Bekenntnisse eines Unpolitischen: Peter Sloterdijk in Berlin – ich war dabei

Nun gebe ich zu, mache coming-out, mache mich unbeliebt, mache confessio, folge dem Beichtzwang, verliere Leser, erhalte zukünftig keine Mailzuschriften mehr von (selbstredend gutaussehenden) blonden Frauen, die wilde Abende mit mir verbringen wollen, bleibe in der Einsamkeit des Gemiedenen: ja, ich habe es getan. Ich bin bei ihm gewesen, habe den Leibhaftigen gesucht und gesehen. Gestern, am Sonntag, einen Tag nach Halloween, zu Allerheiligen im Deutschen Theater zu Berlin: um 11 Uhr morgens, zusammen mit dem an der Humboldt Universität lehrenden Philosophen Thomas Macho:

Peter Sloterdijk

(Also nicht ich, zusammen mit Thomas Macho, sondern Sloterdijk mit Thomas Macho, der allerdings eher soufflierend wirkte bzw. die Rolle des Moderators übernahm. Ein kontroverses Gespräch kam leider nicht auf. Dies wäre an manchen Stellen mehr als nötig gewesen.)

Der Druck in der Magengegend ist fort, denn ich habe es ausgesprochen. Und nun mache ich mich hoffentlich nicht faschismuskompatibel und ausspuckenswert, aber ich fand, auch dies gebe ich nun zu, Sloterdijks Auftritt stellenweise nicht schlecht: Denn immerhin, er ist amüsant, er besitzt Esprit, weiß zu parlieren und zu parieren. Eigenschaften, die ich zunächst einmal schätze, und ich darf das ja als Ästhetiker auch, im Gegensatz zum Gesinnungsethiker. Der Stil, den Bohrer in der FAZ bei Sloterdijk heraushebt, der ist bei ihm durchaus vorhanden. (Wobei Bohrers Beitrag an Ridkülität nicht zu überbieten ist, der Frankfurter Philosophieprofessor Martin Seel hat hierzu in der „Zeit“-Ausgabe dieser Woche  eigentlich alles geschrieben und exakt auf den Punkt gebracht; manchmal ist es besser, wenn Menschen wie Bohrer, welche in Ästhetik machen und deren Ausführungen zu ästhetischen Fragen und Problemen teils sehr instruktiv sind, die Ausflüge in die Politik tunlichst unterlassen sollten, zumindest dann, wenn es derart unreflektiert und eines Philosophen unwürdig geschieht, so daß es blamabel und damit vollkommen stillos ist. Der perfekte Dandy läßt sich nicht hinreißen, schon gar nicht zu so etwas. Er schweigt, trinkt einen guten Rotwein, niemals jedoch Chablis.) Aber die Frage ist natürlich, ob solch ein metapherngesättigtes, rhetorisch ausgefeiltes Sprechen und Schreiben wie bei Sloterdijk ausreicht oder nicht vielmehr ein Oberflächenphänomen ist, das am Ende nur Nebel erzeugt und die Sache verdeckt.

Aber erst einmal der Reihe nach: Sloterdijk stellte im Deutschen Theater sein Buch „Du mußt Dein Leben ändern“ vor. Weniger ging es bei dieser Veranstaltung um die Diskussion in der FAZ und der „Zeit“ sowie Sloterdijks abenteuerliche Thesen im „Cicero“; diese Dinge wurden nicht einmal gestreift. Zumindest aber hat mich der Vortrag Sloterdijks doch ein wenig neugierig gemacht auf sein Buch, in dem es um die Anthropotechniken sowie die (Ein-)Übungen geht, die zu leisten sind. Im Grunde etwas, das sich auch mit Nietzsche und Foucault als Selbstprakitk lesen läßt, die Steigerung des Selbst, aber auch die Überschreitung der (Selbst-)Grenzen. Der Übermensch bei Nietzsche, so Sloterdijk, im Grunde ein Druckfehler, es ist der übende Mensch, der dann ja in der Tat auch in den Nachgelassenen Schriften Nietzsches häufig genannt wird.

