, wird dir das Alleinsein – sonst der pure Genuss – zur Einsamkeit. Der Genuss: du musst auf dem Weg zur Arbeit oder sonstwohin fünf Minuten am frühen Morgen diesen Weg entlang, überall umstanden von Grünendem. Das ist wie „Auftauchen, um Luft zu holen“ (Orwell) – kontrastiert mit dem, was wohl mit „ästhetischem“ Genuss am Naturschönen gemeint ist, fühle ich mich allen Unkenrufen zum Trotz legitimiert, hier von einem Gefühl des „Verbundenseins“ zu sprechen. die Natur, die ohne Zweifel in gewissem Sinne, innerhalb eines gewissen Umfanges und bis hin zu bestimmten Graden als „schön“ bezeichnet werden darf, wie ich meine, gibt den perfekten Gegenpart eines sich fortschreitend leerenden Bewusstseins. hier haben wir einen „schönen“ Raum, der das Bewusstsein keineswegs mit irgendetwas anfüllt, in welchem es jedoch immer ein „Weiter“ gibt, die Bewegung zum Mikro- vom Makrokosmos her und umgekehrt. die Brennesseln sind einfach Brennesseln [kein Tripelkonsonant, nie und nimmer!], und als solche mehr als das und namenlos. nein, sie flehen dich nicht in unendlicher Trauer an, wie sonst, wegen ihrer Sprachlosigkeit, und wenn du ihnen zuhörst, stechen sie dich nicht, all dies nur im Gegensatz zu einer ästhetischen Betrachtung im philosophischen Sinne gewagt formuliert, du fühlst eine Verbundenheit mit etwas – anderem oder selben. desh. bin ich etwas skeptisch gegenüber „Begriffen“. weil es für dieses „andere“ oder „selbe“ durchaus keinen Namen gibt, („Brennesseln“? – nicht einmal Brennesseln wollen Brennesseln sein!) gerade auch, wenn es sich bloß erst blass andeutet. all das führte dazu, dass ich – anders als auf einem LSD-Trip – eines Tages meinte, die verschiednen Bäume, die mir, auf meinem Balkon sitzend, herüberwinken, wären jetzt auf einmal kommunikationsbereit, ich mich dabei ertappte, mit ihnen „zu sprechen“.

    Einsamkeit (hierzu ein paar wundervolle Stellen bei Virginia Woolf, am Anfang von ‚Jacobs Raum‘): das ist eben die Verweigernung, sich gegenüber der Natur als Subjekt zu konstituieren. sich heroisch (und einsam) in die Brust zu werfen. schaut her, hier stehe ICH – dort das sich mir darbietende Naturschauspiel, das nicht, sie ist die eingestandebne Niederlage vor diesem Anspruch des „Subjekts“, welches es auch immer sei, es selbst und auch ohne andere es selbst zu sein. die Lebenslüge, nicht einsehen zu wollen, dass du einsam bist, solcherart geht es bei mir zunächst – mangels meditavinen „Bewusstseins“ – damit los, dass ich wissen will, was das eigentlich für Bäume sind, Begriffe!, Kategorien!, Eichen, das ist klar, nur welche Art Ahorn ist das eigentlich, auch einige andere Arten sind mit Sicherheit nicht einheimisch, und Birken; dass es hier keine reine Natur (womit ich nicht meine: einheimisch=“reine Natur“!) gibt, ist, wenn du nur einmal hinschaust, sowieso klar. das weiß ich von der Naturbeobachtung her sowieso. aber es ist eine nette Freizeitbeschäftigung: zuerst kommen die Bäume dran, dann die Unkräuter … (und wissen, wo es sich in diesem Jahr lohnt, nach Steinpilzen zu gucken, die Saison geht los!)

    in diesem Sinne ist es mir völlig klar, dass das Subjekt erst in intersubjektiven Zusammenhängen zustande kommt; was das sich vor der Natur in die Brust werfende Subjekt nicht wahrhaben will.

    es ist dieses Subjekt, das die kläglichen Lebensvollzüge in Akte der Ästhetik – und eben auch vorm Naturschönen – und der Lebenslüge überführt. in Wirklichkeit wächst links am Wegesrand geil die Artemisia herauf, gegenüber vom Bahnsteig 2 Meter große Disteln (welche, das habe ich noch nicht bestimmt). – ich muss allerdings zugeben, dass ich keinerlei genaueren Begriff von der Beschaffenheit eines würdigen Gegenstandes der philosophischen Ästhetik habe.

