Wolfgang Pohrt: Nationalsozialismus und KZ-System

Ich tue etwas, was ich hier im Blog ansonsten nicht mache, weil ich lieber selber meine Beiträge schreibe. Aber im Falle des Pohrt-Textes stelle ich diesen komplett in den Blog ein. Es ist unsinnig, ihn zu referieren, weil er nicht referierbar ist, sondern es auf den Punkt genau so formuliert, wie ich es gerne geschrieben hätte. Doch es hat Pohrt diesen Text nun einmal lange vor mir verfaßt, und zwar kam er in dem Buch „Ausverkauf“ in jenem Jahr heraus, als ich mit unschuldigen 15 Jahren auf meine erste „Stoppt-Strauß“-Demo ging. Mit so Menschen die komische Tücher über den Mund gezogen hatten und die Helme und Lederjacken trugen. Bei denen wurde nämlich die Musik gespielt, die ich damals auch gerne hörte. Bei der SDAJ gab es nur Latschmusik für FDJ-Hippies und diese Scheiße von Bots. Mir kam es immer vor, als wenn da Rudi Carell sänge. Doch ich schweife ab in die Gefilde der Jugend: Der Pohrt-Text ist nicht lang, nicht länger als meine Blogtexte. Vor allem aber ist er lesenswert und es lohnt sich, darüber nachzudenken:

Die Verdrängung selbst der Geschichte des deutschen Faschismus aus dem allgemeinen Bewußtsein behindert nachhaltig die Möglichkeit, einen Begriff davon zu erarbeiten. Denn jede Diskussion setzt voraus, daß die Beteiligten viel mehr über den Gegenstand wissen, als jeweils zur Sprache kommt. Die Diskussion verschiedener Faschismustheorien setzt z.B. immer die Kenntnis nicht nur dieser Theorien, sondern auch der von diesen Theorien noch einmal verschiedene Realität voraus. Nur im Verhältnis von Sache und Begriff läßt sich dessen Wahrheit vernünftig beurteilen.

Auch die Sache aber stellt sich für das Bewußtsein stets nur in Begriffen dar. Wo die Sache an sich selbst unbegreiflich ist, weil ihre eigene Struktur die Voraussetzung aller Erkenntnis; die „adaequatio rei et intellectus“, die Übereinstimmung von Gegenstand und Einsicht prinzipiell ausschließt, dort tendiert sie dahin, sich der Darstellung und dem Bewußtsein überhaupt zu entziehen. Das Unbegreifliche ist am deutschen Faschismus aber gerade das Wesentliche. Ihn zeichnet aus, daß er von keiner Theorie mehr wirklich erreicht werden kann. Nicht einmal die Konstruktion eines strafenden Gottes – das erste Tasten wie der letzte Ausweg der Vernunft – vermag die planmäßige, fabrikmäßige Vernichtung von mindestens 6 Millionen Menschen in jenen sinnvollen Zusammenhang zu stellen, in dem der Gegenstand allein erkannt werden kann. Die Theorie setzt einerseits stets ein die Sache unter seinen eigenen, subjektiven Bestimmungen setzendes Subjekt voraus. Sie beginnt also erst jenseits der Konzentrationslager, in denen das Subjekt planmäßig vernichtet wird. Die Theorie setzt andererseits eine Sache voraus, die von den Denkbestimmungen eines auf sie reflektierenden menschlichen Subjekts nicht völlig verschieden ist: was real keiner menschlichen Logik gehorcht, kann auch kein Mensch begreifen. Vor einer Institution, in welcher die Unmenschlichkeit zum Prinzip erhoben ist, muß die Theorie daher kapitulieren.

Das Zurückweichen der Theorie vor dem deutschen Faschismus ist auch Darstellungen anzumerken, die nicht vorrangig theoretische Ambitionen haben. Z.B. Kogon, dessen Thema Beschreibung systematischer Menschenvernichtung ist, spricht eigentlich immer von etwas anderem: von der Organisation des Lagers, von der komplizierten Hierarchie unter den Henkern, von der ähnlich komplizierten Hierarchie unter den Opfern, von Kompetenzstreitigkeiten, Kommunikationsproblemen usw. Die Beschreibung erreicht gewissermaßen nicht den Gegenstand selbst, sondern sie hält bei der minutiösen Protokollierung der Organisation und Technik inne, die ihn hervorgebracht haben. Weil aber Organisation und Technik der Menschenvernichtung von der allgemein herrschenden kaum verschieden sind, erscheint das Lagerleben selbst bestürzend alltäglich und gewöhnlich. Die Probleme der Opfer und Henker ähndeln einander und den Schwierigkeiten, die das gewöhnliche Leben so mit sich bringt. Fast könnte man vergessen, daß es sich bei dem geschilderten organisatorischen Gebilde um ein Vernichtungslager handelt, und die Schilderung selbst erzeugt auf die Dauer jene Mischung von Faszination und Langeweile, die Handbüchern und Gebrauchsanleitungen eigen ist: Man liest begierig weiter, um zu erfahren, wie das Unbegreifliche zustandegekommen ist, aber was man dabei erfährt, ist eigentlich immer trivial und als Trivialität unerschöpflich. Am Ende weiß man über die KZ vor allem eins: wie man sie macht. Der deutsche Faschismus zwingt offenbar das Denken zur funktionalistischen Regression: statt zu fragen, was er ist und wie er zu beurteilen sei, fragt man, wie er funktioniert. Die Anpassung der Theorie an ihren unbegreiflichen Gegenstand und damit ihre Kapitulation ist vermittelt durch einen besonderen Mechanismus der Angstbewältigung: zum organisatorischen und technischen Problem neutralisiert und reduziert, verliert die planmäßige Menschenvernichtung ihre Schrecken. Das Unbegreifliche wird scheinbar nicht begreiflich, es wird sogar gewöhnlich, und das beruhigt.

