Kleiner philosophisch-ästhetischer Auftakt zum Jahr 2010

I.

Lange und häufig habe ich mich während meiner Studienzeit darüber geärgert und gezürnt, daß so viele der Professoren, die Philosophie lehrten oder dies zumindest versuchten, wenn sie sich überhaupt mit Adorno beschäftigten und nicht der sogenannten Analytischen Philosophie oder der Ethik in unschuldiger Weise huldigten, keinerlei Sinn oder Hintersinn für die Thesen aus der „Dialektik der Aufklärung“ aufbringen konnten. Immer und sofort kam, wie aus der Pistole des Nichtverstehers geschossen, der standardisiert vorgebrachte Einwand des performativen Selbstwiderspruchs, in den sich die Vernunft verstricke, sobald sie es unternehme, sich in ihrer Gänze durchzustreichen und als Instrumentelle zu setzten. Schön, daß alle Professoren zur selben Zeit Habermas gelesen hatten. Ein damaliger Freund pflegte sehr treffend über Habermas zu formulieren und brachte es in einem Begriff auf den Punkt: Sabbelkommunismus. Wahr ist‘s, in polemischer Überspitzung formuliert (1).

Dabei liegen diese Dinge, die in der „Dialektik der Aufklärung“ zur Darstellung kommen, deutlich und unverschleiert geradezu auf der Straße. Ein einziges Lesen im Kapitel über Kulturindustrie müßte ausreichen, um zu sehen. Aber es erging den Verbeamteten vermutlich ganz ähnlich wie jenem Philosophen, der erst als es zu spät war und er in den Brunnen fiel, vom Lachen der Thrakerin blickwärts wieder zur Erde gelenkt wurde.

Und es ist ja nicht einmal im Gleichtakt geblieben – um von Verbesserungen gar nicht zu sprechen: Was bei Adorno zart angedeutet wurde in jenen schwarzen Schriften aus dem Umkreis der „Dialektik der Aufklärung“, das ist heute eine gesteigerte Realität, die als solche kaum noch wahrgenommen wird. Nicht einmal mehr im Kreis der Kritischen, die es eigentlich besser wissen müßten. Das fängt bei Spex-Redakteure an, die ihr Eingeweihtsein als subversive Kritik verkaufen, und geht weiter hin zu Bands, ihr Name sei austauschbar, wo der Protest zum Tauschwert dazu gehört. Pop als Politikpose und leerlaufende Ersatzhandlung.

Daß sich die Wirklichkeit am Begriff zu messen habe und in eine noch irgendwie geartete Übereinstimmung mit demselben zu bringen sei: dieses einst gegen die Gesellschaft kritisch gedachte Diktum Hegels ist heute zur puren Affirmation geraten, weil der Begriff in seinem Abgebröckelten genau der Wirklichkeit entspricht, die er verdient zu haben scheint: Eine Negativität Hegelscher Dialektik, die nicht einmal Adorno in seinen schlimmsten Traumprotokollen in Schrift zu setzten vermocht hätte.

 „Aldous Huxley hat in einem Essay die Frage aufgeworfen, wer in einem Amüsierlokal sich eigentlich noch amüsiere.“ (Adorno, GS 14, S. 15)

 Alle, so muß man unsentimental nachschicken. Andererseits wollen wir nicht der Lustfeindlichkeit das Wort reden. Die Angelegenheit pendelt sich schwierig aus und gerät heikel. Nicht nicht-amüsieren ist nicht möglich, aber auch das Gegenteil will nicht gelingen. Wenn es kein richtiges Leben im falschen gibt, so kann sehr schnell der Schluß und der Ausweg aus der Aporie naheliegen, daß es dann sowieso relativ und mithin gleichgültig ist, was einer tut: Wenn es so oder so falsch sein mag, dann gehe ich mich lieber amüsieren. Warum verzweifeln, wenn sich Zweifel und Staunen im Platz in der Beobachterloge ganz gut machen und teils zur Erheiterung beitragen?

