Stardust Memories: Lars von Triers „Melancholia“

Tritt man nach diesem Film aus dem Kino, so ist die Sicht auf die Welt, welche das Subjekt im Draußen umfängt, eine andere – zumindest für eine kurze Weile. Der Blick in den Himmel fällt skeptisch aus: der bestirnte Himmel über mir mit seinen bleichen Farben. Der Film ist, dies gleich vorweg geschrieben, meisterlich; er ist betörend, verstörend, ergreifend, wie Kino neben seiner analytischen Qualität zu sein hat – so wie mich „Blow up“, „Die Verachtung“, „Der unsichtbare Dritte“, „M“, „Lost Highway“ oder „Fahrraddiebe“ u.v.m. ergriffen. Gutes Kino berührt etwas im Subjekt: das Vermögen zur Empfindung und das Vermögen zum Denken. Und es irritiert zugleich.

„Melancholia“ hätte sicherlich die eine oder andere Auszeichnung verdient. Doch Filmpreise werden nicht immer nach binnenästhetischen Maßgaben verteilt.

Der Beginn des Filmes nimmt bereits das Ende vorweg. Es wird gestorben worden sein – alle, so steht zu vermuten – und es wird die Erde hernach nicht mehr so wie vorher aussehen. Zarte, fragile, fast zu schöne, eben melancholische, bitter-süße Bilder vom bevorstehenden Untergang werden zu der Ouvertüre aus Wagners „Tristan und Isolde“ als Auftakt geboten. Fin de siècle, aber gesamtkosmisch gespielt. In Zeitlupe oder wie man heute schreibt in Slow Motion bewegen sich die Protagonistin Justine (Kirsten Dunst) und ihre ansonsten realitätstüchtige, aber mittlerweile vollständig verzweifelte Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg) durch die Park- und Waldlandschaft des Landwohnsitzes. Unendlich schön, in ihren verendenden Farben neigt sich die Welt. Letzter morbider Charme der Welt, die zerfällt. Ein schwarzes Pferd bricht zusammen. Neben Justine regnet es tote Vögel vom Himmel. Aber all dies wirkt an keiner Stelle aufdringlich oder outriert. Die Braut Justine in ihrem weißen Kleid in Zeitlupe laufend, umschlugen, gehalten von Wurzeln, Moos und Geäst. Ein stilisiertes Bild, das sicherlich auch um des Effektes willen erzeugt wurde, eine Rückblende. Ein Traumbild. Aber es verdichtet das Geschehen in einem einzigen Bild. Auch das kann Film: die Photographie zu erzeugen.

Manchmal sind diese Bilder fast zu schön, zu stillisiert, ästhetisierend. Man möchte vergehe. Aber dennoch: die Bilder passen, sie sind stimmig. Es ist das Ende. Claires Sohn steht da, im Wald, und schnitzt am Holz für den Bau der rettenden Zauberhöhle. Der Beginn des Filmes zeigt, was die Stunde geschlagen hat. Wer in diesen Film eintritt, der muß, anders als im Hollywood-Katastrophenfilm, wo es sich – zumindest für einige – am Schluß doch gut fügt, alle Hoffnungen fallen lassen. Der Schluß des Filmes ist … Nein, das sei nicht verraten. Soviel nur: er ist anrührend, ohne aber kitschig oder aufgeblasen zu sein, wie man es von apokalyptischen Filmen aus der Unterhaltungsklasse gewohnt ist. Soviel aber sei verraten: Der Schluß des Filmes: das ist der Tod.

Obwohl der Zuschauer bereits seit der ersten Minute weiß, was sich am Ende zutragen wird, schaut man den rückgeblendeten Ereignissen gebannt zu. Bereits bei der Anfahrt der allzu fröhlichen Braut und ihres Bräutigams in der Stretchlimousine, die nicht um die Kurve des schmalen Waldweges kommt, ahnt der Betrachter: das wird nicht gutgehen, da stimmt etwas nicht.