Vieles wurde in dem Vortrag gestreift. Die Übungstechniken in den frühmittelalterlichen Klöstern, das Lesen im Buch der Welt, im Buch des Selbst und im Heiligen Buch, der Mensch als Lektor im Buch der Natur, im Buch des Selbst, der dort korrigierend heraus- oder hereinliest, der Mensch als das Wesen, welches in diesem Buch die Druckfehler beseitigt zwecks Optimierung. Dies reicht von der Antike über die besagten Klöstern bis hin zur pädagogischen Ausbildung etwa im Sinne Comenius und den Konzepten der Aufklärer, die bis heute reichen, dort zum Extrem werden und, in der Computersprache gesprochen, so Sloterdijk, als Formatierung des Menschen betrieben werden. Es sind Übungen, Arbeit, die nötig ist, um die unterschiedlichsten Fähigkeiten zu steigern: ob dies nun die antike Athletik ist, die Fingerfertigkeit des Handwerkers und des Pianisten oder das Extrembergsteigen, die Arbeit und Leistung des Denken, die Vervollkommnung der Handlungen: wir betreiben Einübungen und in unseren Lektüren im Buch des Selbst beständig Verbesserungen. Und dabei bemerken wir im Treiben der Selbstvervollkommnung: Wir sind umgeben von Druckfehlern, so Sloterdijk witzelnd.

Es wurde an dieser Stelle nicht so recht klar, was genau er damit meinte. Wie der geneigte Leser und auch die geneigte Leserin bemerkt haben wird: ich bin zunächst ein wohlwollender Lektor und Leser bzw. Zuhörer Sloterdijks, auch beuge ich mich keinem Zeitgeist oder lasse mir Lesarten vorgeben: In solchen Passagen wird es jedoch grenzwertig. Wie gesagt, ich will das Faschismusknüppelchen nicht ziehen, da ich es zunächst mit dem principle of charity halte und ein zuweilen sentimentaler Resthermeneutiker bin. Auch sollte man sich das Ganze des Textes anschauen. Ja, die Lacher waren bei diesem Aperçu auf Sloterdijks Seite, doch hier reichen Stil und Rhetorik nicht aus, und ohne eine weiterführende Erklärung, was eine Druckfehlerbeseitigung wohl bedeuten könnte, begibt sich Sloterdijk auf ein schlimmes Terrain. Erst recht dann, wenn in der Folge des Vortrags der Begriff der Viel-zu- vielen fällt.

Sicherlich: dieser Begriff ist motiviert durch ein Konzept von Biopolitik und Biomacht, jener Macht, die sterben macht und leben läßt: Macht, welche im aufkommenden Gefüge der europäischen Nationalstaaten einzig durch eine hohe Bevölkerungszahl zu erreichen ist. Insofern auch die Schwere der Strafe sowie die gesellschaftliche Ächtung bei Kindstötung, genauso unterlag die „Untertanenhinterziehung im Schlafzimmer“ der sozialen Ächtung. Insbesondere kaprizierte sich Sloterdijk hier auf das 17. Jahrhundert und stellte zugleich einen Bezug zu Foucault her, insbesondere zu „Überwachen und Strafen“ sowie „Wahnsinn und Gesellschaft“, um die Einschließungs- und Ausschließungssysteme einer Gesellschaft aufzuzeigen, die aufgestellt werden, um eben jener Zuvielen, die nicht bereit zum Üben sind, Herr zu werden.

Wie es hierbei um die Verbindungen zu Foucault und natürlich Agamben steht, wird sich wohl erst in der Lektüre von Sloterdijks Buch selbst erweisen. In seinem Vortrag hat er diese Dinge lediglich gestreift, so daß sich die Bezüge lediglich ahnen lassen.

Es mag aufs ganze gesehen eine Petitesse sein. Aber im Zusammenhang der „Entsorgung“ jener Zuvielen in die Kolonien, wobei diese Zuvielen, nach Sloterdijk, zu einer großen Zahl Kriminelle oder aber religiöse Abweichler waren, davon zu sprechen, daß man Amerikaner bloß nicht auf das Thema Kriminalität ansprechen soll, weil drei Generationen vorher immer irgendein Krimineller in der Familie war, das ist nicht nur ein billiger, europäischer Antiamerikanismus, der mit der Geste einer heuchlerischen Überlegenheit daherkommt, sondern es zeugt auch von einer Sichtweise, die auf den schnellen und billig erkauften Witz aus ist. Im Zusammenspiel mit der Rede von den Zuvielen zeigt sich hier eine gefährliche Sicht, die mit geistiger Überlegenheit und sprachlicher Gewandtheit daherkommt, um über die nicht so gut Weggekommenen mit herrischer Geste hinwegzuschreiten. Zudem wäre natürlich die Frage zu stellen, wer die Bestimmungen setzt, was nun zu viel oder zu wenig im Üben ist.