Da leuchtet ein Funken Wahrheit heraus. Es ist beim Amüsieren jedoch wie bei einem Spezialfall desselben, nämlich wie beim Trinken: man muß es mit Niveau betreiben. Kein Alkohol ist keine Lösung; blindes Saufen von irgendwelchem Zeug jedoch ist dämlich. Was aber bleibt?: Das stiften nicht die Dichter, sondern die gute Weinhandlung um die Ecke oder zwei U-Bahnstationen weiter: Saufen mit Niveau. Insofern bildet, darin möchte ich Bohrer recht geben, der Stil eine zentrale, nicht nur ästhetische (sondern auch eine moralische) Kategorie , die zudem Differenzierung erzeugt; ergänzt freilich um den (Adornoschen) Takt sowie den moralischen Impuls als nicht-diskursives Element von Moralphilosophie. Moral und Ethik sind im Zeichen dessen, was der Fall ist, nur als Individualmoral möglich. Dies zumindest kann man mit Adorno lernen. Und vielleicht schlagen sich hier auch ein paar Brücken zu Sartre und Foucault.

 II. 

Was bleibt in der Rückschau auf‘s Jahr 2009? Harald Jähner schreibt in der „Berliner Zeitung“ vom 31.12.2009 im Hinblick auf die Kunst, die Medien und die Philosophie unter der schönen Überschrift „Der Zauber des Realen“ (Lacan versetzte diese Überschrift womöglich in einen Taumel):

 „Theoretiker sind die Verlierer des Jahrzehnts. Hielt man einst die Wirklichkeit für eine niedere Kategorie, aus der höhere Wahrheiten erst abstrahiert werden mussten, ist uns heute eine Unterscheidung von Wesen und Erscheinung fremd geworden. Wir glauben nicht mehr an tiefere Schichten des Seins, aber an immer neue Fassetten der Oberfläche. Deshalb empfinden sich immer mehr Menschen von der Deutung der Welt durch Kundigere emanzipert. Sie wollen Fakten hautnah präsentiert bekommen und die Schlüsse daraus selber ziehen. 

Ein unstillbarer Erfahrungshunger verschleißt die Präsentationsformen von Wirklichkeit und will immer neue Intensitäten: im Privatfernsehen kann man die permanente Neuerfindung und Wiederauszehrung von Reality-Formaten in irrwitziger Geschwindigkeit erleben. Hier wird das neue Interesse am Realen ausgebeutet und mit billigen Surrogaten abgefüttert. Ursprünglich interessante Experimente wie „Frauentausch“ werden zu hämischen Spektakeln, in denen auf Kosten der Teilnehmer nur das Immergleiche hervorgekitzelt wird.“

 Nun zaubert Jähner hier allerdings aus einem alter Hut. Die Differenz von Wesen und Erscheinung geriet nicht erst in diesem letzten Jahrzehnt zunichte: Liegt in der Einebnung doch einer der zentralen Topoi der sogenannten Postmoderne seit den 70er, 80er Jahren: Die Oberfläche und ihre Faltungen sind das Wesen in der Erscheinung; die dialektische Differenzierung wird ohne Umstände eingezogen. (Prominentester Vertreter mag hier Deleuze sein, den dann allerdings die Dialektik schneller einholte, als es ihm lieb war. Da ist es dann wie mit dem Hasen und dem Swinegel. Derrida ist in dieser Angelegenheit der Verabschiedung von Dialektik allemal sehr viel reflektierter vorgegangen. Diese Auseinandersetzungen mit der Hegelschen Dialektik, hinter die kein Weg zurückführt, finden sich etwa prominent und instruktiv in seinem Text zu Bataille und der Ökonomie. Doch immerhin ist Deleuze dafür an vielen Stellen spaßiger und inspirierender. Kann auch ein Mehrwert sein.) 