    wenn schon Subjekt – dann nicht! konsequent ist das Ergtebnis, manchmal, wenn nichts mehr bleibt, sogar den Einkauf bei Penny an einem Sommertag zum ästheischem Ereinis zu machen, die schäbige, zivilisierte Umwelt zur „Natur“. – hier liegt vielleicht die Verwechslung? zwischen einer Artemisia und Penny sehe ich keinen grundsätzlichen Unterschied.

    ach, zuviele Punkte auf einmal, für mich, für heute! aber für den naturkundlichen (und auch für den mystisch inspirierten) Blick erschließen sich die ästhetischen Grüde für eine Abneigung gegenüber dem Naturschönen einfach nicht! dass da in „der Natur“ etwas „schön“ sei, das hat doch gar niemand behauptet!

    BTW, Tripelvokal ist viel schöner, dies lasse es sich eins auf der Zunge zergehen lassen: Schneeeule!

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  16. aha: wildes schreiben! (gut ich arbeite an mir, dies allerdings schon 30 jahre ohne nennenswerten erfolg) und was adornos druckreifes sprechen anbelangt; sehr gut wer es kann, aber dies ist vll auch der grund warum so mancher netzvirtuose beim realen tête-à-tête nicht all zu viel über die lippen bekommt zu laaaaaangwiiiiiieeeerig die gedankenkette, die verknüpfungen zu kompliziert zu beschreiben, zu wenig spontan und fehlbar…..

    ja , ja wer zu viel angst vor der fehlbarkeit hat, der sagt halt lieber nix, weder in dieser noch in einer anderen sprache und so bleibt nur die schreibstube ohne tête-à-tête und ohne samenraub…

    armer schwarzer kater

  17. Ohhhh, Sie haben mich niemals Live erlebt. Das ist schade. Ich bin alles mögliche (zuweilen auch schüchtern), aber nicht auf den Mund gefallen. Ich würde sogar sagen, daß ich tête-à-tête noch sehr viel geistreicher sein kann, wenn das Gegenüber es auch ist. Ich mag es, wenn die Phantasie zwei Menschen emporträgt. So ganz spontan und aus dem Reflex heraus geschrieben.

  18. Pingback: Aleatorik » Oder man war nicht gut oder nicht gut genug oder sogar schlecht

  19. Lassen sich jene Empfindungen vorstellen? Auf einem Bahnsteig stehend, auf die anderen Bahnsteige hinüberblickend, an denen volle Züge einfahren, im Minutentakt, Menschen austeigen, Wartende einsteigen, an Bahnsteigen, auf denen sich Fahrgäste dicht an dicht drängen, ein Kommen und Drängen, ein Gewusel ohnegleichen. Die Züge proppenvoll, wenn sie anrollen zu ihren Zielen, Züge nach Orten wie Buxtehude, Wanne-Eickel oder Rüsselsheim, kaum ein Zug ausgefahren, kommt schon der nächste, Stunde um Stunde.

    Er selbst steht seit dem Morgengrauen, nun schon stundenlang, auf diesem Bahnsteig hier, keine Menschenseele weit und breit, die Treppe wie leergefegt, wartend auf einen einzigen Zug, der vielleicht nach Hornstrandir fahre, wartend mit jener immer grauenvoller erscheinenden Gewissheit, dass es wohl nie einen Zug nach Hornstrandir geben werde, hoffend, dass sich wenigstens ein weiterer Fahrgast auf der Treppe zeigen werde, damit man immerhin vermuten könne, es könnte vielleicht doch einen Zug nach Hornstrandir geben, falls dieser Fahrgast da sich etwa doch nicht verirrt habe. Starrt in stundenlangem Zeitvertreib hinüber, auf diese anderen Bahnsteige, auf welchen sich Menschen tummeln, verreisen, starrt auf die leergefegte Treppe, hier, die leergefegt bleibt. Unfähig, Hoffnung aufzugeben, unfähig zum Zweifel.

    Als sie seinen steif gewordenen Körper in die geöffnete Zinkwanne zwängten – Fahrgästen von den Bahnsteigen gegenüber war die groteske Körperhaltung aufgefallen – saßen dessen Träume längst in einem Zug, auf dem Weg nach Hornstrandir.

    Wäre er doch nur gelaufen.

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