Immerhin hat Sloterdijk allerdings, eben im Anschluß an Foucault, die Ausschließungsmechanismen aufgezeigt, die es einer Gesellschaft ermöglicht, zu funktionieren und zu disziplinieren: eben durch die Abschiebung von Mißliebigen, die Ausgliederung von denen, die nicht genug geübt haben, in Kolonien, Irrenanstalten oder Gefängnisse. Wieweit bei Sloterdijk an solchen Stellen jedoch in kritischer Impuls steckt, der ja bei Foucault und Agamben deutlich vorhanden ist, läßt sich ohne die Lektüre des Buches schwer ausmachen. Im Vortrag zumindest war er nicht herauszuhören. Hier standen eigentlich mehr die Selbstpraktiken im Vordergrund, die das Subjekt steigern. Wieweit seine Rhetorik der Übungen und der Selbststeigerungen einem neoliberalen und damit eben unkritischen Weltbild geschuldet ist, kann man nach diesem Vortrag nur vermuten. Zumindest drängen sich ein wenig Stichworte wie Marktoptimierung des Subjekts und ähnlicher Unsinn auf. Selbststeigerungen für den Arbeitsplatz.

Dennoch werfen solche Dinge am Ende eine Sicht aufs Ganze der Sloterdijkschen Philosophie. Vielleicht mag es übertrieben erscheinen sich an der Druckfehlerbeseitigung, jenem antiamerikanischen Blödsinn oder der Rede von den Vielzuvielen festzubeißen. Denn Sloterdijk ist klug genug: er wird sich hütet, die Karten offen auf den Tisch zu legen oder irgendwelchen Eliminierungsphantasien ihren freien Lauf zu lassen: Im Rausch, Rauch und im Nebel der Metaphern und des Stils hält er sich bedeckt. Ob diese Methode der Metaphorisierung des Sozialen nun Camouflage ist oder einfach nur der unbändigen Lust am ästhetischen Spiel geschuldet ist, vermag ich nicht zu sagen, da meine Sloterdijk-Kenntnisse begrenzt sind. Dennoch: das Buch wird herbeigeschafft.

16 Gedanken zu „Bekenntnisse eines Unpolitischen: Peter Sloterdijk in Berlin – ich war dabei

  1. Na, endlich mal einer, der dabeigewesen ist :-)

    Sloterdijk kann bestimmt nett durch den Mittag parlieren, aber ist es nicht komisch, dass du auch nach der Lesung nicht weißt, ob kritische Impulse auszumachen sind? Und dass so manches nur vermutet werden kann? Du schreibst es ja selber, er hält sich gerne bedeckt, was wohl als Teil einer intelligenten Vermarktungsstrategie verstanden werden kann, aber auch nicht mehr, oder? Oder was ist so erkenntnisfördernd an der Tatsache, dass er seine Karten nicht auf den Tisch legt? Ich vermute, dass du nach der Buchlektüre nicht wesentlich schlauer sein wirst, bin aber jetzt schon gespannt auf den Bericht!

    Dennoch: Sloterdijk ist in Teilen sicher ein origineller Denker. Seine Schaum-Ideen in der Architektur sind originell, soweit ich das gelesen habe. Allerdings braucht er eine Unmenge an mehr oder weniger neuen Thesen, um dann wenigstens ein paar brauchbare hervorzubringen.

  2. Ja, dieser Schwebezustand bei Sloterdijk hinterläßt den Zuhörer am Ende des Vortrags eher ratlos. Teils originell, teils erschreckend sind seine Ausführungen.

    Aber ich denke, ich muß das Buch zumindest anfangen zu lesen. Allerdings wird das wohl nichts vor Weihnachten.
    (Und die Adorno-Musiktexte stehen ja auch noch aus.)