Interessant ist in dem Zusammenhang, den Jähner in seinem Artikel aufzeigt, der Aspekt des Dokumentarischen, welcher sich nicht nur im Medium Fernsehen in seiner herabgesunkenen Form zeigt – siehe etwa (unfreiwillig geniale) Projekte wie „Big Brother“ –, sondern das Dokumentarische erhält auch in der Kunst einen zunehmend hohen Stellenwert und bestimmte – wenn man dem Untertitel des Textes folgt – dieses Jahrzehnt. Als Indikatoren hierfür nimmt Jähner etwa Schlingensiefs jüngste Körper-Selbstbeobachtungen, Kempowskis Echolot-Buch oder die (Theater-)Projekte von Rimini Protokoll. Diese Tendenz ist gut beobachtet. Allerdings: Das Dokumentarische in der Kunst kann schnell trivial werden und sich ausreizen: man denke etwa an Tracey Emins bekannteste Installation „My bed“ (als Dokument des Privaten sozusagen); Environments, die in diese Richtung laufen, sind einmal, zweimal ganz originell, ja stellenweise sogar witzig, nutzt sich jedoch beim dritten Mal ab. Interessanter sind da in der Tat die Arbeiten von Rimini Protokoll oder die Inszenierungen Schlingensiefs. Insbesondere seine Aktion „Ausländer raus“ in Wien, die Jähner erwähnt, wo im Big-Brother-Stil Flüchtlinge herausgewählt werden durften. Hier handelt es sich um den guten Agitprop: Man muß lachen und doch ist die Angelegenheit bitterernst. Insofern hat hier Big Brother in der Tat die Maßstäbe gesetzt. (Andererseits witzelte ich bereits in den 80er Jahren mit dem Aufkommen des Privatfernsehens über selbiges: Mein Projekt war, eine Inkontinenzshow mit dem Titel: „Die Alten, wie lange können sie‘s halten?“ zu bringen. Doch kein Sender hätte es zu dieser Zeit wohl haben gewollt.) Wieweit bei Schlingensief der herkömmliche Kunstbegriff aber überhaupt noch trifft, dies ist eine andere Frage. Nimmt man diesen Begriff weit, so kann man sicherlich sagen: Paßt schon! Und ich muß gestehen: Obwohl ich von einer solchen Art der Kunst im Grunde nicht viel halte, weil die laute (politische) Provokation sich schnell totläuft und diese am Ende objektiv schlecht ist, weil sie ihrem Part, gegen den sie rebelliert, so fatal ähnlich sieht, so muß ich sagen, daß Schlingensief hier trotz alledem etwas geglückt ist, das funktioniert. 

Zugleich aber muß man mit dem Dokumentarischen in der Kunst behutsam umgehen, wenn man es gekonnt einsetzten möchte, und vorsichtig sein, kann es doch leicht dazu führen, daß das Kunstwerk eine Verdoppelung dessen erzeugt, was sowieso schon der Fall ist. Es will insofern mit Bedacht verwendet werden. Interessanter wären hier sicherlich die Fiktionen von Dokumentarischem. Auch scheint es mir angesichts der plural verfaßten Kunstwelten unzureichend, die Kunst auf einen Begriff zu bringen. Sicherlich zeigen sich in der Zeit, in den Jahrzehnten, bestimmte Tendenzen, doch gehen damit (zum Glück) immer die Gegenbewegungen und die Korrektive einher. Bildende Künstler wie der großartige, im letzten Jahr verstorbene Hrdlicka zeigen dies gut. 

Einige interessante ästhetisch-gesellschaftliche Aspekte aus dem Text von Jähner seien zum Schluß noch zitiert: 

„Das letzte Argument ist immer die Karteikarte. Sie brachte komplexe Biografien ins Wanken wie die von Walter Jens und Günter Grass, die sich ein bundesrepublikanisches Leben lang nicht mehr an ihre Mitgliedschaft als junge Männer in der NSDAP erinnerten.