Der Film hat zwei Teile: Der erste heißt „Justine“ und beginnt mit Justines Hochzeitsfeierlichkeiten auf dem pompösen Schloß ihres Schwagers. Braut und Bräutigam (Alexander Skarsgård) treffen um Stunden verspätet auf dem großbürgerliche Anwesen – samt einem 18-Loch-Golfplatz – ein, wo die Feierlichkeiten im großen Kreise stattfinden. Man kann diese Feier kurz als Gesellschaftstragödie zusammenfassen. Sehr skandinavisch: eine Mischung aus Vinterbergs „Das Fest“ – freilich mit den entsprechenden Abänderungen – und Bergmannscher Psychologie: die beständige Zermürbung, Zerfleischung und bloßer Schein. Handkamerafahrten, die in die Gesichter hinein gehen. Eine angespannte Schwester Claire sitzt da oder läuft herum. Sie möchte die Feier bestens ausrichten. Sie ahnt bereits, daß hier etwas aus dem Ruder laufen wird; sie redet ihrer Schwester zu, sie erwartet, daß sich Justine zusammen nimmt. Aber das geht so einfach nicht. Hinzu kommt Claires sichtlich genervter Ehemann John (Kiefer Sutherland), der das Geld besitzt und der für diese Investition etwas erwartet. Immer wieder verläßt Justine die Feierlichkeiten, zieht sich zurück, legt sich ins Bett, geht spazieren, badet, läßt die Gäste zurück. Immer unerträglicher wird ihr die Anwesenheit unter den Gästen. Justine leidet unter Depression. Kirsten Dunsts Gesicht spricht Bände, wenn sie im Bett daliegt, und es reicht das bloße Mienenspiel ihres Gesichtes aus, um all die Abgeschlagenheit, den Unwillen, das große Nichts und die Schwermut zu zeigen, während die Kamera, wie so häufig, in Großaufnahme an das müde Gesicht heranfährt. Zu recht ist Kirsten Dunst in Cannes mit dem Preis für die beste Darstellerin ausgezeichnet worden. Es ist nicht einfach, einen solch stillen Zustand nur über die Mimik zu spielen. Mit Worten läßt sich vieles ausdrücken, in den Gesten sowie in der Mimik fällt dies um einiges schwieriger aus.

Am Himmel dieser Hochzeitsnacht strahlt im Sternbild des Skorpion ganz besonders und fast rot der Stern Antares. Und Justine weiß mit einem Male, daß sich etwas verändert hat – hellsichtig und feinfühlig-vorausahnend, wie man es besonders den sensiblen und empfänglichen Menschen nachsagt. Sie ist die einzige, die – später, Tage nach der Hochzeit – die exakte Zahl der gesammelten Hochzeitsbohnen errät. 678. Während der Bräutigam beim Eintritt und als er eine weiter Bohne zu den anderen in Glas hinzutat, eine Millionensumme nannte. Justine weiß. Es ist das Ende der Welt, und die sozialen Differenzierungen sowie das Gebalge um den Aufstieg werden angesichts dessen schal.

Die nächtliche Feier endet schließlich im Debakel: Justine verliert ihre Arbeit als Artdirektorin, weil sie ihren (widerlichen) Chef (John Hurt) in schwerster und berechtigter Weise beleidigt, und sie verliert am Ende ihren Bräutigam, der diesen Dingen kaum gewachsen sich zeigt. Der Chef der Agentur ist schließlich sein Trauzeuge. „In guten wie in schlechten Zeiten“ hört bereits nach dem ersten Anwehen von Schwierigkeit auf, Bürgerlichkeit gibt sich, wie bei Strindberg, als eine Groteske. Justines Welt ist eine andere.

Der zweite Teil des Filmes heißt „Claire“. Um sich von der Depression zu erholen, lebt Justine einige Tage, vom Leiden geplagt, im Anwesen ihrer Schwester (bzw. ihres Schwagers). Claire ist die Frau, welche dem Leben zugewandt ist, die ihm sich gewachsen zeigt, die ihre Schwester auf liebevolle Weise wieder aufbauen möchte. Unterschiedlicher können Schwestern nicht sein. Währenddessen werden im Schloß von Ehemann John die Vorbereitungen für die Passage des Sternes „Melancholia“ vorangetrieben, um dieses Schauspiel genau beobachten zu können. Claire ist nicht ganz wohl dabei, denn sie glaubt eher den unheilvollen Prophezeiungen. Aber John ist Wissenschaftler und mit dem untrüglichen Realitätssinn ausgestattet, daß nach den Berechnungen nichts geschehe und der Stern in einem grandiosen Schauspiel einen Vorbeiflug an der Erde liefern wird, der unvergeßlich bleibt.

Je näher der Stern der Erde kommt, desto mehr belebt sich Justine und desto hellsichtiger und auch sarkastischer fällt ihr Blick aus. Der Stern passiert die Erde, schwebt vorbei. Und als Claire sieht, daß der Stern nicht an der Erde vorbeizieht, sondern, von der Schwerkraft der Erde angezogen, wieder zurückkehrt, ist die Welt von Claire, all ihr Realitätssinn und ihre Tauglichkeit für die pragmatische Welt dahin. Ihr geschäfts- und realitätstüchtiger Mann hat sich bereits mit Tabletten aus dem Leben gebracht. Zurück bleiben Claire und der Sohn.

