Wir sind alt in der „Hamburger Schule“. Zu Natascha Geiers NDR-Dokumentation

„Dass das Leben aber den Dienst der Historie brauche, muss eben so deutlich begriffen werden als der Satz, der später zu beweisen sein wird – dass ein Uebermaass der Historie dem Lebendigen schade.“ (Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen II)

„Es gehört sehr viel Kraft zum Vergessen dazu, um leben zu können“
(Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869-1874)

Es gibt, wenn es um Popmusik wie auch um die damit verbundenen Lebensformen geht, einen Slogan vom Musiker Falco: Daß, wer sich an die 80er Jahre erinnern kann, diese nicht wirklich miterlebt habe. Das freilich ist nicht ganz richtig, wie ein seit letzter Woche in der ARD-Mediathek präsentierter Dokumentarfilm über die Hamburger Schule zeigt. Dabei war am Ende nur, wer sich höchst intensiv an seine eigene Rolle oder an verschiedene Bezüge erinnern kann. Die von Natascha Geier gedrehte, zweiteilige Dokumentation „Die Hamburger Schule – Musikszene zwischen Pop und Politik“ hat eine ausufernde Diskussion und scharfe Kritik ausgelöst. Es gibt Fans des Films und Gegner, es gibt jene, die mit dabei waren und manches oder sogar vieles völlig anders sehen. Und es gibt Kritiker, die zu recht beklagen, daß wichtige Akteure dieser Zeit nicht genannt wurden und daß solche Akteure wie die Goldenen Zitronen, die eigentlich erst vom Fun-, dann vom Polititpunk herkamen, nicht wirklich Teil der Hamburger Schule seien.

Um die Sache also sachgerecht aufzuschnüren, ist es anscheinend doch irgendwie gut, wenn man nicht unter den Bannspruch Falcos fällt, und wenn man, um kundig Zeugnis geben zu können, über ein gutes Gedächtnis verfügt. Mit Johann Straußʼ Operette „Die Fledermaus“ geschmettert, in Variation einer schönen Zeile daraus: „Glücklich ist, wer niemals vergißt, was doch nicht zu ändern ist“. Zu verändern ist die Vergangenheit nicht. Sie ist wie sie ist und sie hat dennoch viele verschiedene Facetten. Je nachdem, wo man steht und von welcher Position aus einer diese Zeit erlebte. Perspektivität ist das Zauberwort, Blickwinkel der Slogan. Die Frage wird bleiben, wie man derart unterschiedliche Perspektiven überhaupt noch zusammenbringen kann.

Ich habe damals in Hamburg in der Band „Mackastrukturen“ Bass und Gitarre gespielt und auch den Gesang gemacht sowie das Schlagzeug. Niemand hat sich für „Mackastrukturen“ interessiert, keine Männer, keine Frauen. Ich habe es hernach vorgezogen mit Lacanphrasen und möglichst unverständigem Sprechen Frauen am Tresen zu befaseln. Lusttropfen entstehen beim Bedeutungsaufpfropfen, dachte ich mir reimgewitzt. Ich wurde, um den Beeindruckungs- und Bedeutungsaufpfropfungsfuror zu intensivieren und die Lust an der Theken-, Trink- und Tresenzeit auszudehnen, einer jener Langzeitstudent der Philosophie und dazu noch Essayist in verborgener Kammer, der es immer wieder schaffte, sich den verschiedenen Schreibprojekten kunstvoll zu entziehen. Eine Art von Bartleby-Arbeit tat sich auf, im Sinne der Erzählung von Herman Melville: “I would prefer not to”; jene Bartleby-Existenz erfüllte mich mit Freude.