 Eine nach vielen ideologischen Jahrzehnten plötzlich dem Dokument verfallene Öffentlichkeit wischte Grass‘ freimütige literarische Beschäftigung mit seiner jugendlichen NS-Treue vom Tisch und fixierte sich rechthaberisch auf die Aktenlage. Die Karteikarte triumphierte über die politische Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte, indem die Aufarbeitung sich auf die Abklärung der Stasi-Akten fixierte. Und keine ideologische Debatte hätte die alte Linke so beschämen können, wie die Fakten aus dem 1998 erschienenen ‚Schwarzbuch Kommunismus‘.“

 Hinzufügen muß man freilich, daß damit zugleich die Lektüre eines „Schwarzbuch Kapitalismus“ einherzugehen habe. (Am besten vom „Grand Hotel Abgrund“ aus; ich liebe die plüschigen Logen und die gemütlichen Sessel, ausgestattet mit dem roten Samt.) Leider aber sind komplexe Auseinandersetzungen nicht immer möglich und gehen sehr oft entweder in die eine oder in die andere Richtung. Das ist im Sozialen so, das ist in der Ästhetik nicht anders.

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(1) Wenn wir es einmal beiseite lassen und die Fehllektüre ausräumen, daß Habermas zur Kritischen Theorie noch gehört – denn dies ist eine Lesart, die ihm nicht gerecht wird – so ließe sich womöglich manches Mißverständnis aus der Welt schaffen, welches sich in den Diskussionen um Habermas ergab. Stellen wir ihn also nur bedingt in die Linie der Frankfurter Schule. Man wird dann womöglich sehr viel leichter seine „Theorie des Kommunikativen Handelns“ als ein sozialphilosophisches Grundlagenwerk lesen können. Eine der wesentlichen Leistungen des Buches besteht darin, die verschiedensten philosophischen und soziologischen Stränge, von der Sprachphilosophie zur Hermeneutik, über den Pragmatismus und die amerikanische Soziologie sowie Max Webers Theorie der Rationalität, zu vermitteln und sich durchdringen zu lassen.

10 Gedanken zu „Kleiner philosophisch-ästhetischer Auftakt zum Jahr 2010

  1. Als ich zu Beginn meines Studiums in Göttingen (mit Philosophie im Nebenfach) dem dortigen Philosophie-König Konrad Cramer mit Bedauern in der Stimme meine Beobachtung mitteilte, dass man ja keine Veranstaltungen zur Frankfurter Schule anbiete, meinte der mit vernichtendem Blick: „Das ist auch gut so.“

    So geht es wohl vielen Profs. Adorno ist für die ein rotes Tuch, mit dem man sich erst gar nicht beschäftigt.

    Ansonsten ist die Geschichte mit der Authentizität interessant. Man muss diese Entwicklung zwar nicht in ein Jahrzehnt packen (die Mittalkshows gab es schon in den 90ern), aber es ist schon so: Je unwirklicher die Wirklichkeit, desto dringender das Bedürfnis nach Authentizität, die es dann natürlich nur noch im TV gibt.

  2. So ist es. Adorno ist allenfalls – bis heute hin – für die Ästhetik maßgebend. Seine Gesellschaftstheorie (bspw. in der ND oder seinen verschiedenen Texten zur Soziologie) ist vielen der Lehrenden allzukritisch bzw. zu wenig faßbar gewesen. Gleiches gilt für Benjamin. Ein Seminar über sein Passagenwerk und das Paris des 19. Jahrhunderts wäre wohl auch eine Überforderung für die Verbeamteten. Insofern erwarte ich solches auch gar nicht mehr und habe es auch niemals wirklich erwartet. Der philosophische „Mehrwert“ fiele zwischen Sprachphilosophie, Ethik und politischer Philosophie (wir sagten früher Gesellschaftstheorie dazu) ungenügend aus: Nicht arbeitsmarkttauglich ist solche Theorie. (Von Autoren wie Günther Anders oder H. Marcuse ganz zu schweigen.)

    Mehr Erfolg mit Adorno und Benjamin hat man manchmal in den Literatur- bzw. Medienwissenschaften.