Die Pointe dabei ist nun, daß diese lähmende, abstumpfende Alltäglichkeit des unbegreiflichen Verbrechens tatsächlich nationalsozialistische Realität ist, und gerade dies macht die Differenz der planmäßigen Menschenvernichtung zu all den Untaten aus, die in der Geschichte immer wieder begangen worden sind. Der nationalsozialistische Henker war gerade nicht der mittelalterliche, der zur Strafe für sein entsetzliches Handwerk außerhalb der Stadtmauern leben mußte und von jedem gemieden wurde. Die Menschenvernichtung der Nationalsozialisten war kein Blutbad, kein grausamer Racheakt, kein sadistischer Exzeß: an den Händen eines Himmler klebt nicht einmal Blut. Vielleicht das Erschreckenste an den KZ ist die geradezu aufopfernde organisatorische Fürsorge, mit der die Henker ihre Opfer bedachten. Bevor man sie umbrachte, wurden sie immerhin ordnungsgemäß verbucht.

Es ist die planmäßige technische und organisatorische Rationalität dessen, was jeglicher Vernunft spottet und prinzipiell unbegreiflich ist, wodurch sich der deutsche Faschismus von allen vorausgegangenen, auch grausamen und terroristischen Gesellschaftsformationen unterscheidet: Das Fortdauern der Zivilisation in der Barbarei, das Fortdauern der Rationalität im Wahn. Die barbarische und wahnhafte Regression bezieht genau aus dem Fortschritt der Produktivkräfte – Inbegriff von Zivilisation – ihre apokalyptische Macht. Die Regression ist stets unausdenkbar viel schlimmer als der ursprüngliche Zustand, zu dem sie zurückführt. Die Wahngebilde und die Barbarei der Primitiven waren verhältnismäßig harmlos. Den Untaten der Kannibalen waren durch die Reichweite der Füße, ihrer Waffen und durch die Kapazität ihrer Mägen enge Grenzen gesetzt. Erst der Wahn, auf den eine hochkapitalistische Gesellschaft regrediert, kann 6 Millionen Menschen planmäßig und weitere 44 Millionen außerplanmäßig vernichten. Ein paranoischer amerikanischer Präsident schließlich, der neben dem roten Telefon sitzt und sich vom Rest der Welt angefeindet fühlt, könnte sich leicht dieses Rests und seiner selbst entledigen. Wie ernst diese Gefahr in den letzten Tagen von Nixons Amtsperiode genommen wurde, beweist der Befehl des damaligen US-Verteidigungsministers Schlesinger an alle Truppenteile, keine ungewöhnlichen militärischen Kommandos ohne seine Konsultation auszuführen. (Vgl. FR vom 11.1.76, S.2: Was tun, wenn ein Präsident „durchdreht“)

Die nationalsozialistische Barbarei, die gerade aus dem Fortschritt ihre vernichtende Kraft bezieht, bringt keine Realität hervor, die ebenso unbegreiflich wie  kein Mythos ist. Die vorfaschistischen Untaten standen unter dem unmittelbar nicht aufzulösenden Bann der Hilflosigkeit, mit der die noch ganz in Natur befangenen Menschen ihre Geschichte machten. Man kann diese Untaten daher erklären, wenn man die ihrerseits unbegreifliche, schlicht vorgegebene Prämisse akzeptiert, daß die fortschreitende Emanzipation schleppend und stolpernd durch ein Meer von Blut, Schweiß und Tränen waten muß. Die NS-Verbrechen hingegen beginnen an dem Punkt der Geschichte, wo die Befangenheit der Menschen in Natur materiell aufgehört hat: wo die Produktivkräfte so weit entwickelt sind, daß alle glücklich leben könnten, ohne daß einer den anderen zu diesem Zweck erniedrigen, unterdrücken, ausbeuten oder gar abschlachten muß. So ist der Faschismus gerade kein auf der Menschheit lastendes Verhängnis, kein unabwendbares Schicksal wie die historische Arbeit, die stets ihre Opfer gefordert hat. Die Opfer des Nationalsozialismus zählen nicht zu denen in der Geschichte, die ebenso notwendig, wie nicht zu rechtfertigen sind. Trauervolles Eingedenken allein ist ihnen gegenüber fehl am Platz. Sie sind nicht der furchtbare, aber offenbar unvermeidlich gewesene Preis des Fortschritts, nicht vergleichbar den maltraitierten Sklaven, die man beim Betrachten der großartigen Dinge, die sie schufen, nie ganz vergessen sollte. Die Opfer des deutschen Faschismus sind gleich auf doppelte Weise erledigt: sie sind nicht einmal Opfer.