Aber ich glaube, diese Petitessen aus meiner Vitae, aus radikaler Subjektivität heraus geschrieben, interessiert gar niemanden – oder wie es in einem Kinderlied heißt „Und wennʼs auch nicht die Wahrheit ist, so istʼs doch gut gelogen“; ebensowenig wie der Umstand, daß ich ein einziges Mal nur in der Hafenstraße war und vor Entsetzen ob des Siffs niemals wieder dorthin gekommen bin – außer beim Vorbeigehen, wenn ich von einem Hafenpaziergang ins Café Geyer wollte, um den ersten abendlichen Wein mir zuzuführen. Gleiches gilt für die Rote Flora, wohin mich Anfang der 1990er nachmittags eine Philosophiefreundin aus dem Hegellesekreis verschleppte, damit wir dort in einer Art Luftschutzkeller biologisch angebautes Gemüse vom Kollektiv für ein gemeinsames Essen kauften.

Ich habe, mit anderen Worten, vieles aus der Hamburger Szene und in jenen späten 1980er und den 1990er Jahren nur aus der Ferne betrachtet. Pop-Musik gehörte für mich nicht zur Lebensgrundlage, sie war allenfalls Stimulanz. Um so mehr aber erweckten mich Mitte der 1990er die neuen Töne von Tocotronic, die ich bis heute für die beste Band der Hamburger Schule halte und deren Platten ich immer noch gerne beim Autofahren oder Zuhause höre. Warum ich die Tocos für eine der besten deutschsprachigen Bands halte, werde ich vielleicht in einem anderen Beitrag einmal kundtun. Wer je nach Bahrenfeld, Sasel oder Farmsen im Bus saß, weiß, was ich meine. Ebenso wer sich je nach Drüben auf den Hügel wünschte. Eine angenehme, witzige und pathetische Gefühligkeit. Kitsch kann Kunst. Schülerlyrik, die auch den adornitischen Studenten begeisterte. Eine schöne Korrektur von PILs „This is not a love song“.

Nun sind über dreißig Jahre vergangen, und es wird Zeit für ein Jubiläum, eine Art Feier der Jugend vom Alter her – denn die Akteure von damals sind entweder erwachsen (wobei man sich nicht bei jedem sicher sein kann) oder deutlich älter geworden; oder sie sind, wie Kristof Schreuf, bereits verstorben. Die Rede ist von einer bewegten und bewegenden Zeit, nämlich der Hamburger Schule. Die scharfe Diskussion auf Facebook, durch deren Kommentarspalten ich es letztes Wochenende aufgegeben habe durchzudringen, wurde zunächst von dem zu recht erfolgten Hinweis von Bernd Begemann bestimmt, daß zentrale Akteure von damals gar nicht vorkämen. Sogar das Hamburger Abendblatt berichtete dazu.

Es gab in der Debatte Positionen, die Begemann zustimmten, es gab Kritiker, die eine Sowohl-als-auch-Position einnahmen und solche, die ihn scharf angingen. Dies alles auch nur in groben Zügen zu rekonstruieren ist insofern unerquicklich, weil es in jene Metadiskurse abdriftet. Interessant allenfalls aus soziologischer Perspektive, um zu sehen, wie solche sich aufsteigernden Diskursphänomene funktionieren, um dann eine Eigendynamik auszubilden, die fast schon von der Sache abgelöst ist. Öde vor allem, den Batzen an Meinungen zu durchforsten.

Als Dokumentarfilmer (und auch als Autor) wäre man freilich gut beraten, bei einem solchen Projekt, bei dem bereits im Vorfeld ersichtlich sein wird, daß Kontroversen entstehen, die Kriterien zu nennen, unter dem man einen solchen Film fertigte. Damit gibt man dem Kritiker einen Maßstab an die Hand, ob das Gewollte eingelöst wurde, ohne daß der Kritiker in subjektive Spekulationen driften muß, um zu nörgeln, daß Aspekte fehlen, die vielleicht den Kritiker interessieren könnten, aber nicht unbedingt den Filmemacher. So liegen durch solches Verfahren in der Komposition für alle nachvollziehbare Angaben vor, die allgemein beurteilt werden können, ohne in pure Willkür und in subjektives Empfinden abzugleiten. (Fettdruck deshalb, weil diese zentralen Aspekte gerne ins Nebenbei geraten.)