    Mit der Authentizität ist es so eine Sache: Je schwieriger es um diese bestellt ist, desto mehr sind die Menschen bemüht, zumindest den Schein derselben zu erzeugen. Der Schein bestimmt das Bewußtsein.

  3. Also ich habe genau umgekehrte erfahrungen gemacht. habe auch Philosophie im Nebefach studiert, aber an meiner Uni (in Hannover) waren die meisten Philosophielehrer entweder Adorno anhänger oder hatten gar selbst bei ihm studiert. Über alle anderen philosophischen Richtungen wurde nur milde gelächelt. Alle begegneten den Werken von Adorno und Horkheimer mit höchster Ehrfurcht, und kaum jemand war bereit, zuzgeben, dass sich ihm der Inhalt etwa der „Negativen Dialektik“ nicht erschließt.

    Dieser ganze Kult und die im Grunde reaktionäre Hochnäsigkeit der Adepten der Frankfurter Schule haben mich jedenfalls schnell abgestoßen. Mein Empfinden ist jedenfalls, dass man aus den Werken der „sogenannten Analytischen Philosophie“ wesentlich mehr löernen kann, als von Adorno und Horkheimer.

    Über die „Dialektik der Aufklärung sagt übrigens Leszek Kolakowski sehr treffend:

    „Allgemein gesprochen, 1st der Begriff der „Aufklärung“‚ein phantastisch zusammengeflickter, unhistorischer Bastard, der sich aus allem zusammensetzt, was die Autoren empört: Positivismus, Logik, deduktive Wissenschaften, empirische Wissenschaften, Kapitalismus, Herrschaft des Gelds, Massenkultur, Liberalismus und Faschismus. Ihre Kulturkritik, so sehr sie auch verschiedene, seit jener Zeitbanal gewordene, treffende Bemerkungen über die schädlichen Auswirkungen der Kommerzialisierung der Kunst enthält, ist ganz eindeutig von einer melancholischen Sehnsucht nach einer Zeit erfüllt, als nur eine Elite an Rezeption der Kunst teilhatte; sie ist ein Angriff auf »Massenngesellschaft« im Geist der feudalen Verachtung für die einfachen Leute.

    „Das Hauptmotiv dieses Angriffs ist, wie man sieht, ein traditionell romantiscltes. Die Autoren weisen jedoch keinen Ausweg
    aus dem Niedergang: Sie sehen keine Möglichkeit, daß der Mensch zur Freundschaft mit der Natur zurückkehrt, sie sagen auch
    nicht, ob und auf welche Weise die Menschen den Tauschwert liquidieren, das heißt, ohne Geld und Berechnung leben könnten. Der einzige Rat, den sie erteilen, ist das theoretische Denken, wobei wir vermuten dürfen, daß der Hauptvorzug dieses Denkens darin bestehen soll, daß die Despotie der Logik und der Mathematik abgelehnt wird (die Logik ist den Autoren folge ein Ausdruck der Gleichgültigkeit gegenüber dem Indiviium).“

    Die Hauptströmungen des Marxismus, Bd. 3, S.409

  4. Ich habe Hannover niemals kennengelernt, ausgenommen zu einem Ästhetik-Kongreß, der dort stattfand. Auch Hannovers Lehrbetrieb ist mir unbekannt. Man sagte mir, das beste dort sei der Flughafen, weil man dann schnell fortkomme. Vielleicht stimmt dies. Ich denke, das beste an jeder Stadt, das beste an jedem Ort ist der Flughafen, weil man dann schnell woanders ist.

    „und kaum jemand war bereit, zuzgeben, dass sich ihm der Inhalt etwa der „Negativen Dialektik“ nicht erschließt.“

    Wenn ich eine F-16 fliegen kann, warum sollte ich einen Grund haben zu sagen, ich kann keine F-16 fliegen?