Der Nationalsozialismus ist nicht wie etwa der Zwang zur Arbeit, wie die Kriege naturwüchsiger Gemeinwesen ein Produkt der Natur, welche die Menschen nicht selbst gemacht haben, sondern er ist Produkt einer Geschichte, welche die Menschen sehr wohl selbst gemacht haben. Es fehlt gewissermaßen der Rest  objektiver Unvernunft, jener Rest unmittelbar nicht aufhebbarer Abhängigkeit vom Naturzwang, der in allen vorfaschistischen Gesellschaftsformationen die unbegreiflichen Untaten gleichzeitig als mythisches Verhängnis und als sinnvoll und notwendig erscheinen ließ. Die Unvernunft ist hier nicht eine Bestimmung der Sache, mit der das Subjekt sich abfinden muß, sondern eine Bestimmung des Subjekts selbst. Für den deutschen Faschismus tragen die Menschen, die ihn gemacht, und diejenigen, die ihn geduldet haben, allein die Verantwortung; sie können sich auf kein Schicksal herausreden. Es ist zwar nicht zu rechtfertigen, aber es ist einsichtig, wenn der eine, um sich nicht selber schinden zu müssen, den anderen dazu zwingt. Es ist hingegen völlig absurd, wenn ein Staat, in dessen Autarkiepolitik gehorchenden Entwicklungslaboratorien das Plastic-Zeitalter schon begonnen hat, für die Isolation der U-Boote das Haar der KZ-Opfer verwendet und mir ihrer Asche die Felder düngt.

Gerade daran, daß der deutsche Faschismus grundlos verbrochen wurde, daß er nicht unter der Herrschaft eines der Vernunft allein unzugänglichen Zwangs entstand, beißt sich die Theorie die Zähne aus. Theorie setzt immer den Gegenstand unter die Denkbestimmungen der Vernunft. Sie kann ihn nur erreichen, wenn er selbst diese Vernunft, zumindestens partielle und gebrochen, real verkörpert. Indem beispielsweise Marx das Kapitalverhältnis als Ausbeutungsverhältnis kritisiert, rechtfertigt er es zugleich als Produktionsverhältnis, welches für die Entwicklung der Produktivkräfte, auf welcher sich die Abschaffung von Ausbeutung und Unterdrückung allein gründen kann, notwendig gewesen war. Das falsche gesellschaftliche Verhältnis der Menschen, wofür diese selbst verantwortlich sind, findet hier seine Erklärung und seinen Grund im falschen Verhältnis des Menschen zur Natur, wofür jene nicht verantwortlich sind: sie haben weder die Natur so eingerichtet, daß man sich an ihr abplagen muß, um sie essen zu können, noch haben sie sich selbst als hilflose Naturwesen in die Welt gesetzt. Ratio und Rationalisierung hängen offenbar unauflöslich zusammen, und jede Kritik setzt die Rechtfertigung des kritisierten Gegenstands schon voraus.

Der Umstand, daß man die Vernunft in der Geschichte stets unterstellen muß, wenn man die unterstellte Vernunft mit der Realität verwechselt. So kommt es, daß ausgerechnet Vulgärmarxisten, welche die Unterscheidung von Begriff und Sache und also den Unterschied zwischen der wirklichen Idiotie der wirklichen Geschichte und der Vernunft, mit der Marx diese idiotische wirkliche Geschichte begreift, nicht gelernt haben – daß ausgerechnet Marxisten dem deutschen Faschismus die weltgeschichtliche Absolution erteilen, und zwar gerade dort, wo sie ihn als besonders ausgekochten, besonders teuflischen Trick des Kapitals verdammen.

Der Faschismus war nichts als Menschenwerk, dies offenbar sich noch in der jeglicher Dämonie spottenden „Banalität des Bösen“. Er kann sich real auf keine höhere Gewalt berufen. Damit aber schlägt jede gesellschaftstheoretische Kritik des Faschismus, die, wie gezeigt wurde, ohne die Konstruktion einer höheren Gewalt nicht existieren kann, in Affirmation um, in reine Rechtfertigung dessen, was um keinen Preis zu rechtfertigen ist. Die Theorie sucht nach Gründen. Für die planmäßige Vernichtung von 6 Millionen Menschen, die noch nicht einmal zum Vorteil irgendeines anderen ausgebeutet, sondern einfach nur vernichtet werden, gibt es aber keine Gründe. Und jeder Versuch, sie dennoch zu konstruieren, muß zurückgewiesen werden.

19 Gedanken zu „Wolfgang Pohrt: Nationalsozialismus und KZ-System

  1. ja, aber –

    wir müssen uns vorstellen, dass die Nazis – „die Nazis“, ich lasse es einfach mal so stehen – überhaupt keine Ahnung hatten, wie sie denn nun den Judenmord bewerkstelligen würden können. sie erfanden, mit deutscher Gründlichkeit, die Methoden dazu. es war, so pervers es klingt und ist, eine technologische Innovation. der Befehl lautete nun mal – ohne dass das als Rechtfertigung gelten soll – „töte alle Juden in Europa, und wenn da ein paar Dörfer mitdraufgehen, allemal ist das mitinkaufzunehemen“.