  3. Bei Sloterdijk verdienen die Nichtübenden keinen Respekt; bei Sarrazin verdienen die ökonomisch Nichtleistenden keine Anerkennung. Beide Herren meinen, es gibt zu viele von denen. Ich hatte das bereits als protoeliminatorischen Antipauperismus bezeichnet (wobei die Vorsilbe „proto“ sich einem Hinweis von Dr. Dean verdankt).
    Man mag sagen, hier zeige sich die Entbürgerlichung der bürgerlichen Welt, da die gegenseitige Anerkennung der Warenbesitzer als gleiche Rechtssubjekte der zivilisatorische Fortschritt gegen den Feudalismus war.
    Richtig – der Warenbesitzer! Wer aber seine Arbeitskraft zum Verkauf anbietet, diese jedoch nicht gekauft wird, der ist auch kein Warenbesitzer, denn die Ware, die nicht verkauft/gekauft wird, ist keine. Insoweit sind S&S nicht antibürgerlich, sondern konsequent.

  4. „er ist amüsant, er besitzt Esprit, weiß zu parlieren und zu parieren. Eigenschaften, die ich zunächst einmal schätze, und ich darf das ja als Ästhetiker auch, im Gegensatz zum Gesinnungsethiker.“

    Nananana – das“ dürfen“ „Gesinnungsethiker“ nun auch, ich glaube, Du erliegst da bei aller Koketterie einem nietzscheanischen Zerrbild, das ja letztlich sogar als Form von Ethik, nämlich Regelhaftigkeit im Bezug auf sich selbst, auftritt.

    Das bewegt sich ja keineswegs im Raum das Außermoralischen, so, wie Du es formulierst. Und hat dann eben doch mit Sloterdijk, Thatcher und Ratzinger zu tun: Was da ja passiert, ist, dass die seit Kant obsoleten und als nicht begründungsfähig geltenden Pflichten gegenüber sich selbst als ERSATZ jener Anderen gegenüber eingeführt werden, was in mittelalterlichen Klöstern undenkbar gewesen wäre und moralisch fatal ist.

    Ich habe beim Lesen auch wirklich Schreikrämpfe bekommen, weil sich hinter diesem kamerageschulten „Parlieren“ ja einfach die Sloterdijksche Trickkiste verbirgt, einfach Gutes zusammen zu klauben und in einer historisch hanebüchenen Metaphernmaschine zu versenken, um es auf politisch rechts zu drehen.

    Das ist reine Texttechnik, die auf Textverständnis bewusst verzichtet (deswegen kann der so viel schreiben, bei Texttechniken geht das) und eine Vergwaltigung der ja auch schon miesen Foucault-Rezeptionslinie von diesem Wilhelm Schmidt Lebenskunst-Geblubber, gewendet ins Autoritäre.

    Man muss sich genau angucken, wieso und warum Foucault die „Selbsttechniken“ einführte und wie er es tat: Mit Mitteln der Antike und des frühen Christentums unter Bedingungen der frühen 80er Selbstbestimmung zu denken, weil’s damals quer stand zu dem, was er als Problem diagnostizierte – und trotzdem die Antike als „großen Irrtum“, lachend, auszuweisen und als eine frauenfeindliche Sklavenhaltergesellschaft.

    Sloterdijk macht genau das Gegenteil, indem er Phrasen dreschend das auf schlau umformuliert mit diesem ekligen Gestus, der auch in Neo Rauch-Bildern steckt, dieser weihevolle und doch augenzwinkernde Pseudo-Tiefsinn.

    Und wenn man das dann als „Stil“ feiert und glaubt, es ginge da um Ästhetik versus Moral, dann geht man denen schlicht auf den Leim. Da hat der Menke schon recht.