Claire will in das nahe Dorf fliehen und realistisch-sarkastisch entgegnet Justine darauf: „Was hat denn das Dorf damit zu tun?“ Claire will weintrinkend auf der Terrasse sitzen. Eine Scheißidee, so befindet Justine. Im Angesicht des Todes ist alles ohne Bedeutung; was es gilt, ist, um des Kindes willen, die Gelassenheit zu bewahren. Diese steigert sich bei der anfangs durch und durch depressiven Justine merklich – je mehr sich der Stern „Melancholia“ nähert. Fast genießt sie diese Nähe, das, was paasieren wird. Es versetzt sie in Erregung.

Wenige Tage vorher, als noch alles gut auszugehen scheint, obwohl Claire dem Optimismus ihres Mannes nicht traute, sonnt sich Justine nachts im fahlen grünlich-blauen Licht des Sternes nackt auf einem Felsen. Mancher wird in solchen (und in anderen Szenen) die Naziästhetik ausmachen: eine blonde Frau mit einem makellosen Körper, Wagners Musik, ästhetisierende Bilder und Blick auf die untergehende Welt. Götterdämmerung. Ja, das mag sein. Von Trier spielt damit ohne darin zu versinken, und er treibt dieses Spiel stimmig – auch über den Gebrauch der technischen Mittel: Die Kameraführung und die Lichtverhältnisse greifen Aspekt von Dogma auf: das Licht ist zu großen Teilen so, wie die Lichtverhältnisse sind, die Kamera verhält sich unruhig, und sie gerät bei bestimmten Bildern dann statisch, arbeitet fast wie ein Photoapparat. Und häufig geht die Kamera in Großaufnahme an die Protagonisten heran. Trier dringt in die Gesichter ein.

Zudem ist diese Geschichte eine ganz andere als nur ein apokalyptischer, endspielhafter und ästhetisierender Film vom Untergang, der in den schönen Bildern schwelgt. Es ist dies ein Film über zwei Schwestern. Und von einem Kind. Zudem bleibt festzuhalten: der Ästhetizismus und der Reigen schöner Bilder fallen am Ende tödlich aus: ein Schlußstrich, bereits am Anfang, den Herr Goebbels sicherlich nicht zugelassen und als (französische) Dekadenz gebrandmarkt hätte. Denn eine blonde Frau gibt sich schließlich dem Leben und nicht dem Tode hin. Und wenn schon nicht dem Leben, dann wenigstens dem Führer oder eben jenem Bock von Babelsberg.

Die Art, wie von Trier mit Bildern arbeitet und wie er Schönheit und Schrecken paart, kann kaum das Argument für die Ästhetik der Faschisten sein. Mit der Wucht und der Kraft von Bildern arbeitet von Trier zudem seit Anbeginn, schon in seinem Kinodebüt „Element of Crime“: Bilder eines Endspiels. Rotes Nachtglühen.

Klarsichtig erblüht Justine in der Katastrophe und ihre Sicht auf die Welt fällt böse aus. Diese Welt hat es nicht besser verdient, das Gute läßt sich zählen, und sie arbeitete in einer Branche, in der sie weiß, wovon sie spricht – nämlich in der Welt der Werbung. Justines Versunkenheit, sie löst sich mit der Nähe jenes Sternes. Und das Gesetz in mir: es kann Ungeheuer hervorbringen, welche die Realität darstellen. Das Innere manifestiert sich im Äußeren. Aber diese Katastrophe ist dennoch real. Es ist keine Projektion, kein Traum, wenngleich man im Sinne strukturaler Psychoanalyse und mit ein wenig Zizek im Gepäck womöglich einen Dreh in den Traum und hin zur Projektion findet.

Die blaue Stunde kurz vor dem Schluß. Im Gras und in den Sträuchern wimmeln ein letztes Mal die Insekten, dann hören sie auf, und die Pferde, welche im Film beständig wieherten, sind nun still. Keine drastischen Fernsehbilder sind bei von Trier zu sehen oder besorgte Staatschefs im Fernsehen, die irgend etwas verkünden. Denn es gibt nichts mehr zu verkünden. Was bleibt, sind drei Menschen. Zwei Frauen und ein Kind. Kein Mann. Es ist „Melanchola“ ein Science Fiction, eine jener negativen Utopien. Und er handelt zugleich von den Strömen des Bewußtseins. Diesen Film im Hinblick auf Tarkowskis „Solaris“ zu interpretieren, kann insofern ganz falsch nicht sein. Der Bezug ist über die Anspielung auf das Bild „Die Jäger im Schnee“ von Pieter Bruegel d. Ä., welches in beiden Filmen auftaucht, (und auch über jenen Fluß) gegeben. Gleich zu Anfang, nach der Eröffnungssequenz, kommt Bruegels Bild kurz in den Blick der Kamera, als Justine die Kunstbibliothek umstellt und die dort aufgeschlagenen Bücher mit abstrakten Gemälden durch solche der Flämischen und Deutschen Renaissance ersetzt. Eine flüchtige und zugleich eine der vielen schönen Szenen des Films.