    „die Nazis“ – also meine Vorfahren – hatten nur diesen Befehl, dann erst entwickelten sie, Stück für Stück, diesen mörderischen Apparat. so pervers es klingt und ist : sie wussten einfach nicht, wie man das macht. also erfanden sie die rationalste Methode. Über das Ergebnis diskutieren wir hier u.a.

    die Unbegreiflichkeit steht nicht für sich so da, sondern sie war für die Nazis zunächst selber unbegreiflich; sie mussten es erst erfinden. sie haben es aber getan und durchgeführt, das ist der Schrecken.

  2. Das Unbegreifliche ist am deutschen Faschismus aber gerade das Wesentliche. Ihn zeichnet aus, daß er von keiner Theorie mehr wirklich erreicht werden kann. Nicht einmal die Konstruktion eines strafenden Gottes – das erste Tasten wie der letzte Ausweg der Vernunft – vermag die planmäßige, fabrikmäßige Vernichtung von mindestens 6 Millionen Menschen in jenen sinnvollen Zusammenhang zu stellen, in dem der Gegenstand allein erkannt werden kann.

    Der Faschismus war nichts als Menschenwerk, dies offenbar sich noch in der jeglicher Dämonie spottenden “Banalität des Bösen”. Er kann sich real auf keine höhere Gewalt berufen. Damit aber schlägt jede gesellschaftstheoretische Kritik des Faschismus, die, wie gezeigt wurde, ohne die Konstruktion einer höheren Gewalt nicht existieren kann, in Affirmation um, in reine Rechtfertigung dessen, was um keinen Preis zu rechtfertigen ist. Die Theorie sucht nach Gründen. Für die planmäßige Vernichtung von 6 Millionen Menschen, die noch nicht einmal zum Vorteil irgendeines anderen ausgebeutet, sondern einfach nur vernichtet werden, gibt es aber keine Gründe. Und jeder Versuch, sie dennoch zu konstruieren, muß zurückgewiesen werden.

    Was soll ich machen? …, ja soll ich machen, denn das Ganze stellt ja einen moralischen Imperativ dar. Wie vermeiden vernünftige Menschen, also solche, denen Mystizismus fremd ist, und die aus Gewohnheit annehmen, daß nichts in der Realität dem menschlichem Verstande prinzipiell unzugänglich ist, jetzt den Vorwurf der Holocaust-Relativierung oder gar -Leugnung. Was ist, wenn ich Adorno und seinen Nachfolgern wie Pohrt einen Vogel zeige? Na ja, ich begreife Hitler und seine Zeit auch nicht ganz. Daß es Pohrt genauso geht, bedeutet ja aber nicht, daß man den Holocaust nicht prinzipiell begreifen könnte. Relativieren Stalinisten wie Dimitroff oder Historiker wie Adamn Tooze den Holocaust? …,nur weil sie sich Mühe geben, den Holocaust zu verstehen oder zumindestens die Nazizeit einzuordnen?

  3. Hat Pohrt denn nicht verständlich formuliert, worum es geht? Pohrt schrieb nicht: Geschichte, Geschichtsschreibung, Erklärungsmodelle sind nun unmöglich geworden. Er verweist darauf, daß Bücher wie das von Kogons SS-Staat, und man kann viele andere dazunehmen, etwa Brownings Buch über das Polizeibataillon 101, sich mit der Organisation des NS-Staates befassen, aber nicht an den Glutkern heranreichen. Ich würde Pohrt nicht in den Kontext der Theodizee-Frage rücken, das wäre überspitzt, Dennoch hängt es ein wenig damit zusammen.

    Dieses Morden in einen Horizont zu bringen, gelingt nur, indem man sein unverständliches Moment realisiert. Siehe Pohrts Ausführungen zum Verhältnis Begriff und Sache. Das beschrieb Pohrt ziemlich verständlich. Auch für Nicht-Philosophen. Ebenso Adorno Kategorischer Imperativ, der sich eben nicht nur auf die Juden bezieht.

    Theorie sucht nach Gründen. Für solchen Mord aber gibt es keinen zureichenden Grund. Pohrt weist auf die Aporien eines Denkens, das die Shoah in einen Kontext von Erklärungen bringt.

  4. Es gibt natürlich – und da muß man neumondschein Recht geben – eine Haltung, die jedes Verstehenwollen zum gefühlskalten Intellektualismus degradiert. Hannah Arendt ist es so ergangen, das sollten wir nicht vergessen. (Billig ihr heute mit anderer Quellenlage „Fehler“ im Eichmann-Buch „nachzuweisen“ – das nur nebenher).