Wobei: auch wenn ein Regisseur einen solchen Maßstab nicht angibt und – sagen wir – eine Dokumentation zur Literatur der BRD der 1960er Jahre macht und dort Günter Grass wegläßt, dann können wir in solchem Fall auch ohne Maßstab konstatieren: Sache verfehlt. Und das ist leider bei Natascha Geiers Dokumentation stellenweise der Fall. Bernd Begemann, eine der zentralen Figuren dieser Zeit, wurde gar nicht erst angefragt, und bei einer Podiumsdiskussion, zu der Begemann eigentlich eingeladen war, wurde er, wohl auf Betreiben der Regisseurin, wieder ausgeladen. Dieser Umstand hinterläßt einen üblen Nachgeschmack. Über die Gründe kann man lange spekulieren.

Doch läßt dieser Aspekt die Doku nicht völlig mißlingen, insofern gehöre ich zur Teils-teils-Fraktion. Der Grund liegt bei mir in sentimentalischen Gründen und weniger in solchen der Sachhaltigkeit. Man kann sich den Film anschauen, aber man muß es nicht. Wer sich erinnern möchte, bekommt ein paar gute Einblicke geliefert. Wer diese Zeit nicht kennt, erhält einen Überblick über die wichtigsten Bands. Warum dazu zwei Teile mit jeweils nur einer halben Stunde nötig sind, hat sich mir nicht erschlossen – es sei denn, es gäbe noch eine Fortsetzung. Die eine Stunde gräbt nicht sonders in die Tiefe. Will sie vielleicht auch gar nicht, sondern es geht darum, die Sache anzureißen und einen Eindruck von dieser teils geilen, teils seltsamen Zeit zu vermitteln.

Geier präsentiert Bands wie „Die Sterne“, „Tocotronic“, „Blumfeld“, „Die goldenen Zitronen“ und „Die Braut haut ins Auge“, Nixe Walsh (Huah!, Mobylettes), Daniel Richter, der zu dieser Zeit in der Hafenstraße lebte, an der Kunsthochschule Hamburg am Lerchenfeld studierte und für die Goldenen Zitronen Plattencover gestaltete, Carol von Rautenkranz, der Macher des Plattenlabel „L’age d’or“, der Musikjournalist Christoph Twickel, Knarf Rellöm von der Band „Huah“. Schön zu sehen, wie alle gealtert sind und wie wir alle damals in jung aussahen. Vanitasanmutungen nachgerade. Schön auch die zuweilen von Tocotronic eingespielte Schrammelmusik oder auch Die Sterne, Blumfeld auch, die freilich, bis auf Ich-Maschine, nie meine Musik waren. Daß dabei solche Musik gespielt wurde, die weitgehend bekannt ist, mag man dem Sujet „Einführung“ schulden. Ich sehe das weniger als Kritikpunkt.

Ansonsten ist die Doku so gemacht, daß jeder, der irgendwie als Zaungast dabei war, nicht verprellt wird, um diese Zeit wieder auferstehen zu lassen: im Sinne von Erinnerungsspuren an eine knapp 30 Jahre zurückliegende, spezielle Epoche. Eingeklemmt zwischen den letzten Zuckungen von Punk und jenem 9/11-Einschnitt samt Islamismus als Bedrohung und dem Einbrechen all der Utopien, wenn man denn doch mal mit 40 erwachsen wird. Das siffige „Heinz Karmers Tanzcafé“ – na ja. Ich war lediglich ein Zaungast, saß in den 1990er Jahren lieber im „Café unter den Linden“ oder wenn es etwas gepflegter sein sollte 1993/1994 in der „Ess-Bar“ in der Rentzelstraße, wo es mit der blonden Susanne Trinkexzesse gab. Oder im schlimmhippiehaften „Tropfen“, der wegen seiner vermutlich aus dem 1970er Jahrzehnt stammenden Tropfkerzen derart hieß. Unsere Orte waren unterschiedlich.