  5. @ Nörgler
    Die Aufhebung der Anerkennung bzw. des Respekts gegenüber dem Anderen gibt auch in meiner Sicht das einschneidende Kriterium ab und ist ein Moment oder ein weiterer Mosaikstein, um eine Gesellschaft, in der Rechte und politische Teilhabe (one man, one vote) gleich verteilt sein sollten (Webersche Idealtypuskonstruktion meinerseits), auszuhebeln. Hierzu braucht es dann intellektuelles Rüstzeug und die Bestätigung durch verbeamtete Philosophen. Es wird (ganz allgemein, nicht speziell in Sloterdijks Vortrag) etwa von Steuerbürgern gesprochen, von Minderleistern, Alkoholismus und Kindervernachlässigung werden lediglich einem bestimmten Milieu zugeschrieben usw., was bedeutet, daß eine Kluft eröffnet werden soll: die da und wir hier. Aus dem Faktum, daß Subjekte sich in einer Gesellschaft nun einmal verschieden verhalten und aufgrund ungleich verteilter ökonomischer Startpositionen anders agieren müssen, wird abgeleitet, daß der Hartz IVler oder der, welcher nicht mehr mitkommen mag oder kann (der nicht mehr Üben-Wollende oder -Könnende) einen anderen Platz zugewiesen bekommt. Belohnung nur nach Leistung und bei (erfolgreicher) Zweckoptimierung. (Ich denke aber, daß diese Dinge in anderen Blogs besser und genauer kritisiert und analysiert werden als das hier der Fall ist.)

    Inwieweit sich Sloterdijk zur Aufspaltung der Gesellschaft in Teilnehmer (oder gar Profiteure) und Marginalisierte, denen Kraft ihrer Position die Rechte versagt werden, in seinem Buch äußert und ob dies für ihn überhaupt ein Problem darstellt, vermag ich ohne zumindest kursorische Lektüre nicht zu sagen. Von seinen Ausführungen im Deutschen Theater her scheint sich mir Deine Sicht zu bestätigen. Es wird eine Individualethik propagiert, die dann sozial aufgeladen und allgemein normativ gemacht wird, um die Mechanismen des Ausschlusses ihre Legitimität zu verschaffen. Dies ließe sich in den Konsequenzen in der Tat als posteliminatorischer Antipauperismus bezeichnen. Diese Formulierung ist insbesondere im Zusammenhang mit den Aspekten der Biomacht und der Biopolitik, auf die Sloterdijk verweist, äußerst treffend.

    Wobei, so sei zum Abschluß gesagt, die These vom Üben einen gewissen Reiz und in einer bestimmten Konstellation auch ihre Richtigkeit hat: es kommt nur auf die Ableitungen an, die unternommen werden.

    Dasselbe Problem besteht ja bei Nietzsche, in dessen Tradition sich Sloterdijk sieht. Auch bei ihm geht es (zu einem Teil zumindest) um Selbstpraktiken mit einhergehender Vernachlässigung des Gesellschaftlichen. So wie die Schuld individualisiert wird, kann dann bei Nietzsche die Positivleistung des gelingenden Übens rein ins Subjekt verlagert werden.

    Dennoch: auch die Denker der Aufklärung (und nicht nur die, es ist ja eine Tradition, die bis in die Antike reicht) haben ja ein, mit Sloterdijk gesprochen, gigantisches Übungsfeld aufgebaut, um bessere Subjekte zu schaffen (und damit auch eine bessere Gesellschaft), das Beste im Menschen eben nach außen zu legen und wirklich zu machen, ein autonomes Subjekt zu bilden. Dies funktioniert – trivialerweise muß man sagen – nur mit Übungen bzw. mittels der Kategorie der Arbeit, sozusagen im Stoffwechsel mit der Natur. Insofern wäre in solchen Prozessen schon eine „Dialektik der Aufklärung“ zu sehen, die bei Sloterdijk (möglicherweise) neu ausformuliert wird. Man muß bei dieser allerdings aufpassen, daß sie nicht wiederum den Dreh in eine falsche Richtung erhält: Sozusagen Adorno, nur mit anderen Vorzeichen.

    @Momorulez
    In der Tendenz hast Du sicherlich recht. (War auch eher eine Anspielung auf Kierkegaards Ästhetiker und Ethiker) Wie es sich zu Foucault verhält, kann ich erst sagen, wenn ich Sloterdijks Buch kenne. Ich vermute aber, wie ich schon schrieb, daß die kritische Achse Foucaults bewußt ausgeblendet wird. Allerdings bezieht sich auch Sloterdijk auf die Antike sowie das frühe Mittelalter, der Dreh wird aber ein anderer, eben kein kritischer sein.