    Aber: Pohrt antizipiert u.a. auch ein Argument, das unterteuft schon 1980 vorhanden war, 1986 dann vollends öffentlich wurde, und dass rundum abzulehnen ist: Die Rationalisierung Hitlers als angebliche „Reaktion“ auf Stalin. Nolte! Der Historikerstreit! Die Einordnung des Nationalsozialismus in die eben schrecklichen Dreißiger Jahre. Die wohlfeile Bewältigung des Unbewältigbaren auf Kosten der GULAG-Opfer.
    Schon vorher übrigens, nach Erscheinen von Haffners keineswegs affirmativen Hitler-Buch schrieb 1978 Golo Mann: „..zu oft versucht Haffner, im völlig Irrationalen einen rationalen Kern zu suchen.“ Denn Haffner hatte den Mord an den europäischen Juden und Hitlers Atisemitismus zunächst unter der Kapitelüberschrift „Irrtümer“ subsumiert, später taucht der Massenmord dann auch noch im Kapitel „Verbrechen“ auf. Ich will nicht mißverstanden werden: Der Emigrant Haffner ist zunächst unverdächtig, und der Emigrant Mann schnüffelt ja auch gar nicht in diese Richtung.
    Mann weist aber zu Recht darauf hin, dass der Mord an den europäischen Juden eben in keine irgendwie geartete Theorie passt und schon gar nicht als „polit-taktischer Fehler“ oder als „Irrtum“ zu verstehen ist.

    Was nicht heißt, man dürfe nicht „verstehen wollen“. Aber das „Verstehen-Wollen“ war damals eben schon Glatteis. Und es war damals schon diskutiert worden, ob man den Nationalsozialismus in allen Facetten erklären kann oder nicht. In diesem historischen Kontext ist auch Pohrts Text zu sehen.

    Zuletzt nur dieses: Die Schiksal der Nachgeborenen ist wohl insgesamt dieses verzweifelte „Verstehen-Wollen“, das in so krassem Gegensatz zum eben Nicht-Verstehen-Können steht.

    Und zuallerletzt ein Lesetip, ein Jahrhundertext: Jean Améry „Jenseits von Schuld und Sühne“, die Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Amery hat wie Primo Levi das Leben nach dem Überleben nicht mehr auf Dauer bewältigen können. Er starb 1978 in Salzburg durch Selbstmord.

  5. Zumindestens Adam Tooze bietet ein rationales Motiv für den Holocaust an. Man kann sich natürlich darüber streiten, ob seine Erklärung, den Holocaust als eine Entartung von Backes Hungerplan im Zusammenhang mit dem Generalplan Ost anzusehen, den Kern der Sache trifft. Affirmation ist das alles aber trotz allem nicht. Es ist doch eine komische Argumentation zu sagen, Hitler hätte kein Motiv und damit basta, denn jede Erklärung wäre Affirmation. Hier bemüht man ein moralisches Urteil, um ein beliebiges rationales Urteil zu einer Untat, einer Affirmation nämlich, zu erklären. Das geht doch nicht!

  6. Neinnein, man darf natürlich verstehen und verstehen wollen. Man darf aber nicht sein iedeologisch Süppchen am Feuer des dritten Reiches kochen. Und genau das tun doch so viele Rationalisierer.
    Affirmation ist ein ziemlich starker Vorwurf und den sollte man sich in der Tat für tatsächliche Zustimmung aufheben. Ich schrieb ja auch, dass z.B. Haffner diesbezüglich unverdächtig ist. Er stimmt dem dritten Reich natürlich nicht zu aber er rationalisiert eben sehr simpel und das hat Golo Mann gestört. Ich wollte damit auch zeigen, dass unsere Diskussion hier keineswegs neu ist. Zugleich waren die 70-er Jahre auch Hochzeit der allzu trivialen kapitalismuskritischen Faschismusinterpretationen. Pohrts brillianter Text steht in diesem Zusammenhang.

    Tooze kenne ich nicht. Sieht er im Krieg und dann in den Todeszonen des Ostens eine wirtschaftliche Notwendigkeit? Das wäre in der Tat nicht neu. Die versteckte Inflation des dritten Reiches ist bekannt und manche sahen den Krieg dann als wirtschaftliche Notwendigkeit an. Aber führt all das automatisch zum Judenmord? Gibt es überhaupt einen unvermeidbaren Automatismus dorthin?

    Franz Neumann – weißgott ein rationaler Mensch – nannte sein Buch nicht „Anatomie des Faschismus“ sondern „Behemot“, weil er schon damals ahnte, dass da ein merkwürdiger, unerklärlicher Rest bleiben wird.

    Aber das ist auch alles Disput im Guten und gar kein Streit. Wir sind gar nicht so weit auseinander. Grüße.

  7. Etwas erklären, kann sicherlich nicht heißen, dieses zu rechtfertigen. Ich denke, daß es Pohrt um eine Weise von Rationalisierung geht, die über das, was sie behandelt, am Ende hinweggleitet. Dennoch sind diese Ansätze des Verstehens wichtig. Aber es läßt sich Faschismus eben nicht in eine Faschismustheorie pressen, die als deus ex machina die Erklärung dessen liefert, das am Ende ohne jeden Sinn bleibt. Zugleich eignet sich Auschwitz ebenfalls nicht zur negativen Theologie, indem stumm verharrt und ein Name als Mantra gebetet wird.