    Wenn man einen Text also nicht versteht, so muß man sich (zumindest in der Philosophie) bemühen. Dies ist die Aufgabe eines Philosophierenden. Ich stelle mich nicht hin und behaupte, Strawson ist höherer Blödsinn und besitzt keinen Belang, ohne ihn hinreichend rezipiert zu haben. Zudem liest sich die ND, etwa im Vergleich zu Hegels „Wissenschaft der Logik“ oder zu Aristoteles‘ „Metaphysik“, relativ gut. Da steht dann ein Meinen gegen ein anderes, und das eine ist so gut wie das andere.

    Es kann in der Philosophie insofern nicht darum gehen, seine Subjektivität zu installieren. Denn was würden Sie entgegnen wenn ich sage: Ich sehe im Text der ND keine größeren Schwierigkeiten, die sich nicht klären ließen. Wenn etwas schwierig ist, so muß man sich entweder mit der Sache auseinander setzten oder man läßt sie eben liegen, um den Preis allerdings, daß man sie dann nicht beurteilen kann.

    Zudem gilt immer noch der schöne Satz: Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen, so muß es nicht unbedingt an dem Buch liegen. Dies zumindest schreibt Lichtenberg, der ja nicht weit entfernt von Hannover studierte, lehrte, lebte.

    Für Leszek Kołakowski gilt, was für die meisten Philosophen zutrifft: Sie sind schlechte Interpreten ihrer Zeitgenossen. Und was treffend erscheinen mag, geht manchmal am Ziel vorbei. Kołakowski formuliert Unfug: Der Begriff der Aufklärung ist in seinem Kontext, den Adorno erzeugt, und in seinen Bezügen (etwa zu Francis Bacon) in der DA exakt entwickelt (wenn man einmal einen solchen positivistischen Terminus verwenden möchte). Ob eine solche Adlerperspektive, die Aufklärung mit dem Mythos beginnen zu lassen, historisch korrekt ist, darüber kann man sicher diskutieren. Als heuristisches Mittel, um eine Zeit in Konstellation zu bringen, taugt die DA allemal. Zudem handelt es sich nicht um die Seminararbeit eines Historikers, sondern es ist ein Buch zur Diagnose der Zeit, die eingezwängt ist zwischen Faschismus, Stalins Sozialismus/Kommunismus und einem entfesselten Kapitalismus.

    Was Adornos Kulturkritik betrifft, so ist diese Kritik, anders als die konservative Variante, kein unreflektierter Romantizismus, der sich zu irgendeinem Ursprünglichen sehnt, dieses als das Bessere supponiert und erneut herstellen möchte – solche Positionen kritisiert Adorno nämlich scharf –, sondern die Anstrengung der bestimmten Negation, die einzig noch verbleibt. Das Setzen positiver Werte leiert nur hilflose etwas daher, was es nie gab. Man proklamiert um so heftiger, je unsicherer sich die Lage darstellt und darbietet.

    Diese Kulturkritik „… ist ganz eindeutig von einer melancholischen Sehnsucht nach einer Zeit erfüllt, als nur eine Elite an Rezeption der Kunst teilhatte; sie ist ein Angriff auf ‚Massenngesellschaft‘ im Geist der feudalen Verachtung für die einfachen Leute.“

    Daß dieses Denken konservativ wäre, ist ja genau der Vorwurf jener Konservativen gegen Adorno, denen es ansonsten gar nicht geschichtet genug zugehen kann. Über den gleichmachenden Schmelztiegel und die dahinter steckende Ideologie hat Adorno zudem einige gelungene Zeilen geschrieben. Merkwürdig auch, daß man jedem Handarbeiter sein Fachwissen zugesteht – keiner käme wohl auf die Idee zu behaupten, der Klempner wäre elitär, weil er weiß, wie man die Kloschüssel freikriegt (1) –, beim ästhetischen Theoretiker, der nicht populär posiert, kommt der Vorwurf hingegen prompt.