    Die Ästhetik Sloterdijks liegt in der Art, die Dinge darzustellen (Metaphernnebel, die erzeugt werden, stellenweise wird es dabei gefährlich bzw. unappetitlich), deshalb eben Stil (als Methode). Das, was er aussagt, der Inhalt, des Beiwerks entkleidet, liegt klar auf der Ebene von (möglichen) Handlungen, damit eben im praktischen Bereich. Hier fängt es an gefährlich zu werden. Zu solchen Verhältnissen von Ethischem und Ästhetischem, der gefährlichen Ästhetisierung des Politischen schreibt ja Hartmut auf „Kritik und Kunst“ Deutliches.

    Menkes Text in der „Zeit“ sagt alles.

  6. „der gefährlichen Ästhetisierung des Politischen“ – und es bleibt für mich ein Stück weit offen, inwiefern Nietzsche selber gesellschaftspolitisch wirken wollte. Dass er kein bloßer Ästhet war, ist schon klar – das Leben als gesamtkunstwerk -, aber ich bin mir unschlüssiger denn je, ob taureck mit seiner kritik an Nietzsvche Recht hat. Dass Nietzsche eine Tradition von rechts-Nietzscheanismus eröfnet hat, die in einer sehr unguten Linie vom 1933er Benn über Strauss´anschwellenden Bocksgesang, Bohrers Rehabilitierung des Opfer-Begriffs bis hin zu Sloterdijks (in meinen Augen) offenkundigem Sozialdarwinismus führt, ist aber wohl unstreitig.

    @ noergler „protoeliminatorischer Antipauperismus“ werde ich mir schamlos klauen. Wir sind im Web, da darf man ja…

  7. Die (gesellschaftspolitische) Wirkung Nietzsches dürfte nicht ganz einfach auszumachen sein. Die Äußerungen in „Ecce homo“: schwer ist es, diese letzte Schrift von ihm zu deuten, ihre Lektüre erlaubt vieles.

    Der Wille zur Macht, zuweilen erscheint er als erkenntnistheoretisches Konzept, an anderen Stellen wiederum doch sehr politisch gedacht. Das Schillernde bei Nietzsche, dieses Vexierbildartige erfordert insofern eine sehr spezielle Lektüre. Mich zumindest hinterläßt er immer wieder einmal in Ratlosigkeit, aber doch gepaart mit der Faszination.

    Was Sloterdijk betrifft: Die fiskalpolitischen Äußerungen von ihm sind eindeutig. Dies ist entweder Sozialdarwinismus oder da ist einer dümmer als der Lektor erlaubt. Dennoch interessiert es mich, was in diesem neuen Buch nun drinnen steckt. (Da ist es wie bei Bohrer, seine Texte zur Ästhetik beschäftigen mich seit bald 20 Jahren, und es ist manches Gute dabei. Was er als politischer Autor schreibt ist leider oftmals abstoßend oder einfach nur banal.)

  8. Noch ein flotter Gedanke zum Thema „die Karten nicht auf den Tisch legen“: Wenn Sloterdijk einerseits sehr klar die Reichen zu einer Art Steuerstreik auffordert, gleichzeitig behauptet, Fürsorge sei trotzdem möglich, und andererseits zur Praktikabilität dieses Unternehmens nur etwas vom „Stolz der Reichen, Gutes zu tun“ erzählt, dann liegen die Karten eigentlich auf dem Tisch. Es müssten hier Begriffe wie Solidarität oder Loyalität oder Altruismus oder sonstwas fallen. „Stolz“ ist in dem Zusammenhang nur gefährlich, denn wenn den Reichen das Nicht-Geben stolz macht, hat der Arme eben Pech gehabt.

    Sloterdijk legt in gewisser Weise schon die Karten auf den Tisch, eben auch durch Weglassen.

  9. Ich will ja, dass der Begriff des protoeliminatorischen Antipauperismus sich verbreitet. Aber nicht, dass es, wie bei „Anja-Tanja“, nachher wieder heißt, der Knüwer hat’s erfunden.