    Pohrts Text weist auf die Grenze, auf den Spalt zwischen Rationalität, kalkulierender Vernunft, Fortschritt der Geschichte und dem Irrationalen, das in diesen Aspekten zugleich steckt und in Auschwitz zu sich selber kommt. Pohrts Text ist ein dialektisch motivierter, „Die Anpassung der Theorie an ihren unbegreiflichen Gegenstand und damit ihre Kapitulation ist vermittelt durch einen besonderen Mechanismus der Angstbewältigung: zum organisatorischen und technischen Problem neutralisiert und reduziert, verliert die planmäßige Menschenvernichtung ihre Schrecken. Das Unbegreifliche wird scheinbar nicht begreiflich, es wird sogar gewöhnlich, und das beruhigt.“

  8. In krassem Gegensatz zu dieser Einschätzung steht „Ökonomie der Endlösung“ von Götz Aly und Susanne Heim, der zufolge die Shoah die bis zur buchstäblichen Ausbeutung des Menschen bis auf die Knochen fortgeschriebene Exzessform des kapitalistischen Fabrikregimes watr, und zwar aus genuiner wirtschaftlicher Notwendigkeit heraus – der Zweite Weltkrieg, geführt, weil der NS-Staat nicht mehr finanzierbar war und daher die Länder eroberte, in denen man Schulden hatte, Arisierung als Form der Kapitalbeschaffung, aber ein Schuldenberg, der immer größer wurde, ein Delta, dass man ständig vor sich her schon, immer ausbeuterische Formen der Zwangsarbeit, da man sich bezahlte Arbeitskräfte nicht mehr leisten konnte, ein Krioeg im Osten, der als atavistischer Raub- und Plünderungskrieg wie in der Frühantike geführt wurde.

  9. Für mich war dieser Text von Pohrt ein wichtiger Baustein in meiner politischen Biographie, als ich ihn Mitte der 80er Jahre las. Und auch wenn ich an einigen Details herumnörgeln würde (Pohrts „Aktualisierung“ der Judenenvernichtung durch die angedeutete Drohung eines atomaren Holocaust ist wenig plausibel und verdankt sich weniger der Reflexion als der Lektüre von Günter Anders), halte ich ihn nach wie vor für einen wichtigen Text.

    Dennoch ist er mir auf eine gewisse Art und Weise vergällt, was nicht am Text selbst liegt. Denn den „Text selbst“ gibt es so nicht, in ihn schreiben sich immer auch seine Lektüren ein. Und dieser Text hat eine recht perverse Lektüretradition. Er ist, sicherlich gegen die Intention des Autors, ein Gründungsdokument der sogenannten „anti-deutschen“ Ideologie. Im Rahmen dieser ideologie dispensieren Pohrts Überlegungen von jeder Auseinandersetzung mit den Bedingungen der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Denn auch wenn die Shoah nicht auf einen Begriff gebracht werden kann, so fußt sie doch auf Bedingungen, die benannt und begriffen werden können. Diese Bedingungen aber sind eben nur Bedingungen, die Totalität des Schreckens läßt sich aus diesen heraus nicht auf den Begriff bringen – das ist der richtige Kern von Pohrts Text.

    Doch dieses „Mehr“, der Überschuß des Bösen, der Pohrt zufolge nicht auf den Begriff gebracht werden kann, wurde dann in der anti-deutschen Ideologie selbst wieder verdinglicht: Indem eine metaphysische Substanz des „Deutschseins“ angenommen wird, die als Letztbegründung herhalten muß, erspart man sich die Auseinandersetzung mit den historischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Judenvernichtung. Stattdessen wird auf alles und jeden eindroschen, was man durch luftige Analogieschlüsse mit dieser „Substanz“ der Shoah verknüpft.

    Und diese ideologische Lektüre ist dem Pohrtschen Text nicht nur von außen aufgesetzt. Deutlich wird das an Pohrts Polemik gegen Kogon, daß man aus dessen Buch nur lernen könne, wie ein KZ zu machen sei. Hier scheint schon die Verachtung für die notwendige, wenn auch nicht hinreichende historische Auseinandersetzung mit der konkreten Funktionsweise des Nationalsozialimus auf, die eine Voraussetzung für die anti-deutsche Substanzmetaphysik bildet.

    Aber das ist natürlich eine Lektüre von heute aus, die die spezifische Lektüre des Textes mit einbezieht.

  10. Danke zunächst für diese beiden erhellenden Beiträge

    @ che
    Alys These zeigt auf eine Dimension des NS-Staates: nämlich die wirtschaftliche Versorgung und Alimentierung, damit es nicht wieder wie im Ersten Weltkrieg an der Heimatfront bröckelt. Länder zu plündern, um der eigenen Wirtschaft Reichtümer und Kunst zuzuführen, ist in der Geschichte nicht neu. Aber der wirtschaftspolitische Aspekt versagt vor dem, was sich (eliminatorischer) Antisemitismus nennt. Alys Ansatz mag im Bereich der Durchökonomisierung einiges Erhellendes zutage bringen. Aber er liefert keine Erklärung für das System der Vernichtungslager sowie den Antisemitismus. Sofern er dies beabsichtigte, fällt er vollständig unter das Verdikt von Pohrt.