Kritisiert wurde von vielen der subjektive Blick, der notwendigerweise Verkürzungen nach sich zieht. Daß die Regisseurin Natascha Geier sich selbst mit in den Film einbringt, kann man kompositorisch soweit in Ordnung finden – auch wenn ich Geier etwas zu beflissen-bieder empfinde. Denn es geht bei solchen Doku-Filmen, die die Vergangenheit in ein Bild einfangen wollen, immer auch um jene Daseins-Subjektivität und um eine Weise von gelebter Intensität – im Sinne von Rainald Goetzʼ Diktum aus Rave: „Wir werden immer so weitermachen“, und wir können es am Ende doch nicht und dennoch ist das eigene Dabeisein, der Exzeß, das Kreativsein, die Debatten um Ästhetik und Musik in einer Wohnküche oder in den Bars Teil eines solchen Prozesses. Dazu gehört die eigene Person, die Maske, die Pose.

Positiv wurde dem Film angerechnet, daß er die männliche Dominanz der Szene und teils die Mackerstrukturen und das Männerbündlerische auch zeigte. Frauen waren gerne als Fans gesehen und als Bettobjekte, die man mit obskurem Zeugs und mit einigem Gepose beeindrucken konnte. Andererseits muß man dazu auch sagen: Viele Frauen wollten eben auch genau das: mit einem lokalen Star schlafen. Warum auch nicht? Jeder spielte dabei sein Spiel.

Zu intensivieren wäre der Aspekt, daß Ästhetik, Pop-Journalismus, Musik, Musikkritik und Kunst sich, insbesondere über Organe wie Spex, gegenseitig befeuerten und ein Abend und lange Debatten in Bars oftmals die gute Grundlage für eine ausufernde Rezension abgaben, darin jede Zeile und jeder Accord eines Songs analysiert wurde. Stichwort hier auch: Diskurspop. Was zugleich auch wieder Metadiskurse bedingte: Endloses sprechen übers Sprechen und über Spex-Artikel. Daß dabei viel Wortgewichse herumkam und man sich gerne im Glanz besonders oder scheinbar besonders gelungener Formulierungen durch die Nacht hangelte, sei nur am Rande bemerkt. Die Leute mochten Textschnipsel und einzelne Passagen von Derrida, Foucault und Lacan herbeten, die sich gut ins Schema implantierten, so daß es sich im Glanz von Halbbildung sonnen ließ, die nach Adornos Diktum bekanntlich nicht eine halbe, sondern vielmehr das Gegenteil von Bildung darstellt. Aristoteles, Spinoza und Hegel kannten die wenigsten. Einer derer, die tatsächlich Philosophie studierten und den man auch in den Seminaren sah, war Jochen Distelmeyer. Aber solche Pose, eine gewisse Oberflächlichkeit samt einer damit zugleich korrespondieren vermeintlichen Texttiefe zu erzeugen, gehört zum Phänomen Pop und zur Kunst wohl mit dazu. (Das wäre nochmal ein anderes Thema. Man hätte sich dazu gerne eine weitere Folge gewünscht.)

Richtigerweise erwähnt die Doku den Eklektizismus dieser Musik, quasi eine Art Textraub, wobei solches Ausborgen und „Nachmachen“ freilich, wie der Ton der Regisseurin nahelegen mag, kein Mangel ist, sondern genau die Ästhetik von Pop (und eigentlich überhaupt das Wirken von Kunst): Reflexivität nämlich und Rückbezug; viel wurde, was die Bedeutungsschwere vieler Texte betraf, aus der Literatur genommen (jener Bachmann-Sound), zuweilen auch die ironische Leichtigkeit, wie bei Tocotronic, und auch aus der inzwischen etablierten poststrukturalistischen Philosophie gelangen Versatzstücke in die Songtexte. Subjekt war man am liebsten, wenn man kein Subjekt war und das letzte Hemd reimt sich auf Fragment – wobei ich nicht weiß, ob das wirklich eine der Bands dichtete, es fiel mir nur gerade so ein. „Der Text ist meine Party, und mein Bild ist kein Messer“, so sang Kristof Schreuf von „Kolossale Jugend“, und es lassen sich gerade dort wie auch bei Tocotronic zahlreiche solcher Quasi-Zitate nachweisen. Aber da würde ich, trotz Bedeutungsschwere und mancher Gefühligkeit sagen: sie haben ihre Sache gut gemacht. Bis heute hin. Ihre Texte erschöpften sich nicht in Politparolen. (Ihre privaten Interviews lasse ich aus, die habe ich nicht verfolgt.)