    Daß die Autoren der DA keinen Ausweg wissen und schon gar nicht diesen weisen, denn Philosophie ist keine unmittelbare Handlungsanleitung, könnte, logisch gesehen, genauso gegen die Situation und nicht nur gegen das Buch sprechen. Wenn man mit der sogenannten analytischen Philosophie als Gegenpol kommt, so ist Leszek Kołakowski sicherlich ein schlechter Bundesgenosse. Über dieses Buch können wir nur sagen: Hauptströmung verfehlt, nehmen sie einen Lotsen an Bord.

    Ansonsten trifft auf Leszek Kołakowski der schöne Satz der Neuen Frankfurter Schule zu: „Die schärfsten Kritiker der Elche, waren früher selber welche.“

    Zum Abschluß aber etwas Versöhnliches: Ihre Vorbehalte gegen Gruppenbildungen sind nicht falsch; über andere Positionen sollte man nicht milde lächeln, sondern sich mit ihnen auseinandersetzen. Es sind die Widersprüche in voller Tragweite nachzuweisen.

    (1) Ein besonderer Gruß geht an diese Stelle an Werner Schwabs Stück „Die Präsidentinnen“, und zwar im Hinblick auf‘s Mariedl, die Königin der Aborte, die es „ohne“ macht: mit den bloßen Händen.

  5. Dass die Frankfurter in Hannover eher beachtet werden als in Göttingen oder sonstwo, kann auch daran liegen, dass eine Reihe von Adorno-Schülern dort unterrichtet(e): Detlev Claussen, Oskar Negt, Günter Mensching, Otwin Massing und alle, die ich nicht kenne.

  6. Nun ja, es mag ja sein, dass ich zu doof bin, die Negative Dialektik zu verstehen, aber es ist natürlich auch nicht ausgeschlossen, dass sie vielleicht nicht verstanden werden kann, sprich: keinen nachvollziehbaren rationalen Inhalt hat.

    Die Adornisten sind für mich eine Sekte; sie glauben an bestimmte heilige Schriften, die von ihnen verstanden werden, von anderen aber nicht, und die ihnen ein besonderes Wissen über die Welt verleihen, dass Uneingeweihten verschlossen bleibt. Und dieses Wissen ist letzten Endes nicht rational begründbar. Wenn man in Diskussionen über einzelne Thesen oder Formulierungen des Meisters darauf besteht, den rationalen Kern herauszubekommen, kommt früher oder später die Antwort, dass das letzten Endes nicht möglich ist. Irgondwo haben dann allle Angst, zu sagen, dass der Kaiser nackt ist.

    Auf der anderen Seite fand ich bestimmte Denker, die von Adorno (u. Horkheimer) scharf kritisiert werden, als sehr interessant und durchaus Erkenntnisfördernd; ich denke dabei vor allem an den Neopositivismus des Wiener Kreises, der für Adornno/Horkheimer ja unter den Faschsimusverdacht fällt.

    Sehr interessant in diesem Zusammenhang ist diese Buch:

    Klicke, um auf positivismusstreit-hans-joachim_dahms_28658.pdf zuzugreifen

    Darin wird berichtet, wie Adorno und Horkheimer im amerikanischen Exil, wo sich auch die Wiener Neopositivisten befanden, jeden Versuch einer Annäherung und Zusammenarbeit (die besonders von Otto Neurath angesterebt wurde) abgeblockt haben.

  7. Interessant, wie du Adorno siehst, und das meine ich nicht abwertend. Du sprichst einen zentralen Gedanken an: Wer den rationalen Kern nicht fassbar zur Verfügung stellt, ist nichts wert. Das sagt einiges aus über die Gesellschaft und ihre Bewertungsmaßstäbe. Von denen ich mich nicht freimache.

  8. Es geht nicht darum, ob jemand zu doof ist, einen Text zu verstehen. Ich weiß nicht, ob Sie es sind, da ich Ihre Begabungen nicht kenne, aber es ist im Grunde sehr unerheblich, was Sie und ich uns so denken. Wie schon gesagt: ich halte nichts davon, persönliche Subjektivität und Befindlichkeiten zu inszenieren und in der Philosophie als Maßstab zu setzten, ob man einen Text verstehen kann.