    @ alterbolschewik
    Man mag Pohrts Anmerkungen zu Kogon polemisch lesen, aber sie enthalten dennoch einen Moment der Wahrheit: Pohrt weist auf die Grenze von Kogons Buch hin: daß die Erklärungen und das Verstehen – notwendigerweise – in einem Funktionalismus münden müssen. Explanans und Explanandum versagen vor dem Phänomen.

    Richtig ist es, daß der Text von Pohrt sicherlich nicht davon entbinden kann, nach den Bedingungen zu fragen und Theorie zu liefern, die auf verschiedene Bereiche gehen. Das wäre geradezu kontraproduktiv und machte es denen, die die Augen verschließen wollen, ziemlich leicht. Ein Text, auch der Pohrts, ist Dokument seiner Zeit, stellt eine eigene Struktur dar, in die sich verschiedene Lektüren einschreiben. Texte sind an den Zeitkern gebunden, und sie können mit sich verändernden Umständen eine andere Aussage befördern und andere Lesarten zulassen. Deshalb ist der Ansatz der Hermeneutik nicht falsch, einen Text zunächst einmal in seinem Horizont zu betrachten, in dem er geschrieben wurde. Im Anschluß ans textimmanente Verstehen jedoch schließen sich ein externes Moment sowie der Gang der Geschichte, die einen Text berührt und dessen Lektüre verändert.

    „Indem eine metaphysische Substanz des ‚Deutschseins‘ angenommen wird, die als Letztbegründung herhalten muß, erspart man sich die Auseinandersetzung mit den historischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Judenvernichtung.“ Hier sehe ich ebenfalls das Problem einer sich auf Pohrt berufenden antideutschen Perspektive: immer dann, wenn es zu Verdinglichungen oder zu Substantiierungen und Wesenheiten kommt, unter denen eine Sache singulär subsumiert wird, greift die Argumentation greift zu kurz. Und insofern bin ich ebenfalls vorsichtig, wenn es um den singulären Charakter der Shoah geht, indem dieser gegen anderes ausgespielt wird. Zu der einen wie zu der anderen Seite hin.

    Ich lese Pohrts Text jedoch ebenso als einen solchen, der mit dem Materialismus im Augenblick seines Sturzes angesichts des Unbegreiflichen solidarisch ist, indem von einer Position her gedacht wird, die weder diesseits noch jenseits zu den verschiedenen Faschismustheorien oder zu materialistischen Ansätzen steht, sondern die überhaupt erst das Gründende dieser Theorien in den Blick nehmen möchte und zudem einseitig materialistische Faschismustheorien in die Kritik nimmt. Allerdings bin ich kein Historiker, um hier den Stand der Forschung irgendwie überblicken zu können. Daß Pohrt die theologische Perspektive zumindest nennt – ohne dazu freilich mehr zu schreiben –, gibt einen Hinweis in die Richtung. In diesem Sinne war auch meine Anmerkung bezüglich der Leibnizschen Theodizee motiviert. Obgleich Pohrt ungemein aus der materialistischen Perspektive heraus schreibt, weist dieser Text dennoch auf ein ganz und gar nicht-materialistisches Motiv, das die Konzeption einer irgendwie vernünftig eingerichteten Welt mit einem Fragezeichen versieht. Allerdings ohne dabei in den Obskurantismus abzugleiten.

  11. Na ja, der Pohrt war schon auch selber eine Art prototypischer Antideutscher. Der hatte sich sogar freiwillig zur israelischen Armee gemeldet um deutsche Schuld zu tilgen, nur wollte ihn dort niemand haben. Und seine Studie „auf dem Weg zur inneren Einheit“ trieft vor bildungsbürgerlichen Vorurteilen. Da, wo er einen Republikaner interviewt wendet er die F-Skalen-Sätze auf dessen „debile“ und „demente“ Sprache an. Es ist die Sprache eines ungelernten Arbeiters. Als ich in einem Seminar aus dieser Arbeit vorlas fragte mich eine Studentin, ob das eine Satire sei.

  12. Wieder einmal zeigt sich, daß Text und Leben auseinanderfallen können. „Der Weg zur inneren Einheit“ kenne ich nicht – ich müßte dort hineinlesen. Allerdings sehe ich durchaus einen Zusammenhang zwischen Sprache und Sicht auf Welt. (Wenngleich das nicht dem Dünkel geschuldet sein und kein eindimensionales Modell werden sollte. Daß Bildung und Wissen nicht vorm Faschismus und Rassismus schützten, zeigte sich wohl deutlich in Deutschland.)

  13. @che
    Es ist die Frage, was ein prototypischer Antideutscher ist. Afaik hat sich Pohrt irgendwann von dieser Bewegung distanziert, als es zu bunt wurde. Wer die „Jungle World“ antideutsch nennt, müsste Pohrt vielleicht auch so nennen, am Bahamas-Irrsinn hat er sich dann nicht mehr beteiligt.