Die an diese Zeit anknüpfende Kunstszene hätte in der Doku ebenfalls behandelt werden können – gerade auch die viele Kunst abseits des offiziellen Betriebs. Diese Melange aus Ästhetik, Musik, bildender Kunst, Literatur, Philosophie wäre ein Thema für sich und eine Stunde ist wenig Zeit. Auch ist eine solche Dokumentation nicht primär dafür gemacht, die einzelnen Wünsche von Zuschauern zu befriedigen. Ein Sechsteiler wie bei der St. Pauli-Serie „Neonstaub“ wäre gut gewesen, um die verschiedenen Facetten des Phänomens von verschiedenen Perspektiven her auszuleuchten, auch was die weniger bekannten Bands und Akteure betrifft. Dazu noch: Die Bars, die Vergessenen, der intellektuelle Hintergrund, was einen kleinen Ausschweif in die Philosophie und in die Literatur hätte bedeuten können. Am Ende ist es Geiers Film dann doch nur eine Dokumentation für die breite Masse.

Wer seinerzeit dabei war, wird an diesem Film manches kritisch sehen. Auch was die Grabenkämpfe betrifft, die in diesem Film kaum vorkommen und wenn die politischen Stalinisten auf eine eher offene und ironische Linke traf – siehe unten am Ende das sehr treffende Zitat von Bernd Begemann. Linkssein war (leider) Bedingung, weshalb das für einen hegelianisch-konservativen, an dem Nonsense der Neuen Frankfurter Schule orientierten, ein wenig über Heidegger und Nietzsche postmodern angehauchten Adorniten nicht leicht war. Und auch in der Doku und schon damals nervte mich das Ted-Gaier-Gepose samt seiner Links-zwei-drei-Genossen: mit dem warmen Arsch und wohlgewindelt im Westen hocken und auf der Gaierschen Wurstsuppe dahergeschwommen „Scheiß Wiedervereinigung“ schwätzen. Was für eine unsägliche Arroganz! Ja, auch ich hatte von den verschiedenen und sehr unterschiedlichen Lebenswelten in der DDR bis 1992 kaum eine Ahnung. Aber ich habe es vorgezogen, meine Klappe zu halte und machte mein Urteil nicht an Privateindrücken fest.

Doch über diese Dinge ist dann auch wieder die Zeit weggegangen. Meine Band, wenn ich je eine gehabt hätte, hieße „Grandhotel Abseits“.

Lebensphänomene, unsere wirren Wünsche, politische Positionen und Posen, die Exzesse der Nacht, jene geglückten oder auch mißglückten Augenblicke, Weiberärsche, Titten und Thesen, all die Projekte und Projektionen und jene Hymnen an die Nacht werden irgendwann, wenn die Zeit über diese Dinge hinweggleitet, historisch – man könnte in diesen Fragen, um sie philosophisch aufzuladen von Nietzsche lesen „Vom Nutzen und Nachteil der Historie fürs Leben“, darin er jenen Historismus kritisiert, der uns Heutigen, die bald aber schon wieder Gestrige sein werden, sagen will, wie es einmal war. Oder man macht es in Hegels schönem Bild von der Eule der Minerva, die ihren Flug erst bei hereinbrechender Dämmerung beginnt, denn erkennen läßt sich nur im Grau in Grau, wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden ist. Die Parole heißt Abstand.

Um all diese Mißverständnisse auszuschalten, hätte dieser Dokumentarfilm besser „Meine Hamburger Schule“ oder wie Begemann es richtig sagte „Meine privaten 1990er Jahre“ heißen sollen. Als Medium, um gepflegte Melancholie zu praktizieren und sich an jene wunderbaren und wilden Jahre zu erinnern, die im Leben niemals wiederkehren, ist es auf der Gefühligkeitsebene eine die Erinnerungen anregende Doku, um selektiv ein Momentum einzufangen. Aber das eben ist leider noch kein Qualitätskriterium für eine gelingende Doku.