  10. @genova 68
    Um es mit unserem ehemaligen Wirtschafts- und jetzigen Verteidigungsminister zu sagen: da bin ich ganz bei Dir. In diesen Teilen, die Sloterdijk in den Feuilletons äußert, liegt alles deutlich da. (Und insofern interessiert mich sein Buch eben doppelt, wie er diese Dinge dort verpackt und wie er sich in der theoretischen Substanz entäußert.)
    Zu diesem Aspekt der sozialen Ausdifferenzierung von Besserleistern und Minderleistern, die dann eben da wohnen müssen, wo es scheiße ist, auch interessant zu lesen in der „Zeit“ der letzten Woche: das Dossier zur Hamburger Hafencity. Diese Dinge sind erschreckend.

    @Nörgler
    Also gut, dann werde auch ich, wo angebracht, diese gelungene Wendung des protoeliminatorischen Antipauperismus benutzten, sozusagen aus Solidarität mir den Begriffen im Augenblick ihres Auftauchens.

  11. Was Sloterdijk vor noch nicht langer Zeit etwa über den „Weltinnenraum des Kapitals“ ausführte, zeigte eine grundsätzlich kritische Stellung des Gedankens zur Wirklichkeit. Dass ausgerechnet er einmal mitwirken könnte bei diesem öden, subintellektuellen „Leistungsträger“-Mist, und das noch mitten in der „Krieg den Hütten, Friede den Palästen“-Fraktion – das verblüffte mich; das hätte ich nicht für möglich gehalten. Es zeigt aber, wie sehr den Klein- und Mittelbürgern derzeit das Gesäß auf Grundeis geht.

  12. Bei Sloterdijk gibt es einerseits brillante, zumindest jedoch zeitweise geistreiche Einsichten wie etwa in der „Kritik der zynischen Vernunft“ (vor langer, langer Zeit), dann wieder folgen tagespolitische Äußerungen, die nicht einmal als Heuristikon ihren Wert haben. Es sei denn, er wollte provozieren, so wie ich es zuweilen mit Carl Schmitt gerne betreibe auf langweiligen Partys mit schlechter Frauenquote im gutwilligen, langweiligen, gleichgestimmten linken Milljöh, dazu noch ein wenig Benjamin im Munde, den Bezug zu Schmitt hergestellt und die Verwirrung, ach, was sage ich: der Ärger ist komplett. (Pervers allerdings, daß Schmitt sich nach 1945 ausgerechnet auf Benjamin berufen hat, um die Persilwäschtweißstattbraunwäsche zu betreiben und eindringlich betonte, daß man sich ja mal geschrieben habe. Doch irgendwie schweife ich ab.)

    Der „Weltinnenraum“ steht zwar etwa einen Meter zwanzig schräg hinter meinem Schreibtisch ungefähr auf Nierenhöhe, aber leider noch ungelesen. Ich danke aber für den Hinweis.

    Um zu ergründen, was diese „Üben“ bedeutet, will ich mal demnächst versuchen, mit der Lektüre anzufangen. (Die Anzitation von Rilke im Titel allerdings läßt nichts Gutes ahnen: mit etwas Pech wird es kunstgewerbliche Philosophie und hoher Ton.)

  13. Ach nein, das war jetzt keine Leseempfehlung, sondern bloß eine Unterscheidung von Früherem zu den Schrecknissen, die er akut verbreitet. Besser, man liest Aristoteles, Kraus, Beckett, Marx, Metzger.

  14. Dieser Reihe möchte ich allerdings Hegel noch hinzufügen und, was die sogenannte schöne Literatur betrifft, natürlich Kafka.

    (Metzger steht bei mir noch aus.)

  15. Die Fünferreihe war keine Exkludierung. Ich wollte keine Namensschlange generieren. Zu der hätten die von Dir Genannten selbstverständlich dazugehört, dann noch etwa der Aquinat und Flaubert.

  16. Insbesondere den Namen Flaubert zu lesen, hat mich doch sehr gefreut: „L‘éducation sentimentale“: dieser Schluß im Text: zwei vergnügt erregte Subjekte, die des schönsten Tages in ihrem Leben gewahr werden. Das ist eine Linie zu Beckett, der solches 100 Jahre später zu einem Hauch eindampfte.

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