  14. Dass die Analyse, man könne den Mord an den europäischen Juden nicht in üblichen gesellschaftskriminalistischen Begriffen beschreiben, in der Folge wegen der verzweifelten Motivsuch zu einer anti-deutischen, quasi genetischen Ideologie/Religion führen KANN (das bad-german-gene), hat alter autonomer überzeugend dargetan.

    Natürlich gab und gibt es diese negative Religion, man sei Angehöriger eines schlechten Stammes und habe darob Buße zu tun und z.B. kritiklos Israel zu unterstützen. Im Gorki läuft derzeit „der Russe ist jemand, der Birken liebt“ – hier und im Buch kommt als Nebenfigur solch ein Karikatur eines mühlsteinbehangenen Deutschen vor, der stumpf zu jeder pro-israel-Demo tapert und jedem, der nicht mitmacht, vorwirft, er habe aus der Vergangenheit nichts gelernt… ja solche Typen gibt es. Sie trinken ihren Kaffee aus Tassen mit Davidstern, heißen Hans Müller, nennen sich aber auf Nachfrage Schlomo Weiß. Manche schnitten schon eigenhändig an ihrem Körper herum. Andere setzten sich schwarze Mützen auf, da sie eigentlich Juden seien und alle Juden ja schwarze Haare haben. Kein Witz!!! Einen solchen Patienten traf ich einst. Er hatte keinerlei Leidensdruck…
    Dass es sich hierbei neben einer ausgefeilten Psychopathologie gewissermaßen um eine Negation des jus sanguis handelt, ist ja evident. Ich bin für die Hölle auserwählt, weil Deutscher, Erlösung folglich durch Philosemitismus… diese in den 90er Jahren so inflationär existierenden, siebenarmigen Leuchter! Es gab und gibt sie.
    Daneben – korrespondierend mit diesen Armleuchtern – der betuliche, gehemmt-aggressive Versöhnungsprotestantismus zur alljährlichen Woche der Brüderlichkeit. Was passiert eigentlich, wenn der gehemmt-aggressiv vorgetragene Versöhnungsanspruch nicht erwiedert wird. Fällt dann die Hemmung weg? Wohin geht dann die Aggression? Man wird ja wohl noch fragen dürfen…

    All diese Mechanismen sind unbestreitbar. Aber das meinte ich (und ich glaube auch bersarin) nicht. Niemand spricht hier ein Denkverbot aus. Und dass es benennbare Teilmotive für den Gesamtkomplex „Zweiter Weltkrieg“ gibt, stimmt natürlich. Auf die verdeckte Inflation und die wirtschaftliche Notwendigkeit eines Raubzuges hatte ich bereits vorgestern hingewiesen. Ché hat diese Sicht noch erweitert mit seinem Hinweis auf Götz Aly. Daneben ist die Revision des Verssailler Vertrages zu nennen, jene eingebildete, narzistische Kränkung, unter der zu leiden viele Deutsche der damaligen Zeit als notwendig ansahen. Als Ursache dieser narzistischen Kränkung wurde die Republik angesehen, die angeblich gegen den Willen der militärischen Führung den Waffenstillstand unterzeichnet hatte (in Wahrheit hat Ludendorf die Republik willentlich mit dieser Bürde belastet und sich selbst entlastet; ein Waffenstillstand war nämlich militärisch notwendig, was Ludendorf sehr wohl wußte. Eine der fatalsten Gestalten der deutschen Geschichte!!!).
    Neben derm Abstraktum Republik als angebliche Ursache der nationalen Kränkung konkretisierte die Dolchstoßlegende erstmals auch die „vaterlandslosen“ Juden als angebliche Verräter. War hier die Mutation des „Volksantisemitismus“, des „Sozialismus der dummen Kerls“ hin zum Vernichtungsantisemitismus? Diese Schnittstelle zwischen dem vorhandenen Antisemitismus und der eingebildeten nationalen Kränkung könnte entscheidend sein….
    Noch einmal: Natürlich darf man so diskutieren und analysieren. Das als Affirmation zu sehen ist Unfug.

    Nur: Für mich bleibt trotzdem ein Rest, der nicht aufgeht. Alle diese Motive und Verbindungen sind notwendige Faktoren, in der Summe aber eben nicht hinreichend, um über den Krieg hinaus den Mord an den europäischen Juden zu erklären.
    Grüße an alle Disputanten.

  15. @ summacumlaude
    Diese Dinge zu benennen, insbesondere ins Heute hin, bleibt wesentlicher Bestandteil einer Analyse. Pohrts Text beruht sicherlich auf einem bestimmten zeitgeschichtlichen Umstand und ist aus einer Situation heraus geschrieben, auf die er reagierte. Insbesondere die viel zu einfache These, daß der Faschismus lediglich Resultat des Kapitalismus sei. Und so wird in den Faschismustheorien freudig über jegliche Besonderheit hinweggeglitten.

  16. Danke für den Link auf diesen hochinteressanten und lehrreichen Beitrag von Dir sowie die genialen Kommentare und Ergänzungen des Nörglers. Das eben scheint mir an der Welt der Blogs so bedauerlich: Manch guter Text kommt aus seiner Vergrabung nur noch selten hervor. Hier lohnte es sich, daß ein Beitrag von 2006 wieder hervorgeholt wurde.

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