Der Verweis auf Dürers „Melencolia I“ liegt ebenso nahe, wenngleich ihn von Trier nicht überstrapaziert. Es reicht der Name der Sterns vollständig aus, allenfalls in der Gartenarchitektur tauchen dezent gesetzte Steinkugeln auf, im Garten stehen, statt Zirkel, Waage oder Stundenglas optische Instrumente, sprich Teleskope.

Der Film hat von vielem etwas, dies aber in einer guten Dosierung, so daß es nicht mit dem Hammer in den Zuschauer gehauen wird. Er ist opulent, ästhetizistisch und spielt mit Bildern, aber anders als Greenaway, der mir bei diesem Film zuweilen in den Sinn kam. Es gibt Anspielungen, Zitate, Verweise – eben jene auf Tarkowski – und auch den kleinen Schuß Autoreferenzialität. Wenn Claire den Stern Melancholia googelt, so verweist dies eben auf von Triers Film, denn wenn ich in Echtzeit googele, so erscheint an oberster Stelle „Melancholia“ als Film und in Wikipedia, das Claire aufruft, gibt es lediglich Dürers und von Triers „Melancholia“. Es ist eine Schleife.

Trier schuf einen Film von apokalyptischer Wucht und von Anmut zugleich: Wenn im Tode dieser drei Menschen die letzte Würde gewahrt wird, die im Grunde schon lange aus der Welt gewichen ist. Und eben diesen Verlust registrierte Justine (als Mensch) seismographisch. Deshalb ist sie diejenige, welche am wenigsten erstaunt über diesen drohenden Tod ist, ihm gelassen-böse ins Auge blickt. Nackt auf einem Felsen liegend, sonnt sie sich im grün-blauen Glanze dieses todbringenden Sterns. Vergeblichkeit. Ein wunderbares Bild. Und sie schafft am Ende die Zauberhöhle für das Kind. Anrührender kann ein Tod nicht ausfallen. Geschichte und Leben schrumpfen auf drei Menschen und auf den Einschlag eines Sterns. Der Zusammenhang und die Immanenz verglühen. Kunst antizipiert das, was gewesen sein wird.

Lars von Trier gelang ein cineastisches Meisterwerk, und insbesondere Charlotte Gainsbourg sowie Kirsten Dunst spielen unter diesem Regisseur, wie es besser nicht geht. Der Schreiber dieser Zeilen ist noch drei Tage später von diesem Film gefangen und mag keine anderen bewegten Bilder mehr sehen.

6 Gedanken zu „Stardust Memories: Lars von Triers „Melancholia“

  1. Aber inszeniert Von Trier nicht immer am Rande des Allgemeinplatzes, des oberflächenästhetischen Pathos, hat er nicht manchmal einen zu-viel-wollenden Gestus? Mich haben sowohl Antichrist und Melancholia sehr berührt, beschäftigt, inspiriert. Aber ich finde nicht dass man einem von ihnen Meisterwerkstatus anhängen sollte.

  2. Der Begriff des Meisterwerkes ist in bezug auf bestimmte Punkte immer ein problematischer. Das ist wohl war. Insofern neige ich in der Regel auch eher dazu, von einem gelungenen Kunstwerk zu sprechen, das ein Wahrheitsmoment entfaltet.

    Bei zu viel Pathos bin auch ich skeptisch. Und bei von Trier herrscht dieses Pathos auf alle Fälle vor, jedoch in einer passenden Dosierung. Dies motivierte dann meinen Vergleich mir Greenaway, der auch nicht ganz pathosfrei daherkommt.

  3. Großartiger Film. Doch es ist Stellan Skarsgård, der den Chef spielt (John Hurt spielt Justines Vater) und, wenn ich mich recht erinnere, ist der auf Google angezeigte Film nicht von Triers sondern Lav Diaz‘ „Melancholia“.

  4. Stimmt, bei den bei den Namen hatte ich mich vertan. Den Link auf Google habe ich in meinen Beitrag nicht gefunden.

    Schön, daß auch ältere Beiträge noch gelesen werden. Freut mich.

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