Am Ende und im Prozeß der Zeit sind all diese Szenen Stardust Memories. Oder wie es bei Ödön von Horváth im Drama „Kasimir und Karoline“ heißt:

„Und blühn einmal die Rosen
Ist der Winter vorbei
Nur der Mensch hat alleinig
Einen einzigen Mai“

Dieser Mai ist jene Jugend, die wir ins Unendliche zu verlängern trachteten. Daß solche Ausdehnung nicht geht, ahnten wir irgendwie schon damals dunkel im gelebten Augenblick, aber wir wußten es zum Glück nicht.

Nebenbei: „Kasimir und Karoline“ wurde genau in diesen Jahren 1996/1997 im Deutschen Schauspielhaus gegeben. Und im Lauf der Zeit gehörte auch dieses Theater in gewissem Sinne mit zur Hamburger Schule. Auch deshalb, weil viele, die dort, wie ich, im Vorderhaus arbeiteten, ein Teil dieser Ausgeh- Trink- und Feierkultur waren, wo die irrsinnigsten Pläne geschmiedet wurden, wo Kunst gemacht wurde und weil irgendwann später auch Tocotronic im Schauspielhaus ein Konzert spielten und ebenfalls Teile der Goldenen Zitronen, die sich dort heranwanzten, ihrer Abende dort veranstalteten. Sozusagen das gut subventionierte deutsche Sprechtheater als eine Art Altersversicherung. Aber da war die Hamburger Schule bereits Geschichte.

Heute sind wir andere und als Menschen verwandelt. Was einmal das wilde Leben war, ist ins Alter geronnen. Auch wenn man diese Dokumentation in vielen Aspekten kritisieren kann und sich mehr Genauigkeit gewünscht hätte, um mit Schreuf zu schreiben, so können uns solche Bilder und Szenen dennoch zeigen, wie sich unsere Welt und wie wir selbst uns gewandelt haben. Einmal wieder ein schöner Anlaß, um mit diesem Gedicht von Eva Strittmatter zu enden:

„Wir fragen kalt, die wir einst kannten:
Was machst denn du, und was macht der?
Und wie wir in der Jugend brannten….
Jetzt glühn wir anders. So nie mehr.“

***

Hinzuweisen ist vor allem noch auf das Interview, das Stefan Laurin von den „Ruhrbaronen“ mit Bernd Begemann führte, darin dieser noch einmal im Detail seine Kritik an der Dokumentation von Natascha Geier äußert. Ein tolles und gelungenes Interview, darin man in wenigen Minuten mehr erfährt als in dieser einen Stunde in der Dokumentation von Natascha Geier. Besonders treffend seine Ausführungen zu den Goldenen Zitronen, die meine Intuition von damals mehr als bestätigen:

„Hier kommen wir zu dem Grund, weswegen die Hamburger Schule einen üblen Beigeschmack hat. Jetzt, im Jahr 2024, muss ich feststellen, dass alles, was an der Hamburger Schule beschissen war, von den Goldenen Zitronen kommt. Früher haben sie immer behauptet, sie hätten mit den Ärzten Funpunk erfunden und später Politrock und Agitprop zurückgebracht. Aber als sie sahen, dass in Hamburg irgendwas passierte, haben sie sich eingeklinkt und diese harmlos vor sich hin experimentierende Szene gekapert. Sie haben den Laden übernommen, weil sie mehr Erfahrung in ihren diversen Politszenen gesammelt hatten als alle anderen. Sie haben alles eingeführt, was Leute komisch finden an der Hamburger Schule: Sektierertum, Abgrenzung, Arroganz, den Ausschluss von Menschen. Wo vorher ein paar Jahre lang jeder mitmachen konnte, war das nach den Goldenen Zitronen nicht mehr möglich. Ihr Einfluss also bestand darin, dass sie die Hamburger Schule beendet haben. Kaum waren sie die Könige des Hühnerhofs, ging es nicht mehr darum, was du versucht und gemacht hast, sondern es ging darum, ob du die letzte Parole schon gehört hast und was deine wahre Gesinnung ist. Das erinnerte mich an das Vorgehen von K-Gruppen.“

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