    Allerdings ist Ihr Kommentar im ganzen sehr interessant, und ermunterte mich dazu, einige Dinge bei Adorno zu verdeutlichen, weshalb ich mir erlaube, diese Woche in einem Extra-Beitrag etwas ausführlicher auf einzelne Punkte einzugehen. Vielleicht wird dadurch einiges ein wenig präziser. (Es muß wohl in mir ein Residualbestandteil pädagogischen Eros noch vorhanden sein. Ich hoffe, daß ich dazu auch tatsächlich komme.)

    Was die Sektenmentalität betrifft, so liegen Sie mit Ihren Beobachtungen nicht ganz falsch. In gewissen Sinne spielt sich auch in bestimmten Kreisen der Adorno-Jünger eine „objektlose Innerlichkeit“ der Eingeweihten ab. Dieses Sektierertum finden Sie aber leider an vielen Stellen; es gibt dieses bei den sogenannten Analytischen Philosophen genauso wie beim Luhmann-Leser oder dem Poststrukturalisten, und wenn Sie sich einmal im Feld der politischen Linken bewegen, dann werden Sie Ihr rotes Wunder erleben und freiwillig drei Jahre Carl Schmitt oder Nikolás Gómez Dávila lesen. Worauf ich hinaus will: diese Sektierer gibt es überall, da verhält es sich wie mit dem Hundekot in Berlin. Unsinnig sich darüber aufzuregen. Beachten Sie sie einfach nicht oder benutzen Sie diese für eine soziologische Studie; auch wenn Sie satirisch aufarbeiten möchten, gibt es da ein weites Feld.

    Ich möchte jedoch hinzufügen, daß Adorno selber ein solcher Gestus des Überheblichen ganz fernliegt. Seine Texte sind allerdings nicht einfach zu nennen. Sie lassen sich nicht nebenbei lesen, sie erfordern ein profundes philosophisches Wissen, sie stecken voll von nicht explizit genannten theoretischen Voraussetzungen. Aber es gibt nun einmal ein paar Dinge, die kompliziert sind und die sich nicht in einem Satz darstellen lassen. Ein Professor für Teilchenphysik wird ihnen diese auch nur auf großen Umwegen vermitteln können. Und ein Text von Davidson oder Quine ist hinreichend komplex.

    Lesen Sie zum Thema der Sekte ansonsten einmal die schöne Erzählung „Beim Propheten“ von Thomas Mann.

    Ich danke auch für Ihre Literaturempfehlung, mir war dieses Buch in der Tat noch nicht bekannt.

  9. Ja aber bitte, warum soll man seine Bücher denn lesen? Sicher nicht wegen irgendeines unmittelbaren Wertes, aber irgendeinen Erkenntnisgewinn kann man sich vielleicht schon versprechen?

    Oder liest man sie, um sich zu den Adepten des Meisters zählen zu können? Was natürlich auch etwas „wert“ wäre…

  10. Klar, die Adornisten sind nicht die einzige intellektuelle Sekte. Was mich interessiert ist eigentlich die Kommunikationsverweigerung zwischen den Anhängern des (in weitestem Sinne) dialektischen Denkens und denen der (in weitestem Sinne) wissenschaftsorientierten philosophie.

    Einen Ansatz, diese Verweigrung aufzubrechen gab es in den 30er und 40er Jahren in Amerika, aus der gemeinsamen Exilsituation von antifaschistischen Kräften unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung. Sie scheiterte letzten Endes am unwillen von Adorno und Horkheimer (so stellt es sich mir zumindest nach der Lektüre des Buches von Dahms dar, dass eine gute Diskussionsgrundlage bietet; der Autor hat sich eine unendliche Mühe gemacht und Briefe, Nachlässe und Memoiren vieler Personen ausgewertet.

    ich verreise morgen , würde aber gerne weiter diskutieren. Ich schau in drei Wochen wiede rein.

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